Ein Interview mit Adyashanti

Die in diesem Buch wiedergegebenen Vorträge wurden im August 2007 auf drei Tage verteilt im kalifornischen San José gehalten und aufgezeichnet. Anschließend führte Tami Simon, die Inhaberin des Verlags Sounds True, das folgende Gespräch mit Adyashanti, in dem sie ihn zu seinen vorgetragenen Lehren befragte.

Tami Simon Setzen wir beim Vergleich des Erwachens mit einer abhebenden Rakete an. Woran können die Leute erkennen, ob ihre Lebens-Rakete wirklich vom Boden loskommt? Ich könnte mir denken, dass sich da manch einer etwas vormacht. Vielleicht haben sie eine Menge Bücher über das Erwachen gelesen und gelangen innerlich mit einem kühnen Sprung zu dem Schluss, dass es bei ihnen passiert ist, während sie in Wirklichkeit noch funkend und qualmend auf der Rampe stehen. Woran erkennen wir mit Sicherheit, dass wir abgehoben haben?

 

Adyashanti Das ist gar nicht so ohne weiteres zu beantworten. Ich kann eigentlich nur wiederholen, worin das Erwachen tatsächlich besteht.

 

Das spirituelle Erwachen ist ganz ähnlich wie das nächtliche Aufwachen aus einem Traum. Du hast das Gefühl, von einer Welt in eine andere überzugehen, du verlässt ein Umfeld, einen Zusammenhang, und tauchst in einen ganz anderen ein. So wird es auf der Gefühlsebene erlebt. Dieses abgetrennte, eigenständige Ich, das du für real gehalten hast, und sogar diese ganze Welt, die nach deiner Einschätzung objektiv gegeben und gegenüber war – plötzlich sieht das alles nicht mehr so real aus, wie du dachtest.

Ich sage nicht, dass es ein Traum ist oder kein Traum ist, aber es hat etwas von Traum. Nach dem Erwachen erlebst du das Leben so, als wäre es ein Traum, der sich in dir abspielt, in der offenen, unendlichen Weite, die du bist. Erwachen heißt nicht, dass du unendlichen Raum erlebst oder dich selbst wie Raum oder ausgedehnt fühlst oder glückselig oder sonst etwas bist. Solche Gefühle können beim Erwachen auch vorkommen, aber sie sind nicht das Erwachen. Das alles sind Nebenwirkungen, und das Erwachen selbst ist ein Wechsel der Perspektive. Was wir als Wirklichkeit angesehen haben, so geht uns auf, ist keineswegs real, sondern eher wie ein Traum, der sich in unendlicher leerer Weite abspielt. Diese unendliche leere Weite, das ist eigentlich die Realität. Wenn du nachts träumst, geschieht nichts von dem, was du träumst, tatsächlich. Alles spielt sich in dir ab, in deiner Psyche, und da liegt in diesem Fall die Realität – relativ gesehen.

 

Tami Im Rahmen deiner Lebensgeschichte erzählst du, dass deine Rakete in einer ganz bestimmten Zeit abgehoben hat, nämlich als du fünfundzwanzig warst. Glaubst du, es kann bei anderen so sein, dass sich das Abheben über ein paar Jahre hinzieht und es gar keinen bestimmten Augenblick gibt, sondern ihnen nach und nach dämmert, dass ihre Rakete nicht mehr am Boden steht?

 

Adyashanti Ja, diese Fälle erlebe ich auch. Ich kenne Leute, denen ihr Erwachen beinahe erst im Nachhinein bewusst wird, als hätte es sich »angeschlichen«. Der Übergang vollzog sich ohne ins Auge springende charakteristische Vorkommnisse. Es ist, als hätten sie sich irgendwie aus dem Traum gestohlen oder »verlaufen«, nach draußen in die Weite des Raums, wo es ihnen dann eines Tages bewusst wurde und sie sich fragten: »Ach, sieh an. Wann ist das passiert?« Sie können nicht den Finger auf einen bestimmten Moment legen, aber an irgendeiner Stelle wurde ihnen klar, dass sich etwas grundlegend geändert hat. Ja, es kann schleichend und unverhofft kommen, das gibt es auch.

 

Tami Ich will die Metapher nicht überstrapazieren, aber kann man sagen, dass die Rakete einen bestimmten Treibstoff braucht? Falls ja, was ist das für ein Treibstoff?

 

Adyashanti Das wüsste ich auch gern. Ich weiß nicht, ob es überhaupt möglich ist, den Treibstoff zu benennen, einfach weil es letzten Endes nichts Persönliches ist. Es ist ja so, dass nicht nur Menschen erwachen, die wirklich darauf aus sind. Es passiert nicht nur denen, die sich auf die Suche gemacht haben. Manchen widerfährt es ganz unverhofft. Ich bin Erwachten begegnet, die keinerlei spirituellen Weg gegangen sind. Ich kenne sogar einige, die gegen das ganze »spirituelle Zeug« waren – und peng, auf einmal erwischt sie das Erwachen. Das sind Leute, die weder aufrichtig gesucht haben noch auf spirituelle Erkenntnisse aus waren, noch auch nur vage spirituelle Sehnsüchte hatten. Sicher, bei den meisten, die ein Erwachen erleben, ist irgendeine Energie dieser Art gegeben, die Sehnsucht nach einer tieferen Wirklichkeit. Dennoch, immer wenn wir sagen, dies sei notwendig oder jenes sei notwendig, finden wir Gegenbeispiele. Das Erwachen ist ein Mysterium. Es gibt eigentlich keine direkten Ursachen mit absehbaren Wirkungen. Das wäre sicher schön, aber es gibt einfach nichts, was ich da benennen könnte.

 

Tami Im Zusammenhang mit deinem Raketen-Vergleich sprichst du vom »vorübergehenden« und »dauerhaften« Erwachen – wobei Letzteres bedeutet, dass du der Anziehungskraft des Traumzustands auf Dauer entkommen bist: Die Gewohnheitstendenz, das gesonderte Ich wiederherzustellen, liegt hinter dir. Du hast das Schwerkraftfeld verlassen.

 

Adyashanti Auch hier tue ich mich immer ein bisschen schwer mit einer Antwort, aber ich will es versuchen. Ich glaube nicht, dass ich sagen kann: »Ja, die Schwerkraft erreicht mich nicht mehr.« So ist es in Wirklichkeit nicht. Das überschreitet die Reichweite dieser Metapher. Das ist ja mit allen Veranschaulichungen und Vergleichen so – irgendwo stoßen sie an ihre Grenzen und fangen an zu hinken.

Bei mir, würde ich sagen, ist es so, dass ich nicht mehr an meine Gedanken glaube. Ich bin nicht mehr in der Lage, an die Gedanken, die mir so kommen, wirklich zu glauben. Was für Gedanken mir kommen, das habe ich nicht in der Hand, aber jedenfalls bin ich dann außerstande, irgendeinen Gedanken für real, wahr oder wichtig zu halten. Und wenn man das nicht mehr kann, hat das eine Wirkung, die deutlich zu spüren ist: Es fühlt sich frei an.

Wenn man das »dem Schwerkraftfeld des Traumzustands entkommen« nennen möchte, meinetwegen, aber mir ist nie so ganz wohl bei solchen Behauptungen. Ich rufe den Menschen, mit denen ich spreche, gern in Erinnerung, dass ich eigentlich nur weiß, was eben jetzt ist. Über morgen kann ich nichts sagen. Vielleicht kommt morgen ein Gedanke, der sich wieder bei mir anklettet, der mich in Trennung und Verblendung zurückzerrt. Vielleicht kann das passieren, vielleicht nicht, wer weiß das schon? Ich nicht. Ich weiß nur, was jetzt ist.

Deshalb sage ich nicht, ich hätte eine bestimmte Ziellinie passiert. Ich sehe es einfach nicht so. Es kann so klingen, wenn ich Vorträge halte, aber das sind eben die Begrenzungen der Sprache. Sicher weiß ich nur, dass ich das nicht weiß und dass es für nichts Garantien gibt. Es ist nichts, was ich oder irgendwer wissen könnte.

 

Tami Ich kann verstehen, dass du nicht vorausblickend wissen kannst, ob wieder Klettgedanken kommen. Aber wenn du in die Gegenrichtung schaust, wann hattest du den letzten Klettgedanken?

 

Adyashanti Da muss ich vorausschicken, dass ich ja nicht behaupte, es kämen bei mir keine Klettgedanken mehr vor. Ein Augenblick des Haltens und Haftens, ein Augenblick der Trennung, so etwas kann immer wieder vorkommen. Wirklich, ich sage nicht, dass so etwas nicht sein kann oder nicht sein darf. Aber wenn es passiert, schließt sich das Durchschauen gleich an, und darin liegt eigentlich der Unterschied. Ich weiß nicht, ob das überhaupt menschenmöglich ist, dass »klebrige« Gedanken gar nicht mehr vorkommen. Mein Eindruck ist eher der, dass man mit so einem menschlichen Körper und Geist gar nicht anders kann, als gelegentlich an etwas zu haften und ein gewisses Maß an Trennung zu erleben, zumindest vorübergehend. Aber die Phase zwischen dem Aufkommen eines Klettgedankens und seinem Verschwinden kann so kurz werden, dass man den Eindruck bekommt, sie seien annähernd gleichzeitig.

Ich sage also nicht, dass Klettgedanken bei mir nicht mehr vorkommen. Aber der Zeitverzug zwischen Aufkommen und Verschwinden wird so extrem klein, dass ich ihn manchmal nicht mehr erkenne. Unsere Vorstellungen von Erleuchtung – dass man da einen Stand erreicht, auf dem nichts Unangenehmes mehr passiert, wo uns keine verblendeten Gedanken mehr durch den Kopf gehen – sind reine Einbildung, scheint mir. In Wirklichkeit läuft es einfach nicht so.

Alles kann passieren, und das darf auch ruhig so sein. Wenn der Zwischenraum so klein ist, dass man die Sache ganz schnell durchschaut, werden sogar Klettgedanken zu einem Bestandteil der Freiheit. Wir realisieren, dass es nichts macht, solch einen Gedanken zu haben, der uns nicht lange festhält. Das fühlt sich sehr frei an, wirklich. Kein Grund, Erleuchtung als etwas darzustellen, was sie einfach nicht ist. Ich kann verstehen, dass manch einer, der mich sprechen hört, solche Vorstellungen von »dauerhaftem Erwachen« entwickelt. Aber so möchte ich das nicht verstanden wissen. Es ist eher so, dass der Zwischenraum zwischen einem Trennungsgedanken und seinem Vergehen verschwindend klein wird. Er vergeht, weil du nicht an ihn glaubst.

 

Tami Dann sag doch mal, was für dich belastend und schwierig ist. Du hast mal erzählt, dass du bei Computerproblemen ziemlich genervt reagieren kannst, etwa wenn die Internetverbindung nicht funktioniert oder das Drucken nicht klappt. Was machst du dann? Unternimmst du etwas, um hier die Kluft zu schließen, oder geschieht das von selbst?

 

Adyashanti Na ja, wenn der Frust einmal da ist, wird er auch erlebt. Ich bin frustriert, aber ich lasse nicht auch noch urteilende Gedanken folgen. Und darauf kommt es an. Es ist nicht so, dass ich die Sache einfach übergehe, einfach nicht beachte. Nein, ich schließe lediglich keine urteilenden Gedanken an. Der normale Verlauf sieht so aus: Es kommt, es wird erfahren, urteilende Gedanken unterbleiben, und dann vergeht es. Es wird dem Ganzen keine große Bedeutung beigemessen.

Es finden also keine sekundären Gedankengänge statt wie zum Beispiel: »Mann, ich sollte mich gar nicht erst ärgern« oder »Wieso rege ich mich auf?« oder so etwas. Natürlich sind Gedanken beteiligt; ohne Gedanken kein Frust. Aber niemand hält sie für wahr. Gedanken, die nicht für wahr gehalten werden, vergehen, und mit ihnen vergeht der Ärger.

Das wäre früher ganz anders gelaufen und hätte sich länger hingezogen. Früher hätte ich den intensiv forschenden Blick eingeschaltet und mir die Sache sehr genau angesehen. Aber die Zwischenphase ist wie gesagt sehr kurz geworden, und das Ganze läuft wie von selbst. Das ist wie bei einem Musiker. Du übst und übst und übst deine Tonleitern, und irgendwann hast du sie so fest verinnerlicht, dass sie beinahe ohne deine bewusste Intention ablaufen. So war es für mich mit der Selbsterforschung. Irgendwann läuft sie wie von selbst und braucht kaum noch oder gar keine bewusste Intention mehr.

 

Tami Du nennst Gedanken und Gefühle oft die beiden Seiten einer Münze. Kann man nicht Gefühle haben, die nicht von Gedanken begleitet sind? Wie ist es in Augenblicken des tiefen Staunens oder der Ergriffenheit von etwas Schönem, wenn einem spontan die Tränen kommen? Kann es da nicht sein, dass keine Gedanken vorhanden sind, sondern nur auf der Gefühlsebene etwas aufwallt? Oder meinst du, dass wir dann auf einer subtilen oder unterschwelligen Ebene denken?

 

Adyashanti Doch, es gibt dieses reine Fühlen. Jeder, der Augenblicke von großer, staunenswerter Schönheit erlebt hat, weiß das. Es gibt reine Sinneswahrnehmung mit Gefühlen, die nicht durch Gedanken bedingt sind. Aber ich würde doch sagen, dass die meisten Gefühle eher Abbilder von Gedanken sind – Gedanken, die dann zu Gefühlen werden.

Reine Gefühle, wie ich sie nennen würde, umgehen das Denken irgendwie. Sie sind Ausdruck der Interaktionen dieses wunderbaren Wahrnehmungsinstruments, unseres Körpers, mit der Umwelt – solange es sich um reine, noch nicht gedanklich distanzierte und damit virtuelle Interaktion handelt.

 

Tami Denken ist immer virtuell?

 

Adyashanti Alles Denken ist virtuell, ganz sicher.

 

Tami Wenn es Gefühle gibt, die nicht dem Denken entspringen, gibt es dann auch Bauchempfindungen, die ebenfalls nicht aus dem Denken kommen?

 

Adyashanti »Bauch« in diesem Sinn ist einfach eine unserer Möglichkeiten, die Welt wahrzunehmen oder zu spüren. Von Bauchgefühlen ist heute viel die Rede. Das Spüren vom Bauch her hat etwas Instinktives und ist eine eher intuitive Art des Erkennens. Wir erspüren Dinge auf diese Art, der Bauch ist ein intuitives Sinnesorgan. Sicher, wir können auch ein mulmiges Gefühl im Bauch haben, und es gibt sicher auch Bauchgefühle, die vom Denken abgeleitet sind, von Angstgedanken, ärgerlichen Gedanken, widerstreitenden Gedanken, Rückzugs-Gedanken. Aber der Bauch kann auch ein reines Sinnesorgan für die Vorgänge ringsum sein.

Allerlei intuitive Erfahrungen werden zugänglich, wenn man nicht von Gedanken beengt ist. Nimm an, du gehst bis an den Rand eines Abgrunds. Du blickst nach unten und siehst diese Tiefe und Weite. Vielleicht schwindelt dir dabei, vielleicht bekommst du Angst, aber wenn du einfach hinspürst, nimmst du vielleicht etwas anderes wahr, nämlich dass dein Bewusstsein diese ganze Weite und Tiefe ausfüllt. Bei etwas überraschend Großem und Weitem atmen wir hörbar ein, nicht wahr? In diesem Einatmen spüren wir, wie sich unser Bewusstsein für die Umgebung öffnet. Wir atmen ein, und der Atem füllt jetzt nicht nur die Lunge, sondern auch unser Herz und den Bauch. Wir sind ganz und gar im Einklang mit der Umgebung. Es geschieht als Interaktion unseres Bewusstseins mit der Umwelt. Ich bezeichne das als reines Empfinden oder reines Fühlen. Ja, das geschieht auch über Bauchempfindungen und kann sehr schön, sehr mitreißend sein.

Es hat etwas sehr Inniges, Intimes. Ich würde sagen: Es ist unser Sein, das sich selbst begegnet, sehr nah, sehr intim. Nicht dass es falsch wäre, darüber zu sprechen, aber sobald wir darüber sprechen, hat sich etwas geändert. Für einen Moment ist es reine Erfahrung, doch gleich wenden wir uns an unseren Freund, unsere Freundin und sagen: »Ist das nicht wunderschön?« Noch einmal: Das ist nicht falsch, und ich mache es manchmal auch so. Aber wenn du in dem Augenblick genau hinhörst, verschiebt sich innerlich etwas, und von da an prägt das eben Gesagte dein Erleben – und da betrittst du dann den Raum der virtuellen Erfahrung. Das ist etwas anderes, als der Augenblick des sprachlosen Staunens, in dem der ganze Körper an der Erfahrung teilhat.

 

Tami Wenn man in der Natur etwas Großartiges erlebt und nur staunen kann, das ist eine Sache; aber gibt es Ähnliches auch bei Gefühlen wir Ärger? Kann Ärger ein reines Gefühl ohne gedankliche Verdoppelung sein?

 

Adyashanti Aber ja. Diese Vorstellung, dass Erleuchtete immer mit diesem seligen und leicht töricht wirkenden Lächeln dasitzen, ist einfach abwegig. Ich stelle mir als Gegenentwurf gern eine Kirche vor, die jemand schnaubend betritt, um dann gleich das ganze seichte Getue anzuprangern und zu schreien: »Wie könnt ihr meines Vaters Haus besudeln?« Der heilige Zorn hatte Jesus gepackt, nicht? Er war aufgebracht und dachte nicht daran, den lächelnden Erleuchteten zu geben.

Kann man also »ungeteilt aufgebracht« sein? Natürlich kann man das. Keine Gefühlsregung ist da ausgeschlossen. Wach sein heißt nicht, dass bestimmte Emotionen nicht mehr für uns in Frage kommen. Gefühle sind auch nichts weiter als das Sein, das sich durch uns bekundet. Es gibt eine gespaltene Form des Ärgers, aber auch eine ungespaltene.

 

Tami Und wie unterscheide ich das in mir selbst – ob ich gerade ungespaltenen oder gespaltenen Ärger erlebe?

 

Adyashanti Du fühlst dich innerlich geteilt oder ungeteilt.

 

Tami Wenn ich ganz und gar Ärger bin, dann ist das ungeteilt?

 

Adyashanti Wir haben das sicher alle schon erlebt, dass wir durch und durch wütend sind, aber das ist doch noch gespalten, konfliktgeladen. Es gibt aber auch einen Ärger oder Zorn, der, wie soll ich sagen, aus einem Guss ist. In der tibetischen Ikonografie beispielsweise finden wir sogenannte rasende Gottheiten mit Flammenschwertern, flammenden Augen und flammendem Haar. Sie blicken sehr grimmig, sehr zornig drein. Aber etwas an diesen Darstellungen lässt erkennen, dass es sich nicht um den konfliktbeladenen Allerweltszorn handelt. Es ist wirklich schwer zu beschreiben, aber man erkennt an diesen Darstellungen, dass es sich um eine andere Art von Zorn handelt. Es ist kein böser, destruktiver Zorn, sondern ein guter Zorn, der zwar auch zerstört, aber um etwas Positives zu erreichen. Ich stelle das vielleicht nicht sehr einleuchtend dar, jedenfalls will ich sagen, dass auch Ärger und Zorn einen guten Hintergrund haben können.

 

Tami Mich interessiert dieses Thema ganz besonders, weil ich früher ein relativ schmales Gefühlsspektrum hatte. Ich habe mich als Mensch entwickelt, und inzwischen steht mir der ganze Erfahrungsraum der Gefühle zur Verfügung, und das ist in so vieler Hinsicht interessant und erfüllend und einfach großartig. Wenn ich dich sagen höre, dass die meisten Gefühlsregungen eigentlich Abbilder von Gedanken sind, möchte ich wirklich gern wissen, welche Gefühle lediglich auf Gedanken beruhen und welche rein sind. Woran erkenne ich das?

 

Adyashanti Damit wir uns richtig verstehen: Ich sage nicht, virtuelle Gefühle seien irgendwie falsch oder zweitrangig und sollten nicht vorkommen. Ich kann zum Beispiel an meine Frau denken. Mukti steht mir dann klar vor dem inneren Auge, und ich spüre diese wunderbare Welle von Liebe. Dieses emotionale Erleben ist virtuell, und ich weiß es. Ich weiß, dass es sich nur in mir abspielt, dass ich es buchstäblich erfinde. Dadurch ist es aber nicht falsch. Es ist vielleicht eine himmlische Fantasie, aber eben doch eine Fantasie.

Ich kann solche Bilder in mir erzeugen, und manchmal tue ich es. Ich sehe sie vor mir, oder Gedanken an sie gehen mir durch den Kopf, und das Herz schwillt mir so wunderbar. Machen wir uns also erst einmal klar, dass ein emotionales Erleben nicht schlecht ist oder nicht sein darf, nur weil es aus dem denkenden Geist kommt.

Wenn wir genauer hinsehen, stellt sich heraus, dass die allermeisten menschlichen Gefühlsregungen durch das bedingt sind, was wir uns jeweils gerade sagen oder erzählen. Das macht diese Gefühle nicht falsch oder schlecht, es ist nur einfach so. Wenn wir etwas betrachten und dann etwas dazu sagen, kann das ein positives Gefühl auslösen. Wenn wir das genauer verfolgen, stellt sich oft heraus, dass unsere Gefühle erst einmal Gedanken sind, die uns sagen: »Oh, das ist schön« oder »Das ist unschön«.

Wie kann man unterscheiden, ob ein Gefühl reines Fühlen oder von einem Gedanken abgeleitet ist? Nun, man sieht einfach nach, ob mit ihm eine Story verbunden ist oder Bilder damit einhergehen. Wenn das der Fall ist, weißt du: »Aha, das ist etwas Abgeleitetes. Eigentlich erlebe ich jetzt nicht ein Gefühl, sondern Gedanken.« Und dagegen ist nichts zu sagen, es ist in Ordnung so. Wir täuschen uns nur leicht, wenn wir dergleichen als Realität ansehen.

 

Tami Gibt es reine Wahrnehmung auch auf der Ebene des denkenden Geistes? Gibt es also einen »erwachten Geist« in dem Sinn, dass er nicht nur Gedanken, Begriffe und Abstraktionen fabriziert, sondern als reines Sinnesorgan fungiert?

 

Adyashanti Ja, auf dieser Ebene haben wir die reine Wahrnehmung der Unendlichkeit, also dessen, was im Buddhismus »Leerheit« genannt wird – grenzenlose leere Weite. Das nimmt der Geist nicht denkend wahr, sondern wie eine Art Sinnesorgan. Da erfahren wir die Weite der Unendlichkeit, des Raums, das reine Licht des Seins in seiner blendenden Klarheit. Das nehmen wir geistig wahr, aber es ist nicht die Ebene des Denkens. Diese Wahrnehmung ist etwas anderes als bloßes Denken. Es ist Geist als Sinnesorgan, ein Spüren der Unendlichkeit.

 

Tami Du sagst, dass uns alle spirituellen Wege letztlich dahin bringen, uns ganz und gar zu ergeben. Aber was, wenn das an uns, was sich nicht ergeben möchte, ganz versteckt ist, ganz unbewusst ist? Bewusst geben wir vielleicht alles preis, aber im Unbewussten kann dann immer noch etwas sein, was klammert. Wie können wir das in die Sichtbarkeit holen? Ich kann mir vorstellen, dass man sich deine Aussagen zum Thema »Ergebung« anhört und dann meint, man habe grundsätzlich verstanden. Ich weiß, wie sich das anfühlt, auf den Knien oder ganz am Boden zu sein. Aber was ist dann mit dem Rest, der doch noch nicht loslassen möchte und den ich nicht sehe?

 

Adyashanti Da ist möglicherweise gar nichts zu machen. Und das wollen die Leute am allerwenigsten hören, nicht? Gib mir irgendetwas, irgendeine Anleitung, irgendeine Hoffnung. Ja, es gibt dieses vollkommen unbewusste Festhalten in uns, an das wir auf keine Art und Weise herankommen. Vielleicht brauchst du das auch gar nicht. Vielleicht ist es nicht nötig. Fertig.

Der Zugang wird in dem Augenblick da sein, wo es eben so sein soll. Das schmeckt uns nicht, wir hören das nicht gern. Aber sehen wir uns einmal das Leben selbst an, anstatt uns an Philosophien oder Lehren zu orientieren oder an dem, was wir uns selbst erzählen.

Ich kann über mich ganz gewiss sagen, dass es Zeiten gab, in denen ich über bestimmte Fähigkeiten noch nicht verfügt habe. Sie waren schlichtweg nicht vorhanden, und ich weiß wirklich nicht, was ich hätte tun können, um sie damals schon zu besitzen. Hätte man mir davon erzählt, vielleicht hätte ich nicht einmal gewusst, wovon überhaupt die Rede ist.

Meine Lehrerin hat mir so viele Dinge im Lauf der Zeit immer wieder nahegebracht, und zehn Jahre später dachte ich dann: »Ach so, das hat sie gemeint. Ja, jetzt verstehe ich.« Hätte ich mich zehn Jahre früher zu dieser Einsicht durchringen können? Es sieht nicht danach aus.

Das ist jetzt vielleicht nicht die aufbauende spirituelle Unterweisung, auf die du aus bist, aber alles hat seine Zeit, alles hat seinen Ort. Das Ego bestimmt nicht, was passiert; das Leben bestimmt, was passiert. Es hat keinen Sinn, darauf zu beharren, dass etwas uns jetzt gleich in den Stand setzen soll, uns voll und ganz zu ergründen, damit wir über alles im Bilde sind, was wir zum Erwachen benötigen. Das stimmt einfach nicht mit dem überein, was wir so erleben.

Alles geschieht zu seiner Zeit. Es liegt nicht in unserer Hand. Nur hören wir das nicht so gern, unserem Kopf passt es gar nicht. Wir würden lieber etwas hören, das uns mehr Einfluss zugesteht. Dass wir bei manchen Dingen einfach nichts ausrichten können, überhören wir geflissentlich. Wir lehnen es ab, und es kommt erst wirklich bei uns an, wenn es sich in unserer eigenen Erfahrung zeigt.

Immer wieder erlebe ich, dass ein Schüler zu mir kommt und sagt: »Ich kann einfach nichts gegen diesen Teil meiner selbst machen, ich richte nichts aus gegen diesen Verblendungs-Geist. Was soll ich bloß machen?« Oft sage ich dann: »Lass uns doch einfach mal bei dem bleiben, was du da sagst. Du kannst nichts machen. Ist das so? Oder gibt es etwas, was doch funktioniert?« – »Nein, bisher hat überhaupt nichts funktioniert.« Ich frage weiter: »Kannst du etwas finden, was du tun könntest? Kannst du dir etwas vorstellen?« Manchmal höre ich dann: »Nein, ehrlich, überhaupt nichts.« Dann schlage ich vor: »Wie wär’s, wenn du das mal an dich heranlässt, diese Stimme, die dir sagt, dass du nichts tun kannst? Kannst du das zulassen, anstatt es wegzuschieben?«

Wenn das angenommen wird – nicht bloß gedanklich oder als Unterweisung, die man auch in den Wind schlagen kann, sondern als etwas, das man geradezu körperlich aufnimmt –, kann sich alles ändern, weil man zu ahnen beginnt, wie es ist, frei von Widerstand zu leben. Es kommt vor, dass genau das, was wir von uns weisen, die transformierende Einsicht enthält, die wir brauchen. Wer denkt denn, dass gerade diese Einsicht, dass nichts, aber auch gar nichts getan werden kann, alles ändert? Das wird uns wahrlich nicht beigebracht. Uns wird beigebracht, gerade diese Erkenntnis zu meiden wie die Pest. Selbst wenn genau das Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt unsere Erfahrung ist, selbst wenn wir immer wieder das Gleiche erleben, versuchen wir doch immer aufs Neue, es einfach nicht wahrzunehmen.

Verstehst du? Wir sind Junkies, allesamt, wir wollen uns einfach großartig und frei fühlen. Überall die gleiche Dynamik. Der Alkoholiker, dem klar wird: »Ich kann nichts mehr tun«, der ist auf einem guten Weg. Solange er dasitzt und sich einredet: »Ich schaffe das schon. Ich habe das voll im Griff. Ich werde schon damit fertig«, wird sich nichts ändern. Erst wenn wirklich gar nichts mehr geht und ich es mir eingestehe, hört dieses Beschönigen auf. Ich kann nichts mehr tun, und wo stehe ich jetzt? Es ist nicht so wichtig zu wissen, was wir tun können. Aber ein Spiegel ist gut, damit wir erkennen, wo wir sind. Wenn der Trinker oder Drogensüchtige sieht, dass er nichts mehr tun kann, dass er seine Sucht nicht anzuhalten vermag – erst dann sieht er sich wirklich.

Es gibt einen Wandel, der einfach einsetzt, ohne dass man es darauf anlegt, ohne dass man etwas übt oder Techniken anwendet. Für mich hängt das mit der Bereitschaft zusammen, auch mal auf die Nase zu fallen. Meine Schüler neigen manchmal dazu, mich auf ein Podest zu stellen, weil sie meinen, ich hätte etwas ganz Großartiges herausgefunden. Deshalb betone ich bei jeder Gelegenheit, dass mein Weg ein Weg der Fehlschläge war. Alles, was ich versuchte, ging erst einmal daneben, was nicht heißt, dass meine Versuche keine Rolle gespielt hätten oder unwichtig gewesen wären. Nein, das Ringen und Mühen spielt durchaus eine Rolle. Aber das Wichtige an dieser Rolle bestand eben darin, dass sie auslief und endete. Die Tänze wurden getanzt, bis sie ausgetanzt waren. Und dann hatte ich wieder einen Fehlschlag. Ich bekam das mit dem Meditieren nicht auf die Reihe, ich schaffte es nicht, die Wahrheit zu ergründen. Meine spirituellen Erfolgsrezepte schlugen alle fehl. Und wenn das Versagen dann nicht mehr von der Hand zu weisen ist – ja, dann kann sich etwas lösen.

Aber wir wissen das alle, nicht wahr? Es ist kein Geheimwissen. Jeder hat es auf diese oder jene Art erlebt. Wir kennen diese Augenblicke. Wir wollen bloß nichts davon hören, es passt uns nicht.

 

Tami Du gibst die Anregung, uns selbst zu fragen: »Was weiß ich eigentlich sicher?« Das möchte ich jetzt einmal dich fragen. Gibt es etwas, was du sicher weißt?

 

Adyashanti Nur dass ich bin. Das ist alles. Dies eine. Alles andere fließt, alles andere ist aus meiner Sicht ungewiss. Alles andere glauben wir zu wissen, bilden wir uns ein zu wissen. Ich weiß nicht, was jetzt weiterhin passieren müsste. Ich weiß nicht, ob wir uns aufwärts oder abwärts entwickeln. Ich verstehe davon nichts.

Aber immerhin weiß ich, dass das so ist. Und dieses Wissen, ob man es glaubt oder nicht, lähmt mich nicht und schränkt mich nicht ein. Ich verschwinde nicht in einer Höhle im Himalaya oder in meiner Couchecke, weil ich ja doch nichts weiß und folglich nichts tun kann.

Nein, gar nichts. Das Leben denkt mir eine Rolle zu, und die spiele ich. Ich gehe ganz in der Rolle auf, die das Leben von mir gespielt haben möchte. Die Rolle ändert sich ständig, eigentlich jeden Augenblick, aber genau damit bin ich eins und einverstanden. Ich diskutiere nicht mehr mit dem Leben. Es möchte diese Rolle von mir gespielt haben – da spiele ich sie doch lieber gern als ungern.

Es sieht so aus, dass der Part, den das Leben durch uns spielt, dann besonders befriedigend ausfällt, wenn wir zutiefst einverstanden sind – dann erweist er sich als alles, was wir uns je gewünscht haben, wenn es auch nicht gleich danach aussieht.

 

Tami Mir hat besonders deine Beschreibung der Sackgassen gefallen, in die man nach einem ersten Erwachen geraten kann. Jetzt frage ich mich, ob du etwas über eine Sackgasse sagen kannst, die ich oft erlebe, nämlich wenn sich die Leute nach einem ersten Erweckungserlebnis gleich die Rettung der Welt auf die Fahnen schreiben. Siehst du das auch als Sackgasse? Gehört das auch zu den Dingen, die sich das Ego zum Zweck seiner Selbstbeweihräucherung unter den Nagel reißt?

 

Adyashanti Ich will mal erzählen, wie es mir selbst damit gegangen ist. Das Erwachen führte für mich nicht zu dieser Art von Sendungsbewusstsein. Ich hatte nicht das Gefühl, die Welt retten zu müssen, aber als meine Lehrerin mich aufforderte, selbst als Lehrer zu wirken und andere an diese Selbstverwirklichung heranzuführen, kam so ein Gefühl von grenzenlosen Möglichkeiten in mir auf. Ich sah das Erwachen als etwas, das jeder erreichen kann. Und damit verband sich für mich ein gewisses Sendungsbewusstsein. So etwas kann sehr verlockend sein und einen wirklich in Schwung bringen. Es ist inspirierend und kann sehr schön sein, wenn es Hand und Fuß hat.

Ich war mit Feuereifer bei der Sache, vor allem in meinen ersten Jahren als Lehrer. Ich stellte fest, dass es wohl einfach zum Erwachen gehört. Man spürt, dass alle Leiden unnötig sind – man kann wirklich davon erwachen. Da entsteht dann leicht ein gewisses Sendungsbewusstsein.

Nach ein paar Jahren stellte ich dann fest, dass mein Sendungsbewusstsein nachlässt. Man ist da wie ein junger Hund, der ständig an allen hochspringt und immer irgendetwas vorhat. Ich war so voll von dem, was nach meiner eigenen Erfahrung funktioniert und was sicher auch anderen helfen würde – ich wollte es einfach weitergeben. Aber nach zwei, drei Jahren begann diese Energie ein wenig ruhiger zu werden, und ich wurde immer mehr ein erwachsener Hund, der sich neben Herrchens Sessel einrollt und der Welt ihren Lauf lässt.

Heute ist von diesem Sendungsbewusstsein fast nichts mehr übrig. Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass irgendetwas geschehen muss oder sollte. Ich nehme das Potenzial in jedem wahr, aber es verbindet sich keinerlei Dringlichkeit damit.

Es ist ein Reifungsprozess. Viele gehen durch solche Phasen. Wichtig ist die Frage, ob wir da durchgehen und dann weitergehen oder ob das Sendungsbewusstsein irgendwann doch zum Fundament für den Neubau des Egos wird. Wenn es dazu kommt und das Ego das Erwachen nutzt, um seinen Größenwahn zu schüren, sind natürlich allerlei Entgleisungen möglich.

Vielleicht sehen wir uns dann als Erlöser der Menschheit und unsere Lehre als die größte, die die Welt je gesehen hat. Wenn es in die Richtung geht, sind wir auf dem Weg in irgendeinen Wahn. Und dahinter steht meist, dass das Ego eine echte und tiefe Erfahrung des Betreffenden für sich in Anspruch nimmt. Die freiwerdenden Energien werden ins Ego umgeleitet, und da sind dann wirklich sehr tiefe Verblendungszustände möglich.

Wir erleben das von Zeit zu Zeit als schreckliche Entgleisungen im Zusammenhang mit Kulten. Dazu kommt es, wenn sehr viel Energie ins Ego umgeleitet wird und es einem Wahn erliegt. Plötzlich bist du der Retter der Menschheit, das kann ganz schnell gehen.

In Wirklichkeit ist natürlich niemand der Retter oder Erlöser der Welt. Der größte Avatar, der je auf Erden gewandelt ist – sofern man davon überhaupt reden kann –, ist wie ein Sandkorn am endlosen Strand. Wir haben alle unsere kleine Rolle zu spielen. Wir sind Ausdruck des Ganzen, des Einen. Wenn wir glauben, wir seien von besonderer Bedeutung, mehr als einfach ein Steinchen des unermesslichen Mosaiks, sind wir dabei, uns aufzublasen, uns etwas vorzumachen.

 

Tami Gibt es aus deiner Sicht etwas, womit man die Leute darauf aufmerksam machen kann, dass ihr Ego den Durchbruch, zu dem sie gelangt sind, für sich zu vereinnahmen versucht? Ich sehe das ziemlich oft und tue mich schwer, Hinweise zu geben, die wirklich etwas bringen.

 

Adyashanti Die spirituellen Traditionen verfügen da über ein paar »Sicherungen«, die ins Spiel kommen, wenn das Ego spirituelle Erfolge auf seinem Konto verbuchen möchte, aber wenn wir in die Geschichte zurückblicken, müssen wir wohl sagen, dass diese Sicherungen nicht so besonders gut funktioniert haben. Historisch war es in der Regel so, dass die Menschen, wenn sie ein Erwachen erlebten, in Gemeinschaften eingebunden waren. Auch Lehrer gehörten irgendwelchen Verbünden von Lehrern an, und man ging einfach davon aus, dass die Leute einander im Auge behielten und Fehlentwicklungen auffallen würden. Wie immer das früher gewesen sein mag, aber in der heutigen Realität läuft das normalerweise nicht so. Sicher, ein Lehrer hat seine Schüler im Auge, aber wenn einer aus der Schülerrolle ausbricht, ist es mit der gegenseitigen Beobachtung nicht mehr weit her. Das ist in allen Traditionen ganz klar zu verfolgen. Immer wieder kommt es vor, dass Leute sich zu etwas ganz Besonderem aufbauen oder auf die seltsamsten Abwege geraten.

Wir versuchen nicht, sie zu ändern, aber ich finde es völlig in Ordnung, solchen Leuten ihr Verhalten widerzuspiegeln, vor allem wenn es sich um etwas deutlich Unausgegorenes handelt.

Ich habe es ja bereits erwähnt: Für mich als Lehrer gehört es zu den schwierigsten Dingen, Schüler wieder auf den Boden zu holen, die nach einem Erwachen so superschlau geworden sind. Ich glaube, das gehört überhaupt zu den schwierigsten Aufgaben eines spirituellen Lehrers. Und wenn sich ein Lehrer bei seinen Schülern schwertut, also in einer Beziehung, in der bereits ein gewissen Vertrauen herrscht, wie viel schwerer muss es dann erst im normalen Leben sein, auf jemanden zuzugehen und zu sagen: »Hör mal, mir scheint, du bist nicht gerade dieser Ausbund von Freiheit, für den du dich hältst.« Das kann eine wirklich haarige Sache sein.

Ich will nichts entschuldigen, aber wir haben eben alle unsere karmischen Prägungen. Ich bin von Natur aus jemand, der keinen Sinn für Macht hat. Das ist nicht mein persönliches Verdienst, ich bin einfach so. Und jetzt bin ich ein spiritueller Lehrer, dem die Leute Macht zugestehen, viel Macht. Ich persönlich sehe es allerdings so, dass ich überhaupt keine Macht besitze – oder nur eben so viel, wie andere auf mich projizieren. Die ganze Macht liegt in den Händen der Schüler. Es wäre gut, wenn jeder das wüsste. Für mich hat es sich immer ziemlich unwirklich angefühlt, wenn die Leute mir Macht und Autorität beimessen. Es handelt sich da um Projektionen, nicht wahr? Wenn jemand mir zu viel Macht einräumt, sieht er mich als von sich verschieden und projiziert. Für mich ist das eine ziemlich unwirkliche Angelegenheit, die ich nach besten Kräften zu vermeiden versuche.

Für andere hat Macht ganz offensichtlich ihren Reiz. Sie stellen sich gern den positiven Projektionen anderer zur Verfügung. Ich kann nicht beurteilen, weshalb das so ist, ich weiß nur, dass es mir nicht angenehm ist.

 

Tami Du erzählst, du hättest bei deinem ersten Erwachen mit fünfundzwanzig eine Stimme gehört, die sagte: »Geh weiter, geh weiter.« Was war das für eine Stimme? Die Stimme des Gewissens oder einfach die leise innere Stimme?

 

Adyashanti Du kannst beide Bezeichnungen verwenden.

 

Tami Ich dachte nur, dass diese innere Stimme, sollten wir sie alle haben, uns davon abhalten könnte, unsere Erkenntnisse für persönliche Machtspielchen zu missbrauchen. Du hast diese Stimme gehört, die dir sagte, dass dein Aufwachen noch nicht weit genug ging, aber hat jeder so eine innere Stimme?

 

Adyashanti In gewisser Weise ja, denn letztlich sind wir alle gleich, was unsere Fähigkeiten angeht. Fraglich ist jedoch, ob alle ihre innere Stimme auch hören. Es sieht nicht so aus.

Was ist diese innere Weisheits-Stimme? Diese Stimme meine ich, wenn ich von Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit spreche. Es ist eine innere Intelligenz, die uns in der richtigen, gesunden Ausrichtung hält.

Ich denke, dass jeder schon mal etwas mit dieser leisen inneren Stimme zu tun hatte. Als Beispiel erzähle ich gern den Fall, dass du jemanden kennenlernst und dich mit ihm verabredest, und euer Rendezvous läuft dann nicht so toll. Etwas in dir sagt dann: »Lass das lieber.« Aber dann triffst du ihn doch wieder und hörst nicht auf diese Stimme. Da ist so viel Anziehendes, und die Erotik knistert, und du siehst nicht ein, weshalb du nicht mit ihm zusammen sein solltest. Aber schließlich behält die leise innere Stimme doch recht. Du hättest dich nicht weiter mit diesem Mann treffen sollen. Am Ende geht es richtig daneben, und die innere Stimme hatte von Anfang an recht.

Daran ist nichts Mystisches, ich denke, die meisten Menschen haben schon Hinweise von ihrer inneren Stimme bekommen. Aber vielleicht beachten wir sie gar nicht erst oder schlagen ihren Rat in den Wind. Die innere Stimme soll sich gefälligst erklären und uns ihre Gründe nennen. Aber genau das ist eines ihrer Echtheitszeichen: Sie gibt keine Gründe an, sie rechtfertigt nichts. Stell ihr Warum-Fragen, und sie wird schweigen. Fordere Erklärungen, und sie gibt keine. Sie hat das nicht nötig und tut es folglich nicht.

Stellst du dagegen dem Ego eine Warum-Frage, wird es bereitwillig antworten, es wird eine Meinung haben, es wird dir versichern, dass alles schon in Ordnung geht. Die leise innere Stimme ist sich ihrer Sache zwar sehr sicher, aber sie gibt keine Versicherungen ab. Wir hören auf sie, oder wir tun es nicht.

Manche hören sie, andere hören sie nicht – warum das so ist, weiß ich nicht, ich könnte keine Gründe angeben. Ich bin nur einfach froh, dass die Stimme zu mir gesprochen hat und ich sie hören konnte. Sie war immer zu hören, aber ich kann von mir nicht sagen, dass ich immer auf sie gehört hätte. Nein, oft habe ich das nicht.

 

Tami Ist diese Stimme wie ein Führer und Beschützer oder einfach ein Teil unserer geistigen Anlagen, ein Teil von uns selbst?

 

Adyashanti Sie ist all das, glaube ich. Ja, auch ein Beschützer. Sie ist das Sein in seinem Strom. Dieser intelligente Strom des Seins muss auch nicht immer als Stimme auftreten, sie muss nicht hörbar sein. Früher war sie für mich wirklich wie eine Stimme, die ich hörte, aber das ist heute kaum noch so. Zum Beispiel bei diesem ersten Erwachen, da habe ich das wirklich wie gesprochene Worte gehört: »Geh weiter.«

Heute ist diese leitende Intelligenz mehr wie ein Strömen, das ich spüre – ich spüre die energetischen Strömungen im Leben. Eine Stimme zeugt auch von diesen Strömen. Wenn wir den natürlichen Fluss des Lebens nicht spüren, muss er wohl eine Stimme werden. Ansonsten würden wir einfach dem Strom folgen – nach rechts, nach links, hierhin, dahin.

Viele sind dafür nicht sensibel genug, und so bekundet sich das Strömen als Stimme, aber für mich ist es heute so, als würde ich einfach dem natürlichen Lauf der Dinge folgen.

Es gibt also verschiedene Betrachtungsweisen. Sie ist ein Fließen. Sie ist eine Stimme. Sie ist ein Beschützer. Sie ist dein Berater. Sie ist dein Gewissen. Ja, auch dein Gewissen, aber nicht das, was man landläufig darunter versteht. Das, was uns als Gewissen beigebracht worden ist, das Über-Ich, ist immer mit Urteilen verbunden. Die innere Stimme ist kein Über-Ich, sondern etwas ganz anderes. Sie hat auch einen ganz anderen Ursprung.

 

Tami Du hast auch erwähnt, wie du ziemlich früh schon herausgefunden hast, dass du dich nicht einfach an einen Lehrer, eine Tradition, einen etablierten Weg anhängen kannst. Du musstest deinen eigenen Weg finden, und das war sehr wichtig für dich.

 

Adyashanti Ja, es war wirklich ungeheuer wichtig für mich.

 

Tami Du sagst auch deinen Schülern, sie sollen ihren eigenen Weg finden. Interessant finde ich dabei, dass sich viele, zu denen auch ich gehöre, dennoch mit dir verbunden fühlen, irgendwie weniger allein durch dich – oder sagen wir: allein und zugleich nicht allein. Kannst du dazu etwas sagen?

 

Adyashanti Als mir mit Anfang zwanzig klarwurde, dass ich meinen eigenen Weg finden muss und mich nicht einfach auf eine Tradition oder einen Lehrer verlassen kann, stellte sich dazu ein Bild ein. Ich sah mich bei einem Raumspaziergang, nur über den Versorgungsschlauch mit der Raumstation verbunden – und den habe ich dann einfach durchtrennt. Jetzt war ich auf mich gestellt und konnte mich auf nichts und niemanden mehr verlassen. Mit diesem Schritt verließ ich aber weder meine Lehrerin noch meine Tradition. Er beinhaltete keine Ablehnung. Ich sah nur sehr klar, dass die Verantwortung letztlich hier bei mir liegt. Keine Tradition, kein Lehrer und keine Lehre erlöst mich von mir. Das ist meine Sache, und ich kann sie niemandem übertragen.

Im Moment war das natürlich ziemlich beängstigend. Ich dachte: »Du meine Güte, was, wenn ich mir etwas vormache?« Ich wusste einfach nicht viel, und das war mir bekannt. Aber ich musste einfach wild entschlossen darauf beharren, dass alles nur in mir selbst verifiziert werden konnte.

Viele sagen mir, dass sie sich als meine Schüler betrachten, aber es sei anders als bei anderen spirituellen Lehrern, weil ich keine persönlichen Beziehungen zu meinen Schülern unterhalte. Ich komme, ich lehre, und dabei tauschen wir uns aus, aber ich habe kein Meditationszentrum, und es gibt auch sonst keinen Ort, an dem wir uns zwanglos zusammenfinden. Es geht alles nur Augenblick für Augenblick für Augenblick für Augenblick.

Natürlich ist das nicht die einzige Art der Beziehung zu einem Lehrer. Ich denke, dass die enge Schüler-Lehrer-Beziehung auch ihren Platz hat. Als meine Lehrtätigkeit an Umfang zunahm – erst hatte sie ein sehr überschaubares Ausmaß, aber im Lauf einiger Jahre weitete sie sich dann stark aus –, sagten manche, das Kleine und Intime fehle ihnen. Für manche war dieser überschaubare Rahmen ideal. Es gab Unterweisungen und danach Tee oder Mittagessen oder Frühstück. Dann weitete sich das Ganze aus, und natürlich mussten sich auch die Abläufe ändern, und für manche fühlte es sich nicht mehr richtig an. Sie mussten sich etwas suchen, was ihren Bedürfnissen besser entsprach, etwas Intimeres.

Meine Art zu lehren bringt es mit sich, dass man von Anfang an auf sich gestellt ist, aber das eröffnet die Möglichkeit, dass die Leute sich untereinander näherkommen. Für mich ist es wichtig, alle von Anfang an als ganz und kompetent zu sehen, mit Fähigkeiten begabt, von denen sie vielleicht noch nicht viel ahnen. Und wenn sie anfangen zu spüren, wie fähig sie selbst sind – ja, dann begegnen wir uns wahrhaft. Ich begegne den Menschen nicht in ihrer vermuteten Unzulänglichkeit, wo sie glauben, dass sie »es« irgendwie nicht allein können. Je mehr sie sich innerlich aufrichten und zu sich selbst stehen, desto intimer wird auch die Begegnung – etwas sehr persönlich Unpersönliches.

Es gibt viele sichtbare und unsichtbare, erkennbare und nicht erkennbare Einflüsse, die sich in unserem Leben bemerkbar machen, sobald wir bereit sind, für uns selbst zu stehen. Man darf sich aber nicht in die Vorstellung verrennen, dass es wichtig sei, allein zu bleiben. Es geht um einen Moment des Alleinseins, in dem man sich selbst begegnet, ohne sich an einen Lehrer oder eine Tradition oder eine Lehre zu halten. Urplötzlich hast du nichts außer dir selbst, das meine ich mit »Alleinsein«. Aber wenn wir standhalten, wenn wir es hinnehmen, da zu sein, stellen wir wunderbarerweise fest, dass wir eine Menge Gesellschaft haben, denn viele andere sind auch an diesem Punkt. Die Lehren stellen sich anders dar, und unsere Lehrer erscheinen uns in einem neuen Licht. Von da aus entwickeln sich viel reifere Beziehungen.

 

Tami Bei dem, was du »endgültiges Erwachen« nennst, mit zweiunddreißig in deinem Fall, kam es unter anderem zu Einblicken in deine früheren Leben. Du hast das in früheren Interviews erwähnt, und ich habe den Eindruck, dass du nicht gern darüber redest.

 

Adyashanti Ja, wir kennen uns so gut, dass du meine Haltung dazu spürst, aber mir scheint, dass du trotzdem etwas dazu hören möchtest. Nur zu.

 

Tami Nun, die Legende erzählt, dass der Buddha nach seinem Erwachen unter dem Bodhi-Baum blitzartig alle seine früheren Leben sah. Ich wüsste gern, was du gesehen hast.

 

Adyashanti Ich will versuchen, es so darzustellen, wie ich es erlebt habe. Im Moment des Aufwachens fühlte ich mich vollkommen außerhalb dessen, wofür ich mich gehalten hatte. Da war nichts als weite, endlose Leere und in dieser unendlichen Leere ein winziges Lichtpünktchen, unvorstellbar klein. Dieser Lichtpunkt war ein Gedanke, der da draußen schwebte, und der Gedanke war: »Ich.« Als ich mich dem Punkt zuwandte und ihn ansah, brauchte ich mich nur irgendwie für ihn zu interessieren, und schon schwebte er näher und näher heran. Es war ein bisschen so, wie wenn man sich einem Astloch in einem Bretterzaun nähert. Wenn du mit den Augen schließlich ganz nah bist, siehst du keinen Zaun mehr, du siehst, was dahinter ist.

So kam der winzige Ich-Punkt also näher, und ich begann durch diese kleine Öffnung namens Ich wahrzunehmen. Wie sich dann zeigte, war eine ganze Welt darin. Eine ganze Welt war in diesem Ich-Punkt enthalten. Aber eigentlich war da kein Ich, sondern Leere, die aus diesem Punkt kam und in ihn zurückging, ein und aus, ein und aus, ungefähr so, als würde die ganze Welt ein- und ausgeschaltet, ein uns aus, da und nicht da.

Dann fiel mir auf, dass noch alle möglichen anderen Punkte da waren und ich in jeden eintreten konnte und jeder Punkt eine andere Welt mit einer anderen Zeit war, in der ich mich als ein anderer Mensch befand – von einem Punkt zum anderen war alles ganz anders. Ich sah in jedem Punkt einen anderen Traum, ganz anders und mit einer ganz anderen geträumten Welt.

In den meisten Fällen sah ich Dinge, die in dem jeweiligen Leben in der jeweiligen Traum-Welt ungelöst geblieben waren – Unsicherheiten, Ängste, Bedenken, Zweifel. In manchen Leben handelte es sich um Unklarheit und Verunsicherung angesichts des Todes. Einmal ertrank ich und wusste nicht, wie mir geschah, es war einfach ein tiefes, hilfloses Entsetzen, als der Körper im Wasser versank.

Und während ich das noch einmal sah, wusste ich sofort, was zu tun war. Ich musste die Verwirrung beseitigen, ich musste diesem geträumten Ich erklären, dass ich eben gestorben war, über Bord gegangen und ertrunken. Im selben Moment platzte die eben noch spürbare ratlose Verwirrung aus diesem Leben wie eine Seifenblase. Es stellte sich große Erleichterung und dann ein Gefühl von Freiheit ein. Es folgten noch viele weitere Träume von früheren Inkarnationen, und sie drehten sich offenbar alle um irgendeinen ungelösten Konflikt. Ich ließ mich darauf ein und löste überall die ratlose Verwirrung.

 

Tami Hast du dabei mit geschlossenen Augen auf dem Teppich gelegen oder so?

 

Adyashanti Nein, ob du es glaubst oder nicht, ich bin dabei durchs Wohnzimmer gegangen. Ich kann aber nicht sagen, wie lange. Das Ganze spielte sich außerhalb der Zeit ab, also vielleicht fünf Sekunden, aber ich weiß es wirklich nicht. Es hätten auch fünf Stunden sein können, die ich da durchs Wohnzimmer getappt bin, jedenfalls hat das alles im Gehen stattgefunden.

Ich blieb auch nicht stehen, ich ging, und dabei passierte es. Ich ging durchs Wohnzimmer und in den Garten und tat irgendwas, ich erinnere mich nicht, was es war, und dabei lief das ab, was ich eben erzählt habe. Es klingt ziemlich abgefahren, ich weiß. Es war jedenfalls nicht während der Meditation. Es war vollkommen mit dem verschmolzen, was gerade an realem Leben ablief.

Du weißt, dass ich nicht viel über diese Dinge rede. Ich meide Diskussionen über frühere Leben, vor allem Diskussionen mit radikalen Nondualisten, die sagen, dass niemand da ist, der geboren wird, dass folglich niemand frühere Leben hat und es sowieso keine Inkarnationen gibt und so weiter. Das stimmt natürlich alles. Alles ist Traum, auch frühere Leben. Wenn ich also überhaupt auf dieses Thema eingehe, spreche ich von früheren Träumen. Ich habe geträumt, dieser Mensch zu sein, ich habe geträumt, jener Mensch zu sein.

Ich habe nie nach früheren Leben geforscht, um meine Erlebnisse dann in eine metaphysische Deutung einzubinden. Ich kann nicht behaupten, dass ich eine klare Vorstellung von früheren Leben hätte, außer eben dass sie keine objektiven Gegebenheiten sein können, dass es sich um Träume handeln muss. Dennoch: Was ich erlebt habe, ist so passiert. Es ist passiert, und ich kann nicht sagen, es sei nicht passiert. Aber ich versuche mir keinen Reim darauf zu machen. Ich weiß nur, dass es passiert ist.

 

Tami Und während du dir einen Traum nach dem anderen angesehen hast, war es so, als käme es jeweils zu einer Lösung?

 

Adyashanti Ja. Aber nicht nur zu einer Lösung, die den jeweiligen Traum betraf, sondern es war eine Lösung jetzt. Es gehört alles zusammen. Was in einem der Träume ungelöst geblieben war, das war jetzt nach wie vor ungelöst. Es ist ein Kontinuum, alles hängt zusammen.

Ich spreche auch deshalb nicht viel über frühere Leben, weil es sehr weitgehend erwachte Leute gibt, die nie etwas von früheren Leben zu sehen bekommen. Es ist offenbar nicht so wichtig, über seine früheren Leben Bescheid zu wissen. Ich zähle mich nicht zu den besonders mystischen Menschen. Die Zeit, in der mir solche Sachen passiert sind, war relativ kurz, ein paar Monate. Seitdem kommt ab und zu noch einmal etwas von dieser Art vor, aber wirklich nicht sehr beständig. So etwas ist nicht notwendig. Bei mir kam es zu solchen Erlebnissen, und auch bei anderen sind sie nicht ungewöhnlich. Wenn etwas Derartiges gesehen wird und die Erfahrung echt ist, handelt es sich meist um Dinge, die noch gesehen und gelöst werden müssen.

Eine buddhistische Äbtissin hat einmal zu mir gesagt: »Es kommt eigentlich nicht vor, dass man sich als Prachtexemplar von einem Erleuchteten in einem früheren Leben sieht, einfach weil Erleuchtung keine Spuren hinterlässt, sie ist wie ein rauchloses Feuer, sie hinterlässt keine karmischen Prägungen.« Wenn man überhaupt etwas von früheren Leben erfährt, sagte sie, dann würde es sich eher darum handeln, was für ein Prachtexemplar von Esel wir waren. Das gefiel mir. Es passte auch eher zu meiner Erfahrung. Ich habe mich keineswegs immer als Esel gesehen, aber in einigen Fällen wäre diese Beschreibung noch untertrieben gewesen. Bei den meisten Einblicken in frühere Leben handelte es sich um Augenblicke der Verwirrung, um ungelöste karmische Konflikte.

 

Tami Ich komme auch deshalb auf frühere Leben, weil ich schon Äußerungen wie diese gehört habe: »Adya muss in einem früheren Leben bereits erleuchtet gewesen sein. Deshalb hat er diesmal schon in jungen Jahren solche tiefen Durchbrüche und kann die Lehren zum Erwachen so originell formulieren.« Was hältst du von dieser Sicht der Dinge?

 

Adyashanti Wenn du mich ganz direkt fragst, dann ist es tatsächlich so, dass ich mich in vielen früheren Leben Ähnliches habe tun sehen wie das, was ich diesmal tue. Aber wie gesagt, ich kenne mich mit dieser ganzen Metaphysik nicht aus, und für mich ist es nicht so, dass die Dinge nach einer linearen Kausalität ablaufen. Ich erlebe sogenannte frühere Leben nicht als vergangen. Ich bezeichne sie so, weil das so üblich ist, aber wenn ich sagen soll, wie ich selbst es tatsächlich erlebe, dann sind es eher gleichzeitige Leben.

Es ist ungefähr so, als würdest du in der Nacht träumen und wärest selbst eine der Gestalten in deinem Traum. Dann fängst du im Traum an, dich an deine früheren Leben zu erinnern. Sagen wir, du würdest dich an fünfzig Leben sehr deutlich und hautnah erinnern. Du denkst: »Ah, das ist passiert und das ist passiert.« Alles so, als wäre es in der Vergangenheit passiert. Dann wachst du auf und liegst im Bett und denkst: »Was für ein interessanter Traum! Im Traum war ich jemand, der alle diese früheren Leben erlebt.« Aber dann stutzt du und denkst: »Moment mal. Ich habe diese früheren Leben geträumt, alle zusammen. Sie sind nicht da, sie sind gar nichts, bevor ich sie träume.«

Ungefähr so sehe ich es. Für mich sind es keine früheren Leben. Sie treten alle zugleich in Erscheinung und stehen in Wechselwirkung miteinander.

 

Tami Nachdem du durch das Astloch verschiedene Träume gesehen hast – was passiert nach deiner Meinung, wenn wir sterben? Sag nicht, du weißt es nicht! Was erleben wir da?

 

Adyashanti Ich darf nicht sagen: »Ich weiß nicht«? Jetzt hast du mich aber wirklich in der Zange!

Meine Gedanken wollen da einfach nicht hin. Wenn ich an den Tod denke, spielen meine Gedanken allenfalls so weit mit, dass sie sagen, das sei dann eben die nächste Erfahrung – und mehr ist es ja nicht. Die nächste Erfahrung. Eine andere Erfahrung, als hier zu sitzen und mit dir zu plaudern, keine Frage, aber letztlich einfach die nächste Erfahrung, die das Bewusstsein macht.

Der Geist stirbt nicht, aber er erlebt natürlich den körperlichen Tod irgendwie mit, die Auflösung eines Lebens, einer Persönlichkeit – das alles verschwindet. Der Geist oder das Bewusstsein macht diese Erfahrung – wie das Geborenwerden und das Leben und das Plaudern mit dir eben jetzt.

Dieser Augenblick ist Geist, der diesen Augenblick erlebt. Wenn du mich fragst, wie der Tod sein wird, kann ich damit nichts anfangen, jedenfalls nicht, wenn die landläufige Vorstellung von Sterben und Tod gemeint ist. Ich kann den Tod nur als eine Erfahrung sehen. Einfach die nächste Erfahrung. Es wird bestimmt toll zu erleben, wie das ist. Aber ich sehe da nichts Endgültiges, ich sehe nichts von all dem, was wir mit dem Tod verbinden.

 

Tami Glaubst du, dass die Erfahrung nach dem Tod eine Qualität bekommt, die uns verschlossen bleibt, solange wir inkarniert sind?

 

Adyashanti Das Aufwachen ist ein Sterben. Ja, ein Sterben. Bei diesem Aufwachen bin ich gestorben. Alles verschwand, wie ausgeblendet. Was wir am meisten fürchten, genau das passierte: weiße Leinwand, nichts mehr, nichts, nichts, nichts. In dem Augenblick: kein früheres Leben, kein jetziges Leben, nichts, kein Bewusstsein, keine Geburt, keine Krankheit, kein Nichts. Null. Das Schrecklichste, was wir uns vorstellen können, genau das ist es. Das ist mir passiert: Tod.

Und wie sich dann zeigt, ist Tod Leben. Wir müssen sterben, um wahrhaft zu leben. Wir leben erst wirklich bewusst, wenn wir dieses absolute Nichts erlebt haben.

 

Tami Manche sagen: »Dies und das wird dir nach dem Tod zugänglich, aber manche Dinge kannst du einfach nicht wissen, solange du inkarniert bist. Wenn du nicht mehr im Körper bist, ist alles so viel freier und deshalb leichter zu erkennen.«

 

Adyashanti Wir werden alle genau das erleben, was wir glauben. Wenn einer das glaubt, was du gerade gesagt hast, wird er eben das erleben. Vergiss nicht, es gibt keine objektive, vorgegebene Realität, die ein für alle Mal feststeht und die folglich jeder so erleben muss. Es läuft alles so, wie du es träumst. Keiner sonst verfügt darüber, wie irgendetwas läuft. Und nur das geschieht. Wenn also jemand das glaubt, dann ist das der Traum, den das Bewusstsein durch ihn träumt, aber dieser Traum ist deshalb nicht realer als irgendein anderer.

Wenn der Körper stirbt, fällt die körperliche Erfahrung natürlich weg. Es ist in gewisser Weise ein erzwungenes Erwachen. Wenn der Körper wegfällt, ist auch die Persönlichkeitsstruktur weg. Du hast dann nicht nur Distanz dazu, sondern sie ist einfach weg. Da wird dir dann so manches zugänglich, denn alles, woran du dich festgehalten hast, ist nicht mehr da. Du hast aufgehört, den Körper ins Dasein zu träumen, er ist weg. Ja, da wird dann eine Menge möglich, was vorher nicht möglich war.

Das sieht man sehr gut bei Menschen, die dem Tod nahe sind. Ich habe in der Gegenwart solcher Menschen wirklich Erstaunliches erlebt. Ich habe an ihrem Sterbelager gesessen, und manchmal kannst du erleben, wie das ist, wenn sie schon losgelassen haben. Du spürst, wie sie von ihrem Körper lassen und wie der Tod kommt. Da sind sie dann eigentlich schon gestorben, sie haben losgelassen, und manche wissen sogar schon, dass alles gut ist.

Wenn du das Glück hast, in der Gegenwart eines solchen Sterbenden sein zu können, erlebst du ein reines Strahlen. Der Körper ist wie durchsichtig, das Innere scheint durch, der Geist. Er kann nur durchscheinend werden, wenn sich der Mensch nicht mehr an ihn klammert.

Man kann daraus ableiten, dass das Loslassen nicht unbedingt erst mit dem Tod des Körpers kommt.