Flitterwochen

Das Wegfallen der Suche geht oft mit einem großen Aufatmen einher, ich spreche in diesem Zusammenhang gern von den »Flitterwochen des Erwachens«. Auch für mich war es so, dass sich das Wegfallen des Suchenden und der Suche anfühlte, als wäre mir eine gewaltige Last von den Schultern genommen worden. Sogar ganz körperlich. Als wäre etwas Bleischweres von mir abgefallen, von dem ich nicht einmal gewusst hatte, dass ich es schleppte.

Und das erleben viele nach dem Erwachen. Das Bewusstsein erwacht aus seinem Traum der Trennung, und im gleichen Augenblick setzt große Erleichterung ein. Manche brechen in Gelächter aus oder weinen oder beides, sie erleben eine tiefe emotionale Lösung – es tut so gut, den Traum endlich hinter sich zu haben. Ich vergleiche diesen Augenblick gern mit dem ersten Kuss. Das Erwachen ist wie ein erster spiritueller Kuss, der erste Kuss der Wirklichkeit, unsere Einführung in das, was wir wirklich sind.

Die Phase der ersten Verliebtheit kann einen Tag oder eine Woche, aber auch Monate und sogar Jahre anhalten. Das ist von Mensch zu Mensch ganz verschieden. Kennzeichnend ist für diese Phase, dass alles so wunderbar im Fluss ist, wir empfinden keinen Widerstand in uns und daher auch keinen in dem, was wir erleben. Alles fließt. Das Leben ist ein einziges Fließen, alles geschieht wie von selbst. Und es zeigt sich überdeutlich, dass alles geschieht und du als Individuum gar nichts tust.

Im Grunde bestehen diese Flitterwochen darin, dass wir jeglichen Widerstand vollkommen aufgegeben haben. Und da wir keinerlei Widerstand leisten, fließt das Leben vollkommen ungehindert in seiner ganzen Schönheit, fast wie von Zauberhand geleitet. Alles stellt sich genau in dem Augenblick ein, in dem es benötigt wird. Entschlüsse fallen, ohne dass ihnen ein Entscheidungsprozess vorausgegangen wäre, alles wirkt so klar, so naheliegend. So wirkt der Geist, wenn ihm keine Hindernisse in den Weg gelegt werden, wenn er nicht von Illusion, Konditionierung oder Widerspruch überlagert ist. Dieses freie Fließen kann eine vorübergehende Erfahrung sein oder länger anhalten. Manche lassen sich von diesen Flitterwochen derart mitreißen, dass sie geradezu lebensuntüchtig werden und sich für Wochen, Monate oder sogar Jahre ihrer Verzückung überlassen.

Früher konnte sich jemand, dem das widerfuhr, in das schützende Umfeld beispielsweise eines Klosters zurückziehen, wo man derlei Zustände verstand. Da wies man solchen Leuten eine nette kleine Zelle zu, wo das Geschehen in ihrer Seele einfach seinen Lauf nehmen konnte. Es war sicher ein großes Glück, das Erwachen in einem Umfeld erleben zu können, in dem es als etwas Normales galt und den Raum bekam, den es benötigte.

Heute kommen immer mehr Menschen außerhalb von Klöstern an diesen Punkt, und das gesellschaftliche Umfeld bietet ihnen nicht gerade viel Unterstützung. In dieser Gesellschaft kann es sein, dass man am Samstag zu einem tiefen spirituellen Durchbruch kommt und am Montag schon wieder im Büro sitzt. Wenn man dann noch auf Wolken der Seligkeit schwebt, kann man leicht die Orientierung verlieren. Aber so sieht unsere heutige Realität nun mal aus. Kaum einer kann es sich erlauben, für ein paar Monate in einer Höhle unterzutauchen, damit die Dinge sich ganz natürlich setzen können. Unsere Welt sieht anders aus, und manch einen bringt das in Schwierigkeiten.