Erwachen auf der Bauch-Ebene

Mit »Bauch-Ebene« spreche ich unser tief existenzielles Ich-Gefühl an. Hier stoßen wir auf eine Grundform des Haftens und Haltens, nämlich an unserer Wurzel. Das ist wie eine Faust im Bauch, die grundlegende, primitive Form von Ich-Gefühl. Es ist die Urform des Greifens und Haltens, um die sich alle weiteren Schichten von Ich-Gefühl anlagern.

Wenn Geist oder Bewusstsein sich manifestiert oder Form wird, ist damit ein Schreckmoment verbunden. Bei diesem plötzlichen Übergang von grenzenloser Potenzialität in die begrenzte Form-Erfahrung erschrickt sogar das Bewusstsein selbst. Und das klammernde Gefühl im Bauch ist dieses Erschrecken, wie es sich auf der körperlichen Ebene darstellt.

Ich will versuchen, das etwas anschaulicher zu machen. Stellt euch vor, ihr werdet gerade geboren. Man kommt aus der totalen Geborgenheit einer warmen, nährenden Umgebung, und dann ist man plötzlich in einer wesentlich kälteren Umgebung mit grellem Licht und lauten Stimmen. Jemand packt dich, es wird an dir gezerrt. So lernst du das Leben außerhalb des Mutterleibs kennen. Wer sich das vorzustellen vermag, wird sicher verstehen, wie da ein klammerndes Gefühl im Bauch entstehen kann. Geburt hat etwas Plötzliches und Gewalttätiges, sie ist so unerwartet, dass sich im Bauch alles zusammenkrampfen kann.

Im weiteren Leben gibt es dann noch viele solche Erlebnisse, die zum Gefühl eines Knotens oder Klumpens im Bauch Anlass geben. Kindheit und Jugend halten manches Erschreckende bereit, was uns Anlass gibt, uns angstvoll zu verschließen. Das Klammern auf der Bauch-Ebene wird dadurch weiter verstärkt.

Wie gehen wir damit um? Letzten Endes müssen wir uns mit der in diesem Klammern liegenden Angst auseinandersetzen – es handelt sich nämlich um nichts weiter als eine Angstreaktion. Sie ist wie eine geballte Faust im Bauch und dazu ein Aufschrei: »Nein, nein, nein, nein, nein! Nein zum Leben, nein zum Tod, nein zum Sein, nein zum Nichtsein. Nein! Ich halte fest. Ich klammere. Ich lasse nicht los.«

Sogar eine Bewegung in Richtung Erwachen kann manchmal Angst erzeugen. Das ist oft so. Je näher man dem Erwachen kommt, desto größer wird die Angst. Warum? Weil sich das Klammern im Bauch mit dem Erwachen plötzlich löst. Und nichts garantiert uns, dass die Lösung endgültig ist, vielleicht kommt das Klammern wieder. Bei Menschen, die sich dem Erwachen nähern, ist es oft so, dass sie instinktiv noch mehr als zuvor klammern, als ginge es ihnen an den Kragen. Es ist eine irrationale Angst, von der sie einfach überflutet werden.

Wenn jemand mir von so etwas berichtet, sage ich erst einmal, das sei ganz normal und komme bei fast allen irgendwann einmal vor. »Und es macht nichts: Du wirst lediglich auf ein Klammern aufmerksam, das dir bisher nicht bewusst war.«

An dieser Stelle wird dann gern gefragt: »Wie kann ich das loswerden?« Diese Frage kommt aus dem Ego-Bewusstsein. Das Ego-Bewusstsein möchte immer ganz schnell alles loswerden, was ihm nicht behagt. Aber was man loswerden möchte, das halst man sich natürlich erst recht auf. Das Loswerdenwollen ist selbst das Festhalten. Was man loswerden möchte, dem spricht man ja unwissentlich einen Realitätsgehalt zu. Um es loswerden zu wollen, muss man es erst einmal als real ansehen, und auf diesem Weg versorgt man das, was man loswerden möchte, mit frischer Energie. Es gibt demnach kein Mittel, mit dem man das Klammern abstellen könnte. Die Erkenntnis, dass da nichts zu machen ist, könnte die wichtigste Erkenntnis überhaupt sein.

Mit der Frage »Wie kann ich das loswerden?« fragen wir ja eigentlich »Wie kann ich die Sache in den Griff bekommen?«. Wir möchten also nach wie vor unseren Willen durchsetzen, und dagegen hilft nur: loslassen. Aber wie lässt man das los? Das ist ganz schön vertrackt, denn von unserem Willen zu lassen, das ist ja selbst wieder ein Wollen!

Vermutlich weiß jeder, wie das ist, wenn man loslassen und sich ergeben möchte und sich darum bemüht. Aber loslassen und bemühen gehen einfach nicht zusammen, sondern schließen sich gegenseitig aus. Solange wir uns bemühen, lassen wir nicht los.

Es kommt dann der Punkt, an dem uns alle Techniken im Stich lassen und alles gegenstandslos wird, was wir je über die allmähliche Umstimmung des Bewusstseins zu mehr Klarheit gelernt haben. Unsere Techniken greifen einfach nicht mehr. Schließlich werden wir einsehen müssen, dass es nichts gibt, was »ich« tun kann, um wirklich loszulassen, einfach weil dieses Ich nichts tun kann, um zu lassen. Andererseits ist es absolut notwendig, dass wir lassen und uns ergeben.

Wir müssen dann diese Tatsache einfach an uns heranlassen, dass wir nichts tun können. Wenn uns das wirklich erreicht und trifft, liegt darin eigentlich das Lassen, ein Lassen auf der Ebene des tiefsten existenziellen Ich-Gefühls: Die Faust öffnet sich.

Das kann erst geschehen, wenn man sieht, dass man es nicht machen kann. Du musst mit deinem Latein wirklich am Ende sein. Erst dann kann Ergebung geschehen, aber eben von selbst. Wir können nichts weiter dazu beitragen, als zu sehen, dass alles Haltenwollen vergeblich ist. Alles Halten ist eine verschleierte Form der Ablehnung von uns selbst, unseres wahren Wesens.

Wenn sich das Klammern auf der Bauch-Ebene löst, kann sich das anfühlen, als müsste man sterben. Man stirbt aber nicht. Nur die Illusion des gesonderten Ichs stirbt. Trotzdem, es fühlt sich so an. Und nur wenn du bereit bist, für die Wahrheit zu sterben, kann sich das Klammern wirklich und wahrhaftig lösen.

 

Bevor ich das vertiefe, möchte ich noch etwas erwähnen, was für manch einen wichtig sein könnte. Es gibt Menschen, die sehr viel Schweres erlebt haben, traumatische Ereignisse, die das Klammern auf dieser existenziellen Grundebene noch verstärken. Bei diesen Menschen kann das Klammern extrem werden, wenn sie in die tieferen Bewusstseinsschichten eintauchen. Ein Mensch, bei dem das so ist, darf die Dinge auf keinen Fall forcieren. Vielleicht braucht er für diese Phase des Erwachens spezielle Hilfen. Es kann sein, dass die tiefe Traumatisierung erst einmal aufgearbeitet werden muss, bevor er sie loslassen kann. In dem Fall wäre es gut, jemanden zu finden, der mit so etwas umgehen kann, der weiß, wie man dieser Situation fruchtbar begegnet. Ob das, was man da gesagt bekommt, einen Nutzen für einen hat, weiß man erst, wenn man merkt, dass es funktioniert. Es funktioniert, wenn sich das Klammern auf dieser existenziellen Grundebene zu lösen beginnt.

Das Heranwachsen ist natürlich für uns alle irgendwie traumatisch. Selbst wenn du wunderbare Eltern hattest und alle Umstände fördernd und aufbauend waren, es kommt doch so gut wie immer etwas Traumatisches vor. Das Leben ist als solches traumatisch, könnte man sagen – jedenfalls für ein Ich, das sich als etwas Gesondertes sieht. Das Leben als solches stellt dieses Ich-Gefühl in Frage. Daran ist nichts zu ändern.

Um auf der Bauch-Ebene erwachen zu können, müssen wir uns unseren tiefsten existenziellen Ängsten stellen und sie lösen. Wir müssen uns auch mit unserem persönlichen Willen befassen, der immer etwas hat, was er will, und zwar genau so will, wie er es will. Letztlich ist auch dieser persönliche Wille reine Illusion, was sich spätestens dann zeigt, wenn wir etwas anordnen wollen oder zu lenken versuchen und damit einfach keinen Erfolg haben. Jedenfalls müssen wir uns mit ihm befassen, auch wenn er eine Illusion ist. Das verlangt tiefe Ergebung und Hingabe und vor allem Wahrheitstreue.

Erleuchtung verlangt letztlich, dass wir vollkommen loslassen, auch von unserem persönlichen Willen. Das ist natürlich beängstigend für dieses nur eingebildete Ich, dem überhaupt nicht einleuchtet, weshalb es von seinem persönlichen Willen lassen soll. Wenn wir von unserem persönlichen Willen lassen, setzen wir uns da nicht Gefahren aus? Ohne meinen persönlichen Willen habe ich doch keine Chance, zu bekommen, was ich möchte, die Welt wird sich meinen Wünschen nicht fügen, und nichts wird je so laufen, wie ich möchte.

Am Ende werden wir sehen, dass das nichts als lauter Gedanken sind. Letztlich gibt es nämlich gar keinen persönlichen Willen, aber solange wir das nicht erkennen, müssen wir uns damit auseinandersetzen.

Hier lernen wir die Weisheit der Desillusionierung kennen. In dieser Ernüchterung nähern wir uns dem Ende dessen, was wir als unser persönliches Wollen erlebt haben, und erst wenn dieses Ende erreicht ist, kann es zu einer Transformation kommen.

Wer je süchtig war und dann von Drogen oder Alkohol losgekommen ist, der weiß, dass die Ernüchterung über das persönliche Wollen sehr wichtig für das Erreichen der Nüchternheit ist. Man erfährt unmissverständlich, dass der persönliche Wille nichts gegen die Sucht ausrichtet. So stark ist der Wille einfach nicht, und allein schafft man es sowieso nicht. Wenn ein Süchtiger auf dem Tiefpunkt ist, bedeutet das eigentlich, dass sein persönlicher Wille in sich zusammengebrochen ist – und dann erst kann eine ganz andere Kraft einströmen. Ich meine die Kraft des universalen Geistes, die jetzt endlich wirken kann, weil wir sie nicht länger durch das Festhalten an unserem persönlichen Willen von uns fernhalten.

Wir alle stoßen im Verlauf unseres Erwachens an die Grenzen unseres persönlichen Wollens, und bei den meisten muss das immer wieder und immer tiefer geschehen, bis der persönliche Wille schließlich abgelegt ist.

Doch das ist letztlich kein Verlust. Es ist nicht so, dass wir dann nicht mehr wissen, was zu tun ist und wie es zu tun ist, so dass wir jedermanns Fußabtreter werden. Ganz im Gegenteil. Nachdem wir die Illusion des persönlichen Willens fallengelassen haben, kommt es zu einer Art Wiedergeburt, durch die ein neues Bewusstsein in uns entsteht. Es ist fast wie eine Auferstehung, die aus uns selbst kommt. Das lässt sich sehr schwer in Worte fassen, aber es läuft darauf hinaus, dass wir zunehmend von der Ganzheit des Lebens selbst gelenkt und bewegt werden.

Diese Art von Dynamik beschreibt die taoistische Tradition besonders sinnfällig, in der es vor allem darum geht, wie sich das Tao oder das wahre Sein der Dinge durch uns bekundet. Wenn man das Tao Te King liest oder sich mit der taoistischen Lehre befasst, bekommt man einen Eindruck davon, wie es aussehen kann, vom eigenen Willen mehr und mehr zu lassen und sich dem großen Strom anzuvertrauen.

Wir geben das Steuer aus der Hand und stellen fest, dass das Leben ganz gut selbst steuern kann – und es eigentlich auch schon immer getan hat. Wenn wir den Platz am Steuer räumen, tut sich das Leben so viel leichter, es fließt, es strömt, wie wir es uns nie hätten träumen lassen. Die Illusion eines Ichs behindert es nicht mehr. Das Leben fließt, und man weiß nie, wohin es einen trägt.

Leute, die von ihrem persönlichen Willen verlassen werden, höre ich oft sagen: »Ich weiß nicht mehr, wie ich überhaupt noch etwas entscheiden soll.« Sie sind einfach nicht mehr so sehr von ihrem persönlichen Standpunkt beherrscht. In ihrem Leben treten jetzt andere Gesichtspunkte in den Vordergrund, und es geht eigentlich nicht mehr um diese Entscheidung oder jene Entscheidung, um richtige oder falsche Entscheidungen. Wir sind in einer Strömung und folgen ihr. Die Dinge bewegen sich von selbst voran, und wir lassen uns bei allem, was gerade zu tun ist, von unserem Gefühl leiten. Es hat etwas von einem Fluss, der weiß, wie er einen Felsen passieren kann, linksherum oder rechtsherum. Es ist ein von innen kommendes intuitives Wissen.

Wir könnten immer in diesem Fluss sein, aber meist sind wir zu sehr in unsere Gedankengänge verwickelt, als dass wir den schlichten natürlichen Fluss des Lebens fühlen könnten. Aber unter dem Wirrwarr der Gefühle und Gedanken, unter dem persönlichen Willen mit seinem Halten und Steuern ist dieser Fluss tatsächlich vorhanden. Er ist einfach die Bewegung des Lebens selbst.

Der vor einigen Jahren verstorbene Jesuitenpriester Anthony de Mello hat eine, wie ich finde, besonders schöne Definition für »Erleuchtung« gefunden. Als er gebeten wurde, seine eigene Erleuchtung zu beschreiben, sagte er: »Erleuchtung ist absolute Kooperation mit dem Unvermeidlichen.« Was mir daran so gut gefällt, ist die Tatsache, dass Erleuchtung nicht einfach als eine Erkenntnis oder Offenbarung beschrieben wird, sondern als ein Tun. Wenn sich alles in uns dem Strom des Lebens zur Verfügung stellt, dem »Unvermeidlichen«, dann ist das Erleuchtung.

Ein Gespür für das Unvermeidliche, für die Richtung, die das Leben nehmen möchte, bekommen wir, sobald wir innerlich nicht mehr so geteilt oder zerrissen sind. Dann fragen wir nicht mehr: »Ist dies der richtige Weg? Woran erkenne ich, ob es der richtige oder der falsche ist?« Solche Fragen verstellen uns eigentlich nur den Blick. Es geht um etwas viel Einfacheres, es gilt zu sehen, wohin das Leben selbst möchte.

All das erschließt sich uns, wenn wir unser persönliches Wollen abgeben, wenn wir uns der Angst im Bauch stellen und das Gefürchtete aufrichtig bejahen. Wir sagen ja zum Leben, ja zum Tod, ja zur Auflösung unseres Egos – unser Kämpfen und Ringen hat ein Ende. Unser Weg durchs Leben ändert sich grundsätzlich. Der Strom selbst bestimmt unseren Kurs – nicht mehr unsere Gedanken und Vorstellungen, nicht mehr die Frage, was wir sollen oder nicht sollen, was richtig oder falsch ist. Der Strom bleibt immer überraschend. Er ist der Lauf des Einen, er leitet uns liebevoll zu dem, was heilt, er führt Dinge zusammen, die wir nie für möglich gehalten hätten.