Aber weshalb schwankt das Erwachen? Das hat vor allem mit unserer Konditionierung zu tun. In manchen Bereichen unserer selbst sind wir derart stark geprägt, dass nicht einmal das Erwachen sofort etwas dagegen ausrichtet. Wir sind also noch nicht ganz frei.
Als ungefähr gleichbedeutend mit dem Begriff »Konditionierung« können wir das aus dem östlichen Denken stammende Wort Karma nehmen. Wenn wir esoterische Deutungen dieses Worts einmal beiseitelassen, ist damit einfach so viel wie Ursache und Wirkung gemeint. Es geht darum, wie unser Leben uns geprägt hat und welche Vorlieben und Abneigungen wir daraufhin entwickelt haben.
Unsere Konditionierung verdanken wir größtenteils der Familie, in der wir aufwuchsen, und unserem bisherigen Leben, also unseren Lebensumständen, unseren Erfahrungen. Eltern und Gesellschaft prägen uns ihre Anschauungen, Überzeugungen, Moralvorstellungen und Normen auf. Das erzieht uns dazu, bestimmte Dinge zu mögen und andere nicht, dies zu wünschen und jenes abzulehnen und auf Ruhm, Geld, Spiritualität oder Liebe aus zu sein, je nachdem.
Aus alldem besteht unsere Konditionierung. Sie hat etwas von einem Computerprogramm. Wenn man ein Programm installiert oder aktiviert, »konditioniert« man den Computer zu einem bestimmten Verhalten. Ganz ähnlich läuft es bei Menschen. Durch Erziehung und Lebensumstände wird der Mensch dazu konditioniert oder programmiert, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten.
Wenn man jemanden gut kennt, als Freund oder Liebespartner beispielsweise, lernt man auch seine Konditionierung kennen. Dann weiß man immer vorher schon recht genau, wie er oder sie im jeweiligen Kontext reagieren wird: was dieser Mensch mag und nicht mag, welche Situationen er sucht und welchen er eher ausweicht. Wenn wir die Konditionierung eines Menschen kennen, wird sein Verhalten absehbar.
Die meisten Menschen sehen sich genau so und nur so, wie es ihre Konditionierung verlangt. Ihnen ist eingetrichtert worden, wie sie sind, und so sehen sie sich jetzt. Du bist gut oder du bist schlecht, du taugst etwas oder nicht, du bist liebenswert oder nicht – all das ist Konditionierung und erzeugt ein trügerisches Ich-Gefühl.
Unsere Konditionierung erstreckt sich auch auf unser Weltbild. Wir sind gehalten, die Welt auf eine bestimmte Weise zu sehen, mit einem bestimmten Blick. Manche finden die Welt wunderbar, andere eher bedrohlich. Manche haben liberale Anschauungen, andere sind eher konservativ. All das gehört zur Prägung von Körper und Geist und fließt in das dualistische Bild des Lebens und des Ichs ein. Diesen Dualismus meine ich, wenn ich von Konditionierung spreche.
Bei einem echten Erwachen jedoch ist der Geist oder das Bewusstsein frei von aller Konditionierung. Er erwacht von seiner Konditionierung wie aus einem Traum. Erst wenn wir einmal aus unserer konditionierten Ich-Vorstellung erwacht sind, wird uns klar, welch eine ungeheure Bürde sie gewesen ist.
Im Augenblick des Erwachens und vielleicht eine Weile darüber hinaus erscheint es uns undenkbar, dass die Konditionierung sich wieder durchsetzen und zum Problem werden könnte. Das ist sogar eines der Kennzeichen des Erwachtseins: ein Gefühl, dass man sich nie wieder mit dem konditionierten Ich identifizieren wird. Undenkbar, dass wir je in den Zustand der Trennung zurückfallen werden. Dieses Endgültige ist charakteristisch für das Erwachtsein und gehört zu seinem Wesen.
Dennoch müssen sich die meisten, die ein Erwachen erlebt haben, irgendwann eingestehen, dass sich ihre alten Prägungen wieder melden. Sicher, das Erwachsen sprengt vieles davon ab, und manches ist dann wirklich erledigt, aber wie weit das geht, das ist bei jedem anders. Beim einen werden zehn Prozent seiner Prägungen abgetragen, bei einem anderen können es neunzig Prozent sein oder irgendein Zwischenwert.
Es lässt sich schwer sagen, weshalb das Erwachen bei einem Menschen sehr viel Konditionierung abträgt und bei einem anderen weniger. Darüber lässt sich spekulieren, wir könnten hier metaphysische Überlegungen dazu anstellen, aber letztlich besagen die Gründe wenig. In beiden Fällen haben wir es mit dem zu tun, was eben der Fall ist, und offenbar hat jeder sein ganz eigenes karmisches Erbe oder seine eigenen karmischen Hypotheken. Jedenfalls bringt es niemanden weiter, sich über seine karmischen Altlasten zu beklagen oder zu überlegen, ob sie nun größer oder kleiner sind als die eines anderen. Es ist einfach, wie es ist. Karmische Belastungen entscheiden nicht darüber, ob wir erwachen können, aber sie scheinen von erheblicher Bedeutung für das zu sein, was nach dem Augenblick des Erwachens kommt.