Erwachen auf der Ebene des Herzens

Mit dem Wort »Herz« spreche ich das Ganze unserer Emotionalität an, also das, was auch der »emotionale Körper« genannt wird. Wach zu sein bedeutet hier, dass wir unsere Identität nicht mehr von dem ableiten, was wir fühlen und wie wir es fühlen. Wir können uns gut fühlen oder schlecht, gesund oder krank, wach oder schläfrig, aber wir leiten aus dem, was wir erleben, kein Ich-Gefühl mehr ab.

Bisher war unser Ich-Gefühl eng mit unserem Fühlen verflochten. Schon aus unserer Ausdrucksweise, zum Beispiel in »Ich bin wütend«, geht hervor, dass wir uns in diesem Augenblick mit dem identifizieren, was wir gerade fühlen – unser Ich-Gefühl verschmilzt mit der Emotion. Natürlich ist es nicht wirklich so. Eine Gefühlsregung, die durch unseren Körper geht, kann unmöglich das sein, was wir sind.

Wenn wir auf der Ebene der Emotionen erwachen, geht uns auf, dass wir aus unserem Fühlen kaum ableiten können, wer oder was wir sind. Unsere Gefühle sagen uns nur, was wir fühlen, weiter nichts. Wir müssen unsere Gefühle nicht beschönigen oder verleugnen, aber sie sind eben auch nicht das, was wir sind. Ohne eine emotionale Definition unserer selbst entlasten wir unser Ich-Gefühl von unseren Emotionen, das heißt von den widerstreitenden Gefühlen, die sich auf dieser Ebene abspielen.

Für die meisten Menschen ist es geradezu eine Revolution, sich nicht mehr anhand ihrer Gefühle zu definieren. Das erreichen wir natürlich nicht dadurch, dass wir uns an unseren Gefühlen vorbeidrücken. Unsere Gefühlsregungen lassen uns vielmehr sehr genau wissen, wo es bei uns noch fehlt und was wir noch nicht durchschaut haben. Unser emotionaler Körper ist ein wunderbarer »Wahrheitsmesser«: Sobald wir uns auf emotionale Spaltungs-Regungen wie Neid, Eifersucht, Habgier, Schuldzuweisungen, Scham und so weiter einlassen, spüren wir das sehr genau. Solche Spaltungs-Regungen sind wie kleine Warnlampen, die uns daran erinnern, dass wir gerade nicht das wahre Wesen der Dinge wahrnehmen.

Wenn wir aufgewühlt sind, erkennen wir daran sofort, dass wir eine unbewusste Überzeugung hegen, die nicht zutrifft. Unser Kopf hat sich da etwas zurechtgelegt, vielleicht eben erst, vielleicht schon vor langer Zeit. Sicher wissen wir nur, dass er sich etwas zurechtgelegt hat, was uns in ein Gefühlschaos stürzt.

Der emotionale Körper ist ein großartiger Zugang zu allem, was noch gesehen werden muss – jede Illusion und alles, was ein Gefühl von Getrenntheit hervorruft, findet hier seinen Niederschlag. Wenn wir emotional instabil sind und leicht die Balance verlieren, müssen wir uns wirklich darum kümmern, wie es um unser Gefühlsleben bestellt ist. Damit meine ich aber nicht den therapeutischen Ansatz, ich meine nicht die analytische Betrachtung unserer Gefühle; das mag bei manch einem angebracht und hilfreich sein, ist aber nicht das, wovon ich hier spreche. Mir geht es um eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem emotionalen Körper, und in diesem Zusammenhang ist die entscheidende Frage die nach dem Wesen von Angst und Zorn. Wenn sich unsere Gefühle verkrampfen, was geschieht dann?

Die meisten unserer sogenannten negativen Gefühlsregungen lassen sich auf Ärger oder Angst oder auf deren Kombination mit mentalen Urteilen zurückführen. Zu den Urteilen kommt es dann, wenn wir unseren Gedanken Glauben schenken. Unser Gefühlsleben und unser Denken sind nicht wirklich zweierlei, sie sind ein Ganzes. Unsere Gefühle offenbaren, was wir unbewusst denken. Wir reagieren emotional auf Gedanken, die uns oft nicht einmal bewusst sind – und so manifestieren sich unbewusste Gedanken eben doch in der äußeren Wirklichkeit.

Die Leute kommen oft mit Gefühlen zu mir, die ihnen zu schaffen machen. Das kann Angst, Ärger, Groll, Eifersucht und vieles andere sein. Um solche Gefühle zu lösen, muss man herausfinden, was für ein Weltbild hinter ihnen steht. Was würde das Gefühl sagen, wenn es sprechen könnte? Was für Überzeugungen bringt es zum Ausdruck? Und was für Urteile?

Dabei geht es eigentlich um die Frage, auf welchem Weg sich dieser Mensch in die emotionale Verfassung der Teilung hat hineinziehen lassen. Wie ich bereits erwähnt habe, neigen wir zu negativen Gefühlsregungen, sobald wir die Dinge aus der Perspektive der Trennung wahrnehmen. Gefühle sind ein eindeutiger und zuverlässiger Hinweis darauf, dass wir die Dinge unter dem Gesichtspunkt der Trennung oder Teilung betrachten. Immer wenn wir in diese Verfassung geraten, spüren wir das gleich an einem gewissen emotionalen Unbehagen, und das kann das Signal sein, das uns aufmerken lässt. Wenn man dieses Unbehagen fühlt, kann man sich sofort fragen: »Inwiefern gehe ich jetzt gerade in die Teilung? Woher kommt eben jetzt dieses Gefühl von Trennung und Isolation, dieses Gefühl, etwas schützen zu müssen? Was glaube ich da? Welche Schlüsse habe ich gezogen, die sich jetzt in meinem Körper bemerkbar machen und in meinen Gefühlen niederschlagen?«

Gedanken und Gefühle sind insofern verbunden, als sie Ausdruck ein und derselben Sache sind. Sie lassen sich nicht trennen. Wenn also jemand mit unguten Gefühlen zu mir kommt, fordere ich ihn auf, den Gedanken zu benennen, der dahintersteht. Manchmal bekomme ich zu hören, es gebe da keinen Gedanken. Dann fordere ich den Betreffenden auf, einfach mit dieser Regung zu sitzen, also darüber zu meditieren. Wenn das Gefühl sprechen könnte, was würde es sagen?

Ein ums andere Mal zeigt sich dann, dass die Leute nach einem Tag oder zwei Tagen oder einer Woche dieser Betrachtung zu einem Aha-Erlebnis kommen. Dann erscheinen sie wieder bei mir und sagen: »Adya, ich habe wirklich geglaubt, dass mit meinen Gefühlen kein Gedanke verbunden ist. Aber als ich dann wirklich still wurde und mich ganz darauf eingelassen habe, konnte ich die Story hören, die Gedanken, aus denen die Gefühle hervorgehen.«

Hat man die Gedanken gefunden, die die Gefühle hervorbringen, kann man sich fragen, was genau der Gedanke besagt und ob er zutrifft. Es kann sich natürlich nur ergeben, dass kein Trennung erzeugender Gedanke zutrifft.

Man erschrickt da erst einmal, schließlich sind wir alle in einer Welt aufgewachsen, in der gewisse negative Empfindungen als gerechtfertigt gelten. Das Gefühl, ein Opfer zu sein, ist ein gutes Beispiel. Wir sagen: »Also, das und das ist mir passiert und dieser oder jener hat mir etwas getan. Ich bin ein Opfer der Menschen oder der Umstände.« Dann stimmen wir womöglich unser gesamtes intellektuelles und emotionales Leben auf diesen Glaubenssatz ab, dass wir ein Opfer sind. Aber wenn man es genau betrachtet, ist das nichts weiter als der Weg, der uns in die Trennung führt. In Wirklichkeit gibt es keine Opfer, in Wirklichkeit liegen die Dinge ganz anders. Wir denken vielleicht: »Das hätte er oder sie nicht zu mir sagen sollen«, aber tatsächlich ist es eben passiert. Wenn der Kopf meint, etwas, das passiert ist, dürfe nicht sein, entsteht eine innere Spaltung, ein Zwiespalt. Das geschieht augenblicklich. Und weshalb? Weil wir im Kampf mit der Realität liegen.

Und das ist immer so: Sobald wir, aus welchem Grund auch immer, gegen die Realität aufbegehren, spalten wir uns ab. Anders kann es nicht sein. Realität ist einfach das, was ist. Wenn wir innerlich urteilend oder verurteilend dagegen angehen, spalten wir uns von der Wirklichkeit ab.

Nun wird uns aber beigebracht, dass es ganz natürlich ist, zu bestimmten Dingen in Opposition zu gehen. Wer sich nicht gegen gewisse Dinge stellt, gegen die eigenen Leiden und gegen die Leiden anderer, der ist realitätsblind. Es ist, als würde uns suggeriert, dass wir herzlos sind, wenn wir gegen gewisse Vorkommnisse nicht entschieden opponieren.

Aber das ist eine der Überraschungen, einer der Schreckmomente, die uns in den Gefilden der tieferen Erkenntnis erwarten: Es ist nicht ratsam, sich mit der Realität anzulegen, da ziehen wir immer den Kürzeren. Streit mit der Realität – wer leiden möchte, kann kaum ein besseres Rezept finden.

Zu allem Überfluss müssen wir dann auch noch feststellen, dass unsere Opposition uns genau an das fesselt, wogegen wir uns verwahren. Wir fesseln uns an das, wogegen wir uns stemmen, mag es vor dreißig Jahren oder gestern früh passiert sein. Und dann erleben wir diesen Schmerz immer und immer wieder. Wenn wir mit etwas hadern, hilft es uns nicht, damit zurechtzukommen oder es hinter uns zu lassen. Vielmehr fesseln wir uns selbst damit, denn eben durch unser Hadern binden wir uns an die Sache.

Es überrascht uns wirklich, wenn wir erkennen, dass unser Hadern mit dem, was ist oder war, völlig unbegründet ist, nämlich einfach ein Aspekt des Traumzustands. Es genügt natürlich nicht, das zu sagen oder von jemandem gesagt zu bekommen. Jeder muss sich selbst davon überzeugen, jeder muss einen Blick in sein Gefühlsleben tun und sich all das bewusst machen, was ihn in die Spaltung und Trennung treiben kann. Nehmen wir unsere Gefühlsregungen einfach, wie sie sind, fragen wir, ob sie zutreffen, um dann still über sie zu meditieren, damit sich die tieferen Wahrheiten zeigen können.

Das ist wie gesagt kein analytischer Prozess. Wahres Forschen findet auf der Ebene des Erlebens statt. Es geht auch nicht darum, irgendetwas zu unterbinden; wahres Forschen ist vielmehr auf die Wahrheit und sonst nichts aus. Es will uns nicht heilen, es will uns keine unangenehmen Gefühle ersparen. Der Wunsch, nicht zu leiden, taugt nicht als einziger Antrieb für dieses fragende Forschen. Dass wir nicht leiden möchten, ist nur zu verständlich, aber es muss noch etwas anderes dazukommen, nämlich der Wunsch und die Bereitschaft, die Wahrheit zu sehen: zu sehen, wie wir uns selbst alle Konflikte aufbürden.

Niemand außer uns selbst beschert uns Konflikte, nichts und niemand besitzt die Macht, uns Konflikte aufzubürden, und wenn wir das verstanden haben, sind Gefühle ein Weg und ein Zugang. Sie fordern uns auf, tiefer zu blicken und den erwachten Standpunkt einzunehmen. Das ist ein Zustand, in dem nicht mehr versucht wird, etwas zu ändern, weil es da nur noch um die Wahrheit geht.

Vielleicht entnehmt ihr meinen Worten, dass negative Gefühlsregungen grundsätzlich auf eine Teilung oder Spaltung hindeuten. Aber so ist es nicht. Man kann traurig sein, ohne sich getrennt zu fühlen. Man kann Kummer haben, ohne geteilt zu sein. Man kann sogar bis zu einem gewissen Grad ärgerlich sein, ohne geteilt zu sein. Die abendländische Kultur bietet uns nicht viel Hintergrund für solche Gedanken, aber der Osten kennt ein ganzes Pantheon sogenannter »rasender« Gottheiten. In der hinduistischen und tibetischen Ikonografie beispielsweise sitzen die Personifikationen des Göttlichen keineswegs immer selig lächelnd auf einem Lotos-Thron in ihren Paradiesen. Vielmehr ist die Spiritualität hier und anderswo auch von den menschlichen Emotionen geprägt. Ich will damit sagen, dass das bloße Vorhandensein negativer Gefühlsregungen beziehungsweise von uns so empfundener Gefühlsregungen nicht bereits klarstellt, dass es sich nur um Illusionen handeln kann. Es kommt vielmehr darauf an, ob eine Gefühlsregung der Teilung entspringt. Wenn das der Fall ist, steckt eine Illusion dahinter. Wenn sich aber nach intensiver Selbsterforschung herausstellt, dass ein Gefühl nicht aus der Gespaltenheit kommt, dann beruht es auch nicht auf einer Illusion. Kurz, Gefühle sind nicht per se problematisch, wir können ihnen Raum geben, wir können die Winde der unterschiedlichsten Gefühlsregungen in uns wehen lassen. Wenn also in diesem Zusammenhang von Freiheit die Rede ist, kann nur die Freiheit von Gefühlen gemeint sein, die der Geteiltheit entspringen.