Eigentlich begann Sayyid Qutb (1906–1966) seine Karriere als Literaturkritiker. Ihm ist es zu verdanken, dass die literarische Welt den späteren Nobelpreisträger Naguib Mahfuz kennenlernte. Qutb war der Erste, der schon in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit mehreren Artikeln auf das literarische Talent des ägyptischen Autors aufmerksam machte. Dass man Qutb heute eher wegen anderer Dinge in Erinnerung hat, liegt daran, dass der westlich orientierte Intellektuelle Qutb während eines Aufenthalts in den Vereinigten Staaten Ende der vierziger Jahre in eine schwere Identitätskrise geriet. Im Auftrag des Bildungsministeriums war er für zwei Jahre in die USA geschickt worden, um das amerikanische Bildungssystem zu studieren. Qutb war entsetzt, dass in Amerika ihm wichtige Werte mit Füßen getreten wurden, dass Rassismus, Promiskuität und die Überhöhung der Bedeutung des Geldes zum Alltag gehörten. All das bewirkte einen radikalen Bruch mit seinem bisherigen Leben. Nach einer religiösen Erweckungserfahrung begann er, die Werke des indischen Theologen Abul Ala Maududi zu studieren.
Maududi, den der Zusammenbruch der islamischen Kalifat-Bewegung 1924 schwer erschüttert hatte, hatte die Muslime weltweit dazu aufgerufen, die Moderne abzulehnen und zu den Wurzeln des Islam zurückzukehren. Den Dschihad betrachtete er nicht nur als ein Mittel zur Selbstverteidigung, sondern als ein Instrument, um alles in der Welt zu bekämpfen, das gegen die islamische Gesellschaftsordnung und Gesetzgebung verstieß. Der Islam war für ihn mehr als eine Religion: ein System, das alle Bereiche des Lebens durchdringt. Islam bedeutete für Maududi Politik, Wirtschaft, Gesetzgebung, Wissenschaft, Humanismus, Gesundheit, Psychologie und Soziologie. Er beschwor die Notwendigkeit einer islamischen Weltrevolution, die den Lauf der Geschichte verändern würde, und rief alle Muslime auf, sich daran zu beteiligen. Und zwar unabhängig davon, ob sie in einem islamischen oder unislamischen Land lebten. Muslimische Denker und Literaten sollten die theoretische Grundlage für diese Revolution liefern, denn »der deutsche Nationalsozialismus wäre niemals so erfolgreich gewesen ohne den theoretischen Rahmen, den Fichte, Goethe und Nietzsche bereitgestellt haben. Hinzu kam die geniale und starke Führung von Hitler und seinen Kameraden«, wie er gerne betonte.
Ähnlich wie im Faschismus misst Maududi der Opferbereitschaft der Muslime einen hohen Stellenwert zu. Qutb folgt Maududis Aufruf: »Wenn ihr an die Richtigkeit des Islam glaubt, bleibt euch nichts anderes übrig, als eure ganze Kraft einzusetzen, um sie auf Erden vorherrschen zu lassen. Entweder schafft ihr dies, oder ihr opfert euer Leben in diesem Kampf.«[3]
Ein Aufruf, in dem die ewige Attraktivität des Dschihad für junge Muslime begründet ist. Denn durch den Dschihad kann ein junger Muslim seine Ohnmacht und Hilflosigkeit überwinden. Im Kampf kann er entweder siegen und Gottes Willen auf Erden vollstrecken, oder er wird im Kampf fallen und mit dem ewigen Paradies belohnt. Eine Win-win-Situation sozusagen.
Auch die Tötung anderer ist Maududi zufolge in Kauf zu nehmen: »Das größte Opfer für die Sache Gottes wird im Dschihad dargebracht, denn in diesem Kampf gibt der Mensch nicht nur sein eigenes Leben und sein Hab und Gut hin, sondern er vernichtet auch Leben und Eigentum anderer. Doch wie bereits dargelegt, ist einer der Grundsätze des Islam, dass wir einen geringeren Verlust auf uns nehmen sollten, um uns vor einem größeren Schaden zu schützen. Was bedeutet der Verlust einiger Menschenleben, selbst wenn es einige Tausende oder mehr sein sollten, gegenüber dem Unheil, das die Menschheit befallen würde, wenn das Böse über das Gute und der aggressive Atheismus über die Religion Gottes den Sieg davontragen würde.«[4]
Inspiriert von der Lektüre, begann Sayyid Qutb noch in Amerika, eigene Schriften zu verfassen. In seinem ersten Essay mit dem Titel »Amerika, das ich kannte« beklagt er sich über die Dekadenz und den Konsumwahn des Westens und hebt die Vorzüge einer islamischen Gesellschaft hervor. In seine Zeit in Amerika fiel die Gründung des Staates Israel; er erfuhr von der Niederlage der arabischen Armeen und hörte ein Jahr später von der Ermordung Hassan Al-Bannas, des Begründers der Muslimbruderschaft. Er kehrte nach Kairo zurück, schloss sich 1951 der Bruderschaft an und wurde ihr wichtigster Vordenker. Seine beiden Bücher »Zeichen auf dem Weg« und »Die Zukunft dieser Religion« gelten bis heute als die maßgeblichen Werke des Islamismus. Als linker Islamist unterstützte er zunächst die sozialistische Politik von Präsident Nasser. Doch als dieser 1954 nach dem gescheiterten Attentat auf ihn die Muslimbruderschaft verbieten ließ, wandte er sich von Nasser ab und nannte dessen Herrschaft unislamisch. Getreu den Lehren Ibn Taymiyyas dürfe man Nasser nicht gehorchen oder als Regent anerkennen, da er die Gesetze der Scharia nicht eingeführt habe.
Von nun an betrachtete Qutb Ägypten nicht länger als ein islamisches Land, das nur einige islamische Reformen brauche, sondern als ein Land des Unglaubens, das eine islamische Eroberung benötige. Eine wichtige Rolle in Qutbs Denken spielte dabei der Begriff Dschahiliyya, der eigentlich den Zustand der vorislamischen Welt im Sinne von »Unwissenheit« meint. Ibn Taymiyya hatte die Bedeutung einst erweitert: für ihn umfasste Dschahiliyya jede Abweichung einer Gesellschaft vom Islam. Qutb forderte alle Muslime auf, sich zunächst von allem Unislamischen zu reinigen. Erst wenn jeder Einzelne den wahren Glauben und die richtige Überzeugung verinnerlicht habe, könne sich eine starke unabhängige Gesellschaft bilden. Qutb hoffte auf einen Ruck, einen Dominoeffekt, der durch die islamische Welt gehen würde; ein Erwachen, das die Umma des Islam in die glorreichen Zeiten zurückkatapultieren sollte.
Von dem indischen Theologen Maududi entlieh er auch den Begriff hakimiyyatu-Allah, der die absolute Herrschaft Gottes auf Erden bezeichnet. Diese Herrschaft Gottes steht jeder Form von Nationalstaat, Demokratie oder Souveränität eines Volkes entgegen. Laut Qutb kann eine Regierung ihre Souveränität nur auf Allah begründen, indem sie in seinem Namen regiert. Gesetze und Handlungen, die sich nicht von den heiligen Texten des Islam ableiten, seien nicht legitimiert. In der Dschahiliyya, jenem Zustand, in der sich nach Qutb alle Gesellschaften befänden, die nicht der Scharia folgten, werde die Souveränität aber auf den Menschen übertragen. Und das sei Blasphemie.
Auch Ibn Taymiyyas Prinzip des Dauer-Dschihad war für Sayyid Qutb von zentraler Bedeutung. Damit die Herrschaft Gottes auf Erden nicht nur ermöglicht, sondern dauerhaft gefestigt werden könne, müsse der Dschihad zur Lebensphilosophie erhoben werden, zur sechsten Säule des Islam, zur Pflicht für jeden Muslim.
Sayyid Qutbs Denken war konservativ und fundamentalistisch. Und dennoch war es in gewisser Weise revolutionär. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten islamische Gelehrte nämlich selbst Willkür und Dekadenz mancher Herrscher in Kauf genommen, um Bürgerkriege zu vermeiden. Man gab sich staatstragend im Wortsinn, der Dschihad galt als eine zeitlich begrenzte Aktion, die ein Herrscher ausrief, wenn muslimische Gebiete angegriffen wurden oder wenn ein neues Gebiet erobert werden sollte. Doch mit Qutb wurde der Dschihad privatisiert. Wer als Herrscher keinem Gottesstaat vorstand, war nicht legitimiert; aus Qutbs Sicht dürfen sich die Gläubigen dann zusammentun und ihrerseits den Dschihad ausrufen.
Nicht zuletzt wegen dieser Gedanken und wegen seiner Beteiligung an der Verschwörung gegen Präsident Nasser wurde Qutb im Jahre 1966 hingerichtet. Seine Schriften aber verbreiteten sich wie ein Lauffeuer und dienten als Gebrauchsanweisungen für islamistische Terror-Bewegungen wie al-Dschihad al-Islami, Dschamaa islamiyya und al-Qaida.
Wenige Monate bevor er zum Präsidenten Ägyptens gewählt wurde, sagte Mohamed Mursi über Sayyid Qutb: »Ich habe seine Schriften gelesen und darin den wahren Islam wiedergefunden.« Die Mehrzahl der Führungskräfte der Muslimbruderschaft heute sind »Qutbisten«, also Anhänger der Qutb-Dschihad-Schule, dem stärksten und einflussreichsten Flügel der Muslimbruderschaft. Weitere Flügel sind der salafistische, der azharitische (Absolventen der religiösen Al-Azhar-Institution) und der sogenannte Reformflügel. Doch als die Muslimbrüder an die Macht kamen, konnten nur die Qutbisten ihre Handschrift hinterlassen.