Sind wir bereit, alles in Frage zu stellen?

Ich erinnere meine Schüler immer wieder daran, dass ich das, was ich lehre, nicht als »Wahrheitsaussagen« aufgefasst wissen möchte. Die Wahrheit in Worte fassen – das ist ein müßiges Unterfangen. Vor dem Erwachen geraten wir gern auf solche Abwege, wir versuchen die Wahrheit begrifflich zu erfassen und glauben dann an unsere eigenen Vorstellungen. Nein, ich lehre keine Theologie oder Philosophie, sondern versuche Strategien aufzuzeigen – Strategien des Erwachens und Strategien für die Zeit danach.

Meine Worte wollen als Hinweise verstanden werden. Im Zen sagt man: Verwechsle den auf den Mond deutenden Finger nicht mit dem Mond. Selbst wenn wir das hundertmal gehört haben, neigen wir doch dazu, diesen Fehler wieder und wieder zu machen. Ich benutze hier eine Menge Wörter, ich stelle Zusammenhänge her und verwende Metaphern, aber es bleibt stets zu beachten, dass alles, was ich sage, erst wirklich gilt, wenn es realisiert ist. Es muss gelebt werden, erst dann ist es real. Nichts, was ich sage, ersetzt die unmittelbare Erkenntnis dessen, was ihr wahrhaft seid. Dazu braucht es die Bereitschaft, einmal innezuhalten und alles zu hinterfragen: »Weiß ich wirklich all das, was ich zu wissen glaube, oder eigne ich mir nur die Meinungen und Überzeugungen anderer an? Was weiß ich tatsächlich, und was möchte ich lediglich glauben oder mir einbilden? Was weiß ich sicher?«

Das ist eine Frage von gewaltiger Durchschlagkraft: »Was weiß ich sicher?« Lasst euch tief auf diese Frage ein, und sie wird eure Welt aus den Angeln heben. Sie zerstört eure Ich-Vorstellung, und das soll sie auch. Dann geht euch auf, dass alles, was ihr über euch selbst und die Welt zu wissen glaubt, letztlich auf Annahmen, Überzeugungen und Meinungen beruht – auf lauter Dingen, die ihr glaubt, weil sie euch so beigebracht oder als wahr hingestellt wurden. Solange wir diese Fehleinschätzungen nicht als solche erkennen, bleibt unser Bewusstsein im Traumzustand gefangen.

Im gleichen Sinn öffnet sich etwas in uns, sobald wir uns eingestehen: »Meine Güte, eigentlich weiß ich so gut wie nichts. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, was die Welt ist. Ich habe keine Ahnung, ob dies wahr ist oder jenes.« Wir sind bereit für den Schritt ins Unbekannte und die Verunsicherung, die er mit sich bringt, und wir suchen nicht gleich wieder irgendwo Deckung oder Trost – und in dieser Bereitschaft, uns dem Gegenwind zu stellen, erkennen wir endlich, was wir wirklich sind.

»Was weiß ich sicher?« Diese Frage bleibt auch nach dem Erwachen wichtig und ungemein wertvoll. Die Auseinandersetzung mit ihr hilft uns bei der Auflösung hinderlicher Ideen und Fixierungen, die ja mit dem Erwachen nicht einfach verschwinden.

Eure Bereitschaft, diese Frage zu stellen und euch ihr zu stellen und die Antwort sein zu lassen, wie sie nun mal ist – das bleibt immer das Wichtigste, einerlei, an welcher Stelle des Weges ihr seid. Der Umgang mit dieser Frage ist sozusagen das Rückgrat, das Tragende, von dem euer Erwachen und euer Leben nach dem Erwachen abhängt.