Das Fünfzig-Punkte-Programm

Die demokratischen Parteien Ägyptens waren während des Zweiten Weltkriegs gespalten: Einige wollten sich lieber auf die Seite Großbritanniens schlagen, um nach dem Krieg die endgültige Unabhängigkeit zu erlangen. Anderen wollten, dass Ägypten seine Neutralität behalte, da es mit diesem Krieg nichts zu tun habe. Und wieder andere gingen erneut auf die Straße, um gegen König Farouk zu demonstrieren. Die Muslimbrüder eilten ihm zu Hilfe. Ihre Anhänger stellten sich Demonstranten entgegen, Plakate hochhaltend, auf denen stand: »Allah ist mit dem König.« Hassan Al-Banna schlug mehrfach vor, König Farouk zum amir al-muminin, zum Oberhaupt der Gläubigen, zu krönen und das Kalifat wiederherzustellen. Schon anlässlich der Krönung Farouks 1936 hatte er einen offenen Brief an den neuen Herrscher und andere Führer der arabischen Welt verfasst. Unter der Überschrift »Hin zum Licht« listete er fünfzig Forderungen auf, wie dieser Weg zum Licht zu beschreiten sei. Auch dieser Brief entlarvt die totalitäre, faschistoide Ideologie der Muslimbruderschaft auf erschreckende Weise.

Al-Banna fordert unter anderem:

  1. Die Auflösung aller politischen Parteien und Überführung der politischen Kräfte der Umma in eine vereinigte Front.

  2. Eine Reform der Gesetzgebung in Übereinstimmung mit der islamischen Scharia in allen Einzelheiten.

  3. Die Stärkung des Heeres, die Vermehrung der Mannschaften der Jugend und die Entzündung ihres Kampfgeistes auf der Grundlage des islamischen Dschihad.

  4. Die Stärkung der Kooperation mit anderen islamischen Ländern, um über die Angelegenheit des verlorenen Kalifats nachzudenken.

  5. Die Verbreitung des islamischen Geistes in den Regierungsbehörden.

  6. Die Überwachung des persönlichen Verhaltens der Beamten, weil es keinen Unterschied zwischen persönlichem und beruflichem Leben geben darf.

  7. Die Festlegung der Arbeitszeiten in der Weise, dass sie die Erfüllung gottesdienstlicher Pflichten ermöglicht.

  8. Die Ausrichtung aller regierungsamtlichen Vorgaben (Feiertage, Dienstzeiten) an den islamischen Vorschriften.

  9. Die Einstellung von Absolventen der religiösen Al-Azhar-Institution im militärischen und administrativen Bereich.

Das Fünfzig-Punkte-Manifest gilt bis heute als programmatische Richtlinie nicht nur der Muslimbrüder, sondern auch vieler anderer islamistischer Bewegungen. Es sind Forderungen, die 76 Jahre später im ägyptischen Parlament ausführlich diskutiert wurden – nach dem Wahlsieg der Muslimbrüder 2012! Es ist mir ein Rätsel, wie man angesichts dieser Forderungen davon sprechen konnte, die spätere Absetzung Mursis sei ein Rückschritt in Sachen Demokratie.

Nach der Wahl Mohamed Mursis zum Präsidenten verstärkten die Muslimbrüder ihre Präsenz in allen Institutionen des Landes, um dieses Programm langfristig umsetzen zu können. Ein ganzes Volk wurde in Geiselhaft genommen, das sich letztlich nur mit Gewalt aus dieser Haft befreien konnte, auch wenn es sich dafür undemokratischer Mittel bedienen musste.