Viele, die nach einem Erwachen das erwähnte Schwanken an sich bemerken, fragen mich: »Wie kann ich im Zustand des Erwachens bleiben?« Das ist die falsche Frage. In spirituellen Dingen hängt viel davon ab, dass wir die richtigen Fragen stellen. Natürlich ist es ganz angemessen, sich zu fragen, wie man im Zustand der Wachheit bleiben kann, aber wir müssen uns klarmachen, dass die Frage aus dem Traumzustand kommt. Der Geist fragt sich nicht: »Wie kann ich bei mir bleiben?« Schon die Vorstellung ist lachhaft. Vor dem wahren Wesen der Dinge ist eine solche Frage sinnlos. Sinnvoller ist die Frage, was uns in den Traum zurückfallen lässt. Woran halte ich noch fest? Was bringt mich nach wie vor durcheinander? In welchen Situationen glaube ich Dinge, die nicht stimmen und mich in Widerstand, Leid und Trennung zurückfallen lassen? Was genau besitzt die Macht, mein Bewusstsein doch wieder in den Bereich der Anziehungskraft des Traums zu locken? Fragen wir also nicht: »Wie kann ich wach bleiben?« Fragen wir lieber: »Wie kann es sein, dass ich meine Erleuchtung rückgängig, dass ich mich intransparent mache? Wenn ich mich in die Illusion zurückversetze – wie mache ich das eigentlich?«
Da gibt es mehr als nur einen Grund, und so ist es auch nicht mit einer einzigen Antwort getan. Die Leute schaffen es auf diese oder jene Art, sich in das Gravitationsfeld des Traumzustands zurücksaugen zu lassen: Da gibt es unbewusste Annahmen und Glaubensmuster, die im Hintergrund noch wirksam sind, es gibt unbewusste Konflikte, die der Sprengkraft des Erwachens irgendwie widerstanden haben und sich jetzt neu formieren, es gibt Konditionierungen jeder erdenklichen Art.
Wir treten hier erst wirklich in eine Beziehung zu uns selbst ein und sehen uns ganz genau an, was uns da in die Trance der Trennung zurückfallen lässt. Es kommt dabei darauf an, sich im Einzelnen vor Augen zu führen, wie und durch welche Gedanken und Glaubenssätze wir uns wieder einschläfern.
In dieser Phase nach dem Erwachen spielen anspruchsvolle spirituelle Praktiken keine sehr große Rolle. Alte Prägungen kommen vor allem im Getümmel des Alltags wieder hoch. Wir müssen uns auf wechselnde Umstände und Menschen einstellen, wir haben Umgang mit Partnern, Freunden, Kindern und so vielen anderen. Jetzt zählt der Alltag mit seinen unzähligen Einzelheiten, und es ist wichtig, dass wir das Leben an uns heranlassen und auch wahrnehmen, wie es auf uns einwirkt, um dann zu beobachten, ob es uns in die Trennung treibt oder zu Urteilen und Schuldzuweisungen bewegt, ob wir uns daran festbeißen, wie die Dinge sein sollten oder nicht sein sollten, und ob wir mit dem Finger auf andere deuten.
Dann müssen wir irgendwie Frieden schließen mit der Tatsache, dass nur wir selbst die Macht besitzen, uns in der Illusion der Trennung zu halten und uns Leid zuzufügen. Nichts in der Außenwelt, niemand, dem wir begegnen, und keine Umstände, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, kann uns zwingen, aus dem erwachten Zustand wieder herauszufallen.
Das ist eine wirklich sehr wichtige Erkenntnis. Es spielt sich alles in uns ab. Wir tun es uns selbst an, irrtümlich, unwissentlich und manchmal völlig unbewusst.
Gut ist nur, dass wir die noch wirksame karmische Konditionierung nach einem echten Erwachen nicht mehr so persönlich nehmen. Vor unserem Erwachen war sie ausgesprochen persönlich, wenn sie nicht sogar das war, was wir als unsere Identität betrachteten. Wir bezogen unser Ich-Gefühl von unserer Konditionierung, von einer Ich-Illusion, von unseren Überzeugungen und Meinungen und Wünschen. Vor dem Erwachen gingen wir ganz in unserem Traum auf, und er sagte uns, wer wir waren. Nach einem Erwachen, sofern es echt ist, geht uns auf, dass wir doch noch bestehende Illusionen nicht mehr persönlich nehmen, nicht als das, was wir sind.
Und das ist sehr vorteilhaft. Wir können viel besser mit Dingen umgehen, von denen unser Ich-Gefühl nicht abhängt. Es ist weniger beängstigend. Sobald wir durch ein Erwachen erkannt haben, dass unser Karma unpersönlich ist und letztlich nichts mit einem bestimmten Ich, einem bestimmten Körper, einer bestimmten Person zu tun hat, kommen wir viel besser damit zurecht. Wir verstehen, dass wir es nur mit einer Illusion zu tun haben, die einzig aufgrund der Schwungkraft unseres Missverstehens noch vorhanden ist.
Ich will noch einen anderen bildhaften Vergleich für das Erwachen anführen: Du donnerst in deinem Wagen die Landstraße entlang und nimmst plötzlich den Fuß vom Gas. Es ist wie ein plötzliches Erkennen: »Dieser Wagen ist nicht das, was ich bin. In ihm unterwegs zu sein ist nicht das, was mich ausmacht. Ich bin nicht identisch mit meinem Fuß auf dem Gaspedal, nicht mit dem Zielort, zu dem mich das Auto bringt, nicht mit der Landschaft, durch die es fährt.« All das wird beim Erwachen offenbar.
Wenn wir erwachen, versorgen wir die Trance der Trennung nicht mehr mit Brennstoff, wir führen ihr keine Energie mehr zu. Aber selbst wenn wir das Gaspedal nicht wieder betätigen, hat der Wagen doch seinen Schwung und wird noch eine ganze Weile rollen und immer langsamer rollen. Das meine ich, wenn ich von karmischer Schwungkraft spreche.
Aber wir können den noch vorhandenen Schwung auch wieder vergrößern. Das müssen wir genau beobachten, damit wir merken, wann wir doch wieder aufs Gas steigen. Immer wenn wir uns erneut auf Konditionierung und Karma einlassen, immer wenn wir einem Gedanken Glauben schenken, leiten wir unsere Energie wieder dem Traum zu – wir treten aufs Gaspedal.
Nach dem Erwachen geht es also darum, dass wir lernen, nicht mehr Gas zu geben oder wenigstens zu bemerken, wann es doch wieder geschieht. Es ist dann nicht mehr persönlich. Zu der erneuten Identifikation kommt es spontan, und das Ganze geschieht nicht einem Jemand und ist niemandes Fehler. Aber es bleibt doch wichtig, dass wir genau verfolgen, wie es vor sich geht.
Dabei ist das Leben selbst unser Verbündeter. Wie ich bereits sagte: Das Leben selbst ist in spirituellen Dingen das, worauf es ankommt. Es zeigt uns, wo es uns noch an Klarheit fehlt. Das Leben und unsere Beziehungen zu anderen lassen uns klar erkennen, wie es um uns bestellt ist. Wenn es uns wirklich ernst ist, geben wir uns nicht mit Erinnerungen an den Wachzustand zufrieden, wir verschanzen uns nicht in der Erkenntnis des Absoluten, wir klammern uns an nichts.
Ich will darauf hinaus, dass es ganz natürlich ist, einmal scheinbar wach zu sein und dann scheinbar wieder zu schlafen. Dieses Gefühl, einen Teil dessen, was letzte Woche oder vor einem Monat oder vor einem Jahr realisiert wurde, wieder verloren zu haben, ist völlig normal. Es ist ganz wichtig zu wissen, dass es natürlich und normal ist. Da ist nichts falsch gelaufen, die Dinge haben sich nur auf eine tiefere Ebene verlagert. Ihr werdet in eurer Gesamtheit gleichsam einer tiefen Säuberung unterzogen, von Bodensatz befreit. Dann seht ihr euch selbst viel klarer, euch wird lebhaft bewusst, wie leicht ihr in die Trennung zurückfallt. Ihr seht Dinge, die euch vorher nicht bewusst waren. Ihr wart davon getrieben, ohne jedoch zu wissen, was es damit auf sich hatte. Jetzt werden euch die Dinge allmählich erkennbar, die vorher unbewusst waren. Und daraus besteht die weitere Entwicklung nach dem Erwachen zum Großteil: zulassen, dass die Dinge immer bewusster werden.