Zeit des Erwachens

Was ich hier ansprechen möchte, wird je nach Tradition als »Erleuchtung« oder »spirituelles Erwachen« bezeichnet, weil wir dabei aus dem Traum der Getrenntheit erwachen, den unser ichbezogenes Denken träumt, unser Ego-Geist. Uns geht auf, und das vielfach ganz abrupt, dass unser aus Vorstellungen, Überzeugungen und Bildern konstruiertes Ich-Gefühl nicht wirklich dem entspricht, was wir sind. Unser Ich mag wohl als eine Folge auftauchender und vergehender Gedanken, Glaubenssätze, Aktionen und Reaktionen existieren, aber es besitzt darüber hinaus keine eigene Identität. Letztlich erweisen sich alle unsere Vorstellungen von uns selbst und der Welt als Schutzvorrichtung gegen das schiere Sosein aller Dinge, und das sogenannte Ego ist einfach der Mechanismus, mit dem sich unser Bewusstsein gegen das Leben stemmt. Und so gesehen ist das Ego weniger ein Ding als vielmehr ein Vorgang, es besitzt Verb-Charakter. Es repräsentiert den Widerstand gegen das, was ist. Es schiebt weg oder es greift auch aus. Und der Bewegungsimpuls dieses Herholens und Zurückweisens lässt den Eindruck eines Ichs entstehen, das von der Welt ringsum nicht nur verschieden, sondern getrennt ist.

In der Zeit des Erwachens nun scheint uns diese Außenwelt wegzubrechen. Wenn unser altes Ich-Gefühl uns verlässt, ist es so, als ginge uns auch die Welt verloren, wie wir sie bisher kannten. Das mag ein kurzzeitiger oder dauerhafter Eindruck sein, jedenfalls ist auf einmal sonnenklar, dass wir unendlich viel mehr sind als dieses kleine Ich, für das wir uns immer gehalten haben.

Über dieses Erwachen zur Wahrheit oder Realität ist schwer zu sprechen. Worte erreichen es nicht. Dennoch ist es schön, so etwas wie Wegmarken zu haben. Dann lässt sich über die Erfahrung des Erwachens immerhin sagen, dass sie sich als eine Veränderung der Wahrnehmung zeigt. Das ist eigentlich der Kern des Erwachens, das Wesentliche daran: eine Verschiebung in unserer Wahrnehmung, durch die wir uns nicht mehr als isoliertes Individuum sehen, sondern – sofern nach dieser Verschiebung überhaupt noch von einer Sicht unserer selbst die Rede sein kann – als etwas Allumfassendes, in das alles und alle überall und jederzeit eingeschlossen sind.

Eigentlich ist das aber nichts revolutionär Neues, nichts wesentlich anderes, als am Morgen in den Spiegel zu blicken und intuitiv zu wissen, das dieses Gesicht dein Gesicht ist. Das ist keine mystische Erfahrung, es ist einfach Erfahrung. Du schaust in den Spiegel, und da ist ein simples Wiedererkennen: »Ah, das bin ich.« Mit der Verschiebung unserer Wahrnehmung, die wir »Erwachen« nennen, ist es dann so, dass wir alles, womit unsere Sinne in Berührung kommen, als unser Ich erleben. Mit allem, was uns begegnet, geht dieses »Ah, das bin ich« einher. Wir erfahren uns dann nicht mehr als ein Ego-Ich, einen vereinzelten Jemand oder etwas getrennt Existierendes. Es fühlt sich eher so an, als würde das Eine oder der universale Geist sich selbst erkennen.

Das Erwachen ist ein Erinnern. Wir werden dabei nicht etwas, was wir bis dahin nicht waren. Wir verwandeln uns nicht. Wir verändern uns nicht einmal. Wir erinnern uns, was wir sind, als hätten wir es schon längst gewusst und nur vergessen. Im Augenblick des Erinnerns, wenn es echt ist, wird das Erwachen nicht als etwas Persönliches erlebt. Ein »persönliches« Erwachen gibt es eigentlich gar nicht, denn »persönlich« würde ja Trennung implizieren. Es würde bedeuten, dass da ein Ich erwacht, dass ein Ego Erleuchtung findet.

Beim wahren Erwachen zeigt sich sehr klar, dass es sich nicht um etwas Persönliches handelt. Vielmehr erwacht universaler Geist oder universales Bewusstsein zu sich selbst. Da wacht kein Ich auf, sondern das, was wir wirklich sind, wacht vom Ich auf. Es erwacht von der Suche und vom Sucher.

Mit allem, was wir über das Erwachen sagen können, ist es leider so, dass der denkende Verstand sich daraus eine neue Vorstellung von dem zimmert, was die höchste Wahrheit und Wirklichkeit nun eigentlich ist – und dann ist es wieder nur eine Idee. Und sobald eine solche Vorstellung aufgebaut ist, wird unsere Wahrnehmung schon wieder in dieser Richtung verbogen. Deshalb ist es wirklich unmöglich zu beschreiben, was Realität eigentlich ist; wir können allenfalls sagen, dass sie nicht ist, was wir glauben, und nicht das, was uns beigebracht worden ist. Tatsächlich ist es einfach nicht möglich, uns eine Vorstellung von unserem wahren Wesen zu machen – dieses wahre Wesen übersteigt jegliches Vorstellungsvermögen. Wir sind das, was allem zuschaut, dieses Bewusstsein, das uns bei dem Bemühen zuschaut, eine gesonderte Person zu sein. Unser wahres Wesen hat jederzeit an aller Erfahrung teil, und es gibt keinen Augenblick, in dem und für den es nicht wach wäre.

Im Erwachen offenbart sich uns, dass wir weder ein Ding noch eine Person, noch überhaupt ein Etwas sind. Wir sind das, was sich als alle Dinge, als alle Erfahrungen, als alles Personenhafte manifestiert. Wir sind das, was diese ganze Welt erträumt. Kurz, im Erwachen wird offenbar, dass wir in Wahrheit das Unaussprechliche und Unerklärliche sind.