Die Muslimbrüder – Reformer oder Vertreter des faschistischen Islamismus?
Manche Islamwissenschaftler bezeichnen die Muslimbruderschaft, eine der einflussreichsten sunnitisch-islamistischen Bewegungen im Nahen Osten, als »soziale Reformbewegung«, die der Gewalt längst abgeschworen habe.
Es sind die gleichen Experten, die vom »moderaten Islamismus« sprechen, der angeblich mit der Demokratie vereinbar sei. Als Beispiele für diesen moderaten Islamismus werden immer wieder Erdogan und seine islamistische Partei AKP in der Türkei genannt, Raschid al-Ghannouchi und seine al-Nahda-Partei in Tunesien oder auch die Muslimbruderschaft in Ägypten. Auch wenn diese drei Parteien mittlerweile als korrupt und antidemokratisch entzaubert wurden, wollen manche Experten ihre Hoffnung nicht aufgeben, dass der moderate Islamismus doch irgendwo auf der Welt existiert.
Sie übersehen dabei die Tatsache, dass ein Islamist, egal welche politische Färbung oder Tarnung er hat, nur ein Motiv kennt, wenn er in die Politik geht: Er will die islamistische Gesellschaftsordnung und die Gesetze der Scharia durchsetzen, spätere Weltherrschaft nicht ausgeschlossen. Im tiefsten Inneren verachtet er die Demokratie und betrachtet sie lediglich als ein Mittel, um an die Macht zu gelangen. Erdogan hat das Scheitern seines Lehrers Necmettin Erbakan erlebt, als dieser versuchte, an den türkischen Institutionen vorbei einen Gottesstaat zu errichten. Also hat er sich entschieden, diese Institutionen nicht zu umgehen, sondern zu unterwandern. Am Anfang gab er sich als säkularer, prowestlicher Politiker, der die Korruption bekämpfen und die Wirtschaft reformieren wollte. Erst Jahre nach seiner Wahl zum Regierungschef und erst nachdem ihm die Unterwanderung der wichtigsten Institutionen des Landes und das Ausschalten des Militärs gelungen war, zeigte er seine totalitären Absichten. Seine autoritäre, imperialistische und letztlich antiwestliche Haltung wurde immer deutlicher. Auf den Korruptionsskandal, der seine Regierung im Dezember 2013 erschütterte, reagierte Wirtschaftsminister Caglayan mit Verschwörungstheorien: Es handle sich um ein »dreckiges Komplott gegen unsere Regierung, unsere Partei, unser Land«. Ausländische Geheimdienste, Zionisten und die Finanzlobby steckten hinter dem Skandal, weil sie auf die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei neidisch seien. Der Reflex, mit solchen Verschwörungstheorien von den eigentlichen Problemen abzulenken, ist auch eines der Merkmale des Ur-Faschismus.
Die Muslimbrüder versuchten mehrmals, in Ägypten mit Gewalt an die Macht zu gelangen. Demokratische Wahlen galten ihnen früher als Gotteslästerung, da die Souveränität niemals beim Volk, sondern immer nur bei Gott liegen könne. Mit Gewalt allein hatten sie ihr Ziel nicht erreichen können. Deshalb änderten sie ihre Haltung zu Wahlen, doch ihre Einstellung zur Demokratie blieb dieselbe. Sie gewannen 2012 die Wahlen in Ägypten, scheiterten aber nach einem Jahr Regierungszeit kläglich. Statt die Schuld bei sich zu suchen, wurden Feinde des Islam im In- und Ausland für dieses Scheitern verantwortlich gemacht. Im Dezember 2013 schließlich wurden führende Köpfe der Muslimbrüder vor Gericht gestellt. Der Vorwurf: Sie hätten zur Tötung von Demonstranten aufgerufen. Allein diese Tatsache zeigt, dass der moderate Islamismus der Bruderschaft nichts als ein Mythos ist, sondern dass hier mit Methoden gearbeitet wird, die man auch von faschistischen Bewegungen kennt. Kritiker, Abtrünnige, Andersdenkende müssen eliminiert werden, da sie eine Bedrohung von innen darstellen.
Die Muslimbruderschaft weist seit ihrer Gründung im Jahr 1928 faschistische Züge auf. Wie alle faschistischen Bewegungen handelt sie mit zwei Waren: Wut und Blut. In den nunmehr 86 Jahren ihrer Existenz haben die Muslimbrüder keine Lösungsansätze und keine Zukunftspläne für Ägypten oder einen anderen islamischen Staat entwickelt, und dennoch wollen sie diese Länder regieren. Alle, die mit ihnen kooperieren wollen, müssen das Motto der Bruderschaft annehmen: Der Prophet ist unser Anführer, der Koran ist unsere Verfassung, der Dschihad ist unser Weg, und das Sterben für Allah ist unser höchstes Ziel. Egal, in welchem vermeintlich moderaten Gewand sie daherkommt – allein diese vier Eckpunkte ihres Mottos entlarven sie als faschistoide Organisation. Und weil gilt: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, kann man in der Muslimbruderschaft auch die Mutterorganisation des islamistischen Terrorismus sehen. Al-Qaida ist eine ihrer Ausgeburten.
Der Geist, aus dem all das entsprungen ist – selbst die Epoche –, ist der gleiche, in dem auch die nationalsozialistische Ideologie ihre verheerende Wirkung entfaltete. Wobei die Wurzeln dieses Geistes noch viel weiter zurückreichen.
Das Ende des Ersten Weltkriegs besiegelte das Ende vieler Großmächte. Die Häuser Habsburg und Preußen waren geschlagen, die imperialistischen Träume Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches geplatzt. Der russische Zar und seine Familie wurden ermordet, an die Stelle der Monarchie traten die roten Revolutionäre. Das damals längst angeschlagene Osmanische Reich zerfiel im Jahr 1924 endgültig, und mit ihm ging das Kalifat unter, jene islamisch legitimierte Herrschaftsform, die vier Jahrhunderte lang mehrere islamische Staaten und Völker unter einem Dach hatte zusammenhalten können.
In all diesen gefallenen Reichen folgte auf die Monarchie ein System, das von einer bestimmten Ideologie getragen wurde. In Deutschland und Italien machte sich der Faschismus breit, in Deutschland kamen die Nationalsozialisten nach dem Intermezzo der Weimarer Republik an die Macht. In Russland war der Kommunismus die neue Religion. In der islamischen Welt stand man nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches ein wenig wie ein Waisenkind da, das sich nicht so recht entscheiden konnte, wohin der Weg führen sollte. Dort konkurrierten drei Ideologien um die Gunst der Massen: der Islamismus, der Nationalismus und der Panarabismus. Dem modernen demokratischen Staat haftete ein schlechter Ruf an. Die meisten muslimischen Länder standen zu diesem Zeitpunkt unter britischer oder französischer Kolonialherrschaft, die sie als Phase der Unterdrückung und Ausbeutung erlebten. Der Kommunismus wiederum fand zwar eine schnelle Verbreitung unter Intellektuellen vor allem in Ägypten und Syrien, doch da er die Religion ablehnte, war er für die Mehrzahl der Muslime keine Option.
In dieser problematischen Orientierungsphase entstanden unabhängig voneinander zwei Bewegungen, die das Ziel hatten, das islamische Kalifat wiederherzustellen. In Indien gründete 1924 der Gelehrte Sayyid Abul Ala Maududi eine Bewegung, die auch den Dschihad-Gedanken wiederbelebte. Maududi wollte zunächst gegen die britische Herrschaft ankämpfen und die Umma, die Gemeinschaft der Muslime, einen. Er rief die Muslime zum Kampf auf: »Zieht aus und kämpft! Entfernt die Menschen, die sich gegen Gott aufgelehnt haben. […] Wenn ihr an die Richtigkeit des Islam glaubt, bleibt euch nichts anderes übrig, als eure ganze Kraft einzusetzen, um den Islam auf Erden herrschen zu lassen.« Die Gedanken von Maududi verbreiteten sich rasant zunächst in Indien, später auch in Pakistan und Afghanistan. Die Ideologie der Taliban basiert bis heute hauptsächlich auf Maududis Islamverständnis.
Vier Jahre später, 1928, entstand in der Provinzstadt Ismailiya am Suezkanal die Muslimbruderschaft. Der 22-jährige Arabischlehrer Hassan Al-Banna legte zwei Ziele seiner Bewegung fest: Die islamischen Gesellschaften seien von allen nichtislamischen Elementen zu reinigen, in einem zweiten Schritt sei das Kalifat wiederherzustellen. Al-Bannas Botschaft breitete sich schnell in Ägypten und Syrien aus. Heute hat die Bewegung Vertretungen in mehr als siebzig Staaten. Auch in Europa und in den Vereinigten Staaten sind die Brüder politisch und wirtschaftlich sehr aktiv.
Auch wenn weder die Maududi- noch die Al-Banna-Bewegung zunächst irgendwo ans Ruder kam, sind zahlreiche militante Gruppen aus ihnen hervorgegangen, die im Laufe der letzten Jahrzehnte für unzählige Terroranschläge in der islamischen Welt, Asien, Europa und den Vereinigten Staaten verantwortlich zeichnen. Die Globalisierung brachte beide Bewegungen einander näher. In den achtziger Jahren begegneten sich die Kinder und Enkel Al-Bannas und Maududis in Afghanistan und kämpften mit saudischem Geld und westlichen Waffen gegen die Russen. Nach dem Ende der Sowjetherrschaft in Afghanistan legten die Islamisten ihre Waffen nicht nieder, sondern gründeten gemeinsam die Bewegung al-Qaida, um den Traum von Maududi und Al-Banna durch den Dauer-Dschihad Wirklichkeit werden zu lassen.
Aber ich greife vor. Werfen wir noch einen genaueren Blick auf die Verbindungen der Muslimbruderschaft zum Nationalsozialismus.