Normalerweise führt der Tod eines Familienmitglieds eher dazu, dass man beginnt, über den Sinn von Leben und Tod nachzudenken – und so möglicherweise zum Glauben findet. Bei Nadya war es genau umgekehrt. Die 25-jährige Kunststudentin hatte seit ihrer Kindheit eine sehr enge Beziehung zu ihrem Großvater; er hat niemanden mehr geliebt als sie. Als er im Sommer 2012 starb, wollte Nadya ihn bis zu seiner Grabstätte in der tunesischen Provinzstadt Sfax begleiten. Nach muslimischer Tradition darf keine Frau bei einer Beerdigung anwesend sein. Nadya widersetzte sich dieser Regel, schlich der Trauerprozession hinterher und beobachtete die Beerdigungszeremonie verborgen hinter einer kleinen Friedhofsmauer. Doch plötzlich störte ein Moralwächter ihren Moment des stillen Abschieds. Ein entfernter Verwandter hatte sie entdeckt, eilte zur Mauer, griff sie an und schimpfte los: »Hau ab! Frauen sind unrein und haben auf dem Friedhof nichts zu suchen. Deine Anwesenheit wird deinem Großvater nur Qual bringen. Geh!«
Nadya ging nach Hause und dachte zum ersten Mal über den Sinn ihrer Religion nach. »Was ist das für ein Glaube, der eine Mauer zwischen mir und meinem geliebten Großvater baut? Was ist das für ein Gott, der einem Mann das Recht gibt, mich zu schlagen?« Ohne lange zu überlegen, holte Nadya eine Schere und einen Rasierer und schor ihren Kopf kahl. »Mit meinem Haar war auch die Religion weg!«
Sie hört auf zu erzählen, holt eine Zigarette aus der Schachtel und raucht schweigend. Tränen laufen ihr über das Gesicht. Um uns herum im Restaurant sitzen viele Tunesier, sie lachen und scherzen. Nadya beobachtet sie irritiert. Sie kann selten abschalten, die Geschehnisse in ihrer Heimat wühlen sie immer auf. Die Kunststudentin verbrachte vor zweieinhalb Jahren vier Wochen auf der Straße, um gegen den langjährigen Diktator Ben Ali zu demonstrieren. Sie forderte mit Hunderttausenden Demonstranten Gerechtigkeit und die Einhaltung der Menschenrechte. Sie ahnte damals nicht, dass bald die Islamisten die Macht übernehmen und eine neue Gesellschaftsordnung durchsetzen würden.
Früher spielte der Glaube in Tunesien kaum eine Rolle; Religion und Politik waren getrennt. Heute trauen sich sogar »Hardcore-Kommunisten« nicht mehr zu sagen, dass sie laizistisch sind. Vor allem seit der Ermordung des linken Politikers Chokri Belaïd im Februar 2013 und des populären Parlamentariers Mohamed Brahmi im Juli des gleichen Jahres wächst die Angst unter Oppositionellen und säkularen Intellektuellen. Selbstzensur als Schutz vor Verfolgung. Zwei Künstlerkollegen Nadyas wurden zu acht Jahren Haft verurteilt, weil sie Karikaturen des Propheten Mohamed im Internet veröffentlicht hatten. Die Empörung der Öffentlichkeit hielt sich in Grenzen, ein lähmendes Schweigen. Nadya schämt sich, dass Tunesien, wo der arabische Frühling seinen Anfang nahm, nun von einer neuen Diktatur regiert wird.
Die islamistische Partei al-Nahda (Wiedergeburt) hat bei den ersten freien Wahlen über 40 Prozent geholt, sie verfügt über eine gute Organisation und jede Menge religiöser Eiferer, die Präsenz auf der Straße zeigen. Nachdem sie sich Jahrzehnte am Rand der Großstädte »wie Ratten« versteckt hätten, eroberten sie nun die Innenstädte und versuchten, die Straße im rasanten Tempo zu islamisieren, klagt Nadya. Auch islamistische Frauen seien nun aktiv geworden. Nadya wurde oft im Bus beschimpft, weil sie wie ein Mann aussieht und kein Kopftuch trägt. »Ich werde in dieser Gesellschaft dreifach diskriminiert: Einmal, weil ich Atheistin bin, dann, weil ich eine Frau bin. Und drittens, weil ich eine Frau bin, die wie ein Mann ausschaut.«
Nach dem Wahlsieg stürmten Salafisten wiederholt Bars, Bordelle und Musikveranstaltungen. Die Provinzuniversität in Manouba wurde von Salafisten angegriffen, sie rissen die tunesische Flagge vom Uni-Gebäude herunter und hissten stattdessen das Banner von al-Qaida. Die Salafisten gehören zwar nicht zu al-Nahda, werden aber von ihr geduldet und bewusst instrumentalisiert – einerseits, um die Opposition zu verschrecken, andererseits, um sich dem Westen als die moderatere Alternative zu verkaufen.
An manchen Tagen hält Nadya die Realität nicht mehr aus. Trost findet sie in solchen Momenten in der virtuellen Welt. Sie und ihr Freund Alaa sind auf einer Facebook-Seite für Konfessionslose aktiv. Immerhin 500 Mitglieder tauschen sich dort aus. Aber Nadya glaubt nicht, dass sich Tunesiens Atheisten wie ihre ägyptischen Kollegen erheben werden. Zu groß sei die Angst und vielleicht auch die Gleichgültigkeit. Viele wünschten sich nun eine Rückkehr Ben Alis, weil der Diktator doch immer wieder betont hatte, er würde die Tunesier vor den Islamisten schützen. Nadya sieht in der Ben-Ali-Nostalgie eine Bankrotterklärung der Tunesier.
Junge Menschen würden das Internet inzwischen nicht mehr nutzen, um sich zu organisieren und zu Protesten aufzurufen, sondern um ein Ventil für ihre Frustration zu finden. Kaum jemand sehe noch eine Perspektive, viele würden zu Drogen greifen. »Ich habe keine Ahnung, wo mein Land hinsteuern wird. Aber eines weiß ich ganz sicher: Ich werde in diese Welt keine Kinder setzen!« Eine Lebensentscheidung, die ihr nicht leichtgefallen sei. »Es ist eine Niederlage, doch die muss ich mir eingestehen.«
Ich sitze ihr gegenüber, ringe nach Worten. Ich möchte nicht, dass unser Gespräch so endet. Nach einer Weile sage ich: »Kein Mensch hätte es damals für möglich gehalten, dass die Araber sich gegen die Diktatur erheben würden. Keiner hat es für möglich gehalten, dass die Tunesier damit anfangen. Vielleicht kommt bald eine zweite Welle. Wir haben eine multiple Diktatur in unseren Ländern. Die eine Schicht ist weggeschwemmt, nun ist die zweite Schicht aufgetaucht. Aber auch die können wir wegfegen, wir müssen nur durchhalten!«
Ich weiß nicht, ob ich ihr mit diesen Sätzen Mut zusprechen wollte, oder mir selbst.