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Sich zeigen

Ich möchte euch eine Geschichte erzählen. Vor einigen Jahren habe ich auf der Hawaii-Insel Maui einen Vortrag gehalten und darüber gesprochen, wie sich die Wahrheit nach dem Erwachen ihren Weg in unserem Leben bahnt. Ich habe meine Zuhörer dann aufgefordert, sich einmal mit Fragen dieser Art zu beschäftigen: Wir wäre es, wenn wir nichts mehr verschweigen würden, wovon wir wissen, dass es wahr ist? Was, wenn wir uns in allen Bereichen unseres Lebens offen zeigen würden? Was, wenn wir uns selbst nicht mehr ausweichen würden, einfach weil es in einem erwachten Leben nur so sein kann?

Am nächsten Tag war ein weiteres Meeting, diesmal mit einem Diskussionsabschnitt. Es meldete sich ein älterer Herr zu Wort, vielleicht Ende fünfzig, Anfang sechzig, und erzählte etwas sehr Beeindruckendes. Er sagte: »Ich habe gestern Abend den Vortrag über Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit gehört – dass wir bereit sein müssen, uns so zu sehen, wie wir sind, ohne uns hinter irgendwelchen früheren Erfahrungen oder Erkenntnissen zu verstecken.

Meine Frau und ich stehen jetzt schon eine ganze Weile am Rand einer Scheidung. Nach dem Vortrag sind wir nach Hause gegangen, haben uns hingesetzt und einfach angefangen, einander die Wahrheit zu sagen. Wir haben beide ausgesprochen, was für uns die Wahrheit ist.«

Weiter erzählte er, es sei ganz anders gewesen als früher, wenn sie sich »die Wahrheit gesagt« hatten und es eigentlich darum ging, den anderen von etwas zu überzeugen. Jetzt mussten sie beide nicht mehr recht haben und den anderen ins Unrecht setzen. Sie sagten nur eben die Wahrheit, ganz einfach. Sie bekannten sich zu dem, was schon lange so war, sie gestanden sich ein, dass sie einander fern und fremd geworden waren, sie benannten die Geheimnisse, die zu diesen Gefühlen geführt hatten. Er sagte: »Wir haben nur dagesessen und uns die Wahrheit gesagt. Erst habe ich die Wahrheit gesagt, und dann habe ich meine Frau reden lassen. Dann habe wieder ich die Wahrheit gesagt und dann sie.«

Er sagte, er und seine Frau hätten das keineswegs in der Absicht getan, etwas aufzuarbeiten oder zu einer Schlussfolgerung zu kommen. Sie taten nichts weiter, als sich ganz sichtbar zu machen. Das Gespräch ging von elf Uhr abends bis drei Uhr morgens (weshalb er jetzt, wie er anfügte, so übernächtigt aussehe).

Es sei das unglaublichste Gespräch seines Lebens gewesen, schloss er, eine Nacht der Wahrheit, aber nicht der aufgetischten Wahrheit und nicht der bestrittenen Wahrheit. Sie sagten nur offen und schlicht die Wahrheit, gänzlich ungeschützt.

Ich habe im Lauf meiner Arbeit als Lehrer festgestellt, dass sich die meisten Menschen, auch wenn sie ein großes Erwachen erlebt haben, davor fürchten, offen und ehrlich die Wahrheit zu sagen, und das nicht nur anderen gegenüber, sondern auch vor sich selbst. Wir wissen wohl instinktiv, dass wir nichts mehr in der Hand haben und nichts mehr in unserem Sinn steuern können, wenn wir ungeschützt ehrlich und wahrhaftig sind, und das ist vielleicht der Kern dieser Angst.

Einen Menschen, dem wir uns wirklich offenbaren, können wir nicht mehr in unserem Sinn lenken und beeinflussen. Beherrschen lassen sich Menschen nur mit Halbwahrheiten, mit zurechtgestutzten Wahrheiten. Wenn wir die ganze Wahrheit sagen, ist unser Innerstes plötzlich nach außen gekehrt. Nichts bleibt verborgen. Für die meisten Menschen ist es furchtbar beängstigend, derart ungeschützt zu sein. Sie laufen ständig mit dieser Sorge herum: »O Gott, wenn die Leute alle sehen könnten, wie es in mir aussieht, meine Ängste, meine Zweifel, meine Wahrheit, meine tatsächliche Sicht der Dinge – sie wären entsetzt.«

Davor schützen wir uns und verschweigen das Allermeiste.

Aber zurück zu diesem Mann und der Nacht der Wahrheit mit seiner Frau. Er sagte: »Um ehrlich zu sein, meine Frau und ich wissen auch jetzt noch nicht, ob wir zusammenbleiben oder nicht.« Das ist jetzt viele Jahre her, und sie sind noch zusammen, doch damals wussten sie wirklich nicht, wie es ausgehen würde. Aber sie waren ehrlich genug, auch das auszusprechen. Sie wussten, dass es ein guter Anfang war, einander offen und ehrlich die Wahrheit zu sagen, und sie taten es, ohne auf ein bestimmtes Ergebnis hinzuarbeiten.

Nur wenige überstehen ihre Kindheit ohne Verletzungen, die sie sich einhandeln, weil sie einfach die Wahrheit sagen. »So etwas sagt man nicht! Das gehört sich nicht!«, wie oft hören wir das und Ähnliches als Kinder? Deshalb tragen viele den tiefen Eindruck mit sich herum, dass mit ihnen grundsätzlich etwas nicht in Ordnung ist. Jedenfalls ist uns vermittelt worden, dass es zu bestimmten Gelegenheiten in Ordnung ist, die Wahrheit zu sagen, während es ein andermal völlig unangebracht ist, offen und ehrlich zu sein. Manche glauben tatsächlich – und es ist so etwas wie eine körperlich-seelische Prägung –, dass Offenheit und Ehrlichkeit ganz schlimme Folgen haben werden und deshalb unbedingt zu vermeiden sind. Irgendwem werden meine offenen Worte missfallen, wenn ich die Wahrheit sage, ist meine Umwelt nicht mehr beherrschbar.

Für das Erwachen jedenfalls ist es von ganz wesentlicher Bedeutung, dass wir die Wahrheit sagen. Es sieht vielleicht nicht so aus, denn ist Wahrheit nicht etwas ganz Praktisches, Diesseitiges und Menschliches? Sie ist nicht transzendent. Sie hat nicht unmittelbar mit reinem Bewusstsein zu tun. Aber wie sich das reine Bewusstsein als Mensch manifestiert, dafür kommt es auf das Sagen der Wahrheit an. Wir müssen das, was wir realisieren, irgendwie zum Ausdruck bringen, und wir müssen uns auf die Auseinandersetzung mit den Kräften in uns einlassen, die uns manchmal keine Wahrhaftigkeit erlauben wollen.

So gut wie immer kommt nach einem Vortrag wie diesem jemand zu mir und sagt: »Erinnerst du dich an deinen Vortrag über Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit und die ganze Chose?« Und ich sage: »Na klar erinnere ich mich.« Und dann kommt etwas wie: »Ja, und hinterher auf dem Parkplatz kommt meine Verflossene auf mich zu und findet es nötig, mir im Namen der Ehrlichkeit alles an den Kopf zu werfen, was sie so von mir hält.«

Ich kann dann nur staunen, und eigentlich mag ich schon gar nichts mehr zu diesem Thema sagen, weil es so gern missverstanden wird.

Wahrheit ist sehr kostbar. Wahrheit ist kein Spielzeug. Wenn wir die Wahrheit sagen, sagen wir nicht, was wir denken oder glauben, wir geben keine Meinung zum Besten. Wir laden nicht unseren Seelenmüll bei einem anderen ab. All das ist Projektion, Verdrehung der Wahrheit, reine Einbildung. Unsere Meinungen bei jemandem abzuladen, das ist nicht dasselbe wie die Wahrheit. Unsere Sicht der Dinge mitzuteilen, auch das ist nicht die Wahrheit. Vielmehr verstecken wir uns damit vor der Wahrheit.

Die Wahrheit ist uns so viel näher als das. Wenn wir die Wahrheit sagen, dann bekennen wir etwas. Das muss keineswegs bedeuten, dass da etwas Schlechtes oder Unrechtes mitzuteilen wäre, sondern wir verlassen einfach unsere Verstecke und machen uns sichtbar. Wahrheit ist ganz einfach. Die Wahrheit zu sagen, das bedeutet, dass wir völlig ungeschützt sind.

Wenn wir bei der Wahrheit bleiben möchten, müssen wir nicht nur in jede Ecke in uns schauen, wo die Angst vor der Wahrheit nistet, sondern wir müssen auch unsere Prägungen aufspüren, die uns sagen, was erlaubt ist und was nicht. Solche Prägungen und Überzeugungen sind ihrer Natur nach unwahr. Aber es genügt nicht, das vom Verstand her zu wissen; ihr müsst es wirklich gesehen haben, ihr müsst gespürt und erfasst haben, was ihr da glaubt. Wie sehen die Glaubenssätze wirklich aus, die euch all die Konflikte bescheren und in die Dualität abtauchen lassen? Die Wahrheit könnt ihr nur selbst kennen und aussprechen.