Das arabische Wort Taqiyya bedeutet »Vorsicht« oder »Furcht« und bezeichnet im schiitischen Islam die Erlaubnis, bei einer großen Bedrohung den eigenen Glauben zu verheimlichen. Das Prinzip stammt aus den ersten Jahren des Islam, als Muslime noch eine schwache Minderheit in Mekka waren. Ihnen war es erlaubt, rituelle Aufgaben zu vernachlässigen, ihren Glauben zu verbergen oder auch zu leugnen, um sich vor den übrigen Mekkanern zu schützen. Vers 28 aus Sure 3 erklärt dieses Prinzip so: »Die Gläubigen sollen sich nicht die Ungläubigen anstatt der Gläubigen zu Freunden nehmen. Wer das tut, hat keine Gemeinschaft [mehr] mit Gott. Anders ist es, wenn ihr euch vor ihnen [den Ungläubigen] wirklich fürchtet (illā an tattaqū minhum tuqāt).« Hier wird die Freundschaft mit Ungläubigen erlaubt, falls so Gefahren für das eigene Leben abgewendet werden können. Der Begriff Taqiyya wird aus den Wörtern tuqāt (fürchtend) und tattaqū (ihr fürchtet euch), die in diesem Vers verwendet werden, abgeleitet.
Der Islam war bald sehr erfolgreich mit seinen Eroberungen, und die Muslime bildeten rasch die Mehrheit oder stellten zumindest die Herrschaftselite in den eroberten Gebieten, somit war die Verstellung und das Leugnen des eigenen Glaubens nicht mehr notwendig. Anders war es bei den Schiiten, die sich wenige Jahre nach dem Tod Mohameds abspalteten. Sie waren es, die das Prinzip taqīyya einst prägten, als Selbstschutzmaßnahme, um sich vor Verfolgung zu schützen. Einem Schiiten war es demnach erlaubt, seine konfessionellen Ansichten zu verbergen, um sein Leben zu schützen. Man durfte sich verstellen, lügen oder andere täuschen, um von sich und seiner Familie Gefahren abzuwenden.
Ayatollah Khomeini erweiterte dieses Prinzip und erlaubte seinen Anhängern, sich als Atheisten zu geben, um Zugang zum Verwaltungsapparat des Schahs zu bekommen und das System zu unterwandern. Khomeini schreibt: »Sollten die Umstände der taqiyya einen von uns veranlasst haben, sich dem Gefolge der Machthaber anzuschließen, dann ist es seine Pflicht, davon abzulassen, es sei denn, seine rein formale Teilnahme brächte einen echten Sieg für den Islam.«
Auch in der Frühphase der Revolution verbarg er mit Hilfe dieses Prinzips seine Absichten und führte Linke und Bürgerliche damit in die Irre, bis er alle Zügel an sich gerissen hatte. Dabei hätte es jeder wissen können: In seiner Schrift »Der islamische Staat« hat er alles bestens dargelegt.
Heute wird der iranischen Führung übrigens im Zusammenhang mit dem Atomprogramm taqiyya vorgeworfen, da sie gebetsmühlenartig von einer rein friedlichen Nutzung der Atomenergie redet.
Der Begriff taqiyya wird auch in der Islamkritik immer wieder verwendet, aus meiner Sicht oft übertrieben und inflationär. Da werden alle Muslime, ungeachtet ihrer ideologischen Ausrichtung, als Lügner dargestellt, die ihre wahren Absichten verbergen würden, bis sie Europa erobert haben. Man kann nicht alle Muslime über einen Kamm scheren. Tut man es doch, ist dies eher Ausdruck von Paranoia. Wer 1,5 Milliarden Muslimen vorwirft, die identischen Absichten und Ziele zu verfolgen, gehorcht dem gleichen Denkmuster wie ein Islamist, der glaubt, der gesamte Westen denke in identischen Schablonen und verfolge ein einziges Ziel – nämlich das, den Islam zu vernichten.
Am besten fragt man einen Schiiten, was taqiyya bedeutet. Hani Fahs erzählte mir einen Witz, in dem er auch gleich noch den Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten erklärte. »Ein Mullah und ein arabischer Geistlicher sehen eine schöne Frau. Sie versuchen, heimlich mit ihr zu flirten. Beide zwinkern mit dem rechten Auge, um die Aufmerksamkeit der Frau zu wecken. Wenn der Araber dabei erwischt wird, wird er spontan mit dem Finger über sein Auge wischen, als sei ein Sandkorn hineingeraten, und das Problem ist gelöst. Der persische Mullah wird hingegen sein rechtes Auge zehn Jahre lang geschlossen halten, um zu beweisen, dass das Zwinkern niemals stattgefunden hat. Die persischen Uhren ticken eben anders!«