In der Leere gefangen

Eine ganz ähnliche Falle wie die Sinnlosigkeit ist die Leere oder Leerheit, auch da kann man hängenbleiben. Bei der Leere ist es aber so, als bliebe man im Transzendenten stecken, als wäre man an den Standpunkt des Zeugen gefesselt.

Der Zustand, den wir »Zeuge« nennen, kann erst einmal ganz wunderbar sein. Wir fühlen uns hier nicht als ein Jemand, der Zeuge von etwas ist, sondern wir sind das Bezeugen selbst. Es trifft wirklich zu, dass wir das Bezeugen von allem sind, aber es gibt davon eben auch eine verblendete oder wahnhafte Version, und ihr kann man leicht verfallen.

Das Ego vermag sich überall häuslich einzurichten, es ist ein Chamäleon. Wenn es mit Überlegenheit nicht durchkommt, bringt vielleicht Sinnlosigkeit das gewünschte Ergebnis, und wenn es damit auch nicht klappt, kann es sich vielleicht als derangierter Zeuge wieder einnisten. Das Ego passt sich allen Umständen an. Wenn man es in irgendeiner Ecke seines Lebens aufgescheucht hat, verzieht es sich von dort, taucht aber bald darauf prompt in einer anderen Ecke auf. Es ist sehr durchtrieben und versteht sich auf subtile Verschiebungen. Für mich gehören die Illusionen des Egos zu den erstaunlichsten Naturkräften überhaupt.

Das Ich oder Ego kann sich zum Zeugen aufbauen. Das hat anfangs etwas ungemein Befreiendes, vor allem wenn man viel Schmerz und Leid erlebt hat. Plötzlich ist man der Zeuge, und es wird als große Erleichterung erlebt, wenn man nicht mehr der Hauptdarsteller in seinem Leben sein muss. Aber die Position des Zeugen kann wieder eine Fixierung werden, und dann kann sich etwas Trockenes und Lebloses einschleichen, weil sich der Zeuge von dem, was er wahrnimmt, völlig losgelöst fühlt. Das bedeutet natürlich, dass keine echte und bis zum Grund vordringende Erkenntnis stattgefunden hat. Die Wahrheit ist nur zur Hälfte realisiert, wir sind nur halb wach geworden.

In Indien gibt es eine sehr alte Formel, über die Sri Ramana Maharshi gern sprach. Sie lautet: »Die Welt ist Illusion. Brahman allein ist real. Die Welt ist Brahman.« Hier sind Einsichten angesprochen, die mit dem Erwachen einhergehen. Der erste Teil, »Die Welt ist Illusion«, ist keine philosophische Aussage. Wenn wir erwachen, sehen wir, dass die Welt Illusion ist. Wir erkennen es, uns offenbart sich, dass es da draußen keine objektiv gegebene, von uns getrennte Welt gibt. Das ist im ersten Teil der zitierten dreifachen Aussage angesprochen.

Weiter geht es mit: »Brahman allein ist real«, und das verweist auf die Perspektive des ewigen Zeugen. Im Bezeugen oder Gewahren der Welt liegt alle Realität, und der Zeuge selbst ist noch realer als das, was er gewahrt oder bezeugt. Wir sehen es als einen Traum vor uns ablaufen, es ist wie ein Film, ein Roman. Es fühlt sich so frei an, birgt aber auch die Gefahr, dass wir uns wieder an eine Vorstellung binden, und die heißt diesmal: »Ich bin der Zeuge dessen, was ist.«

Die ersten beiden Teile »Die Welt ist Illusion« und »Brahman allein ist real« (oder »Der Zeuge allein ist real«) treffen also zu. Aber ohne die dritte Aussage, »Die Welt ist Brahman«, hätten wir keine wahre Nondualität. Erst in der Aussage »Die Welt ist Brahman« ist wahres Einssein verwirklicht und die Position des Zeugen gleichsam aufgehoben, sie verschmilzt mit der Gesamtheit, und auf einmal wird nichts mehr von einem bestimmten Standpunkt aus gesehen, nichts mehr wird von außen gesehen. Alles wird von innen und außen zugleich gesehen, weil das Gesehene auch das ist, was sieht. »Seher und Gesehenes sind eins«, wie es auch heißt. Solange wir das nicht erfasst haben, können wir an den Standpunkt des Zeugen gefesselt bleiben – wir sind in transzendenter Leere oder leerer Transzendenz gefangen.

Mir fällt dazu ein Gespräch mit einer Frau ein, die mir von ihrem Erwachen erzählte und die ich wenige Jahre später bat, selbst zu lehren anzufangen. Sie erzählte mir also von dem, was sie realisiert hatte und was sie jetzt sah. Sie wollte einfach nur mit jemandem reden, es musste nicht unbedingt ein Lehrer sein. Sie brauchte eigentlich keine Unterweisungen mehr, sie brauchte nur jemanden, der verstehen würde, was sie sagte, weil er mit den gleichen Augen sah.

Wir saßen also da, und sie erzählte, was so mit ihr vorging. Sie war so voller Freude und Erleichterung über die Entdeckung ihres wahren Wesens, dass ihr Tränen übers Gesicht liefen. Es war wunderbar, und das ließ ich sie auch wissen, aber später klärte ich sie außerdem darüber auf, dass man sich allzu leicht an das Ungeborene und Unsterbliche fesselt.

Sehen wir zu, dass wir nicht im Transzendenten steckenbleiben. Ja, das Transzendente ist real und wunderschön, aber man sollte da nicht hängenbleiben. Eigentlich soll man nirgendwo hängenbleiben, sich auf nichts festlegen. Es gibt keine Sicht der Dinge, die so endgültig wäre, dass man an ihr festhalten könnte.

Wirklich wach zu sein, erleuchtet zu sein, bedeutet, dass wir von allem Festhalten, von allen Standpunkten frei sind. Es ist ein unbeschreiblicher Zustand, wirklich nicht zu beschreiben. Es ist ein Seinszustand, der sich nicht in Worte fassen lässt. Bis dahin können wir alles irgendwie begrifflich erfassen oder wenigstens umschreiben. Als Lehrer kann ich Aspekte der Verwirklichung darlegen, ich kann ein paar Facetten dieses »Diamanten der Erleuchtung« ansprechen. Ich kann ein paar Schliff-Ebenen und Winkelverhältnisse aufzeigen. Aber ich kann nicht über den ganzen Diamanten sprechen.

Es geht also nicht. Wie auch der große taoistische Weise Lao-tse sagte: »Das Tao, von dem gesprochen werden kann, ist nicht das wahre Tao.« Die Wahrheit, von der gesprochen werden kann, ist also nicht die wahre Wahrheit. Deshalb sage ich gern zu meinen Schülern, dass mein ganzes Lehren auf ein Scheitern hinausläuft, bestenfalls auf ein gutes Scheitern. Wer das Unsagbare ansprechen möchte, weiß von vornherein, dass er damit scheitern wird. Ich kann es allenfalls darauf anlegen, so zu scheitern, dass ihr etwas davon habt. Ich kann euch zwar nicht den ganzen Diamanten vor Augen führen, aber ich kann in dem, was ich sage, wahrhaftig sein, und dann entsteht vielleicht in manch einem, der genauso zuhört, eine Resonanz. Es ist also nicht meine Wahrheit. Es ist die Wahrheit dessen, was wir sind. Und das ist ein Ort des Erkennens.

Wahrheit ist kein Besitz. Sie gehört niemandem, und niemand hat mehr davon als irgendein anderer. Manche haben vielleicht mehr davon realisiert oder erinnern sich an mehr als andere, aber Wahrheit ist nichts, was irgendwer »hat« und ein anderer nicht. Was wir sind, kann niemand besitzen, wir sind alle gleichermaßen damit begabt. Wir erinnern uns auf dem Weg des Erwachens lediglich an das, was wir sind. Was wir immer gewusst haben, fällt uns wieder ein.

Die genannten Stellen, an denen wir uns auf diesem Weg festfahren können – Überlegenheit, Sinnlosigkeit oder das Zeugen-Bewusstsein –, sind längst nicht alle Formen der Verblendung, die das Ego in diesen Höhen der Verwirklichung bereithält. Ich sehe das ständig, es gehört einfach zu diesem Weg dazu.

Wenn wir uns selbst gegenüber ehrlich sind, sehen wir nach und nach immer deutlicher, wo wir uns wieder festklammern. Irgendetwas macht uns darauf aufmerksam, dass unser Erwachen noch unvollständig ist.

Ich erinnere mich noch gut an die Zeit des Zeugen-Bewusstseins. Es war staunenswert, es war wunderbar, so tief, so transformierend. Mit der Zeit meldete sich dann aber die leise Stimme der Intuition immer deutlicher. Sie sagte: »Das ist noch nicht alles. Es ist noch nicht Einheit, noch nicht das Eine.« Im Zeugen-Zustand war überhaupt nichts mehr von mir, nichts von dem Ich, als dass ich mich gekannt oder für das ich mich gehalten hatte, und doch blieb eine Illusion bestehen, nämlich dass der Zeuge und das Bezeugte verschieden sind. Danach ging es mir wie so vielen anderen, der Zeugen-Standpunkt brach ein. Sobald wir die Spaltung erkennen, die in diesem wahrgenommenen Unterschied liegt, trägt uns der Zeugen-Standpunkt nicht mehr. Wir müssen uns erlauben, diese Spaltung zu sehen, dann ist die Position des äußeren Zeugen nicht mehr zu halten. Und wenn wir die Position aufgegeben haben, sehen wir schließlich, wie sich abermals das Ego darin versteckt gehalten hat, um vom Leben nicht allzu sehr berührt zu werden, um bestimmte Gefühle nicht fühlen zu müssen, um dem Leben nicht zu direkt ausgesetzt zu sein, um sich nicht zu intim auf dieses Leben als Mensch einlassen zu müssen.

Wie ich immer wieder sage: Das Sehen der Unwahrheit ist das entscheidende Element ihrer Auflösung. Aber Vorsicht: Das bloße Sehen einer Fixierung, weil uns jemand auf sie aufmerksam gemacht hat, genügt nicht. Es genügt nicht, von einem anderen darüber aufgeklärt zu werden. Man muss es selbst herausfinden, sich mit eigenen Augen davon überzeugen.

Sitzt also mit diesen Dingen, erforscht sie. Nehmt sie nicht als wahr, nur weil ich sage, dass sie so sind. Wir müssen diese Entdeckungen selbst machen, ganz frisch. Mit meinen Worten möchte ich euch lediglich ermuntern, euch offen und ehrlich zu betrachten und euch dabei sehr nahe zukommen.

Letztlich sind wir darin nämlich ganz auf uns gestellt. Wir müssen unser eigenen Forschungen anstellen, niemand kann uns das abnehmen. Niemand legt dir die Hand auf den Kopf und macht dich damit zu einem vollkommen und endgültig Erwachten, amen. So läuft das einfach nicht, und je früher wir diese Illusion ablegen, desto besser.

Unser dauerhaftes Erwachen bahnt sich an, wenn wir unser Leben endlich ganz selbst in die Hand nehmen. Wir verstehen, dass es an uns liegt, uns wirklich anzuschauen, tief in uns hineinzuschauen – tiefer, als wir es bisher gewagt oder auch nur für möglich gehalten haben. Wir besitzen diese Fähigkeit, aber wir lassen sie gern ungenutzt, solange wir uns noch auf andere stützen, auf äußere Autoritäten.

Ich bin hier, um Anregungen und Hinweise zu geben – und Antworten in Frage zu stellen, die ihr bereits als wahr akzeptiert habt. Ein Lehrer ist dazu da, die Antworten der Schüler auf ihre Tragfähigkeit hin zu prüfen, aber herumzusitzen und selbst Antworten zu geben, das gehört nicht zu seinen Aufgaben. Die Leute, die zu mir kommen, gehen meist davon aus, dass sie schon etwas wissen. Ich hinterfrage das dann, damit sie zu sich selbst zurückfinden und sich auf ihre eigenen Mittel besinnen.

Wir betrachten uns intensiv und aufmerksam, und so finden wir aus unseren Sackgassen heraus. Dann tut sich etwas anderes auf. Eine völlig neue Wahrnehmung entsteht, wenn eine Ego-Fixierung abfällt, wenn sich das Ego nicht mehr als »erleuchtetes Ich« neu zu installieren versucht und aus seinen Blicken in die Natur der Realität doch nur wieder falsche Schlüsse zieht. Das forschende Fragen, die Meditation und der tief dringende Blick lassen die Verblendung allmählich absterben, und dann tut sich uns eine ganz neue Sphäre des spirituellen Lebens auf. Da hat das Ego mit seinen Einbildungen nichts mehr zu melden. Hier geht es um die subtileren Aspekte unseres wahren Wesens, an die wir uns immer tiefer und umfassender erinnern. Dazu sind wir aufgerufen, und das ist es, was spirituelle Entwicklung eigentlich bedeutet.