Wie lange die Flitterwochenphase nach einem Erwachen auch andauern mag, einen Tag oder ein Jahr, irgendwann kommt ein Punkt, an dem wir uns umsehen und nicht umhin können zu bemerken, dass sich einiges ganz erheblich geändert hat. Was uns bisher Orientierung gegeben hat, ist nicht mehr vorhanden. Die Glaubenssätze, an die wir uns gehalten haben und die auch unser Selbstverständnis ausmachten, erweisen sich als leer, als substanzlos. Was uns Antrieb gab, ist größtenteils verschwunden, und das kann uns ziemlich ratlos machen. Jetzt erst fällt uns auf, dass unsere Antriebe so gut wie ausschließlich uns selbst dienten. Ich meine das gar nicht negativ, ich verurteile es nicht, ich möchte einfach festhalten, dass das, was uns im Traumzustand Antrieb ist, sehr selbstbezogen ist. Unsere Motive waren immer auf einen ganz einfachen Nenner zu bringen, nämlich »Was möchte ich?« und »Was möchte ich nicht?«. Fragen dieser Art stellen wir uns eigentlich ständig: »Was kann ich mir verschaffen? Wer liebt mich? Wie viel Freude kann ich haben? Welches Unglück kann ich mir vom Leib halten? Finde ich den richtigen Job? Finde ich den richtigen Partner? Werde ich Erleuchtung finden?« Es sind lauter Antriebe, die nur meine persönlichen Interessen zum Inhalt haben, und ihre Energie entspringt ausschließlich dem Ich-Bewusstsein.
Das ist nicht falsch oder schlecht, es ist einfach das, was ist. Im Traumzustand sehen und erleben wir Trennung, wir halten uns für etwas getrennt und eigenständig Existierendes. Und dieses gesondert existierende Wesen ist immer auch auf der Suche nach irgendetwas, nach Liebe, Anerkennung, Erfolg, Geld und vielleicht sogar Erleuchtung. Aber mit dem Erwachen beginnt dieses ganze Gedankengebäude der Trennung zu bröckeln und einzustürzen. Doch der Mensch ist ja immer noch da, wir gehen ja nicht in Rauch auf. Sogar unsere Persönlichkeitszüge bleiben wiedererkennbar. Jesus besaß eine Persönlichkeit, der Buddha ebenfalls. Alle Menschen dieser Welt haben eine Persönlichkeit. Schon Neugeborene und Säuglinge haben deutlich eine eigene Persönlichkeit. Es ist ja auch schön, dass wir so verschieden, so eigen sind. Dieses ganz Eigene und Unverwechselbare erkennen wir auch an Hunden, Katzen, Vögeln und sogar an Bäumen.
Wenn wir jedoch einmal hinter den Schleier der Trennung geblickt haben, beginnt sich die Identifikation mit unserer Persönlichkeit aufzulösen. Auch wenn wir sehr tief geblickt und eine große Verwandlung erlebt haben, ändert sich die Grundanlage unserer Persönlichkeit nicht, aber was uns einst bewegte und antrieb und Orientierung gab, ist entweder verschwunden oder verflüchtigt sich gerade.
Ich war fünfundzwanzig, als ich meinen ersten Blick hinter den Schleier tat. Es war kein dauerhaftes Erwachen, es hielt nicht an. Dennoch war an diesem Durchbruch etwas, was mich nie wieder verlassen hat. Irgendwo habe ich immer gewusst, dass alles eins ist, dass ich ewig, ungeboren, unsterblich und unerschaffen bin. Mir war deutlich, dass mein Wesen, also das, was ich im Innersten bin, nicht an dieser Person hängt und nicht an dem Körper, in dem ich offenbar lebe. Ich hatte eine Auflösung erlebt, eine ziemlich drastische Auflösung meiner Welt und meiner selbst – oder dessen, was ich dafür gehalten hatte. Es fühlte sich ziemlich sonderbar an, ohne all die Antriebe, die meinem Leben bis dahin Inhalt und Richtung gegeben hatten, in der Gegend herumzulaufen. Sicher gab es noch Ich-Antriebe, es gab Energien, die um mein Ich kreisten, aber vor allem kam es auf dieser Ego-Ebene zu einer immensen Auflösung, und ein Großteil der Energien, die dem Ego entspringen, fiel weg. Immer häufiger erhob sich bei den Dingen, denen ich sonst ganz selbstverständlich nachgegangen war, die Frage: »Weshalb mache ich das hier eigentlich, und wozu sollte ich das da machen?« Es reizte mich einfach nicht mehr, weder dies noch das. Was ich früher mit Begeisterung gemacht hatte, sagte mir nichts mehr. Es war nicht so, dass ich die Dinge jetzt ablehnte oder widerwillig tat; aber diese Ich-Energien waren einfach nicht mehr da, die früher mein Interesse an diesen bestimmten Vorhaben und Beschäftigungen beflügelt hatten.
Manch einem ergeht es so. Die Leute kommen zu mir und sagen: »Also, ich weiß nicht, ich habe immer so viele Interessen gehabt und mich mit so vielen Dingen beschäftigt – Hobbys, Partys, Drachen steigen lassen …« Oder sie waren begeisterte Jogger oder sonst etwas gewesen. Ich sage dann, es sei ganz normal, dass manche Interessen verblassen, vor allem wenn sie von den Energien der Trennung getragen waren. Bei Interessen, die unmittelbarer Ausdruck der Trennungs- oder Teilungstendenz des Egos waren, ist es oft so, dass sie irgendwann nicht mehr bestehen und man sich fragt, wo sie geblieben sind.
Wenn wir einer spirituellen Praxis nachgehen, gehört die Auflösung des Egos zu unseren Wünschen und Hoffnungen. Wir wissen, wie weh die Ich-Verhaftung tun kann, wir möchten irgendwann von ihr befreit sein. Aber das Erwachen bedeutet nicht zwangsläufig auch das Verschwinden des Egos. Wir können mit und ohne Ego-Auflösung aufwachen. Auch ein sehr starkes oder sogar destruktives Ego kann erwachen. Mit dem Erwachen beginnt etwas. Die Auflösung des Egos ist eine Folge des Erwachens.
Aber das Ego spielt da keineswegs bereitwillig mit. Es kann sein, dass es sich seiner Auflösung mit allen Mitteln widersetzt. Es wird dann sein gesamtes Arsenal auffahren. Dennoch, mit dem Erwachen setzt sein Verschwinden ein, und wenn man einmal einen Blick in die wahre Wirklichkeit erhascht hat, ist die Auflösung des Egos nicht mehr aufzuhalten.
Im Verlauf dieses Prozesses kann es sein, dass wir die Orientierung verlieren. Schon das Erwachen selbst kann diese Wirkung haben. Alles, was wir für wahr gehalten haben, stimmt auf einmal nicht mehr. Man glaubte eine bestimmte Person zu sein, und jetzt zeigt sich, dass dem nicht so war. Das kann als ein Glück, als große Erleichterung erlebt werden, aber es kann eben auch sehr verwirrend sein. »Was bin ich dann noch? Was bewegt mich? Was treibt mich jetzt an?«
Ein vollkommen Erwachter hat solche Fragen natürlich nicht mehr. Aber es ist sehr selten von Anfang an so. Bei den meisten schließt sich an das Erwachen ein Entwicklungsprozess an, und diese Fragen stellen sich einstweilen noch. Für einen spirituellen Lehrer ist es nicht leicht, hier Antworten zu geben, die das Ego nicht gleich wieder in Zielvorstellungen ummünzt. Besser ist es, sich zu sagen, dass eine gewisse Orientierungslosigkeit einfach zum Erwachen gehört, schließlich ist jetzt alles neu und anders. Man selbst ist neu, die Wahrnehmung ist neu – sie nimmt alles und alle anders wahr als bisher.
Zur Desorientierung kommt es aber nur deshalb, weil wir uns in diesem neuen Umfeld zurechtfinden möchten. Stellt euch vor, ihr springt mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug. Wenn man sich zunächst einfach fallen lässt – kein Problem. Aber sobald man anfängt zu fuchteln, um sich irgendwie zu stabilisieren, kommt man in größte Verwirrung, man weiß buchstäblich nicht mehr, wo oben oder unten ist.
Die Desorientierung liegt also nicht unbedingt in dem, was sich beim Erwachen zeigt. Sie entsteht vielmehr, wenn der denkende Verstand zu bestimmen versucht, wo er denn nun ist. Die erwachte Sicht der Dinge beinhaltet aber unter anderem, dass es keine Orientierung gibt. Die Wirklichkeit braucht keine Orientierung oder allenfalls als ein tiefes Lassen oder Loslassen, in dem alles so sein kann, wie es eben ist. So paradox es klingt: Orientierung findet ihr dadurch, dass ihr keine sucht. Orientierung findet sich im vollkommenen Loslassen.
Es gibt also eine Phase des Loslassens, und es erscheint dann in unserem Bewusstsein nicht unbedingt gleich eine neue Energie, die unserem Leben Richtung gibt und es weiterträgt. Diese Energie gibt es natürlich, sie regt sich ständig in uns. Es ist die Energie der Nicht-Trennung oder Nicht-Teilung. Sie kommt unmittelbar und unverfälscht aus der Quelle. Aber meist geht das Schwinden unserer Ego-Motive nicht nahtlos in das Aktivwerden dieser Energie in unserem Bewusstsein über, und das kann dann eine Zeit sein, in der wir uns fragen, welche Energie uns nach dem Erwachen weiterhin Antrieb geben wird.
Es kommt auch hier darauf an, die Ego-Auflösung einfach geschehen zu lassen. Das nimmt bei den meisten Menschen einige Jahre in Anspruch. Bei mir waren es sechs Jahre, in deren Verlauf das Erwachen immer tiefer realisiert wurde. Es wurde dabei nichts grundsätzlich anders, aber viel klarer, tiefer, vollständiger. Damit es zu dieser tieferen Realisation kommen konnte, waren diese sechs Jahre der fortschreitenden Ego-Auflösung erforderlich. In der Rückschau sehe ich es so. Ich unterscheide mich hier also nicht von den allermeisten anderen Menschen. An den ersten Augenblick des Erwachens schließt sich eine Entwicklung an, an deren Ende eine weitaus klarere und tiefere Wahrnehmung der Wirklichkeit steht.