Der Weg zum Nirwana führt durch Samsara
Es wäre zu schön, wenn wir uns nach einem Augenblick des Erwachens nie wieder in die Illusionen des Denkens verstricken würden, aber so läuft es, wie gesagt, normalerweise nicht. Auch wenn wir unser wahres Wesen zutiefst realisiert haben, wenn wir erkennen, dass unser Denken ein Traum ist und die Person, für die wir uns gehalten haben, ebenfalls ein Traum ist, heißt das noch nicht, dass uns kein Gedanke je wieder blenden kann. Bestimmte Gedanken treten hartnäckig immer wieder auf. Ich nenne sie »Klettverschluss-Gedanken«. Sie stellen sich in bestimmten auslösenden Situationen wie von selbst ein und stellen fast augenblicklich unsere Identifikation mit einem Denkmuster wieder her. Es mag ein urteilender Gedanke sein oder ein Gedanke, der uns das Gefühl vermittelt, klein und hässlich zu sein, oder auch ein Gedanke, der uns ärgerlich und anklagend macht.
Dass gewisse »klebrige« Denkmuster auch nach dem Erwachen noch auftreten, stellt für viele eine ziemliche Enttäuschung dar. Sie gingen vielleicht davon aus, dass sie nach einem Erwachen nie wieder Gedanken haben würden, an denen sie leiden. Aber so ist es nicht unbedingt. Es trifft jedoch zu, dass unser Erwachen mit der Zeit ausreift und wir dann immer mehr »Gespinste« durchschauen. Wir lassen uns nicht mehr so leicht von Gedanken einwickeln oder mitreißen.
Einer der indischen Weisen, den ich besonders schätze, Sri Nisargadatta Maharaj, wurde einmal gefragt, ob sich in ihm noch Ego-Persönlichkeitszüge regten. »Aber ja«, erwiderte er mit größter Selbstverständlichkeit, »nur sehe ich eben gleich, dass es sich um Illusionen handelt, und streiche sie dann sofort.« Es tat so gut, das zu hören: Nicht einmal jemand vom spirituellen Format eines Nisargadatta behauptete, alte Konditionierungen würden nie wieder auftauchen. Er erkannte sie nur sofort als Illusion, und damit waren sie dann entschärft und verpufften.
Ein Mensch wie Nisargadatta Maharaj, bei dem das Erwachen sehr weitgehend ausgereift ist, kann die Dinge so handhaben, aber in den meisten Fällen ist es nicht gleich so, auch nicht nach sehr tiefen Erfahrungen.
Es ist vielmehr so, und zwar gar nicht selten, dass sich besonders tiefe und beklemmende Denkstrukturen gleich nach dem Erwachen zu regen beginnen. Manch einer fühlt sich davon geradezu überrumpelt. Es liegt zum Teil daran, dass unsere Verdrängungsmechanismen nach einem Erwachen zeitweilig gelockert oder aufgehoben sind und wir es dann nicht mehr schaffen, die Dinge unter Verschluss zu halten. Als »Nachbeben« eines Erwachens können Gedanken von großer Durchsetzungskraft auftauchen, die wir tief verdrängt, das heißt, von unserem Bewusstsein fernzuhalten versucht haben. Jetzt kommt das alles ans Licht. Es ist also keineswegs ungewöhnlich, dass bestimmte Gedanken wie ein Klettverschluss haften und wir uns vorübergehend doch wieder mit ihnen identifizieren.