Nach dem Sturz der Diktaturen in Ägypten und Tunesien wurde das Königshaus in Marokko unruhig und entschied sich, eine sanfte, kontrollierte Revolution zuzulassen. Studenten und Islamisten waren auf die Straße gegangen und hatten Reformen gefordert. Die Wut der Bürger hatte sich dabei nicht gegen den beliebten König Mohammed VI. gerichtet, sondern gegen die linke Regierung. Eine neue, dem Anschein nach freiheitliche Verfassung wurde in Windeseile verabschiedet, um die liberalen Kräfte zufriedenzustellen. Wahlen fanden statt, und die Islamisten durften zum ersten Mal in der Geschichte des Landes die Regierung bilden.
Der junge Blogger Imad Iddine Habib wollte die neue Verfassung auf ihre Alltagstauglichkeit testen. In Artikel 3 wird die Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert. Habib kündigte die Gründung des »Zentralrats der Ex-Muslime in Marokko« an. Eine Woche später verfügte der höchste Gelehrtenrat – ein Verfassungsorgan, das vom König geleitet wird –, dass gegen Apostaten eine Fatwa ausgesprochen werden dürfe, die bis zur Hinrichtung gehen könne.
Imad Iddine Habib weiß, dass die marokkanische Justiz im Ernstfall nicht wirklich ein Todesurteil gegen einen Apostaten fällen würde, da der König sein Image im Westen als reformorientierter Monarch nicht beschädigen wolle. Er meint, es handele sich hier nur um einen billigen Flirt mit den Islamisten. Die Gefährlichkeit dieser Fatwa liegt für ihn darin, dass religiöse Eiferer sich dadurch ermächtigt fühlten, eigenhändig Apostaten zu töten, wo auch immer sie sie fänden. »Wie soll die Justiz dann mit dem Täter umgehen? Er hat doch nur Gottes Willen vollstreckt, so wie er in der Fatwa steht!«
Habib ließ sich von der Fatwa nicht beeindrucken. Mit einer weiteren Provokation wollte er die Verfassung endgültig als Farce entlarven. Er gründete mit dem im Züricher Exil lebenden Ex-Muslim Kacem El Ghazzali die Bewegung masayminsh, zu Deutsch »Wir fasten nicht«. »Zur Glaubensfreiheit gehört doch das Recht, sich an die religiösen Gebote nicht halten zu müssen«, sagt er. Seine Bewegung rief nicht nur zum Boykott des Fastenmonats Ramadan auf, sondern organisierte auch öffentliche Workshops für Konfessionslose. Als die Behörden merkten, dass die Ideen auf breite Zustimmung unter jungen Marokkanern stießen, wurde Haftbefehl gegen Habib erlassen, er wurde polizeilich gesucht. Seine Familie wandte sich von ihm ab, und selbst seine säkularen Freunde warfen ihm vor, zu weit gegangen zu sein. Wenige Monate vor dem Abschluss seines Studiums am Institut für Physiotherapie musste Habib untertauchen, ohne Geld und ohne Perspektive. Sollte er verhaftet werden, könnte er zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt werden.
Ich treffe Imad Iddine Habib in Casablanca – und kann kaum glauben, dass ich vor einem 22-Jährigen stehe. Er wirkt alt, verbittert und gestresst. Enttäuscht ist er in erster Linie von seinen Freunden, die sich Freiheitskämpfer und Menschenrechtler nennen würden, sich aber zugleich von ihm distanziert hätten und ihm vorwerfen, er habe ihrer Sache durch seine »unnötigen Provokationen« geschadet. Die Zeit sei einfach noch nicht reif. »Wenn alle denken, es ist noch nicht die richtige Zeit, dann wird die richtige Zeit nie kommen. Irgendjemand muss ja einmal den Mund aufmachen. Ich lebe jetzt, und ich will die Freiheit jetzt«, sagt er.
Imad Iddine Habib wurde bereits mit vierzehn Atheist. Sein Koranlehrer hatte ihm gruselige Geschichten von den Qualen in der Hölle erzählt, lange hatte er Alpträume. »Ich war bereit, alles zu tun, um diese Angst loszuwerden. Am Ende blieb mir nichts anderes übrig, als den Koran abzulehnen. Ich habe mir eines Nachts gesagt: Es gibt keinen Gott, und den Koran hat nur ein Mensch aus der Wüste geschrieben. Das war meine Befreiung. Danach hatte ich keine Alpträume und keine Schuldgefühle mehr.«
Die Loslösung – für ihn war sie so einfach. Deshalb kann er nicht verstehen, warum Millionen von Gläubigen sich das Leben so schwermachen, warum Menschen für eine aus seiner Sicht fiktive Figur namens Gott andere Menschen töten. »Religion bedeutet Überwachung. Und Überwachung führt zu Paranoia und Schizophrenie. Schauen Sie sich unsere Gesellschaft an. Die meisten sind doch krank.«
Es gibt unzählige Atheisten in Marokko, aber die meisten von ihnen bewegen sich fast ausschließlich in der virtuellen Welt. Wer sich in der realen Welt zeigt, wird sofort verfolgt. Eine Religion, die von sich behauptet, die letzte wahre Religion zu sein, hält keine Kritik aus. »Wenn es tatsächlich einen Gott gäbe, würde es ihm dann schaden, dass ich nicht an ihn glaube?«, fragt Habib. Nein, es gehe nicht um Gott, sondern um die Macht derer, die in seinem Namen handelten. Religion stützt die Macht des Königs, der »das Oberhaupt der Gläubigen« genannt wird, und somit eine zusätzliche Legitimation bekommt. Vor allem in Zeiten des Umbruchs. Wer die Unantastbarkeit der Religion in Frage stellt, zweifelt auch an der absoluten Macht des Königs. »Vermutlich denkt der König über die Religion genauso wie ich, aber er kann es nicht laut sagen«, schmunzelt Habib. »Im Ernst: Warum sollte er die Menschen aufklären, wenn er selbst von ihrer Unwissenheit am meisten profitiert?«
Habib erzählt, dass er vor einigen Wochen völlig verzweifelt gewesen sei und einen Freund aufgesucht habe, der bei einer internationalen Menschenrechtsorganisation arbeitet. Der Freund habe ihm mitgeteilt, dass er leider nichts für ihn tun könne – Imad Iddine habe sich verrannt, sich selbst sozusagen von innen eingesperrt. Er empfahl ihm, zu einem Psychiater zu gehen, um seine mentalen Störungen in den Griff zu bekommen. Oder aber auf seiner Facebook-Seite Reue zu zeigen und das Glaubensbekenntnis des Islam »Es gibt keinen Gott außer Allah« zu posten. Nur so sei er vielleicht noch zu retten. Imad Iddine ging müde und enttäuscht zurück in sein Versteck, öffnete seinen Laptop und postete auf Facebook: »Es gibt keinen Gott außer Mickymaus!«