Sehen wir uns an, was nach einem Erwachen im mentalen Bereich geschieht. Wie sieht »ungeteilt« hier aus? Wie sich ein geteiltes oder gespaltenes Denken anfühlt, wissen wir alle – ein Gedanke widerspricht dem anderen, eine Stimme sagt, ich solle dies tun, während eine andere meint, jenes sei besser. Ein gespaltener Geist befindet sich im Konflikt mit sich selbst.
Und das ist wirklich die Regel. Unsere Gedankengänge pendeln von gut nach schlecht und wieder zurück, sie schwanken zwischen richtig und falsch, heilig und unheilig, wert und unwert, sogar zwischen erleuchtet und unerleuchtet. Das sind polarisierende Gedanken, und von ihnen geht die Spaltungstendenz auf der Ebene des Geistes aus.
Wenn wir erwachen und dieses Erwachen bis in unser Denken vordringt, sehen wir als Erstes, dass nichts von dem, was wir uns gedanklich zurechtlegen, wirklich so ist. Versteht mich nicht falsch, ich sage nicht, dass der Verstand wertlos oder sogar schlecht ist. Unser Denkvermögen ist ein Werkzeug wie jedes andere, wie ein Hammer, eine Säge oder auch ein Computer.
Aber die meisten Menschen befinden sich auf einem Bewusstseinsstand, wo man das Denken leicht für etwas hält, was es nicht ist. Da wird es dann nicht als ein Instrument gesehen, sondern als das, woraus wir unser Ich-Gefühl beziehen. Die meisten Menschen haben Fragen wie: »Wer bin ich?« Oder: »Was ist das Leben?« Oder: »Was ist wahr?« Aber dann möchten sie von ihrem Denken gesagt bekommen, was sie sind oder sein sollten. Daraus kann nichts werden. Genauso gut könnte man in den Keller gehen und den Hammer fragen, wer man ist und was man tun soll. Wenn der Hammer sprechen könnte, würde er wohl antworten: »Was fragst du mich? Ich bin einfach ein Werkzeug, ich verstehe davon nichts.«
Aber von unserem Denken erwarten wir Antworten. Wir haben vergessen, dass es einfach ein Werkzeug ist, wenn auch ein sehr nützliches, das wirklich viel vermag. So vieles nimmt da seinen Anfang. Jedes Auto, in dem wir fahren, jedes Gebäude oder Einkaufszentrum, das wir betreten, ist aus irgendjemandes Kopf als ein Gedanke entsprungen. Der Gedanke wurde dann für gut und notwendig befunden, und die Idee wurde mittels Aktion in Realität überführt. Ja, das Denken ist nützlich und vermag eine Menge.
Aber meist sehen wir es nicht einfach als Werkzeug. Unser Denken hat die Realität an sich gerissen, ja, es sieht sich selbst als die Realität, und das in einem Maß, dass wir unser Bild von uns selbst, unser Selbstverständnis, in unseren Denkprozessen zu finden glauben.
Wenn jetzt das Licht des Erwachens in unseren Denkapparat dringt, sehen wir, dass unser denkender Geist keine in ihm selbst liegende Realität besitzt. Er ist ein Werkzeug, dessen sich die Realität bedienen kann, aber er ist nicht die Realität. Ein Gedanke ist einfach ein Gedanke. Er bietet selbst nichts von dem, was er denkt: Wenn du Durst hast und an ein Glas Wasser denkst, kannst du diesen Gedanken nicht trinken. Du kannst bei dem Gedanken bleiben, bis du verdurstest. Wasser einschenken und trinken, das ist wirklich etwas vollkommen anderes. Dazu ist nicht einmal ein Gedanke notwendig. Das Denken als Denken ist leer, es enthält keinerlei Realität. Gedanken sind allenfalls symbolischer Natur, sie können in Richtung Wahrheit oder in Richtung eines Objekts deuten, aber viele Gedanken tun nicht einmal das. Viele unserer Gedanken wälzen einfach nur andere Gedanken, sie sind Gedanken über Gedanken. Beim Meditieren kann der Gedanke aufkommen: »Ich wollte doch nicht denken!« Aber auch das ist einfach ein Gedanke. Man verhaspelt sich so leicht in diesen Schlaufen von Gedanken über Gedanken.
Wenn unser Erwachen diese Ebene erreicht, wird uns klar, dass wir von einer höheren Warte aus wahrnehmen und das Denken eigentlich leer ist, also keine eigene Realität besitzt. Das ist eine sehr profunde Erkenntnis. »Der denkende Geist ist leer von Realität« – das sagt sich so leicht, und manch einer versteht es vielleicht auch ohne weiteres. Aber es sehen, ah, das ist noch einmal etwas ganz anderes, etwas radikal anderes. Uns geht auf, dass unser Ich-Gefühl und Weltbild von unserem Denken diktiert sind, und da sich jetzt zeigt, dass unser Denken als solches keinerlei Realität birgt, kann auch die Welt, die wir über unseren Verstand wahrnehmen, keine Realität besitzen. Es ist, als würde der Boden unter uns nachgeben: Das Ich, als das wir uns wahrnehmen, ist unwirklich.
Insofern zerstört das Erwachen auf der Ebene des denkenden Geistes unsere gesamte Welt. Das konnten wir nicht vorhersehen, es lässt sich nicht vorhersehen. Unsere Welt oder vielmehr unser Weltbild stürzt ein. Unsere konditionierten Anschauungen, unsere Überzeugungen, überhaupt alle Glaubenssysteme der Menschheit von der fernsten Vergangenheit bis heute: Sie alle bilden zusammen diese Welt, auf die wir uns geeinigt haben, dieses Bild der Welt, das wir für zutreffend halten – bis hinunter zu »Ich bin ein Mensch« und »Es gibt eine Welt« und zuletzt »Die Welt sollte so und so sein«. Beim Erwachen fällt das alles flach, unsere Welt ist einfach verschwunden.
Dann denken wir: »Du lieber Himmel, mein Bild des Welt war ja von A bis Z erfunden, eine Traumwelt, auf keinerlei Realität gebaut. Und mein Bild von mir selbst war ebenfalls komplett erfunden.« Ihr mögt euch als erleuchtet oder unerleuchtet, als gut oder schlecht, als verdienstvoll oder nicht gesehen haben – alle diese Ego-Gebilde sind auf einen Schlag erledigt, wenn die Ungeteiltheit die Ebene des denkenden Geistes erreicht. Es ist kaum zu beschreiben, wie vollständig diese Auslöschung der Welt ist. Wir sehen auf einmal, dass es so etwas wie einen »wahren Gedanken« nicht gibt und dass alle unsere Modelle, auch die spirituellen Modelle und Lehren, buchstäblich erträumt sind.
»Alle Dharmas sind leer«, sagt der Buddha. Die Dharmas sind die Lehren. Die Dharmas sind eben die Wahrheiten, die er aussprach. Und eine der von ihm ausgesprochenen Wahrheiten lautete, dass alle Wahrheiten, die er vor seinen Schülern aussprach, leer sind. Die Wahrheit dessen, was ihr seid, liegt unendlich weit jenseits auch der größten Dharmas, der größten Sutras, der größten Ideen, die je ausgesprochen oder niedergeschrieben und gelesen werden können.
Innerlich wird das als Destruktion erlebt. Ich rate den Leuten immer, sich nichts vorzumachen – Erleuchtung ist etwas, dem eine Menge zum Opfer fällt. Erleuchtung hat nichts mit besser werden oder glücklicher werden zu tun. Erleuchtung lässt nur alles Unwahre zerfallen. Sie durchleuchtet alles bloß Vorgespiegelte. Sie vernichtet absolut alles, was wir für wahr gehalten haben, ob es uns selbst oder die Welt betrifft.
Dabei geht uns auf, dass auch die größten Erfindungen der größten Geister aller Zeiten nichts weiter als Kinderträume sind. Sogar die großartigsten philosophischen Systeme sind einfach nur Traum. Dieses Erwachen auf der Ebene des denkenden Geistes hat etwas vom Wegziehen eines Vorhangs – wie in Der Zauberer von Oz, als Dorothy in der Erwartung, den großen Zauberer zu sehen, den Vorhang zur Seite zieht und dahinter nur ein Zauberkünstler seine Tricks abspult. Ähnlich bestürzend fällt die Entlarvung des denkenden Geistes aus. Wer rechnet schon damit, dass sich alles für wahr Gehaltene als Bestandteil des Traums erweist und einfach der Aufrechterhaltung des Traums dient?
»Erleuchtetes Denken« – das ist ein Widerspruch in sich. Es ist ziemlich schockierend, das zu sehen. So schockierend, dass die meisten diese Wahrheit gar nicht erst an sich heranlassen. Wir sagen gern, dass wir die Wahrheit wollen, aber stimmt das? Wir reden uns ein, wir würden so gern die Wahrheit erkennen, aber wenn sie dann erscheint, ist sie so ganz anders, als wir dachten. Sie passt irgendwie nicht zu dem, was wir uns zurechtgelegt hatten, sie stimmt nicht mit unseren Vorstellungen überein, sie ist so ganz und gar anders. Und nicht nur das, sie gestattet uns nicht, die Welt weiterhin so zu sehen wie früher. Sie legt unsere Welt in Schutt und Asche.
Am Ende bleibt uns eigentlich gar nichts. Wir stehen mit leeren Händen da, wir können uns an nichts mehr halten. »Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber der Menschensohn hat nichts, da er sein Haupt hinlege.« (NT, Mt 8.20) Es gibt keinen Gedanken, kein Gedankengebilde, auf dem man sich niederlassen könnte.
Das ist das vollkommene Loslassen. Nur wenn wir ganz loslassen, kann die Wahrheit dessen, was wir sind, ohne Verzerrungen durchscheinen. Bei unserem ersten kurzen Blick auf die Wahrheit kommt es jedoch in der Regel noch nicht zu diesem vollkommenen Loslassen auf der geistigen Ebene. Unsere mentalen Konstruktionen fallen erst später nach und nach in sich zusammen – sofern wir es zulassen, sofern wir erkennen, dass die Wahrheit des Seins eben auf diesen Einsturz des Denkens und seiner Welt aus ist. Die wahre Natur der Dinge wird für uns erst sichtbar, wenn wir nicht mehr auf ihre unwahre Natur fixiert sind.
Vollkommenes Erwachen auf der Ebene des denkenden Geistes, das ist eine außerordentlich tiefe Sache. Bei Menschen, die ein echtes Erwachen erlebt haben, finde ich oft, dass ihr Denken das Erkannte mehr oder weniger weitgehend vereinnahmt, um sehr schnell ein weiteres Gedankengebilde daraus zu machen. Das führt leider dazu, dass ihnen das wieder entgleitet, was sie realisiert haben. Irgendwann kommen sie aber darauf, dass sie sich die Wahrheit nicht gedanklich zurechtlegen können. Von da an ist der denkende Geist einfach ein Werkzeug und dient dann anderen Zwecken als der Produktion von Gedanken. Es zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass dieser Geist mit seinem Denken und Sprechen auf eine gänzlich andere Art und Weise agieren kann, und diese besteht darin, dass das Sein sich seiner bedient. Das Denken kann aus der Stille kommen, das Sprechen kann aus der Stille kommen, Kommunikation kann aus einer Stille kommen, die weit jenseits unseres Verstandes ist. Dann ist dieser denkende Verstand einfach ein Werkzeug, er dient der Kommunikation, er kann etwas aufzeigen, kann Orientierung schaffen. Aber er bleibt immer klar und sich selbst durchsichtig, und da er sich auf nichts fixiert, lässt er keine neuen Glaubenssätze oder Ideologien entstehen.