Kapitel 4

Sein Kampf, unser Kampf – der arabische Antisemitismus

In einer seiner Kurzgeschichten erzählt Anton Tschechow von zwei Patienten einer Klinik, die einander wie die Pest hassen. Kein Tag vergeht, ohne dass die beiden miteinander streiten. Eines Tages teilen die Krankenpfleger einem der beiden mit, dass der andere gestorben sei. Sie rechnen damit, dass er vor Freude durch das Zimmer tanzen wird. Doch nichts dergleichen geschieht. Am kommenden Tag finden die Pfleger ihn tot auf dem Boden liegend. Der Konflikt mit dem anderen Patienten hat seinem Leben einen Sinn gegeben. Nachdem dieser verstorben war, machte sein Leben keinen Sinn mehr. Es war nicht miteinander gegangen, aber auch nicht ohneeinander.

Man könnte überspitzt sagen, dass diese Geschichte die Beziehung zwischen Muslimen und Juden beschreibt. Zumindest, was die islamische Seite angeht.

Nirgendwo ist der Antisemitismus so stark ausgeprägt wie in der arabischen Welt. Man kann dies mit der Gründung Israels und den darauffolgenden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Arabern und dem jüdischen Staat begründen. Man kann sagen, dass die NS-Propaganda hier während des Zweiten Weltkriegs auf besonders offene Ohren gestoßen ist. Tatsächlich spielt Hitlers Buch »Mein Kampf« im arabischen Antisemitismus eine größere Rolle als der Koran. Schon Jahre vor der Gründung Israels prägte die Nazi-Propaganda in Nordafrika das Bild der Juden in der arabischen Welt. Hitlers Vorstellung von einer jüdischen Weltverschwörung kam bei den Arabern, die selbst unter dem permamenten Gefühl der Erniedrigung und Niederlage litten, sehr gut an. »Mein Kampf« und »Die Protokolle der Weisen von Zion«, die überall in der Welt verboten sind und dies auch bleiben sollten, sind seit Jahrzehnten Dauerbestseller in der arabischen Welt. Auf der Website der Hamas wird aus den »Protokollen« zitiert, als handle es sich bei diesem antijüdischen Pamphlet nicht um eine Fälschung, sondern um den tatsächlichen Beleg für eine jüdische Weltverschwörung.

Man kann aber auch noch einen Schritt zurückgehen und die Frage stellen, ob das tatsächlich ein vergleichsweise neues Phänomen ist oder ob die Wurzeln des arabischen Antisemitismus nicht noch viel weiter zurückreichen.

Schon immer hatte der Hass gegen Juden viel mehr mit dem Selbstbild der Muslime zu tun als mit den Juden selbst. Dies gilt zwar für den Antisemitismus weltweit – auch in Deutschland gelangte er zu einer besonders üblen Blüte, als das eigene Selbstbild schwer angeknackst war –, doch die Beziehung der Araber zu den Juden ist noch einmal anders. Sie sind sich viel ähnlicher, als sie zugeben wollen. Sie haben sich in den letzten zwei Jahrhunderten jedoch in zwei unterschiedliche Richtungen entwickelt beziehungsweise, was die arabische Seite angeht, zurückentwickelt.

Die Ressentiments wurden zwar immer wieder in der islamischen Geschichte geschürt, es gab aber auch Zeiten, in denen Muslime und Juden anders miteinander umgingen. Denn trotz mancher Spannungen gab es keine genuin islamische Theologie des Hasses gegen Juden, wie das im Christentum der Fall ist. Christen machen die Juden für die Ermordung Jesu verantwortlich. Eine weitere Begründung für den europäischen Antisemitismus lieferte das Mittelalter: Bei Christen waren Geldgeschäfte und Handel verpönt, sie blieben den Juden vorbehalten, die gleichzeitig aus den Handwerkszünften ausgeschlossen wurden.

Beide Punkte waren für die Araber kein Problem; Jesus spielt für sie nur eine marginale Rolle, zudem waren sie selbst Händler und hatten in Sachen Geschäfte und Geld keine Berührungsängste. Ursprung des Konflikts zwischen Muslimen und Juden ist die Rivalität um Wahrheit und Territorium. Ein Kampf, den die Muslime zumindest in Sachen Land früh für sich entschieden. Denn die Juden, die niemanden missionieren wollten, blieben ein kleines Volk, während die Muslime innerhalb eines Jahrhunderts durch Eroberungskriege ein Gebiet von Persien bis Andalusien unter ihre Herrschaft brachten. Dort lebten bis zum 16. Jahrhundert 95 Prozent aller Juden.

Bis dahin hatte es immer wieder Wellen jüdischer Migration in die arabische Welt hinein gegeben. Die erste hatte bereits in vorislamischer Zeit stattgefunden. Die zweite erfolgte Ende des 15. Jahrhunderts nach der christlichen Rückeroberung Andalusiens. Viele Juden wanderten damals nach Nordafrika und Ägypten aus und wurden dort freundlich empfangen. Das Osmanische Reich ermutigte sie regelrecht, nach Istanbul und Saloniki zu kommen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich flohen mehrere Zehntausend Juden vor dem europäischen Antisemitismus und siedelten sich in Palästina an. Doch dieses Mal waren sie nicht willkommen. Mit dem Untergang des Kalifats hatte sich ein unbändiger muslimischer Hass gegen die Juden Bahn gebrochen, der bis heute nicht wieder unter Kontrolle gebracht werden konnte.

 

Der zweite Kern des Bruderzwists zwischen Juden und Muslimen liegt im Kampf um das Erbe Abrahams begründet und um die Deutungshoheit der beiden monotheistischen Glaubensrichtungen. Nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer im Jahr 70 nach Christus waren viele Hebräer aus Palästina ausgewandert und hatten sich in der Stadt Yathrib auf der arabischen Halbinsel niedergelassen; die Stadt wurde über fünf Jahrhunderte später von Mohamed Medina genannt. Die vorislamischen Araber empfanden die jüdischen Einwanderer damals nicht als Bedrohung. Im Gegenteil, lange lebten die Juden von Medina mit den polytheistischen Arabern friedlich zusammen, verkauften Wein, Waffen und Werkzeuge. Auch zum blühenden Nachtleben sollen sie maßgeblich beigetragen haben. Sie mischten sich nicht ein in innerarabische Auseinandersetzungen und wahrten im Kriegsfall Neutralität. Sie fungierten manchmal sogar als Schlichter in Konflikten um Wasserquellen und Land. Dann kam Mohamed. Wie bereits geschildert, durchlief der Prophet eine Radikalisierung und wandelte sich im Laufe der Zeit vom Bewunderer jüdischer Traditionen und Überzeugungen zum erklärten Gegner, der ganze Stämme vernichten ließ. Mohamed sah die Auseinandersetzung zwischen Juden und Muslimen nicht als temporäre Episode, weil sich diese gegen ihn und seine Politik wandten. Sondern als einen lang andauernden Schicksalskampf, der erst am Ende der Zeit entschieden würde. Er prophezeite: »Das Jüngste Gericht wird nicht kommen, bis die Muslime die Juden bekämpfen und umbringen; bis der Jude sich hinter den Steinen und Bäumen versteckt, und der Stein und der Baum werden sagen: Oh, du Muslim, oh, du Diener Allahs, dies ist ein Jude, der sich hinter mir versteckt, komm und bring ihn um!«

Diese Prophezeiung beflügelt bis heute die »Ausrottungsphantasien« vieler Islamisten, die den Kampf gegen die Juden als heilige Mission betrachten. Friedensverträge und Rückgabe von besetzten Gebieten sind für sie kein Argument, den Krieg gegen die Juden zu beenden. Die Juden gelten als ewige Verräter, und der Kampf gegen sie wird zum göttlichen Plan, der erst mit der Vernichtung aller Juden abgeschlossen ist.

Nach dem Tod Mohameds und der fortschreitenden Ausbreitung des Islam durch Eroberungen war der Umgang der Muslime mit Andersgläubigen wieder von Pragmatismus bestimmt. Die muslimischen Eroberer waren auf die Zusammenarbeit mit Christen und Juden angewiesen. Viele von ihnen waren Ärzte, Handwerker und Übersetzer, die für das neue Imperium enorm wichtig waren. In der sogenannten Goldenen Zeit der Abbassiden, vor allem zwischen dem 9. und dem 11. Jahrhundert, inspirierten sich die Kulturen gegenseitig. Viele Juden machten sich als Berater von Kalifen, als Wissenschaftler, Dichter und Philosophen einen Namen und inspirierten die muslimische Philosophie. Am Hofe des Kalifen von Bagdad wurden, wie bereits erwähnt, Poesiewettbewerbe zwischen jüdischen, christlichen und muslimischen Dichtern veranstaltet. Ihre teils polemischen Texte waren auch dem Volk bekannt und führten weder zu Massendemonstrationen noch zu Pogromen. Vergleicht man die tolerante Haltung der Muslime im 9. Jahrhundert mit der der Muslime im 21. Jahrhundert, erkennt man, welche Entwicklung die islamische Welt in den letzten tausend Jahren genommen hat. Ich erinnere nur an die Folgen der Veröffentlichung der Mohamed-Karikaturen in Dänemark.

Jüdische und arabische Kultur beeinflussten und befruchteten sich. Die Tora wurde ins Arabische übersetzt, die jüdische Theologie durch die Auseinandersetzung mit der islamischen Philosophie und Theologie bereichert, was zur Erneuerung des jüdischen Denkens führte. Der arabische Einfluss wurde erst im 19. Jahrhundert schwächer, als das Judentum mehr von der europäischen Kultur als von der arabischen geprägt wurde.