Wer kann die Radikalisierung aufhalten?

Die Mehrheit der in Europa lebenden Muslime ist apolitisch und will das Beste für ihre Kinder. Sie pauschal als potenzielle Terroristen anzusehen wäre falsch und ebenfalls eine Gefahr für den Frieden. Eine generelle Verdächtigung oder offene Abneigung kann ebenfalls leicht in Gewalt münden. Aber genau diese schweigende Mehrheit ist nun gefragt. Sie hat es in der Hand, den Extremisten etwas entgegenzusetzen. Doch sie lässt sich kaum mobilisieren, um den Einfluss von Salafisten und konservativen Islamverbänden einzudämmen. Sie lässt Reformer wie Mouhanad Khorchide und Lamya Kaddor alleine kämpfen. Diese Mehrheit schaut einfach nur zu, bis diese Einzelkämpfer entkräftet aufgeben. Wenn das geschehen ist, wird eine Mehrheit der Deutschen behaupten, es gäbe keinen Reformislam, sondern nur »Vogelisten« und Dschihadisten. Was die apolitischen Muslime wiederum als Rassismus und Diskriminierung deuten werden. Ein Teufelskreis.

Ich verstehe, dass ein »normaler« Muslim nicht ständig auf seine Religion, vor allem nicht auf die unangenehmen Seiten dieser Religion angesprochen werden will. Ich verstehe, dass ein muslimischer Student in Köln sich nicht entschuldigen will für die Taten eines Terroristen aus Afghanistan oder für die Steinigung einer Frau im Iran. Aber wenn eine große Zahl dieser normalen Muslime auf die Straße geht, um gegen die Mohamed-Karikaturen oder einen antiislamischen Film zu protestieren, dann erwarte ich, dass mindestens genauso viele normale Muslime gegen den zunehmenden Einfluss der Islamverbände und Salafisten auf die Straße gehen. Denn es geht schließlich nicht nur um das Image des Islam, sondern auch um die Zukunft ihrer eigenen Kinder in dieser Gesellschaft.

Gleichzeitig ist der Staat gefragt. Er darf den Islamverbänden nicht zu viel Macht einräumen, denn Menschen, die sich im Namen der Religion organisieren und eine Lobby bilden, wollen oft ein religiös-konservatives Gesellschaftsbild einfrieren und – von oben legitimiert – mehr Macht und Einfluss über die Angehörigen ihrer Religion erlangen.

Liberale Muslime organisieren sich seltener in großen Vereinen als konservative, weil sie sich als Individuen sehen. Und sie streben nicht in dem Maße nach Macht und politischem Einfluss. Genau das nutzen die Verbände aus; weil niemand den Mund aufmacht und dagegen aufbegehrt oder sich organisiert, können sie sich als Vertreter aller Muslime ausgeben. Themen wie Islamunterricht, die Befreiung muslimischer Schülerinnen vom Schwimmunterricht, das Tragen des Kopftuchs bei Lehrerinnen und Staatsbediensteten – all das sind Themen, die von konservativen Islamverbänden initiiert wurden. Der Staat hat das Erstarken dieser Vereinigungen hingenommen, weil er, vor allem nach dem 11. September dringend muslimische Gesprächspartner brauchte. Der Dialog an sich ist wichtig und richtig. Doch wo man sich früher in kleinen Moscheen mit Gesellschaftsräumen eingefunden hat und ethnisch gesehen unter sich blieb, wurden die Muslime nun ermutigt, sich zu institutionalisieren. Wo früher Türken unter sich blieben, Iraner nichts mit Marokkanern zu tun hatten und so weiter, formten sich nun Organisationen, die vermeintlich für alle sprechen.

Gerade in Deutschland ist diese Institutionalisierung höchst problematisch. Denn die Islamverbände wollen – wie die christlichen Kirchen und die jüdische Gemeinde – Körperschaft des öffentlichen Rechts werden. Sie berufen sich auf das sogenannte Staatskirchenrecht, eine Vereinbarung, die wie kaum eine in den vergangenen Jahrhunderten von historischen Entwicklungen beeinflusst wurde. Nach der Säkularisierung etwa wurden die Kirchen für ihre Gebietsverluste vom Staat entschädigt; er verpflichtete sich, für sie Steuern einzutreiben und ihnen im Gegenzug Aufgaben in der Bildung oder im Gesundheitswesen zu übertragen.

Seit der Trennung von Staat und Kirche ist der Staat zu »weltanschaulicher Neutralität« verpflichtet. Da die Verfassung die Religionspflege zwar nicht als staatliche, aber doch als öffentliche Aufgabe betrachtet, fördert der Staat Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften.

Die Gesellschaften im 21. Jahrhundert werden immer heterogener und multikultureller. Die Zuwanderer sind in erster Linie Menschen, die menschliche Bedürfnisse haben: Bildung, Arbeit, Menschenrechte. Sie sind Individuen, die individuelle Rechte brauchen, bevor sie Rechte als Gruppe erlangen. Man tut den Muslimen meines Erachtens keinen Gefallen, wenn man die Islamverbände politisch aufwertet und den Islam auf die gleiche Institutionalisierungsstufe wie die christlichen Kirchen stellt. Dadurch bekämpft man nicht die latent vorhandene antimuslimische Stimmung, sondern steigert die Ressentiments gegen Muslime. Die Lösung kann aus meiner Sicht nicht heißen, dass die muslimischen Organisationen die gleichen Privilegien genießen wie die Kirchen, sondern dass die Kirchen vielleicht auf einige liebgewordene Privilegien verzichten und einige Aufgaben wieder an den Staat übertragen. Das Staatskirchenrecht mag in der Vergangenheit seine Berechtigung gehabt haben, den Anforderungen des 21. Jahrhunderts hält es aber meines Erachtens nicht stand. Der Staat soll für eine neutrale Wissensvermittlung sorgen. Er kann Kindern Instrumente des freien, kritischen Denkens mitgeben, aber er sollte ihnen keine vorgefertigten religiösen Wahrheiten präsentieren. Nicht im evangelischen, nicht im katholischen, nicht im islamischen Religionsunterricht. Religionskunde an sich halte ich für sinnvoll. Dort können die Schüler Informationen über die Entstehung der unterschiedlichen Religionen bekommen, über die verschiedenen Lehren und die historische Entwicklung der religiösen Gemeinschaften. Aber nicht mehr und nicht weniger. Wer von Muslimen verlangt, ihre Tradition zu hinterfragen – und das tue ich –, muss auch vom deutschen Staat verlangen, seine Bildungstradition und seine Beziehung zu den christlichen Gemeinschaften zu hinterfragen. Eine Überbetonung von Religion, egal welcher Ausprägung, vergiftet die Stimmung und macht eine offene Debatte sehr schwer.

Statt den Islamverbänden mehr Privilegien zu geben, sollte man jungen Muslimen als Individuen größere Chancen einräumen, in unserer Gesellschaft zu reüssieren. Viele Türken haben die Erfahrung gemacht, dass ihr Name allein ausreicht, nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden – oder dass der Personaler seine Verwunderung darüber ausdrückt, wie gut der Bewerber Deutsch könne. Solche Mauern, nicht nur in den Köpfen, müssen eingerissen werden. Damit ließe sich sehr viel mehr erreichen als mit jeder Islam-Konferenz.

Wir alle brauchen mehr Zeit. Muslime müssen lernen, anders mit Kritik gegen ihre Religion umzugehen, Deutsche müssen lernen, dass auch ein schwarzhaariger Muslim ein Deutscher sein kann. Zeit allein ist natürlich kein Garant für Veränderung, denn wir leben nicht auf einer Insel der Glückseligkeit. Probleme in der islamischen Welt schwappen auch nach Deutschland herüber, sie beinflussen das Zusammenleben und begünstigen Ressentiments.

Ich habe lange die Hoffnung gehegt, dass junge Muslime, die hier in Wohlstand und Freiheit aufgewachsen sind und in den Genuss einer modernen, umfassenden Bildung kamen, den Fortschritt und den Gedanken der Freiheit in die islamische Welt tragen werden. Doch die ideologischen und strukturellen Probleme der muslimischen Communities im Westen und die Geisteshaltung vieler Europäer gegenüber »den Muslimen« führte eher zum Gegenteil. In Deutschland stellt man gerade unter den Enkeln der ersten Gastarbeitergeneration eine Rückentwicklung fest. Traditionelle Lebensformen werden propagiert, Haltungen und Einstellungen, die selbst in Istanbul und Casablanca nicht mehr gelten. Während in den islamischen Ländern der Widerstand gegen den islamischen Faschismus wächst, der in Ägypten mit dem Sturz der Muslimbruderschaft gekrönt wurde, findet das rückgewandte, faschistoide Denken der Salafisten immer mehr Anhänger im Westen. Hier ist der Virus besonders aktiv – und er mutiert schneller, als man denkt.

Ein mutiger langer Kampf auf beiden Seiten ist nötig, um langfristig Erfolge zu erzielen. Trägheit, Gleichgültigkeit und Schweigen sind genauso schlimm und gefährlich für Europa wie der islamische Fundamentalismus an sich. Aktionismus und Lippenbekenntnisse führen zu nichts. Eine Debatte über den Islam darf weder Ängste schüren noch alle Muslime unter Generalverdacht stellen. Sie sollte vielmehr übergehen in eine Debatte über den Einfluss von Religion im Allgemeinen. Wenn wieder ausgegrenzt und Mauern errichtet werden, macht sie keinen Sinn. Ganz grundsätzlich sollte eine solche Debatte uns ermutigen, mehr Säkularismus in Deutschland zu wagen!