Was bedeutet es, ungeteilt zu sein?

Ich habe davon gesprochen, »ungeteilt« zu sein, und ich habe das Erwachen als einen Zustand der Ungeteiltheit beschrieben. Mir ist aber sehr wichtig, dass niemand eine falsche Vorstellung davon bekommt. Ungeteilt sind wir tatsächlich nach dem Erwachen, es ist eine Auswirkung des Erwachens: Wir haben unser wahres Wesen gesehen und realisiert, und dadurch wird alle Trennung und Teilung aufgehoben. Ungeteilt zu sein bedeutet jedoch nicht, dass man jetzt vollkommen oder heilig wäre. Außerdem ist nicht gesagt, dass man nach einem Erwachen nie wieder Trennung und Teilung wahrnimmt. Aber wenn wir erwacht sind, wenn wir frei sind, beschäftigen wir uns nicht mehr unnötig mit solchen Dingen, mit der Frage, wie erwacht wir sind oder nicht sind.

Eines der großen dichterischen Werke der Zen-Tradition endet mit den Worten: »… ohne sich wegen Unvollkommenheit zu ängstigen.« Ungeteilt zu sein hat nichts mit unseren Vorstellungen von Heiligkeit und Vollkommenheit zu tun. Wenn ihr euch mein Leben anschaut, gibt es, glaube ich, genug Anlass zu sagen: »Also, das sieht mir jetzt aber nicht allzu erleuchtet aus. So habe ich mir einen ungeteilten Menschen nicht vorgestellt.« Ich bin mir ziemlich sicher, dass mein Leben in mancher Hinsicht nicht dem entspricht, was sich viele unter Erleuchtung vorstellen. Ich bin nämlich ein ganz normaler Mensch. Erwachen, das bedeutet für mich auch, dass wir unsere Normalität oder Gewöhnlichkeit bejahen und uns darin »nicht ängstigen«.

Aber was man auch über mein Leben und das irgendeines anderen sagen mag, fest steht jedenfalls, dass man Ungeteiltheit nur dann wirklich verstehen kann, wenn sie in einem selbst wach zu werden beginnt. Ich kann euch nur zureden, nicht an irgendwelche Vorstellungen von Vollkommenheit und Heiligkeit zu glauben – sie stehen euch letztlich nur im Weg. Jeder muss für sich selbst herausfinden, was es heißt, ungeteilt zu sein und von einem Standpunkt aus wahrzunehmen und zu handeln, der keine Trennung kennt: aus dem Bewusstsein der Einheit. Jenseits von Liebe und Hass, jenseits von Gut und Böse, jenseits von Richtig und Falsch – was bedeutet das? All das müssen wir für uns selbst herausfinden. Wenn andere in der Ungeteiltheit sind, nützt es uns wenig, uns ein Bild davon zu machen. Für dich kommt es einzig und allein darauf an, wo du bist. Augenblick für Augenblick: Erlebe ich Trennung und Teilung und handle auch so, oder erlebe ich Einheit und handle von dort aus?

Das Erwachen wirkt sich, wie ich bereits gesagt habe, bei jedem anders aus, je nach seiner Konditionierung. Ich bin im Umgang mit meinen Schülern zu einem Vorgehen gelangt, das ich ganz hilfreich finde. Wir betrachten, wie sich das Erwachen in drei Bereichen unseres Lebens auswirkt: auf der mentalen Ebene, die ich als »Ebene des Geistes« bezeichne, auf der emotionalen Ebene oder »Ebene des Herzens« und auf der existenziellen Ebene, der »Ebene des Bauchs« oder der »Eingeweide«. Das Erwachen erfasst uns mit allem, was wir sind, und wir werden die Ungeteiltheit mehr oder weniger ausgeprägt auf den drei genannten Ebenen erleben. Denkt aber bitte daran, dass diese drei Ebenen metaphorisch zu verstehen sind, einfach nur eine Möglichkeit, die Erfahrung irgendwie zu benennen und anschaulich zu machen. So ein gedankliches Modell kann sehr nützlich sein, solange wir es flexibel handhaben und nicht zu eng sehen.

Im Augenblick eines echten Erwachens wird der universale Geist in uns auf einen Schlag und auf allen Ebenen frei. Urplötzlich wird eine Sicht der Dinge, eine Wahrnehmung in uns wach, die sich von allem bisher Gekannten und Erlebten radikal unterscheidet. Anschließend kann es dann sein, dass wir uns auf den verschiedenen Ebenen mehr oder weniger vollständig in dieser neuen Wahrnehmung etablieren – oder eben nicht. Das hat oft etwas von einem Bungee-Seil, das sich sehr weit dehnt und dann zurückschnellt: Gewisse karmische Anlagen und Tendenzen erlauben uns nicht, den erreichten Stand zu halten. Wir schnellen nie ganz auf den Stand zurück, den wir vor dem Erwachen hatten, wir kommen irgendwo zwischen diesem Stand und der maximalen Ausdehnung des Seils zur Ruhe. Das muss nicht auf allen Ebenen unseres Seins gleich oder gleich stark ausgeprägt sein.