Die energetische Seite des Erwachens
Mit dem Erwachen ändert sich für die Person so manches. Wir erwachen zwar von der Person, doch das hat auch für die Person Folgen, und diese können sehr tiefgreifend sein. Um euch das, was ich hier vorbringe, anschaulich zu machen, habe ich euch von meiner eigenen Erfahrung erzählt – ich meine das erste Erwachen mit fünfundzwanzig und die nachfolgenden Kämpfe. Ich will das jetzt noch etwas weiter fortführen.
Mit zweiunddreißig und ziemlich überraschend kam es zu einem weiteren großen Erwachen. Es war nicht grundsätzlich anders als beim ersten Mal, nur klarer, sehr viel klarer. Man kann vielleicht sagen, mein erstes Erwachen mit fünfundzwanzig sei noch ein wenig verschwommen gewesen, wie wenn man an einem dunstigen, aber wolkenlosen Tag nach draußen geht. Die Wahrnehmung war vollkommen verändert, aber noch nicht ganz klar.
Das zweite Erwachen mit zweiunddreißig war von außerordentlicher Klarheit. Es hatte etwas Unwiderrufliches, etwas Unumkehrbares, es war ein Sehen, das nicht wieder verschwimmen konnte. Und was ich sah, war zwar nichts grundsätzlich anderes als damals, nämlich dass ich nichts und alles bin, aber zugleich wurde auch klar, dass »nichts« und »alles« nicht erfassen, was ich bin. Was ich bin, war nicht in Worten auszudrücken. Es war ein Gefühl, dass ich durch alles hindurchgehe, immer weiter und bis zum Grund des Seins.
Aber ich wollte jetzt gar nichts über die Einzelheiten dieses Erwachens sagen. Wichtig ist mir jedoch festzuhalten, dass das Realisierte nicht wieder verschwamm und verblasste. Ich vergaß es nicht, der Kameraverschluss, um auf diesen Vergleich zurückzukommen, blieb geöffnet. Zugleich geschah auf der körperlichen Ebene etwas. Das Erwachen ist häufig von körperlichen oder energetischen Phänomenen begleitet. Bei manchen Menschen treten sie auch schon vor dem Erwachen auf, während es bei anderen erst später dazu kommt. Was ich jetzt sagen werde, hat also auch unabhängig vom Erwachen seine Gültigkeit.
Wenn wir das wahre Wesen des Daseins erkannt haben – wenn das Sein sozusagen zu sich selbst erwacht ist –, sind damit fast immer energetische Erscheinungen verbunden. Damit will ich sagen, dass es zu einer kompletten Neuausrichtung des körperlich-geistigen Gesamtorganismus kommt. Es ist, als würde unser mentaler Apparat neu verkabelt und als bekäme unsere emotionale Wahrnehmung eine neue Grundjustierung. Auch das Energiesystem des Körpers, des grobstofflichen ebenso wie des feinstofflichen, bekommt völlig neue Aktions- und Strömungsformen und wird auch ganz anders erlebt.
Besonders häufig kommt es bei solchen tiefen Erfahrungen zu einer plötzlichen Freisetzung großer Energiemengen. Diese Energie kommt aber nicht von außen, sondern unsere Barrieren und Blockierungen lösen sich, unsere »inneren Dämme« öffnen sich, sobald wir wahrhaft bewusst werden. Dabei wird unglaublich viel Energie frei. Solche Energieschübe sind ganz typisch für die Auflösung von Ego-Strukturen.
Erst im Nachhinein wird uns an vielen Dingen klar, dass der Traumzustand als solcher, gekennzeichnet durch den Wahn eines gesondert existierenden Ichs, ungeheuer viel Energie schluckt. Erst wenn das überwunden ist, sehen wir klar, wie viel Energie wir ständig in die Wahrung unserer scheinbar gesonderten Existenz gesteckt haben. Solange das der Fall ist, können wir unmöglich einschätzen, wie viel Energie wir für den Traum der Trennung aufbieten. In Leid und Verzweiflung spürt ihr vielleicht manchmal, wie das Gefühl der Getrenntheit euch die Kräfte abzapft. Erst wenn sich das Bewusstsein spontan vom Traumzustand gelöst hat, kommt es zu dieser gewaltigen Freisetzung von Energie, die vor allem darin besteht, dass die Energie nicht mehr blockiert wird.
Es ist aber nicht so, dass diese Energie immer auf eine bestimmte Art und mit einer bestimmten Intensität erlebt wird. Bei manchen kann dieses Geschehen schon sehr ausgeprägt sein, während es bei anderen eher subtil bleibt oder wie ein kleiner Punkt auf ihrem Radarschirm.
Besonders häufig kommt es nach der Mobilisierung dieser Energie zu Schlafstörungen – wir sind es einfach nicht gewohnt, dass Energien von solcher Wucht in uns zirkulieren. Es kann also sein, dass ihr euch für einige Zeit nach einem Erwachen »wie auf Hochtouren« fühlt. Die mentalen Mechanismen, der physische Körper und der subtile Körper – das alles muss sich erst einmal auf die ungewohnte Intensität dieser Energie einstellen, und das kann eine Weile dauern. Es sind Anpassungsreaktionen, mit denen wir nicht von heute auf morgen fertig werden.
Bei den meisten ist es so, dass ihr Gesamtorganismus erst einmal wieder »gleichziehen« muss und sich mächtig ins Zeug legt, um den Zustrom von Energie nach der Aufhebung des Traumzustands verarbeiten und sich ihm anpassen zu können. Dann suchen mich die Leute auf und sagen: »Adya, ich kann seit einem halben Jahr nicht mehr richtig schlafen.« Oder sie sagen: »Die letzten drei Jahre schlafe ich in der Nacht nur noch drei oder vier Stunden.«
Das muss aber nicht heißen, dass etwas schiefgegangen wäre. Unserem Kopf fallen immer irgendwelche Kommentare zu dem ein, was wir so erleben. Dann sagt er sich: »Ich bekomme nicht genug Schlaf. Ich komme damit nicht mehr zurecht. Irgendetwas stimmt hier doch ganz und gar nicht.« Aber meistens hat im Grunde alles seine Ordnung. Das gesamte Energiegefüge des Körpers sucht sich eine neue Ausrichtung, findet eine neue Harmonie, und das kann eine Weile dauern.
Was die physische Seite des energetischen Geschehens angeht, höre ich außer von Schlafstörungen noch von einer Reihe anderer Dinge. Manche sind von starkem Herzklopfen beunruhigt, bei anderen kommt es zu spontanen Körperbewegungen, mit denen der Körper Energien entlädt. Zum Beispiel zuckt ein Bein plötzlich oder ein Arm hebt sich ohne Vorwarnung von selbst. Der Körper wird von Kräften bewegt, die der Kopf nicht versteht.
Neben diesen energetischen Erscheinungen auf der körperlichen Ebene kommt es oft auch zu subtileren Energie-Transformationen auf der geistigen Ebene. In den Jahren nach meinem Erwachen mit zweiunddreißig kam mein mentaler Apparat mir manchmal wie eine alte Telefonvermittlung vor, wo Kabel umgestöpselt werden mussten, um eine Verbindung herzustellen. Die Verkabelung in meinem Gehirn wurde offenbar völlig auseinandergenommen und neu aufgebaut.
Ich kann nicht behaupten, dass ich gewusst hätte, was da vor sich ging, ganz und gar nicht. Ich spürte nur, dass in meinem Gehirn tiefe strukturelle Veränderungen vor sich gingen und dadurch auch die geistigen Funktionen neu ausgelegt wurden. Diese energetischen Umschichtungen – es war beinahe so, als machte sich da etwas oder jemand in meinen Gehirnzellen zu schaffen, um sie neu auszurichten, ja neu aufzubauen – dauerten zwei Jahre.
Nach dieser Zeit fiel mir auf, dass jetzt viel mehr Klarheit und Einfachheit möglich war. Mein Denken wurde zu einem viel feineren und doch wirksameren Werkzeug, ich konnte es zu Präzisionsarbeiten einsetzen wie einen Laser. So etwas hätte ich früher nicht von mir sagen können, es muss also ein tiefgreifender Wandel stattgefunden haben, der mir eine neue Form der Klarheit und Zuspitzung erschloss.
Es wurde auch bedeutend stiller in mir. Über viele Jahre hatte ich mit Meditation innerlich still zu werden versucht, aber was ich jetzt erlebte, war anders. Ich musste es nicht mehr darauf anlegen, still zu sein. Es wurde im Verlauf dieser »Neuverkabelung« meines Gehirns von selbst stiller. Und wenn sich jetzt Gedanken regten, waren sie eher »funktioneller« Natur, das heißt, es handelte sich um Dinge, die wirklich bedacht werden mussten.
Im Normalfall drehen sich etwa zehn Prozent unserer Gedanken um solche Dinge, die wirklich bedacht werden müssen, die übrigen neunzig Prozent enthalten nichts als Vorstellungen, Fantasien oder spinnen lauter Geschichten und Dramen, die mit der Realität nicht viel und mit der Wahrheit vielleicht gar nichts zu tun haben. Ich stellte an mir fest, dass meine Gedanken häufiger als früher in die erste Kategorie fielen und Geschichten und Fantasien weniger oft vorkamen.
Diese geistige Transformation dauert ihre Zeit, weil auch körperliche »Umbaumaßnahmen« damit verbunden sind. Wenn das Bewusstsein nicht mehr so vom Denken besetzt ist, kann der Denkapparat aufatmen und sich entspannen. Es kann sogar sein, dass unser Gedächtnis in Mitleidenschaft gezogen wird. Viele meiner Schüler haben eine bis dahin unbekannte Gedächtnisschwäche an sich entdeckt – manche haben sich sogar auf Alzheimer hin untersuchen lassen! In Wirklichkeit ist bei ihnen alles in Ordnung, sie erleben nur diese Transformation, diese energetische Neuausrichtung in Geist und Gehirn.
Das ist völlig normal. Um wirklich auf die Höhe dessen zu kommen, was wir gesehen und erlebt haben, müssen Geist und Gehirn entsprechend angepasst werden. Eckart Tolle erzählt, er habe nach seinem Erwachen zwei Jahre lang nicht klar denken können, und das war eine echte Herausforderung, denn seine damalige Arbeit verlangte klares Denken von ihm.
Sobald wir uns klarmachen, dass es sich um ganz natürliche Vorgänge handelt, um eine mentale Umorganisation, in die wir uns nicht einmischen müssen, weil sich ohnehin nichts an ihr verbessern lässt, können wir den Dingen beruhigt ihren Lauf lassen. Das ist sogar besonders wichtig: loslassen, den Umbau geschehen lassen. Die Begleiterscheinungen sind manchmal ein wenig beunruhigend, aber wenn ihr euren Gedanken dazu nicht auf den Leim geht, ist eigentlich alles in Ordnung. Nur der Kopf redet euch ein, die Sache sei schwierig und nicht zu bewältigen.
Wenn mir jemand erzählt, er habe seit einem halben Jahr nicht mehr richtig geschlafen, frage ich gern: »Brauchst du denn mehr Schlaf? Weißt du wirklich, dass du mehr schlafen musst, als du schläfst? Oder sitzt du nur die halbe Nacht im Bett und erzählst dir, wie hundemüde du morgen sein wirst?« Es ist nämlich ganz erstaunlich, was passieren kann, wenn wir uns von diesem eingefahrenen Gedanken lösen, dass wir mehr Schlaf brauchen, wenn wir also realisieren, dass es nichts weiter als eben ein Gedanke ist. Es kommt darauf an, dass wir dem Kopf seine Deutung des Geschehens nicht mehr abnehmen, dann kann eine weitaus tiefere Lösung und Entspannung eintreten, und dieses wiederum sorgt dafür, dass der physische Umbau schneller vonstatten gehen kann.
Es gibt auch tiefgreifende energetische Veränderungen, die nicht nur unser Denken, sondern auch unsere Wahrnehmung betreffen, den Kontakt unserer Sinne mit der Außenwelt. Bei vielen werden die Sinne nach dem Erwachen deutlich schärfer. Nicht selten bemerken die Leute eine Weitung des peripheren Wahrnehmungsfelds. Oder sie fühlen auf einmal Dinge, sie spüren Dinge, die sie früher nicht bemerkt haben. Vielleicht bekommen sie mit, was andere empfinden, oder sie werden empfindlich gegenüber der Energie einer Umgebung oder spüren das Energiefeld anderer. Es kann auch sein, dass sie zum ersten Mal die Energien von Tieren oder Bäumen und anderen Pflanzen oder auch die ihres Hauses oder bestimmter Räume spüren.
Diese energetischen Phänomene zeigen an, dass sich etwas sehr Grundlegendes in uns öffnet. Da kommen dann manche zu mir und sagen: »Ich bekomme alles mit, was andere fühlen. Ich merke einfach, was mit ihnen los ist.« Das klingt so schön mystisch, nicht? Bedenkt aber auch, dass die meisten Menschen innerlich zerrissen sind, und das ständig zu spüren ist wirklich nicht angenehm. Die erhöhte Sensibilität kann für manch einen schwierig sein.
Allerdings können da auch unbewusste Gedankengänge mitspielen, die uns das Gefühl geben, es liege ein Problem vor. Stellen wir also klar, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist. Niemand ist gezwungen, etwas zu fühlen, was ein anderer fühlt. Was andere fühlen, ist ihre Sache. Vielleicht bekommt ihr es mit, doch das bedeutet nicht, dass ihr es miterleben müsst. Da ist manchmal so ein heimliches Verliebtsein in die eigene Feinfühligkeit, und das ist dann eher das Problem. Einerseits ist es einem nicht angenehm, die Gefühle anderer so deutlich wahrzunehmen, aber wir haben auch eine Seite, der das gefällt. Man kann die energetische Verfassung anderer sozusagen belauschen. Wenn wir daran unbewusst Gefallen finden, wird es immer häufiger passieren. Sind wir andererseits nicht gar so interessiert, wird unsere Aufmerksamkeit da sein, wo sie wirklich angebracht ist. Wir schieben die Dinge also nicht weg, aber schnüffeln ihnen auch nicht nach. Es kann ja ganz angemessen sein, etwas nachzuempfinden, was ein anderer fühlt, insbesondere, wenn dieser Mensch uns nahesteht. Ein sehr intimes Verstehen ist hier sogar möglich. Aber ganz sicher ist es nicht notwendig, alle Gefühle aller Leute ringsum mitzubekommen, wenn man nicht näher mit ihnen zu tun hat. Ihr solltet zu unterscheiden wissen, was deren Sache ist und was euch ebenfalls tangiert.
Das ist nicht herzlos. Wir müssen einfach lernen, uns in dieser neuen Sensibilität zurechtzufinden, und gehen deshalb nur im erforderlichen Maß auf die Dinge ein, die andere betreffen. Bedenken wir auch, dass manche Menschen dieses starke Einfühlungsvermögen bereits mitbringen und gar nicht unbedingt erwacht sein müssen. Es ist also nicht generell als Zeichen des Erwachens zu werten, tritt aber nach dem Erwachen häufig auf.
Wir sollten es bei uns durchschauen, wenn wir möglicherweise unser Ich durch solche Erfahrungen aufgewertet sehen oder derartige Fähigkeiten zur Unterhaltung oder Machtausübung missbrauchen. Ist jemand erwacht, können sich alle möglichen neuen Fähigkeiten ausbilden. So kann es sein, dass er zum Beispiel heilerische Fähigkeiten bekommt. Es kann für andere heilsam sein, sich einfach in der Gegenwart dieses Menschen zu befinden. Natürlich ist es wunderbar, wenn man die Fähigkeit zu heilen besitzt, aber wenn sich das Ego um diese Heilbegabung herum rekonstruiert, wird das unerfreuliche Folgen haben.
Man lasse sich also besser nicht von solchen energetischen Erscheinungen blenden. Wenn wir uns allzu sehr mit neuen Fähigkeiten identifizieren – mit spirituellen Kräften oder Siddhis, wie sie oft genannt werden –, kann das eine weitere spirituelle Falle werden.
Wenn sich solche Kräfte einstellen, handelt es sich um Gaben, die uns zuteilwerden, und nicht um etwas, das wir gleich an uns reißen müssen, um unser Ego damit neu aufzubauen. In vielen spirituellen Traditionen wird ausdrücklich davor gewarnt, sich solcher Kräfte zu bemächtigen oder sich einzubilden, man müsse sie noch ausbauen. Es gibt dazu viele Geschichten, die als Ermahnungen dienen sollen, aber damit ist nicht gemeint, dass wir neue Begabungen, die sich mit dem Erwachen einstellen können, meiden sollen. Gemeint ist vielmehr, dass wir sie einfach nehmen sollen, wie sie kommen: als natürliche Begleiterscheinungen des ganzen Geschehens.