»Ich bin wach, aber …«

Nicht wenige kommen zu mir und sagen: »Adya, ich bin wach, aber …« Sobald sie »aber« sagen, weiß ich als Lehrer natürlich, dass sie in dem Augenblick eben nicht wach sind. Vielleicht sind sie für Augenblicke aus der Enge der Dualität ausgebrochen und haben die Wahrheit geschmeckt, aber es ist kein dauerhaftes Erwachen, und sie sind auch jetzt nicht wach.

Beim Erwachen zählt nur das, was hier und jetzt der Fall ist. Das Gestrige hat nicht gar so viel mit dem zu tun, was heute geschieht. Die interessante Frage lautet demnach nicht: »Habe ich ein Erwachen erlebt?« Sie lautet vielmehr: »Ist das Erwachen hier und jetzt wach?«

Wenn also jemand zu mir kommt und berichtet, er oder sie habe ein Erwachen erlebt, klären wir erst einmal gemeinsam, ob das Denken dieses Erwachen bereits vereinnahmt hat. Wenn der Betreffende nämlich sagen will, er habe als ein Ich das Erwachen erlebt, kann es sich nur um eine weitere Illusion handeln. Bei einem echten Erwachen wissen wir, dass da kein Ich erwacht ist. Es war vielmehr ein Erwachen vom Ich, der universale Geist erwachte aus seiner Identifikation mit dem Ego-Ich.

Ein Ich erwacht nicht. Wir sind nicht das Ich oder Ego. Was wir wahrhaft sind, nimmt das Ich in wacher Bewusstheit wahr, nimmt die Welt in wacher Bewusstheit wahr – und vom Standpunkt der Wahrheit aus sind wir sogar die ganze Welt.

Als Lehrer möchte ich also zunächst herausfinden, ob jemand das Erwachen seinem Ich zuschreibt. Glaubt derjenige wirklich: »Ich bin erwacht?« Natürlich benutzen wir zur alltäglichen Verständigung Wörter wie »ich« und »mich«, und das ist auch ganz in Ordnung so. Aber als Lehrer muss ich zunächst einmal klarstellen – und jeder sollte das sofort für sich selbst klarstellen –, dass beim Erwachen kein Ich erwacht. Wachheit ist Aufwachen vom Ich.

Oder wie ich auch gern sage: »Die Erleuchtung wird erleuchtet.« Das Ich wird nicht erleuchtet, die Person wird nicht erleuchtet, die Erleuchtung wird erleuchtet. Das kann schwer zu erfassen sein, solange man es nicht erlebt hat, aber so ist es ja mit allen spirituellen Dingen: Alles muss sich in einem selbst bewahrheiten.

Die Erfahrung »wie gewonnen, so zerronnen« ist Anzeichen eines Tauziehens, wie man es nennen könnte, zwischen unserem wahren Wesen und unserem verblendeten Ich-Gefühl. Sie zeigt an, dass unser Bewusstsein das Gravitationsfeld des Ego-Traums noch nicht hinter sich gelassen hat, und so schwanken wir zwischen unserem wahren Wesen und unserem imaginären Ich-Gefühl hin und her, hin und her, hin und her.

Das kann sehr beunruhigend sein, wir fühlen uns irgendwie zerrissen, wenn nicht gespalten. Wir haben einen Blick in die tiefere Realität der Dinge getan, und dann sind wir auf einmal wieder im Traumzustand. Etwas in uns weiß noch um die tiefere Realität, es weiß, dass das Ich-Gebilde nicht die Wahrheit ist, es weiß, dass die Glaubenssätze und Deutungen des Verstandes einfach ein Traum sind. Aber die Anziehungskraft des Traumzustands kann trotzdem sehr stark bleiben, so dass wir zwar irgendwie um unser wahres Wesen wissen, aber trotzdem weiterhin an das Ich glauben. Manchmal wissen wir, dass an einem Gedanken überhaupt nichts dran ist, dass er vollkommen falsch ist, und glauben trotzdem weiterhin an ihn.

Vor dem Erwachen haben wir dies oder jenes einfach geglaubt oder eben nicht, und das war dann alles. Entweder dies oder das. Aber nach einem Augenblick des Erwachens werden die Dinge merkwürdig unklar. Dann kann es sein, dass wir einem Gedanken sowohl glauben als auch nicht glauben, beides zugleich. Oder wir tun etwas, wovon wir wissen, dass es nicht aus der Einheit und Ungeteiltheit stammt, die wir gesehen haben. Etwas scheint uns da zu reiten und zu einem Verhalten anzustacheln, das nicht unserer Erkenntnis der Wahrheit entspricht.

Das kommt in unzähligen Erscheinungsformen vor. Wer sich in meiner Darstellung wiedererkennt, dem sage ich, dass an dieser Sache wirklich nichts Ungewöhnliches ist. Trotzdem kann sie natürlich Verwirrung stiften. Es kommt einem so vor, als wäre man weit hinter den bereits erreichten Entwicklungsstand zurückgefallen. Wir kann es sein, dass man etwas glaubt und zugleich nicht glaubt? Wie ist es möglich, dass man im Gespräch mit jemandem Dinge sagt, von denen man weiß, dass sie vom Ego kommen – und man sagt sie trotzdem? Das ist schon sehr befremdlich, wenn nicht peinlich.

Manch einer denkt dann, er habe einen Riesenfehler gemacht oder irgendetwas sei total schiefgegangen. Aber da ist nichts schiefgegangen, es ist wirklich wichtig, sich das vor Augen zu führen. Es trifft nicht zu, dass ein Fehler gemacht wurde. Es handelt sich einfach um die nächste Phase des Erwachens, den Fortgang der Entwicklung. Um es zu wiederholen, es kommt nicht oft vor, dass jemand aufwacht und es sich dann gleich um ein bleibendes Erwachen handelt. Das gibt es zwar, aber es ist nicht annähernd so häufig wie die andere Verlaufsform, bei der sich eine Phase des Schwankens anschließt.

Wenn es schwankt, werden manche Lehrer sagen, kann es kein richtiges Erwachen gewesen sein. Ich stimme da nicht zu, und es dürfte inzwischen klar sein, weshalb nicht. Wenn wir die Wahrheit gesehen haben, haben wir sie gesehen. Und ob wir sie zwei Sekunden oder zwei Jahrtausende lang gesehen haben, die Wahrheit ist die Wahrheit.