»Wie kann man die Freiheit nicht schätzen?«

Nach einem Vortrag im Theater Neumarkt in Zürich im Mai 2013 kamen zwei Männer auf mich zu, die unterschiedlicher nicht hätten sein könnten. Der 30-jährige Nicolas Blancho, der in einer liberalen Familie im Schweizer Biel konfessionslos aufwuchs und früher zur Hip-Hop- und Punk-Szene gehörte, konvertierte im Alter von 16 Jahren zum Islam und wurde Salafist. Der 23-jährige Marokkaner Kacem El Ghazzali, der aus einer konservativen muslimischen Familie stammt, schwor vor Jahren dem Glauben ab. Er lebt seit zwei Jahren in der Schweiz und versucht von dort aus, Atheisten in seiner Heimat zu unterstützen.

Der Schweizer Blancho hat in der offenen und freien Gesellschaft Regeln und moralische Orientierung für seinen Alltag gesucht; er fand sie in den klaren Strukturen des orthodoxen Islam. Sein ehemaliger Lehrer Alain Pichard sagte in einem Interview mit dem Tagesanzeiger im April 2010 über ihn, er sei ein mittelmäßiger Schüler gewesen, »der ein wenig ziellos, fast verloren wirkte«. Erst mit dem Übertritt zum Islam wurde er selbstbewusster, schaffte seine Matura und studierte Islamwissenschaften und Jura an der Universität Bern.

Der Marokkaner Kacem dagegen wandte sich vom Islam ab, weil er sich von den strengen Regeln der Religion und von der moralischen Bevormundung in seinem Heimatland erdrückt fühlte. Er hatte seine Jugend im Internat einer Koranschule in der Nähe von Casablanca verbracht, wo er die salafistische weiße Tracht tragen musste – westliche Kleidung war verboten. Als sein Vater ihm einen PC kaufte, tat sich für Kacem eine neue Welt auf. Er verbrachte Stunden vor dem Rechner, las in Blogs im Internet Sachen, die er aus der Schule und der Moschee nicht kannte, er sog begeistert alles auf. Von der Evolutionstheorie bis hin zu internationaler Literatur. Er traf auf eine neue Lern- und Diskussionskultur. In der Schule und der Moschee war alles Lernen vertikal ausgerichtet. Der Lehrer oder der Imam gab etwas vor, der Schüler hatte es zu schlucken. Der eine sprach, der andere schwieg. Im Internet war das Lernen plötzlich interaktiv, vor allem aber gab es keinen, der einem etwas vorsetzte und sagte: friss. Eine völlig neue Form der Gleichberechtigung.

Blancho wechselte damals nicht nur seine Religion, sondern gründete auch den Islamischen Zentralrat in der Schweiz, der junge Menschen zum Salafismus verführen sollte. Früher hat er sich sogar offen für die Einführung der Scharia in der Schweiz ausgesprochen, die etwa die Steinigung von Ehebrecherinnen und die Hinrichtung von Apostaten vorsieht. Heute ist er in seiner Wortwahl vorsichtiger geworden. Er bezeichnet die Steinigung zwar als »einen Bestandteil, einen Wert« seiner Religion, der aber im Schweizer Kontext nicht zur Anwendung kommen solle.

Über die Rolle des Islamischen Zentralrats der Schweiz gibt es unterschiedliche Auffassungen. Der umstrittene Islamwissenschaftler Tariq Ramadan betrachtet Blancho und den Islamischen Zentralrat als »Sektierer ohne Basis« und als »eine Randerscheinung in der muslimischen Landschaft«. Keinesfalls repräsentiere die Organisation die Mehrheit der Muslime in der Schweiz. Und Markus Seiler, Direktor des Nachrichtendienstes des Bundes, befand im Mai 2010: »Es geht beim Islamischen Zentralrat der Schweiz um ideologischen, nicht um gewalttätigen Extremismus.«

Man übersieht dabei, dass die wahhabitische Ideologie, die Blancho verbreitet, zwar nicht offen zur Gewalt aufruft, ihr aber den Weg ebnet. Wer andere Menschen als Sünder oder Ungläubige bezeichnet, entmenschlicht sie. Wer davon ausgeht, dass Sünder in der Hölle schmoren werden, billigt ihnen nicht die gleichen Rechte zu, sondern entzieht ihnen die Existenzberechtigung.

Kacem wurde in Marokko im Namen der Scharia geschlagen und mehrfach mit dem Tod bedroht, bis er das Land verließ. Er wurde Menschenrechtsaktivist und kämpft für Glaubens- und Meinungsfreiheit. Er wehrt sich gegen diejenigen, die versuchen, die muslimische Bevölkerung der Schweiz zu radikalisieren. »Ich bin doch nicht vor der Scharia in Marokko geflohen, um sie in der Schweiz wiederzuhaben«, sagt er.

Kacem und Blancho kannten sich bis zu dem zufälligen Treffen in Zürich nicht persönlich, hatten aber einige Monate zuvor einen indirekten Streit. Als der Zentralrat der Muslime den radikalen saudischen Prediger Mohamed al-Arifi zu einem Vortrag in Fribourg Mitte Dezember 2012 einlud, organisierte Kacem eine erfolgreiche Kampagne, die al-Arifis Einreise verhinderte. Grund dafür waren Fernsehauftritte des Predigers in der jüngeren Vergangenheit: Er hatte sich in TV-Sendungen etwa für das Recht des Mannes ausgesprochen, seine Ehefrau zu schlagen, und behauptet, europäische Frauen hätten Sex mit Hunden und 54 Prozent der dänischen Frauen wüssten nicht, wer der Vater ihrer Kinder sei.

Kacem kann nicht begreifen, wie ein Mensch wie Blancho, der in Freiheit aufgewachsen ist, diese Freiheit offenbar nicht zu schätzen weiß. Und warum Menschen, die Kant und Voltaire gelesen haben, primitive Prediger wie al-Arifi brauchen.

Zwischen den beiden Konvertiten entwickelt sich an jenem Abend eine Debatte über die Scharia in der Schweiz. Blancho sieht keinen Widerspruch zwischen dem islamischen Recht und dem Schweizer Gesetz. Kacem kontert und fragt nach der Polygamie, die im Islam erlaubt, in der Schweiz aber verboten ist. Blancho antwortet: »Das Gesetz macht es möglich, dass zwei Männer in der Schweiz heiraten dürfen. Wenn man das akzeptiert, muss man auch akzeptieren, dass muslimische Männer mehrere Frauen heiraten dürfen. Das nennt man Gleichberechtigung.« Es ist interessant, wie oft Begriffe wie Freiheit oder Gleichberechtigung von Salafisten missbraucht werden. Niemals geht es um die Gleichberechtigung oder Freiheit anderer, wenn sie davon reden, sondern nur um die Vorteile, die sie selbst daraus ziehen.

Verkehrte Welt: Der Marokkaner trägt Jeans, zitiert Kant und kämpft für die Freiheit, während der Schweizer einen radikalen Prediger aus der Wüste zum Vorbild nimmt und von einer islamischen Gemeinde wie im Mittelalter träumt.

Anfang April 2012 wurde Kacem als Referent eingeladen, um vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf über Glaubensfreiheit in Marokko zu sprechen. Mitte Juni 2012 wurde Blancho zu einer Salafistenveranstaltung in Kairo eingeladen, die junge Muslime weltweit dazu aufrief, in den Dschihad in Syrien zu ziehen.