Fixierung auf das Absolute: Wie wir unserem Menschsein ausweichen

Denkt bitte nicht, dass ich hier ein Verfahren der »Selbstveredelung« lehre. Es geht nicht darum, vollkommen zu werden. Wir möchten feststellen, wodurch Teilung oder Spaltung in uns entsteht, und das ist etwas ganz anderes als das Vorhaben, vollkommen zu sein. Erwachen und Erleuchtung haben nichts mit Vollkommenheit oder Heiligkeit zu tun. Wahrhaft heilig ist das, was heil ist, was ganz ist: nicht gespalten. Und so geht es darum, das zu heilen, was in uns geteilt oder gespalten ist. Dazu brauchen wir nach einem Augenblick des Erwachens eine radikale Ehrlichkeit, nämlich die Bereitschaft, uns anzusehen, wie wir uns selbst »verschleiern« und zulassen, dass wir der Anziehungskraft des Traumzustands doch wieder nachgeben und in die Gespaltenheit zurückfallen.

Für einen spirituellen Lehrer kann es ziemlich schwierig sein, Menschen zu dieser Ehrlichkeit zu bewegen oder sie ihnen auch nur nahezulegen. Das Ego neigt nämlich sehr stark dazu, einen Augenblick des Erwachens als Vorwand dafür zu benutzen, dass man sich mit all den vorhandenen inneren Spaltungen gar nicht erst befasst. Sicher werden einige sagen: »Aber wer soll das machen? Es ist ja keiner da, keine Person vorhanden. Ego und Person sind Illusionen, also ist eigentlich keiner da, der nach innen blicken könnte.« Aus der Sicht des Erwachens gibt es in der Tat kein Problem, so groß der Schlamassel auch sein mag. Und wenn es kein Problem gibt, muss auch nichts unternommen werden.

Es kann sehr schwierig sein, an solche Menschen heranzukommen, die sich an absolute Anschauungen dieser Art klammern und dahinter verschanzen. Es ist eine der Gefahren, die im Erwachen liegen können: dass man sich an einseitige Anschauungen klammert. Wir versteifen uns aufs Absolute und lassen nichts anderes gelten. Tatsächlich ist da das Ego am Werk und benutzt das Absolute, um unerleuchtetes Verhalten, Denken und Fühlen einfach vom Tisch zu wischen. Sobald wir uns an eine bestimmte Anschauung klammern, müssen wir uns für alles andere blind stellen.

Deshalb betone ich immer, wie wichtig in dieser Phase des Weges der feste Entschluss zu rückhaltloser Ehrlichkeit gegenüber sich selbst ist. Natürlich gibt es den absoluten Standpunkt, natürlich trifft es zu, dass kein gesondertes Ich existiert und es folglich keine Probleme geben kann. Es trifft zu, dass niemand da ist, der das tun könnte, wovon ich rede. Aber ich spreche hier nicht das Ego an. Ich sage dem Ego nicht, was es tun soll oder nicht tun soll. Ich spreche nicht zu dem, was sich für ein gesondertes Ich hält. Ich spreche die Wirklichkeit als solche an. Geist spricht mit Geist. Realität spricht mit Realität.

Es klingt vielleicht so, als würde ich Personen ansprechen und ihnen eine Richtung aufzeigen, aber so ist es nicht. Ich spreche von etwas, was zum Erwachtsein selbst gehört. Das Erwachte wendet sich immer dem Nicht-Erwachten zu. Das Erwachte fürchtet das Nicht-Erwachte nicht. Es kennt überhaupt keine Furcht mehr, da es nichts als von sich getrennt oder verschieden wahrnimmt. Das Erwachte erkennt nicht einmal Verblendung und Traum als von sich getrennt und verschieden. Es erkennt alles gleichermaßen als das, was es selbst ist.

Aber wenn wir ehrlich sind, bemerken wir außerdem, dass in unserem wahren Wesen eine natürliche Tendenz zur Aufhebung aller Begrenzungen besteht: Wir möchten gern den Traumzustand hinter uns lassen. Es besteht der Wunsch oder das Verlangen oder eben die Tendenz, von Hass, Unwissenheit, Gier, von allen einengenden Zwängen frei zu werden. Unser wahres Wesen gibt keine Ruhe, bis es sich von allen Missverständnissen, Fixierungen und Illusionen befreit hat.

Damit es dazu kommen kann, brauchen wir die Bereitschaft, uns selbst gegenüber aufrichtig zu sein. Wir leugnen nicht, was wir beim Erwachen gesehen haben, aber wir müssen auch all das zur Kenntnis nehmen, was hier und jetzt der Fall ist. Schauen wir also hin, fragen wir uns: »Was an mir kann immer noch in die Trennung gehen? Was in mir kann immer noch hassen oder unwissend oder gierig sein? Was in mir redet mir ein, ich sei gespalten, isoliert und voller Kummer? Wo also sind diese Stellen in mir, die noch nicht wach sind?«

Wir können uns diesen Dingen wirklich zuwenden, denn das Erwachte in uns ist mitfühlend. Es ist ungeteilte, bedingungslose Liebe. Es wendet sich nicht ab von dem, was noch träumt, es wendet sich ihm zu. Es nimmt sich der Widersprüche in unserem Denken und Verhalten an. Es wendet sich nicht von Fixierungen und Schmerzen ab, ganz im Gegenteil. Es wendet sich alldem zu.

Deshalb sind es oft die wahrhaft Erleuchteten, die sich der Leidenden annehmen und derer, die die Wahrheit nicht sehen können – obwohl sie für sich selbst realisiert haben, dass alles gut ist und nichts und niemand geändert werden muss. Oft sind es eben diese wahrhaft Erleuchteten, die ihr Leben ganz und gar dem Wohlergehen anderer weihen.

Weshalb tun sie das? Wenn alles gut ist, wenn nichts geändert werden muss, wenn alles ohnehin schon heilig, ja göttlich ist, wenn sogar das gut ist, was nicht gut ist – weshalb sollten die Erleuchteten ihr Leben dann dem Wohl anderer widmen, wozu sollte das gut sein? Gäbe es nur die absolute Sicht der Dinge, hätte das alles keinen Sinn, und die Erleuchteten würden es nicht tun.

Mir scheint, dass so viele wahrhaft Erwachte sich deshalb für das Wohlergehen anderer engagieren, weil sie sich eben nicht auf die absolute Sicht der Dinge versteifen. Sie leugnen die absolute Perspektive der Vollkommenheit nicht, aber sie sind bereit, noch etwas anderes wahrzunehmen, nämlich dass die Wirklichkeit ihrer Natur nach mitfühlend ist.

Das Ganze der Wirklichkeit ist damit befasst, zu sich selbst zu erwachen, und dieser Teil des Gesamtbilds ist sehr schwer zu verstehen, wenn wir auf der absoluten Sicht der Dinge beharren und uns im Absoluten vor unserem Menschsein zu verstecken versuchen. Auch unser Menschsein ist göttlich und möchte bis in den letzten Winkel mit Göttlichkeit und Wirklichkeit getränkt sein.

Wenn der weitere Weg zum vollständigen Erwachen sein Ziel finden soll, müssen wir vollkommen ehrlich und aufrichtig sein. Das hat aber nichts von einem therapeutischen Vorgehen. Wir spähen uns nicht aus, damit wir dann die notwendigen Reparaturen vornehmen und glücklich sein können. Damit würden wir den Traumzustand zum Richtmaß machen – und solange wir noch im Traumzustand sind, kann das auch sinnvoll sein. Ich spreche jetzt aber von anderen Beweggründen, und die ergeben sich aus der Einsicht, dass die Wirklichkeit ihrer Natur nach mit allem, was sie ist, zu sich selbst erwachen möchte. Und genau das tut sie. In euch und in allen ist die Natur eben dabei, alles, was sie ist, zu sich selbst zu erwecken. Und dabei wird alles ans Licht kommen, was in uns ist.

Was es auch sei, wovor wir uns verstecken, wir werden jegliches Versteck verlassen. Viele fragen mich: »Was heißt denn das, Adya? Was muss ich da tun?« Dann rate ich dazu, mit etwas ganz Einfachem anzufangen. Weicht nicht mehr aus. Wenn es noch Ungelöstes in euch gibt, wendet euch dem zu. Stellt euch dem, seht es euch an. Weicht nicht aus, wendet euch nicht ab und benutzt den Moment des Erwachens nicht, um etwas in euch zu vertuschen, was noch dem Traum frönt.

Nehmt es mit Fassung, seht es euch an. In der schlichten Bereitschaft, euch zu sehen und nichts zu beschönigen, wird sich die Wahrheit nach und nach zeigen. Techniken sind dazu nicht erforderlich. Die »Technik« besteht in der Aufrichtigkeit, wir müssen die Wahrheit wirklich sehen wollen. Diese Wahrhaftigkeit lässt sich nicht erzwingen, sie liegt in der Natur der Wirklichkeit.

Manchen Menschen fällt es sehr schwer, sich diese Aufrichtigkeit zu erschließen. Wir können es kaum fassen, dass wir nach einem Blick in das wahre Wesen der Dinge doch wieder von der Schwerkraft der Dualität eingefangen werden und feststellen müssen, dass in Körper und Geist nach wie vor Konflikte toben. Das ist nicht nur für den verblüffend, dem es passiert, sondern auch für seine Umgebung. Einmal ist er von tiefer Weisheit, dann wieder könnte man meinen, er lebe in einem Wahn. Das verwirrt ihn nicht nur selbst, sondern macht alle ringsum ratlos.

Deshalb zweifeln manche grundsätzlich an dem, was wir Erwachen nennen. Jemand erlebt angeblich ein großes Erwachen und ist dann trotzdem immer noch eine Nervensäge. So ein Erwachen, sagen wir uns dann, kann mir gestohlen bleiben. Das ist zwar verständlich, aber zu so einer Einschätzung kann nur jemand kommen, der das Erwachen nicht recht versteht. Es ist nämlich so, dass wir das wahre Wesen der Dinge sehr tief erfassen können und trotzdem in bestimmten Bereichen unseres Lebens Konflikte bestehen bleiben und wir dort einfach nicht klar sehen. Es kommt darauf an, dass wir davor nicht zurückschrecken, sondern uns allen noch nicht erwachten Bereichen bewusst zuwenden. Stellen wir uns also allem in uns, was noch nicht geeint ist.