Eigenes Bemühen oder Gnade?
Ich werde oft gefragt, wie viel an der Erleuchtung Gnade ist und wie viel eigenes bewusstes Bemühen erforderlich ist.
Ehrlich gesagt, diese Frage ist ganz schwer zu beantworten. Vom Standpunkt der radikalen Nondualität aus müsste man wohl sagen, dass alles auf Gnade beruht und für eigenes Bemühen überhaupt kein Spielraum vorhanden ist. Vertreter dieser Anschauung sagen: »Lass absolut alles radikal los, überlass alles der Gnade. Es ist niemand vorhanden, der etwas tut, es gibt nur den Willen Gottes, und nichts ist vom Willen Gottes zu trennen, so dass letztlich alles Gnade ist.«
Aber es gibt natürlich auch andere Ansätze und Schulen, die das eigene Bemühen mehr in den Vordergrund stellen. Hier gilt, dass man sich bemühen muss, seine falschen Vorstellungen zu transzendieren, man muss sich sehr beherzt einsetzen und braucht eine Menge spirituelle Disziplin und die echte Bereitschaft, wirklich genau hinzusehen und unerschrocken zu fragen.
Diese beiden Ansätze sprechen sich gern gegenseitig ihre Berechtigung ab. Wo gesagt wird, man müsse sich energisch bemühen, besteht oft wenig Spielraum für Spontaneität und Natürlichkeit. Aber die Gegenseite, für die absolut alles der Wille Gottes ist, so dass wir im Grunde nichts zu melden haben und uns eigentlich zurücklehnen können, fixiert sich häufig auf Kosten einer umfassenden Sicht der Dinge auf diesen absoluten Standpunkt. Mir selbst ist schon vor langer Zeit aufgegangen, dass die Wahrheit nie in solchen absoluten und deshalb ausschließenden Aussagen zu finden ist. Jedenfalls lässt sich das, was ich als das wahre Wesen der Dinge erlebe, nicht dualistisch formulieren, es geht über alle dualistischen Standpunkte hinaus.
Wenn mich die Leute also fragen, ob sie sich bemühen sollen oder ob ohnehin alles Gnade ist, kann ich sie nur auf sich selbst verweisen und sie auffordern, in sich selbst nach der Antwort zu forschen. Wer wirklich ehrlich mit sich ist, der weiß in sich selbst, ob es notwendig ist, eine Fixierung geistiger oder körperlicher Art genau zu untersuchen; er weiß einfach, wann er sich zusammenreißen und einer Sache auf den Grund gehen muss. Und wenn das Einsatz verlangt, dann ist es eben so. Du gibst dir Mühe, du siehst es dir an, du fragst, du deckst auf.
Unsere Fixierungen entstehen alle auf der gedanklichen Ebene. Als Ansatzpunkt können wir uns fragen, was wir glauben, was uns Getrenntheit wahrnehmen lässt, was uns in die emotionale Spaltung treibt. Das ist die Disziplin-Seite, die Einsatz-Seite des Erwachens, und sie besteht in der Bereitschaft und dem Mut, die Dinge zu hinterfragen. Manchmal muss man da eine gewisse innere Trägheit überwinden und sich selbst auffordern, irgendetwas klar in den Blick zu nehmen.
Ich sage meinen Schülern immer wieder, dass dieser Mut, die Dinge zu hinterfragen, wirklich wichtig ist und eine Menge Energie verlangt. Ein offener Blick auf unsere Grundmuster – die tiefen Überzeugungen, die unseren körperlichen, geistigen und seelischen Fixierungen zugrunde liegen – kostet Mut und gerichtete Aufmerksamkeit. Wenn wir dabei ehrlich mit uns selbst sind, spüren wir, wo wir ausweichen. Und dann wissen wir auch, wo es angezeigt ist, dass wir uns entschlossen einsetzen.
Aber zugleich wissen wir dann auch, wann es Zeit ist, die Dinge aus der Hand zu geben und der Gnade all das zu überlassen, was nur die Gnade bewältigen kann. Wir wissen, wann es Zeit ist, von allem Streben und Bemühen zu lassen, vielleicht sogar vom Forschen und Fragen. Es kommt der Zeitpunkt, da weißt du, dass du alles in deiner Macht Stehende getan hast und jetzt loslassen und die Vollendung etwas anderem als deinem kleinen Ich überlassen musst.
Ich kann euch keine feste Vorgabe machen, wann eher das eine und wann das andere angebracht ist – das muss man von Fall zu Fall erspüren, und dafür kommt es auf Ehrlichkeit sich selbst gegenüber an.
Manche fragen mich, ob sie überhaupt meditieren sollen. Sie sagen: »Adya, ich habe gehört, man soll gar nicht meditieren, weil man da doch wieder nur für sich selbst zu sorgen versucht. Andererseits heißt es, dass ich keine Chance habe, jemals aufzuwachen, wenn ich nicht meditiere. Was denn nun?«
Ich antworte dann: »Na, sag du doch – fühlst du dich aufgerufen zu meditieren? Da geht es nicht um etwas, was du tun oder lassen sollst. Wer stellt diese Frage, dein Kopf, dein Ego? Was ist tiefer als das, was liegt darunter? Ist da etwas, das du weißt, ob du willst oder nicht?«
Das ist die eigentlich wichtige Frage.
Ich sehe es als eine der Hauptaufgaben eines Lehrers an, seine Schüler an ihren natürlichen, intuitiven Richtungssinn heranzuführen, an den »inneren Lehrer«, wie es manchmal heißt. Mir ist bewusst, dass viele Menschen ihren inneren Lehrer nicht sehr deutlich spüren. Sie sind derart von Konflikten besetzt, dass sie ihn einfach nicht finden können. Dann kann ein äußerer Lehrer notwendig sein, der ihnen zeigt, wohin sie sich wenden müssen und was sie sich anschauen müssen, um diese innere Anleitung zu finden.
So viele möchten nicht für sich selbst verantwortlich sein. Sie möchten von jemandem gesagt bekommen, was zu tun ist. Sie möchten von ihrem Lehrer hören: »Tu dies und lass das. Meditiere so und so lange.« Wenn das zur Gewohnheit wird, kommen wir über das spirituelle Kleinkindalter nicht hinaus. Irgendwann müssen wir erwachsen werden und in uns selbst das finden, was uns Anleitung gibt. Es gibt Dinge, die die meisten Menschen wissen – aber nicht unbedingt wissen wollen. Sie wissen in der Tiefe Bescheid über die Dinge, die in ihrem Leben richtig oder falsch laufen, dass manches ganz in Ordnung ist und anderes überhaupt nicht. Wir Menschen wollen Unbequemes manchmal einfach nicht hören. Dann tun wir so, als wüssten wir von nichts.
Alles So-tun-als-ob muss aufhören, das ist das Wichtigste. Alles hat seinen Platz, alles hat seine Zeit. Mal ist es wichtig, sich diszipliniert zu bemühen, dann wieder müssen wir loslassen und anerkennen, dass wir es nicht allein schaffen, dass Einsatz und Streben an ihre Grenze gelangen und jetzt die Gnade für den Rest sorgen muss.
Eines aber ist sicher: Unser spiritueller Weg und der Prozess des Erwachens – sei es der allmähliche oder der direkte Weg, der Weg der Hingabe oder ein anderer – gehen in Richtung Ergebung. Darum geht es in der Spiritualität letzten Endes. Alles, was wir auf diesem Gebiet unternehmen, führt in Richtung eines spontanen Loslassens und Überlassens. Darin mündet jeder spirituelle Weg und jede spirituelle Praxis. Wenn wir das einmal wissen, können wir jeden nächsten Schritt auf dem Weg als eine weitere Gelegenheit zur Ergebung betrachten. Es kann sein, dass wir uns diszipliniert einsetzen müssen, um bis dahin zu kommen, wo wir bereit werden, das Weitere der Gnade zu überlassen, aber letztlich geht es bei aller Spiritualität darum, sich von der Illusion des gesonderten Ichs zu lösen – von unseren Vorstellungen davon, wie diese Welt ist und wie sie sein sollte.
Wir müssen also bereit sein, unsere Welt zu verlieren. Diese Bereitschaft ist unser Loslassen, unsere Ergebung. Jeder muss selbst herausfinden, was dieses Loslassen für ihn bedeutet oder was da losgelassen werden muss. Ob wir das als leicht oder schwierig sehen, ist letztlich unerheblich. Wichtig ist nur, dass wir schließlich loslassen.