Dauerhaftes und vorübergehendes Erwachen

Wie ich schon sagte, kann das Erwachen ein vorübergehender Augenblick der Einsicht sein oder etwas, das bleibt. Da wird mancher sagen, ein Moment des Erwachens sei kein echtes Erwachen. Bei einem echten Erwachen, glauben sie, erschließt sich unserer Wahrnehmung das wahre Wesen der Dinge ein für alle Mal. Ich verstehe diese Auffassung insofern, als die spirituelle Reise uns letztlich zum vollkommenen Erwachen führt. »Vollkommenes Erwachen« bedeutet ja, dass wir dann alles und ausschließlich aus der Sicht des universalen Geistes wahrnehmen, dass wir jederzeit alles aus der Perspektive des Einen wahrnehmen. In dieser erwachten Sicht der Dinge existiert nirgendwo Trennung, nicht in der Welt, nicht im Universum, nicht in irgendeinem Universum. Die Wahrheit ist überall, jederzeit, in allen Dimensionen und für alle Wesen die Wahrheit, und sie ist Grund und Ursprung von allem, was in diesem Leben oder danach, in dieser Dimension oder irgendeiner anderen je erfahren werden kann.

Aus der Sicht des Höchsten offenbaren sich alle Dinge als Manifestationen des universalen Geistes, gleich ob in höheren oder niederen Dimensionen, hier oder dort, gestern, heute oder morgen. Was da erwacht, ist der Geist selbst. Deshalb ist der Weg, den wir nehmen, letztlich immer ein Weg zum vollkommenen Erwachen, ob es uns bewusst ist oder nicht. Es ist ein Weg, auf dem wir schließlich erkennen und aus eigener Anschauung wissen, was wir sind; ein Weg zur Einheit, zum Einen.

Der Augenblick des Erwachens kann sich zu einem dauerhaften Sehen ausweiten oder nicht. Wie gesagt, manche Leute meinen, das Erwachen sei nur echt, wenn es anhält. Als Lehrer erlebe ich aber, dass jemand, der den Schleier der Dualität nur für einen Augenblick durchdringt, nichts anderes sieht und erlebt als ein anderer, der zu einer dauerhaften, beständigen Erkenntnis gelangt ist. Der eine erlebt es für einen Augenblick, der andere auf Dauer. Aber wenn es sich um ein echtes Erwachen handelt, wird in beiden Fällen das Gleiche erlebt, nämlich dass alles eins ist, dass wir kein bestimmter Jemand sind, der sich einem bestimmten Punkt im Raum zuordnen lässt, dass wir sowohl nichts als auch alles sind.

Aus meiner Sicht spielt es also eigentlich keine Rolle, ob ein Erwachen kurzzeitig oder dauerhaft ist. Natürlich sind Unterschiede zu konstatieren, wenn wir den Verlauf betrachten, denn man wird sich erst wirklich angekommen fühlen, wenn das Sehen der Wahrheit stetig geworden ist – aber ein Erwachen ist ein Erwachen, dauerhaft oder nicht.

Zu diesem kurzzeitigen Erwachen oder nicht dauerhaften Erwachen, wie ich gern sage, kommt es in dieser Zeit immer häufiger. Es hält einen Augenblick, ein paar Stunden, einen Tag, eine Woche an, vielleicht einen ganzen Monat oder zwei. Das Bewusstsein weitet sich, und das Gefühl, ein getrennt existierendes Ich zu sein, verschwindet, doch dann zieht sich das Bewusstsein wieder zu wie der Verschluss einer Kamera, und statt der eben noch erlebten Nicht-Zweiheit oder Nondualität, der wahren Einheit, herrscht jetzt überraschenderweise wieder der dualistische »Traumzustand«. Da tauchen wir dann wieder in das alte Ich-Gefühl ein, in dem wir uns begrenzt und vereinzelt fühlen.

Dennoch, wenn wir einmal einen Augenblick des klaren Sehens erlebt haben, kann sich die »Blende« unserer Wahrnehmung nie wieder ganz schließen. Es mag uns wohl so erscheinen, doch tatsächlich schaltet unser Bewusstsein jetzt nie wieder ganz ab. Ganz in der Tiefe vergessen wir nicht. Selbst wenn wir nur einen ganz kurzen Blick auf die wahre Wirklichkeit erhascht haben, ist etwas in uns dauerhaft verändert.

Realität hat etwas Unwiderstehliches, sie ist von unglaublicher Wucht, sie vermag mehr, als wir uns vorstellen können. Jemand sieht die Wirklichkeit aufblinken, vielleicht nur für die Dauer eines Lidschlags, und doch werden dadurch Energien mobilisiert, die sein Leben verändern. Mit einem Augenblick des Erwachens beginnt die Auflösung unseres verblendeten Ich-Gefühls und dann auch die Auflösung unserer gesamten Weltwahrnehmung.