Flucht in die Transzendenz

Viele, die zu mir kommen, sind der unbewussten Überzeugung, dass man als Erleuchteter immer und überall froh und glücklich und vollkommen frei ist. Sehr viele Menschen sind von dieser Vorstellung geprägt. Sie ist aber falsch.

Richtig ist, dass uns die äußeren Lebensumstände und Wechselfälle nach dem Erwachen nicht mehr so leicht aus der Fassung bringen. Richtig ist aber auch, dass wir durch das Erwachen stärker auf diejenigen unserer Verhaltensmuster aufmerksam werden, die nicht zu dem passen, was wir realisiert haben. Wer dann noch glaubt, Erleuchtung sei einfach Freude, Glück und Freiheit, der wird versucht sein, diese Bereiche, in denen er nicht ganz richtig tickt, zu transzendieren: ihnen auszuweichen. Aber unser Erwachen nimmt seinen Lauf, und früher oder später erhöht sich der Druck, uns endlich all dem zu stellen, was wir auszublenden versucht haben und dessen wir uns folglich nicht ausreichend bewusst sind.

Ich sehe immer wieder, dass die Leute kalte Füße bekommen, wenn sie merken, wohin diese Bewegung des Erwachens sie führt: auf ein Gelände, wo ihnen nichts anderes bleiben wird, als ganz ehrlich und wahrhaftig zu sein und jegliche Deckung einfach zu verlassen. Und das ist so ganz anders als diese Vorstellung, das reale Leben einfach zu transzendieren und in den sicheren Hafen einer »höheren« oder »tieferen« Erfahrung einzulaufen, wo man sich nicht mehr mit dem gewöhnlichen Leben herumschlagen muss. Viele Menschen fürchten diesen Teil des Weges, weil es uns jegliche Tarnung nimmt. Sie vertragen nicht sehr viel Wahrheit in ihren Beziehungen, seien es Freundschafts- oder Liebesbeziehungen, sei es in der Familie oder in der Ehe. Es erscheint manchmal leichter, die Wahrheit im Verborgenen zu lassen und gestörte Bereiche einfach nicht wahrzunehmen.

Mir fällt dazu eine Begebenheit ein, die ich im Hinblick auf die Frage der Selbstehrlichkeit in Beziehungen – und auf die Möglichkeit, die eigene Entwicklung durch mangelnde Offenheit zu behindern – sehr aufschlussreich finde. Die Geschichte handelt von einem älteren Schüler eines bekannten Zen-Lehrers, der auf eine Einsetzung als Lehrer vorbereitet wurde. Er war schon länger verheiratet und hatte drei Kinder. Seinem Lehrer hatte er anvertraut, dass es mit seiner Ehe nicht mehr zum Besten stand. Seine Frau war ihm böse, weil er nach ihrer Auffassung immer distanzierter wurde und kaum noch am Familienleben teilnahm und auf sie oder die Kinder eigentlich gar nicht mehr einging.

Wie es der Zufall wollte, war auch die Frau eine Schülerin dieses Meisters. Als ihm die ganze Sache ausreichend bekannt war, sagte er: »Wir haben nächsten Monat ein Sesshin, ich möchte, dass ihr beide daran teilnehmt.« Sie gingen hin in der Erwartung, dass es wie bei den früheren Meditations-Retreats sein werde – viele Meditations-Runden jeden Tag, Schweigen, der Blick meist nach innen gerichtet.

Gleich zu Beginn rief der Lehrer die beiden zu sich und eröffnete ihnen: »Das Sesshin wird diesmal ein bisschen anders für euch laufen. Ich habe euch hier im Zentrum ein Schlafzimmer mit einem Doppelbett einrichten lassen. Ich möchte, dass ihr die nächsten vierundzwanzig Stunden beide in diesem Bett bleibt und es nur verlasst, um auf die Toilette zu gehen. Was ihr da ansonsten macht, bleibt euch überlassen, wichtig ist nur, dass ihr da einen vollen Tag bleibt. Danach kommt ihr bitte wieder zu mir.«

Er war der Lehrer, sie waren die Schüler, also taten sie, was er sagte. Sie gingen in das Zimmer und blieben vierundzwanzig Stunden zusammen in diesem Bett. Danach erstatteten sie ihrem Lehrer Bericht.

Dieser kratzte sich den Kopf und sagte: »Hmmm. Mir scheint, es wäre nicht schlecht, noch einen Tag in diesem Bett zu bleiben.«

Was blieb ihnen? Sie taten es. Am nächsten Tag wieder das Gleiche, und so blieb es auch weiterhin – das Sesshin dauerte sieben Tage! Immer wieder sagte ihr Lehrer, sie sollten lieber noch im Bett bleiben. Und tatsächlich, am Ende des Retreats war die Beziehung der beiden neu geknüpft. Sie hatten sich wiedergefunden, die Ehe war gerettet.

Das war ein wirklich kluger und weiser Lehrer. Ihm war klar, dass sein Haupt-Schüler, den er in die Funktion als Lehrer einführen wollte, ein paar tiefe Erweckungserfahrungen gemacht hatte. Es zeigte sich bei ihm jedoch auch eine der Gefahren des Erwachens, nämlich dass man sich von den Realitäten des Lebens zu distanzieren versucht und sogar aus Beziehungen zurückzieht. Eine Beziehung kann kaum funktionieren, wenn man sich auf einen transzendenten Standpunkt zurückzieht. Man muss auf Menschen und Umstände konkret eingehen.

Dieser Schüler war bereits dabei, sich in seinem erreichten Stand der spirituellen Verwirklichung zu verstecken. Er versuchte sich vor allem Schwierigen und Unangenehmen zu drücken. Er nahm seine Verwirklichung als Vorwand für die Abkehr von den »unbedeutenden Kleinigkeiten« des Alltags. Sein Lehrer erkannte das und setzte ihn einer Situation aus, in der er nicht mehr ausweichen konnte, sondern sich direkt mit der Beziehung zu seiner Frau auseinandersetzen musste. Er konnte nicht einfach in den Höhen der Transzendenz bleiben.

Erleuchtung, wenn sie echt ist, erspart uns nichts und bewahrt uns vor nichts. Eigentlich ist die erleuchtete Perspektive letztlich das, was uns nicht mehr erlaubt, uns von irgendeinem Bereich unseres Lebens abzuwenden.

Deshalb können sich viele nach einem Erwachen endlich mit bestimmten Mustern in ihrem Leben auseinandersetzen, die ihnen nicht recht bewusst waren. Und manchen wird dann klar, dass sie in ihrem Leben und an ihren Beziehungen etwas ändern müssen. Das kann ein ziemlich beunruhigender Abschnitt des Weges sein, da uns auf einmal die Möglichkeit genommen ist, uns vor uns selbst zu verstecken. Dann kommen Fragen wie: »Wird meine Beziehung das überstehen? Kann es funktionieren? Wird meine große Liebe mich verlassen? Werden sich meine Freunde womöglich von mir abwenden? Mein Arbeitsumfeld, die Beziehung zu meinem Chef und so weiter und so weiter – kann das alles überhaupt noch gehen, oder wird sich da manches ändern, was noch nicht abzusehen ist?«

Wir scheuen Veränderungen, das ist nur zu gut bekannt. Vielleicht wünschen wir uns Veränderung, aber man weiß eben nie, was einen dann erwartet, man weiß nicht, wie es ausgehen wird. Für das Erwachen ist es sehr, sehr wichtig, dass wir ganz ins Offene treten. Stellen wir uns dem Leben, wie es ist. Ist diese Beziehung lebenswert, ist sie wahrhaftig? Sie muss nicht vollkommen sein, wir reden nicht von der idealen Beziehung, darauf kommt es nicht an. Wichtig ist aber die Frage, ob eine Beziehung auf Offenheit, Wahrhaftigkeit und Unverborgenheit gebaut ist.

Worin besteht unsere Beziehung überhaupt? Worauf beziehe ich mich in dir, und von was in mir geht die Beziehung aus? Sehen wir, dass der andere in Wirklichkeit ich ist, vom gleichen Wesen wie ich? Und geben wir uns so, agieren wir so? Stellen wir uns den Ängsten, die hochkommen können? Wie gesagt, die meisten Menschen scheuen Veränderungen. Wenn ich mich zeige, wie ich bin, wenn ich nichts mehr vortäusche, lässt mich dann meine Liebe oder mein Freund einfach stehen? Nun ja, es könnte passieren. Man weiß es nie.

Erleuchtung, sage ich den Leuten immer wieder, garantiert nicht, dass euer Leben wie geplant laufen wird. Es wird in vieler Hinsicht besser sein, als es war, aber es läuft nicht unbedingt so, wie ihr es gern hättet. Letzten Endes geht es um Wahrheit, es geht darum, in jeder Hinsicht und auf allen Ebenen wahrhaftig zu sein.

Erleuchtung ist kein Fluchtweg, sie erhebt uns nicht einfach über alles. Sie ist ein Standpunkt, von dem aus wir allem – unserem Leben, unseren Beziehungen – so begegnen können, wie es ist. Das Leben als solches ist eigentlich Beziehung. Von der höchsten Warte aus ist alles die Beziehung des Einen zum Einen, des Geistes zum Geist. Und dann haben wir die äußere Erscheinungsform dieser Beziehung, den Tanz des Lebens. Wenn dieser Tanz Spaß machen soll, dürfen wir uns nicht verstecken und nichts unter Verschluss halten.

Wenn man in einer nicht funktionierenden Beziehung lebt oder einer zutiefst unbefriedigenden Arbeit nachgeht und das einfach auf sich beruhen lässt, anstatt die Initiative zu ergreifen, kann man nicht wahrhaft frei werden. Freiheit ist deswegen nicht möglich, weil sich der eine Bereich, in dem wir unbewusst bleiben, auf unser ganzes Leben und auf unsere Beziehungen auswirkt.

Nicht mehr ausweichen, das ist keine Anweisung, kein Rezept und keine Bedingung. Vielleicht klingt es so, vielleicht glaubt ihr, ich sage: »So müsst ihr es machen, wenn ihr bessere Menschen sein und ein schönes Leben haben wollt.« Nein, so meine ich es ganz und gar nicht. Das erwachte Bewusstsein hat eine bestimmte »Fortbewegungsart«, das möchte ich sagen. Es leugnet nichts, es versteckt sich nicht, es weicht dem Leben nicht aus. Was wir sind, ist vollkommen wach und lässt sich furchtlos ein. Es nimmt den Weg, den bedingungslose Liebe und Wahrhaftigkeit vorgeben. Nur unsere erlernten Ängste, die die Ich-Illusion erzeugen, lassen uns in dieser Phase des spirituellen Lebens noch zurückschrecken.

Um es noch einmal zu betonen: Wenn ihr problematische Anteile eures Lebens auszublenden versucht, stellt ihr eurem spirituellen Erwachen Hindernisse in den Weg. Die Auswirkungen sind vielleicht anfangs noch nicht so gravierend, aber später in den Stadien der Reifung unseres Erwachens besteht dann kein Spielraum mehr für Ausweichmanöver. Damit rechnen viele nicht. Sie gehen davon aus, dass die Erleuchtung schon für alles sorgen wird, was wir in uns vernachlässigt haben, weil es uns zu unbequem war.

Unser Erwachen kann die Basis sein, von der aus wir den Menschen und Umständen begegnen, von der aus wir zu allem in Beziehung treten. Dazu gehören Mut und Furchtlosigkeit und – was ich nicht müde werde zu betonen – schlichte Wahrhaftigkeit. Sie geht von etwas aus, was die Wahrheit als höchstes Gut erkannt und sie zu lieben gelernt hat.

Wo immer wir nicht ganz aufrichtig sind oder ausweichen, verkleinern wir uns und unser Leben im gleichen Maß. Wer den Menschen und den Situationen seines Lebens nicht offen begegnet, bringt sich um den Ausdruck seiner selbst. Wahrheit, so erkennen wir schließlich, ist das höchste Gut und eigentlich auch der höchste Ausdruck der Liebe. Liebe und Wahrheit sind im Grunde dasselbe, die beiden Seiten einer Medaille. Wahrheit ist nicht ohne Liebe zu haben, Liebe ohne Wahrheit ebenfalls nicht.

Das Erwachen setzt eine Transformation unseres inneren und äußeren Lebens in Gang. Aber noch einmal: Da geht es nicht um Vollkommenheit – das perfekte Leben, den perfekten Job, den perfekten Partner, die perfekte Ehe, die perfekte Freundschaft. Es geht um Ganzheit, ein Leben, das ganz und heil sein soll. Wir müssen die Dinge nicht exakt so haben, wie sie uns vorschweben, sondern exakt so, wie sie sind. Wenn wir die Dinge sein lassen können, entsteht ein Gefühl von Harmonie, die Kluft zwischen der Tiefe unserer Erfahrung und unserem Menschsein schließt sich nach und nach: Erkenntnis und Ausdruck, Tiefe des Erwachens und äußerer Lebensablauf passen bruchlos zusammen.