Es gibt auf diesem Weg vom ersten Einblick in den erwachten Zustand zum anhaltenden Erwachen noch weitere »Schlaglöcher«. Solche Abwege, Sackgassen oder Fallen gehören, um es noch einmal zu betonen, nicht zum Erwachen selbst, sondern es handelt sich um Selbsttäuschungen, die aus unserer Auseinandersetzung mit dem Erwachen entstehen. Die erwachte Perspektive geht weit über das hinaus, was unser denkender Verstand erfassen kann – aber alles, was er sieht, ist von dem geprägt, was er seiner Natur nach ist. Alle Selbsttäuschungen nach einem Erwachen entspringen unserem Denken.
Eine Falle, die unser Verstand uns besonders gern stellt, besteht in einem Gefühl von Sinnlosigkeit. Von unserer neuen Warte aus brauchen wir das vom Ego ausgehende Verlangen nach Sinn nicht mehr, wir sind frei davon. Wir erkennen jetzt: Das Ego sucht nur deshalb einen Sinn im Leben, weil es sich scheut, das Leben zu sein. Nur wenn du nicht weißt, dass du das Leben bist, suchst du einen Sinn im Leben. Kurz, wer vom Leben selbst irgendwie abgeschnitten ist, wird zum Sinnsucher. Wer mit dem Leben eins ist, fragt nicht nach Sinn und Zweck.
Ich sage nicht, dass man die Frage nach Sinn und Zweck besser gar nicht erst stellt. Es ist ein relativ kluger Ansatz bei unserem Bemühen, irgendwie mit unserem Leben zurechtzukommen. Behaltet aber im Blick, dass die ganze Sinnsuche mit ihrer Frage, was dieses Dasein überhaupt soll, eigentlich ein Erzeugnis des Traumzustands ist – und im Traumzustand wissen wir letztlich nicht, was wir sind, wir wissen nicht um unser wahres Wesen.
Wenn wir einmal vom Traum erwachen und wirklich sehen, wird uns klar, dass Sinnsuche nicht mehr angesagt ist. Wir fühlen uns so ganz unmittelbar mit dem Leben verbunden, so eins damit, dass die Suche nach Sinn und Zweck auf einmal irgendwie abgedroschen und gegenstandslos wirkt. Sie hat ihre Stellung als treibende Kraft in unserem Leben eingebüßt. Sinn und Zweck – die Frage lockt uns einfach nicht mehr, weil wir jetzt einen ganz anderen Standpunkt einnehmen, von dem aus sie gar nicht existiert, jedenfalls sicher nicht so wie früher, nicht so wie vom Standpunkt des Egos aus.
Wir sind erwacht und wissen, dass alles Bisherige ein Traum war. Es lohnt sich nicht, nach dem Sinn des Traumzustands zu fragen, welchen könnte er haben? Ein Traum ist zu gar nichts da, er ist einfach ein Traum, nicht wahr? Ja, so ist es. Aber nach dem Erwachen ist eben immer noch ein Mensch mit seinem menschlichen Denken da, der sich einen Reim auf die Dinge zu machen versucht. Dieses Denken möchte sogar das Erwachen verstehen. Bei den meisten verschwindet das Ego wie gesagt nicht auf einen Schlag, und daher versucht sich der Verstand mit den durch ein Erwachen ausgelösten Einsichten auseinanderzusetzen. Er sagt: »Du meine Güte, jetzt gibt es gar keinen Sinn und Zweck mehr für mich.« Du hast einfach zu viel Realität gesehen, als dass du noch an die Sinnsuche und die Zielvorstellungen des Egos glauben könntest. Aber es ist eben doch noch genug Ego-Masse für den Umgang mit solchen Fragen übrig. Das Ego, die Ich-Illusion, nimmt wahr, dass es keinen Sinn gibt. Es wirft gleichsam einen Blick ins Reich der Wahrheit, und der kann sehr beunruhigend und verwirrend sein.
Hier tappt manch einer in die Fußangel der Sinnlosigkeit. Das Leben scheint keinen Sinn mehr zu haben. Ist das Leben nicht insgesamt ein ganz zweckloses Unterfangen? Dem Ego-Ballon ist die Luft ausgegangen. Du hast im Erwachen die Realität wahrgenommen, und jetzt ist dein Ego nur noch wie ein schlappes Stück Gummi. Nun ja, irgendwo bläht sich doch noch etwas und fragt: »Was ist passiert? Wo ist die Luft? Was ist aus dem Sinn meines Lebens geworden? Was soll dieses Leben überhaupt noch?«
Da von dem ganzen Ego-Bauwerk eben doch noch einiges übrig ist, verstricken wir uns manchmal in ein bedrückendes Gefühl von Sinn- und Zwecklosigkeit und würden am liebsten abwinken. Aus der erwachten Perspektive ist die Aussage, dass nichts über sich selbst hinaus auch noch einen Sinn und Zweck hat, höchst positiv. Wir haben etwas Besseres als Sinn und Zweck gefunden, das ist das Schöne daran. Unser Erwachen hat uns die wahre Essenz des Daseins erschlossen. Kann es etwas noch Sinnvolleres geben? Kann etwas noch besser sein als das?
Aber für unser Ego kann das niederschmetternd sein. Wer da nicht aufpasst, kann in einen vom Ego angerührten Strudel geraten, der ihn in einen depressiven Zustand saugt. Ich habe im Lauf der Jahre Leute kennengelernt, die wirklich etwas gesehen haben, aber ihr Ego hat sich erbittert dagegen gewehrt. Das Ego will die wahrgenommene Wirklichkeit einfach nicht und kann in seiner Reaktion sehr negativ werden. Dann wird man depressiv. Sinn und Zweck sind weg, aber es ist noch genug Ego da, um sich darüber zu grämen.
Manche mühen sich ziemlich ausdauernd mit dieser Phase ab. Wir müssen aber nicht in der Sinnlosigkeit steckenbleiben, und eines der Mittel dagegen besteht darin, uns zu sagen, dass wir die Wahrheit mit den Augen des Egos angeschaut haben. Im Erwachen ist für das Ego einfach nichts zu holen. Im Erwachen erwachen wir vom Ego, und folglich wirft das Erwachen wirklich gar nichts für das Ego ab. Es ist nicht gut für unser Ego, aber es ist gut für unser Sein, für das, was wir wirklich sind. Man kann vielleicht sagen, dass es nichts Schlimmeres und Schrecklicheres gibt, als mit den Augen des Egos die Wahrheit zu schauen. Vielleicht hat man sich eingebildet, es werde herrlich sein, wenn das Ego die Wahrheit erkennt, es werde von Freude und Glück überwältigt sein. In aller Regel ist das nicht so.