Es gibt vier unterschiedliche theologische Rechtsschulen im Islam. Die malikitische, die schafiitische und die hanafitische Schule gelten als moderat, da sie begrenzte Interpretationsmöglichkeiten des Koran und der islamischen Tradition vorsehen. Ein Muslim, der nach einer dieser drei Schulen lebt, hat gelegentlich die Möglichkeit, zwischen mehreren Verhaltensweisen wählen zu können, die ihm das Leben in der modernen Welt erleichtern. Dabei muss er den Rahmen der islamischen Ordnung nicht verlassen. Letztlich sind aber auch diese drei Schulen konservativ, da sie Interpretations- oder Ermessensspielräume nur dann vorsehen, wenn sich keine eindeutige Textstelle im Koran oder keine Aussage des Propheten zu einem bestimmten Thema finden lassen. Da der Prophet Zigtausende Aussagen hinterließ, die einem Muslim in jeder erdenklichen Lebenssituation einen Anhaltspunkt geben, ist der Spielraum für Interpretationen sehr eng.
Die konservativste aller Rechtsschulen ist jedoch die hanbalistische, die im 9. Jahrhundert nach der Spaltung der Muslime in Schiiten und Sunniten von Ahmad Ibn Hanbal (780–855) in Bagdad gegründet wurde. Bagdad war zu jener Zeit eine weltoffene Stadt, die nicht nach den Gesetzen der Scharia regiert wurde. Alkohol, Tanz und Gesang gehörten zum Alltag. Und am Hof des Kalifen wurden sogar Poesiewettbewerbe veranstaltet, bei denen jüdische, muslimische und christliche Dichter gegeneinander antraten und in ihren Texten auch die Religionen der jeweils anderen kritisierten. Manche dieser Gedichte griffen den Propheten Mohamed direkt an, ohne dass dies als Beleidigung verstanden wurde. Bemerkenswert ist ebenfalls, dass in dieser Zeit islamische Rechtsschulen entstanden, die selbst die Göttlichkeit und Unfehlbarkeit des Koran in Frage stellten. Eine dieser Schulen war die Mu’tazila-Schule, die die Texte des Koran nur im Kontext des 7. Jahrhunderts las. Ihre Anhänger entfachten eine Debatte darüber, ob der Koran tatsächlich ein »ewiges Buch Gottes« oder nicht vielmehr ein auf die Zeit seiner Entstehung bezogenes Dokument sei – ohne weitreichende Bedeutung für die folgenden Jahrhunderte. Da sich das Leben im Bagdad des 9. Jahrhunderts so vollkommen von dem in den Städten Mekka und Medina im 7. Jahrhundert unterschied, sahen sich die Anhänger der Mu’tazila-Schule nicht verpflichtet, die Rechtsordnung von Mohameds Zeit eins zu eins zu übernehmen. Eine Haltung, die heute in der islamischen Welt kaum vorstellbar ist, ebenso wie das tolerante Miteinander am Hof des Kalifen von Bagdad.
Mit der Expansion des Islam auf Gebiete der ehemaligen persischen und byzantinischen Reiche kamen muslimische Denker mit der griechischen Philosophie und mit jüdischen und persischen Erzählungen in Kontakt. Eine neue islamische Theologie entstand, die bemüht war, vernünftig zu argumentieren, um mit den Anhängern der anderen Religionen mithalten zu können. Eine Entwicklung, die konservativen Kräften Sorge bereitete. Ibn Hanbal fürchtete, dass die Spaltung der Muslime fortschreiten und immer neue theologische Schulen miteinander konkurrieren würden, wenn man nicht zum Koran und den Aussagen des Propheten zurückkehrte und sie wortwörtlich interpretierte. Interpretationsspielräume würden den Weg ebnen für sektiererische Abspaltungen und langfristig zu Bürgerkriegen führen. Deshalb gründete er jene ultrakonservative Rechtsschule, die den Kern des fundamentalistischen Islam bis heute ausmacht. Doch im reichen Bagdad stieß Ibn Hanbals theologisches Konzept zunächst auf taube Ohren. Und nicht nur das: Hanbal wurde wegen seiner streng orthodoxen Haltung sogar ins Gefängnis gesteckt.
Die relativ moderaten Rechtsschulen florierten dagegen in den Zeiten des Wohlstands und der Stärke des islamischen Imperiums und prägten die Rechtsordnung in Andalusien, Bagdad und Kairo. Die Stunde der hanbalitischen Schule schlug erst in Phasen der Krise und Schwäche, der Spaltung und der Niederlage. Während der Kreuzzüge etwa wurde die islamische Welt von einer Welle der Orthodoxie regelrecht überrollt. Man träumte von einem gläubigen Herrscher, der alle Muslime unter der Fahne des Islam einen und die christlichen Eroberer zurückschlagen würde. Saladin kam dem ziemlich nahe. Er rief den Dschihad aus, besiegte die Kreuzfahrer und befreite Jerusalem im Jahr 1187 von der christlichen Herrschaft. Der Traum von der Einheit aller Muslime und des Sieges über den Westen durchzieht seitdem die Geschichte, jeder islamistische Führer eifert Saladin nach und träumt von der Renaissance der Goldenen Zeit des Islam.