Wie ändert sich das Leben nach dem Erwachen?

Mit dem Erwachen wird unsere Sicht des Lebens völlig umgekrempelt, zumindest setzt es eine Neuordnung in Gang. Auch wenn das Erwachen eine wunderbare und staunenswerte Sache ist, es bringt doch auch eine gewisse Desorientierung mit sich. Du bist zwar als das Eine erwacht, aber da ist auch noch alles, was dein Menschsein ausmacht – der Körper, das Denken, die ganze Persönlichkeit. Für diese menschliche Verfassung kann das Erwachen schon ziemlich verwirrend sein.

Ich möchte also gern erörtern, was nach dem Erwachen passiert. Für ganz wenige Menschen ist mit dem Augenblick des Erwachens alles vollendet. Der Augenblick ist in gewissem Sinn definitiv, und es müssen sich keine weiteren Prozesse anschließen. Vielleicht kann man sagen, dass diese Menschen mit außerordentlich geringer karmischer Belastung unterwegs waren. Sie können vor dem Erwachen großen Leiden ausgesetzt gewesen sein, aber es ist doch zu sehen, dass ihr karmisches Erbe, ihre Konditionierung, nicht allzu tief oder schwerwiegend war. So etwas ist jedoch selten. Es gibt in jeder Generation nur wenige, die so erwachen und bei denen dann nichts weiter erforderlich ist.

Ich sage gern: Verlass dich nicht darauf, dass du so einer bist. Geh lieber davon aus, dass du wie die allermeisten anderen bist und nach dem ersten Erwachen noch einiges zu tun hast, dass deine Reise damit noch nicht abgeschlossen ist. Deshalb möchte ich hier eine Richtung aufzeigen, die sich als hilfreich erweisen könnte, die euch vielleicht Orientierung gibt, nachdem ihr euch auf den Weg gemacht habt. Wie meine Lehrerin gern sagte: Es ist so, als wärest du gerade in deine Wohnung eingetreten und du hättest noch kein Licht gemacht. Beim Eintreten weißt du noch nicht unbedingt, wie du dich in dieser neuen Welt, in die du beim Erwachen gelangst, zurechtfinden kannst.

Ich bin sehr froh, dass mir diese Vorträge zum Thema (und das daraus entstandene Buch) ausführlich Gelegenheit geben, mich der Frage zuzuwenden, was nach dem Erwachen kommt. Wie sich das Leben nach dem Erwachen gestaltet, das sind Dinge, die nicht unbedingt an die Öffentlichkeit gelangen, sondern im Austausch zwischen dem spirituellen Lehrer und seinen Schülern behandelt werden. Deshalb gibt es leider für die zunehmende Zahl derer, die Augenblicke des Erwachens erleben, wenig an zusammenhängenden Unterweisungen, worauf sie zurückgreifen könnten. Diesen Zweck soll dieses Buch erfüllen, es soll alle in dieser neuen Welt der Einheit willkommen heißen.

Mancher wird wohl jetzt denken: »Also ich habe noch keinen solchen Moment der Klarheit erlebt, ich glaube nicht, dass ich erwacht bin.« Es gibt sicher auch andere, die nicht so recht einzuschätzen wissen, ob sie bereits ein echtes Erwachen erlebt haben. Aber was dieses Buch zu sagen hat, ist, glaube ich, für jeden relevant, an welchem Punkt des Weges er oder sie auch gerade sein mag. Es zeigt sich nämlich, dass alles, was dem Erwachen folgt, starke Bezüge zu dem hat, was dem Erwachen vorausgeht.

Im Grunde ist der spirituelle Weg nach dem Erwachen derselbe wie vor dem Erwachen, nur dass man die Dinge nach dem Erwachen von einer anderen Warte aus sieht, vielleicht aus der Vogelperspektive, wo man die Dinge zuvor aus der Froschperspektive betrachtet hat. Vor dem Erwachen wissen wir nicht, wer wir sind. Wir sehen uns als getrennt und vereinzelt existierendes Wesen in einem bestimmten Körper, das sich in einer von uns verschiedenen und getrennten Welt bewegt. Auch nach dem Erwachen bewegen wir uns noch in der Welt, nur ist uns dann bewusst, dass wir nicht ausschließlich diese bestimmte Person in diesem bestimmten Körper, sondern in Wirklichkeit nicht von der uns umgebenden Welt verschieden sind.

Wichtig ist auch die Feststellung, dass wir nach einem Augenblick des Erwachens keineswegs vor falschen Vorstellungen gefeit sind. Manche Prägungen und Fixierungen bleiben auch dann bestehen, wenn wir die Dinge bereits aus der Perspektive des Einen zu betrachten gelernt haben. Dann besteht der Pfad des Erwachens darin, unsere verbleibenden Fixierungen zu lösen, unsere »Hänger«, wie man so sagt. Und das ist nicht gar so verschieden von dem Wegabschnitt, der zum Erwachen geführt hat, denn da haben wir bestimmte Fehlwahrnehmungen oder sogar Wahnvorstellungen gelöst, bestimmte Formen der Abwehr und des »Einigelns«. Vor dem Erwachen fühlt sich unsere gesamte Ich-Struktur lastender, schwerer, kompakter an, weil wir so ganz und gar mit unserer Konditionierung identifiziert sind. Nach dem Erwachen wissen wir, dass unsere körperlich-geistige Konditionierung eigentlich nichts Persönliches hat, sie ist nicht das, was wir sind. In diesem Wissen fühlen wir uns vom Wegfall unserer Illusionen nicht mehr gar so sehr bedroht.

Spirituell gesehen ist also das, was vor dem Erwachen geschieht, nicht gar so verschieden von dem, was anschließend kommt, aber vor dem Erwachen kommt alles aus einer Haltung der Trennung, während wir nach dem Erwachen wissen, dass es eigentlich keine Trennung gibt. Unsere Haltung ist nachher eine andere als vorher, aber das Geschehen, der Prozess, ist eigentlich ganz ähnlich. Man könnte sagen, es geschehe auf verschiedenen Seins-Ebenen, und unter diesem Gesichtspunkt lässt sich alles, was ich in den weiteren Kapiteln sagen werde, auf den Standort zuschneiden, an dem sich ein jeder gerade befindet. Es lässt sich in die persönliche Erfahrung jedes Einzelnen übersetzen.