Es ist das erste Mal seit einem Jahr, dass er in einem Straßencafé sitzt. Er wirkt auf mich sehr freundlich, aber distanziert. Seine Augen wandern unruhig umher, immer wieder mustert er die Menschen auf der Straße. Dabei macht er nicht den Eindruck, als würde er Angst haben. Er sucht nicht nach potenziellen Jägern, die ihn töten wollen, sondern nach Geschichten und Inspiration für seine Musik. Der Iraner Shahin Najafi beobachtet das Leben um sich herum, schöpft daraus den Stoff für seine Lieder.
Ich treffe ihn am 10. Mai 2013 in Berlin, am Jahrestag der Bücherverbrennung in Deutschland vor achtzig Jahren. Genau ein Jahr zuvor war Shahin in den Untergrund gegangen, die Ayatollahs in seiner Heimat Iran hatten eine Todesfatwa gegen ihn erlassen. Auf ihn wurde ein Kopfgeld in Höhe von 100000 Dollar ausgesetzt. Der Grund: Ein Lied, in dem Shahin in einem fiktiven Dialog Naghi, einen Nachfahren des Propheten Mohamed, aufforderte, zurückzukehren, um den Iran vor der Diktatur zu retten. Der heilige Naghi solle dabei außerdem viel Liebe, Viagra und Silikonbrüste mitbringen, um die Iraner glücklich zu machen.
Shahin bestreitet, religiöse Inhalte bewusst zu nutzen, um zu provozieren: »Ich hatte nie die Absicht, die Religion anzugreifen. Das ist ein Vorwurf derer, die die Religion als ein Werkzeug der Unterdrückung missbrauchen. Ich beziehe den Stoff für meine Kunst aus allem, was mein Leben und das Leben der Iraner beeinflusst. Und dazu gehören auch die Religion und ihre Symbole. Mir geht es in erster Linie um die Kunst. Und meine Kunst hat kein bestimmtes Ziel außer der Freiheit.«
Schon seit langem war der rebellische Untergrundkünstler dem Regime ein Dorn im Auge, denn seine Mullah-kritischen Lieder waren sehr beliebt unter jungen Iranern. Im Jahr 2004 wurde ein Konzert von Shahin in seiner Heimatstadt Bandar Anzali von Schlägerbanden des Regimes gestürmt. Er hatte gerade das Lied »Rish« (Bart) gesungen, in dem er die Mullahs auf die Schippe nahm. Shahin wurde verhaftet und gefoltert, lebte eine Weile im Untergrund, bis ihm 2005 die Flucht nach Deutschland gelang.
Ich unterhalte mich mit Shahin über die Ähnlichkeit zwischen dem Mullah-Regime in seiner Heimat und dem der Muslimbrüder in meiner Heimat Ägypten. Beide waren nach einer friedlichen Revolution an die Macht gekommen, die Freiheit und Gerechtigkeit zum Ziel hatte. Beide nutzten die Demokratie als Vehikel, um – kaum am Ruder – die Demokratie zu vernichten. An der Spitze beider Länder steht eine religiöse Diktatur, die extrem humorlos und allergisch auf jede Form von Kritik reagiert. Auch in Ägypten werden nicht nur religionskritische Schriftsteller, sondern auch Künstler und Satiriker juristisch verfolgt und bedroht.
Diktaturen leben von Legenden und von der Angst der Menschen. Künstler wie Shahin Najafi versuchen, mit Witz und Intelligenz an den Mythen der Diktatoren zu kratzen. Dadurch nehmen sie den einfachen Menschen die Angst vor diesen überhöhten Figuren. Und deshalb werden er und alle, die es wagen, die Grundlagen des Systems in Frage zu stellen, bedroht und beseitigt.
Aber Shahin will sich nicht einschüchtern lassen. Ein Jahr nach der Todesfatwa gibt er an jenem Maiabend sein erstes Konzert. Der Saal in Berlin-Kreuzberg ist gut gefüllt. Als er die Bühne betritt, tobt das Publikum, zum größten Teil Exil-Iraner. Bei jedem Lied ist die Solidarität und Verbundenheit des Publikums mit dem Künstler spürbar. »Shahin bringt uns den Iran ganz nah. Er sagt in einem Satz, wofür andere ein Buch brauchen«, meint eine junge Iranerin. Der Fotograf Hamed Rowshangah hat den Sänger immer im Blick. Er versucht, jede Geste von Shahin festzuhalten. »Dieser Mann ist eine Symbolfigur für uns. Mut und die Liebe zum Leben sind seine Botschaft an die iranische Jugend. Er schreit das laut heraus, was viele im Iran denken, aber nicht zu sagen wagen. Er wehrt sich gegen die Herrschaft der Schriftgelehrten und gegen die Diktatur. Deshalb lieben wir ihn.«
Das Publikum singt fast jedes Lied mit, nur die neuen Songs kennen seine Fans noch nicht. Immer wieder fordern sie: »Naghi, Naghi!« Aber Shahin singt das Lied nicht, das ihm die Fatwa einbrachte. Hat er Angst, oder will er einen Waffenstillstand mit den Mullahs schließen? Natürlich nicht. Er hat das Beste nur bis zum Ende aufgespart: »Hi Naghi«, schreit er, springt von der Bühne und genießt das Bad in der Menge, die ihn regelrecht verschluckt.
»Ich bin wie ein Fisch. Bühne und Publikum sind mein Wasser. Ich kann ohne Auftritt nicht leben«, sagt Shahin hinterher. Die Freude, die Dankbarkeit seines Publikums machen ihn sehr glücklich. Sein größter Wunsch aber ist es, noch in einem freien Iran aufzutreten. »Was wäre das erste Lied, das du dort singen würdest?«, frage ich ihn. »Ich denke, das Lied ›Istadeh Mordan‹ (stehend sterben).« Shahin hat es in der schwierigen Zeit nach der Fatwa geschrieben. »Dieses Lied ist für mich und viele meiner Landsleute ein Symbol des Widerstands. Und dafür, dass man vielleicht bis zu seinem Tod für seine Überzeugung kämpfen sollte.«