Wenn eine Bewegung dem Militarismus huldigt, die Demokratie für gefährlich hält, die Welt und die eigene Gesellschaft in Gläubige und Ungläubige aufteilt und den Dschihad als höchstes Ziel sieht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie zu den Waffen greift, um ihre Gegner zu eliminieren. Die Muslimbruderschaft fand ihre Feinde zunächst in den linken Parteien Ägyptens, obwohl Hassan Al-Banna die Idee der sozialen Gerechtigkeit als genuin islamisch bezeichnete. Er wusste, dass die Wählerschaft in Ägypten damals deutlich linksorientiert war und dass sich daran auf absehbare Zeit auch nichts ändern würde. Deshalb entschied er sich dafür, den Kampf nicht an der Wahlurne aufzunehmen, sondern auf der Straße. Seine Milizen sollten dort Angst und Schrecken verbreiten. Anfangs begrenzte sich der Einsatz der Milizen auf die Zerschlagung von linken Demonstrationen und Arbeiterstreiks. Auch das erinnert an die Anfänge der Nazi-Milizien. Hassan Al-Banna gründete sogar einen eigenen Geheimdienstapparat für die Muslimbruderschaft, den er al-dschihaz al-sirri nannte, »der geheime Apparat«. Wie die Vereinigung innerhalb kurzer Zeit zu reichlich Waffen, Geld und Know-how kam, ist bis heute ein Rätsel. Spenden aus Saudi-Arabien kamen zwar regelmäßig, doch viele Experten sehen die Bildung der professionellen Parallelarmee nebst tragfähigen Organisations- und Geheimdienststrukturen als ein Indiz für die Zusammenarbeit mit ausländischen Geheimdiensten.
Ali Ashmawi, einer der früheren Anführer des »geheimen Apparats der Bruderschaft«, der später die Bewegung verließ, offenbart in seinem Buch »Die geheime Geschichte der Muslimbrüder«, dass Hassan Al-Banna nicht nur die Strukturen des NS-Sicherheitsdienstes und der Gestapo studiert habe, sondern auch die zionistischer Untergrundorganisationen, bevor er seinen Geheimapparat gründete. Maßgebliches Vorbild für eine Eliteeinheit sei allerdings eine islamische Gruppe aus dem Mittelalter gewesen, die zwischen 1080 und 1270 zahlreiche politische Attentate verübt hatte. Die Gruppe ging unter dem Namen »Assassinen« in die Geschichte ein. Marco Polo beschrieb die Assassinen als Sekte, deren Mitglieder dem Haschischrauchen frönten und, solchermaßen berauscht, Morde begingen. Der Name der Gruppe, der auf Latein »Attentäter« bedeutet, lässt sich auf verschiedene Weise herleiten. Zum einen vom arabischen Wort hashish (Kräuter oder auch Hanf) beziehungsweise Hashashin, also die »Haschisch-Raucher«. Zum anderen gab es in Syrien eine sufische Sekte, deren Mitglieder Asasin genannt wurden. Später wurde der Begriff dort auch herabwürdigend für »Entrückte« verwendet.
Der Gründer dieser Gruppe, der Perser Hasan-i Sabbah (* um 1034, †1124), soll seine Anhänger vor dem Sturm auf die Bergfestung Alamut zu einem Garten gebracht haben, sie mit Opium und Haschisch betäubt und dann mit gutem Essen und schönen Frauen versorgt haben, um sie so auf das Paradies einzustimmen, bevor er sie auf ihre tödliche Mission schickte. Seine Anhänger sollen ihm so bedingungslos ergeben gewesen sein, dass sie sich sogar das Leben nahmen, wenn er dies von ihnen verlangte. Seine beiden Söhne ließ er wegen »Verfehlungen« hinrichten.
Auch wenn manche Erzählungen über die Assassinen zum Teil der Phantasie des Reisenden Marco Polo entstammen dürften, erinnern sie an die fatalen Versprechungen vieler Dschihad-Prediger der Gegenwart, die mit ebensolchen Bildern vom Paradies Selbstmordattentäter locken. Und Ayatollah Khomeini schenkte einst minderjährigen iranischen Soldaten Schlüssel aus Plastik, bevor er sie in den Kampf gegen die Truppen von Saddam Hussein schickte. Dies, so behauptete er, seien die Schlüssel zum Paradies.
Hassan Al-Banna jedenfalls träumte von einer Gruppe, die ihm bedingungslos folgt und seine Befehle kritiklos umsetzt wie die mittelalterlichen Assassinen oder Hitlers SS. Das Prinzip des absoluten Gehorsams ist bis heute das zentrale Prinzip der Muslimbruderschaft. Die Mitglieder seines »geheimen Apparates« ließ Al-Banna genauestens überprüfen, bevor sie aufgenommen wurden. Ein Mitglied der Muslimbruderschaft konnte nur dann zum »geheimen Apparat« wechseln, wenn er als »einwandfrei« galt, einem exklusiven Zirkel bestimmer Familien entstammte und verschiedene Trainingseinheiten sowie Initiationsrituale durchlaufen hatte. Tharwat Al-Kharabawi, ein prominenter Aussteiger aus der Muslimbruderschaft und Autor des Enthüllungsbuches »Das Geheimnis des Tempels« berichtet, der Geheimbund der Muslimbrüder vereine totalitäre und mafiöse Elemente und bediene sich auch bei den Freimaurern, etwa wenn es um die Hierarchie innerhalb der Bewegung oder um Aufnahmerituale gehe. Er schildert in seinem Buch, dass sich jedes neue Mitglied an einem geheimen Ort einfinden müsse, dort vor führenden Mitgliedern des Apparates mit der Pistole in der Hand auf den Koran schwören und versichern müsse, dass er der Bewegung und ihren Anführern gegenüber bedingungslos loyal sei und bleibe. Danach müsse der Neue die Pistole zerlegen und schnell wieder zusammenfügen.
Anfang des Jahres 1945 trat Hassan Al-Banna bei den Parlamentswahlen in Ägypten an. Als er zu seiner Überraschung verlor, drohte er, mit 200000 Anhängern einen Marsch auf das Parlament zu veranstalten – wie Mussolini und seine Schwarzhemden 1922, wie Hitler mit seinem Putschversuch ein Jahr später. Kurz darauf wurde der linke Premierminister Ahmed Maher im Parlament von einem jungen Nationalisten namens Mustafa al-Isawi erschossen. Erst Jahre nach dem Attentat kam heraus, dass al-Isawi ein Mitglied des geheimen Apparats der Muslimbruderschaft war. Der Mord an Maher war nach einer Sitzung des Parlaments erfolgt, in der der Premierminister vorgeschlagen hatte, Japan den Krieg zu erklären. England habe die ägyptische Regierung wissen lassen, dass nach Kriegsende ein Staatenbund gegründet werde, dessen Mitgliedschaft Ländern vorbehalten sei, die vor dem 1. März 1945 wenigstens einer der Achsenmächte den Krieg erklärt hätten. Großbritannien wollte, dass Ägypten Deutschland den Krieg erklärte, aber König Farouk war strikt dagegen, weshalb man auf Japan kam. Der Islamismusexperte und Autor des Buches »Hassan Al-Banna, den keiner kannte«, Hilmy Al-Namnam, mutmaßt, das Attentat könne von Deutschland aus initiiert worden sein. Er geht davon aus, dass die Zusammenarbeit zwischen den Nazis und den Muslimbrüdern zu diesem Zeitpunkt dank der Vermittlung des Mufti von Jerusalem viel enger war als bislang angenommen. Fakt ist, dass Hassan Al-Banna Deutschland den Sieg wünschte. Auch, um Ägypten von der britischen Kolonialherrschaft und den linken und liberalen Parteien zu befreien, die seinen Bestrebungen nach der Einführung eines Gottesstaats im Wege standen.
Deutschland und seine Verbündeten verloren den Krieg – doch die Ziele Al-Bannas und der Terror seiner Bewegung blieben. Nur König Farouk ging zunehmend auf Distanz. Im Jahr 1947 verübte die Muslimbruderschaft mehrere Anschläge auf staatliche Einrichtungen und Kinos. Sie war für die Ermordung von zwei Briten ebenso verantwortlich wie für den Tod eines Richters, der einige Mitglieder verurteilt hatte.
Eine Chance, den Aktionsradius zu erweitern, ergab sich nach der Gründung Israels. Ägypten, Jordanien, Syrien, Irak und Libanon erklärten dem neugeborenen Staat umgehend den Krieg. Zahlreiche Kämpfer der Muslimbrüder schlossen sich der ägyptischen Armee in Palästina an, in der Hoffnung, sie würden als siegreiche Helden zurückkehren. Doch die stolzen arabischen Armeen wurden vernichtend geschlagen und kehrten »entehrt« zurück.
Nach diesem Fehlschlag intensivierten die Muslimbrüder ihre Terroranschläge im eigenen Land: ägyptische Juden und staatliche Einrichtungen waren ihre Primärziele. Als der neue Premierminister Mahmoud Al-Nuqrashi im Dezember 1948 ein Dekret erließ, gemäß dem die Muslimbruderschaft aufgelöst und verboten werden sollte, wurde er von einem Mitglied der Bewegung erschossen. Die Behörden reagierten mit einer verschärften Verfolgung, zahlreiche Muslimbrüder wurden verhaftet. Hassan Al-Banna wurde am 12. Februar 1949 auf offener Straße erschossen, möglicherweise im Auftrag des Königshauses, das die Bewegung und ihre Aktivitäten zunehmend als Belastung sah. Aber schon 1950 war die Bruderschaft rehabilitiert.