Kapitel 11

Gut für die Gesellschaft

Die transzendenten Wurzeln säkularer Werte

 

Wenn man also den Glauben der Menschheit an
die eigene Unsterblichkeit vernichtete, würde in
ihr sofort nicht nur die Liebe versiegen, sondern
auch jede lebendige Kraft, das irdische Leben
fortzusetzen.
1

Fjodor Dostojewski, Die Brüder Karamasow

 

 

Als ich in New York mit Christopher Hitchens über die Frage »Ist das Christentum ein Problem?« diskutierte – eine lebhafte Auseinandersetzung mit einem einfallsreichen Kontrahenten –, kam eine der interessantesten Fragen von einem Mann, der aus dem Inselstaat Tonga stammte. Jahrhundertelang, so berichtete der Mann, habe Tonga unter entsetzlichen Blutfehden, Stammeskriegen und sogar Kannibalismus gelitten. Dann kamen die Missionare mit ihren Lehren von Gott, universeller Brüderlichkeit und dem Leben nach dem Tod. Heute, so berichtete er, sei Tonga ein Ort, an dem es sehr viel mehr Frieden und Glück gebe. An Hitchens gewandt, sagte der Mann: »Sie haben uns einige interessante Theorien vorgestellt, aber was haben Sie uns anzubieten?« Hitchens war einen Moment sprachlos. Was ihn und das Publikum verblüfte, war die schiere Schlichtheit der Frage. Dem Mann ging es nicht um die Feinheiten der Lehre; er wollte letztlich nur wissen, welcher Ansatz das Leben für ihn und sein Volk verbesserte. Das ist die pragmatische Frage, und mit ihr wollen wir uns in den nächsten beiden Kapiteln beschäftigen.

Wir haben schon festgestellt, dass viel für ein Leben nach dem Tod spricht. Aber dabei handelt es sich eher um Indizien als um zweifelsfreie Beweise. Also was nun? Wie überqueren wir die Brücke von der Wahrscheinlichkeit zur Gewissheit? Ich möchte vorschlagen, das auf der Grundlage pragmatischer Erwägungen zu tun. Wir müssen fragen, ob der Glaube an Transzendenz und ein Leben nach dem Tod gut für unsere Gesellschaft und gut für uns als Individuen ist. Hier gehe ich auf die gesellschaftlichen Folgen des Glaubens ein. Die meisten Menschen im Westen glauben seit zweitausend Jahren an ein Leben nach dem Tod, und so lässt sich der Einfluss dieser Vorstellung auf die westliche Geschichte nachvollziehen. Ich will demonstrieren, dass die Idee der Ewigkeit sehr gut für uns war; sie hat unser Leben im Hier und Jetzt enorm verbessert. Sogar die tiefsten Wertvorstellungen der Atheisten sind durch diese transzendenten Ideale geprägt.

Manche Leute staunen vielleicht über diese Behauptung. Wir sind daran gewöhnt, dass Daniel Dennett beharrlich erklärt, der Glaube an eine Belohnung im Himmel motiviere bisweilen »Akte von monströser Bösartigkeit«, oder dass Richard Dawkins die »abwertenden Effekte der Religion auf das menschliche Leben« kritisiert.2 Im Windschatten des 11. September 2001 und der weltweiten Ausbreitung terroristischer Attentate haben Atheisten das Schreckgespenst islamistischer Gewaltakte an die Wand gemalt, hinter denen die Motivation steht, auf direktem Weg in den Himmel zu gelangen und dort die Gesellschaft der schönsten Jungfrauen zu genießen. Atheisten gehen auch von der Annahme aus, dass diese Gefahren in der Religion selbst angelegt sind. Aber Untersuchungen haben gezeigt, dass selbst radikale Moslems keine Selbstmordattentate begehen, weil sie in den Himmel kommen wollen; ihre Motive sind gewöhnlich sehr viel weltlicher: Sie sind in unser Hoheitsgebiet eingedrungen, sie haben unser Land gestohlen, sie korrumpieren unsere Kultur, sie haben meine Schwester vergewaltigt und getötet – und so weiter.3 Selbstmordattentate haben als modernes Phänomen mit den Japanern begonnen, und die Kamikazeflieger waren keineswegs von der Aussicht auf das Paradies motiviert, sondern von ihrer fanatischen Loyalität gegenüber dem Kaiser. Auch die tamilischen Tiger sind in ihrem verzweifelten Kampf um Land und Selbstbestimmung zu Selbstmordattentätern geworden. Wenn der religiöse Glaube an ein Leben nach dem Tod die Quelle des Terrorismus ist, wo sind dann die buddhistischen Selbstmordattentäter? Niemand ist bisher einem christlichen Bin Laden begegnet, und es gibt auch kein christliches Äquivalent zu El Kaida oder zur Hisbollah und keine christliche »Nation von Märtyrern«, die an den Iran nach Khomeini erinnern würde. Die überwiegende Mehrheit der Menschen in aller Welt glaubt an ein Leben nach dem Tod, doch kaum einer von ihnen begeht Selbstmordattentate in der Hoffnung, dadurch schneller die himmlische Glückseligkeit zu erlangen. Ich persönlich glaube, dass die islamistischen Selbstmordattentäter nicht von schönen Jungfrauen im Paradies, sondern eher von großen behaarten Kerlen mit Tattoos bedient werden … Die Aussicht auf ein Leben nach dem Tod dürfte allenfalls marginal die Neigung radikaler Moslems zu Terrorakten fördern, aber sie stellt kaum eine Gefahr für die globale Stabilität oder den Frieden dar.

Damit erweist sich der atheistische Versuch, die Religion für die Verbrechen der radikalen Moslems verantwortlich zu machen, als Fehlschlag. Darüber hinaus gibt es jedoch eine umfassendere Kritik, die darauf abzielt, dass die Vorstellung eines ewigen Lebens die Bindung der Menschen an dieses Leben lockert. Die Kritiker unterstellen, dass der Glaube an die nächste Welt von den drängenden Aufgaben ablenkt, unsere hiesige Welt zu verbessern. »Andersweltlichkeit«, schreibt der deutschamerikanische Philosoph Walter Kaufmann, »ist das Kind der Ernüchterung über diese Welt.«4 Aus dieser Sicht ist das Leben nach dem Tod ein »Anti-Leben«. Das scheint der Impuls zu sein, der hinter dem harten Untertitel von Hitchens Buch (Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet) steckt. Und Hitchens ist längst nicht der Erste, der diese Meinung vertritt.

Mitte des 19. Jahrhunderts hat der Philosoph Ludwig Andreas Feuerbach behauptet, der Mensch teile alles in Gut und Böse ein. Dann würde er das Gute Gott zuschreiben: von grenzenloser Macht über die Fähigkeit, Unsterblichkeit zu verleihen, bis hin zur grenzenlosen Tugend und Schönheit. Das Schlechte, von Hilflosigkeit über Hässlichkeit bis hin zur moralischen Korruption, würde der Mensch auf sich selbst beziehen. Aus dieser Sicht ist Gott eine menschliche Projektion und das Leben nach dem Tod ein Traumbild von der Art und Weise, wie die Dinge sein sollten; nur vergisst der Mensch irgendwann seinen Traum und beginnt, ihn für die Wirklichkeit zu halten. Unterdessen, so schrieb Feuerbach, verbringen wir ein kurzes, jämmerliches und elendes Leben in dieser Welt, und wir geben uns selbst die Schuld daran. Feuerbach erklärte, sein Ziel bestehe darin, »uns aus Gottesfreunden zu Menschenfreunden, aus Gläubigen zu Denkern, aus Betern zu Arbeitern, aus Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits, aus Christen, welche ihrem eigenen Bekenntnis und Geständnis zufolge ›halb Tier, halb Engel‹ sind, zu Menschen, zu ganzen Menschen zu machen«. Gott und die Unsterblichkeit abzulehnen ist für ihn der notwendige Schritt, damit der Mensch wieder zu seiner eigenen Schönheit, Stärke und Größe findet. Außerdem müssen wir die nächste Welt aufgeben, damit wir in dieser gedeihen können.5

Ungefähr um dieselbe Zeit präsentierte Karl Marx seine eigene Version dieser Philosophie. Während Feuerbach davon ausging, dass der Glaube an Gott und ein Leben nach dem Tod Wahrheiten über unsere eigene Psychologie spiegelt, behauptete Marx beharrlich, er würde die Wahrheit über unsere soziale Situation spiegeln. 1844 schrieb er die berühmten Worte: »Das religiöse Elend ist in einem Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.« Marx gilt häufig als unversöhnlicher Feind des religiösen Glaubens, doch seine Analyse ist sehr viel wohlwollender, als sein Ruf vermuten lässt. Marx argumentierte, dass die Menschen, wenn sie leiden, in der Religion Trost suchen, und dass die Religion sie tatsächlich tröstet, ihre Aufmerksamkeit aber auch von der Welt und deren ökonomischen Übeln ablenkt. Auf diese Weise werde die Religion zum Feind der sozialen Gerechtigkeit. Marx kommt zu dem Schluss: »Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks.«6 Marxens Auforderung, die nächste Welt dadurch zu verdrängen, dass man in dieser Welt eine Utopie umsetzt, wurde von Lenin und vielen seiner kommunistischen Nachfolger angenommen und mit Gewalt umgesetzt. Diese Despoten machten den Atheismus in der ehemaligen Sowjetunion und anderen marxistisch regierten Ländern zur Staatsreligion. In den letzten hundert Jahren haben derartige Regime, geführt von Leuten wie Stalin, Mao, Pol Pot, Ceauçescu, Hoxha, Castro, Kim Jong-il und anderen, mehr als hundert Millionen Menschen ermordet. An diese Zahl reicht sogar Bin Laden in seinen kühnsten Träumen nicht heran.

Richard Dawkins versucht die Verbrechen der atheistischen Regime kleinzureden, indem er argumentiert: »Einzelne Atheisten können scheußliche Dinge tun, aber nicht im Namen des Atheismus.«7 Dawkins ist ein angesehener Biologe, aber so etwas kann wohl gelegentlich passieren, wenn man einem Biologen erlaubt, das Labor zu verlassen. Ofensichtlich hat der gute Mann nicht so viel Ahnung von der Geschichte. Er bräuchte nur einen Blick in Marxens Schriften zu riskieren, um festzustellen, dass Atheismus und Kommunismus nicht zufällig in einem Atemzug genannt werden: Der Atheismus ist absolut zentral für den Kommunismus. Wenn wir uns also vor Islamisten hüten müssen, die auf ihrer Suche nach dem Paradies als Attentäter Flugzeuge in Gebäude lenken, dann müssen wir uns genauso vor atheistischen Fanatikern hüten, die Millionen Menschen ermorden, um ihre Version eines irdischen Paradieses durchzusetzen.

Wir wollen unsere Untersuchung auf die größere Frage ausdehnen, ob der Glaube an Gott und ein Leben nach dem Tod gegen das irdische Leben gerichtet ist und »alles vergiftet«. Und sofort müssen wir fragen: Hat dieser Glaube Menschen wie Dante, Shakespeare und Milton vergiftet? Hat er Maler wie Raffael und Tizian kontaminiert? Oder Künstler wie Leonardo und Michelangelo? Hat er Komponisten wie Händel und Bach ruiniert? In seinem Buch Human Accomplishment fragt Charles Murray, was den großen Errungenschaften des Westens gemeinsam ist. Er kommt zu dem Schluss, es sei der Eindruck des Transzendenten, der, wenn auch unausgesprochen, unser »Gefühl für das Wahre, das Schöne und das Gute« mit Leben erfüllt. Murray nennt als bezeichnendes Beispiel die namenlosen mittelalterlichen Steinmetzen, die Wasserspeier in die großen gotischen Kathedralen meißelten. Oft seien ihre detailliertesten Reliefs ganz oben auf den Bauwerken gewesen, verborgen hinter Randleisten und für die Öffentlichkeit unsichtbar. Murray schreibt: »Sie haben diese Wasserspeier so sorgfältig wie alle anderen gemeißelt, obwohl sie wussten, dass ihre Werke für kein menschliches Auge mehr sichtbar waren, sobald die Kathedrale fertiggestellt und das Gerüst entfernt sein würde. Es hieß, sie hätten die Figuren für das Auge Gottes gefertigt.«8 Wie viele andere große Künstler haben die gotischen Steinmetzen ihre Arbeit sub specie aeternitatis getan: »unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit«.

Nun möchte ich zeigen, dass einige der großartigsten Ideen und Institutionen der westlichen Zivilisation durch eine ähnliche Vision von Transzendenz geprägt wurden. Beginnen wir mit der Kernidee des westlichen Liberalismus, der Trennung von Staat und Gesellschaft. Wir alle halten es für selbstverständlich, dass es einen öffentlichen Bereich gibt, in dem die Regierung herrscht, und eine Privatsphäre, in der wir unsere eigenen Entscheidungen treffen. Wo hat diese Differenzierung ihren Ursprung? Weil wir so daran gewöhnt sind, die Demokratie der klassischen Antike mit der heutigen »Volksherrschaft« gleichzusetzen, vergessen wir manchmal, dass es im alten Griechenland eine solche Trennung nicht gab. Dort hatte der Staat die Macht, ungehindert das gesamte Privatleben zu regeln. Der Historiker Paul Rahe weist ausdrücklich darauf hin, dass Sparta und nicht Athen als Gesellschaftsmodell der klassischen Antike galt, und die Athener hatten ebenfalls keine Bedenken, private Interessen dem Gemeinwohl unterzuordnen. In Wirklichkeit ging die Zuständigkeit der alten Polis noch sehr viel weiter als der lange Arm unserer Wohlfahrts- oder sogar das islamische Gesetz in den heutigen Moslemstaaten.9

Im 4. Jahrhundert unterschied der Kirchenvater Augustinus zwischen dem »Gottes-« und dem »Menschenstaat«. Für ihn war ersterer ein himmlisches Reich, das erst am Ende der Zeit voll verwirklicht sein wird. Aus eigener Kraft kann der Mensch diesen glücklichen Staat nicht erschaffen; er ist letztlich ein Produkt göttlicher Architektur. Augustinus verglich diesen perfekten himmlischen Staat dann mit dem irdischen Menschenstaat, der in Interessengruppen aufgeteilt und durch Selbstsucht und Gewalt zerrissen ist. Augustinus wusste, dass Platon und andere griechische Philosophen versucht hatten, den intellektuellen Rahmen für perfekte Regierungsformen zu entwickeln, doch hielt er die Versuche zur praktischen Umsetzung solcher Ideen ofenbar für vergeblich und gefährlich. In dieser Hinsicht hat die historische Erfahrung ihn voll bestätigt.

Augustinus ging es jedoch nicht so sehr darum, dass Menschen sich vor Utopien hüten sollten, sondern er wollte vor allem deutlich machen, dass wir unterschiedliche Bindungen und Treuepflichten gegenüber dem Gottes- und dem Menschenstaat haben. Diese Idee stammt ursprünglich nicht von Augustinus, sondern von Christus, der als Erster dazu aufgefordert hat, »dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist«. Die frühen Christen, die von den römischen Herrschern schikaniert und verfolgt wurden, hatten keine Mühe, diesen Unterschied zwischen den Ansprüchen ihrer Kirche und den konkurrierenden Forderungen der weltlichen Herrscher zu verstehen. So entwickelte Augustinus einfach weiter, was die frühen Christen bereits glaubten, indem er seine Schlussfolgerungen daraus zog. Dazu gehörte beispielsweise das Argument, dass es im Gottesstaat einen transzendenten Maßstab der Gerechtigkeit gibt, der den Bürgern erlaubt, das Handeln der irdischen Herrscher zu richten und zu korrigieren. 10 Er legte auch die intellektuellen Grundlagen für die Unterscheidung zwischen den Reichen von Kirche und Staat. Das hatte zur Folge, dass sich Kirche und Staat trotz vielfältiger Verflechtungen in den westlichen Zivilisationen als getrennte Institutionen entwickelten.

Wir machen nun einen Zeitsprung ins 11. Jahrhundert, wo ein heftiger Streit zwischen Papst Gregor VII. und dem deutschen König Heinrich IV. darüber entbrannte, wer von beiden das Recht hatte, Bischöfe und andere lokale kirchliche Amtsträger zu ernennen und »einzusetzen«. Dieser sogenannte Investiturstreit war der Höhepunkt einer unaufhörlichen Rivalität zwischen kirchlicher und weltlicher Macht. Eine der merkwürdigsten Begebenheiten in der Geschichte des Westens ist der Gang nach Canossa, die Szene, in der Heinrich vor Gregor im Schnee fror und Buße tat. Später trieb Heinrich den Papst jedoch erfolgreich ins Exil nach Salerno. Obwohl Kirche und Staat Rivalen blieben, führte die Auseinandersetzung im Laufe der Zeit zu einer neuen Art von westlicher Gesellschaft, in der die Macht der Regierung eingeschränkt ist – die Regierung hat ihre Befugnisse, aber sie kann nicht einfach tun, was sie will. Wir haben außerdem eine bürgerliche Gesellschaft, einen Art Schutzraum, in dem freie Bürger vor staatlicher Kontrolle relativ geschützt sind. Und schließlich haben wir den institutionellen Pluralismus, der sich beispielsweise in einer Gewaltenteilung mit gegenseitiger Kontrolle und einer freien Presse spiegelt. Diese modernen Institutionen wurzeln in einem Text aus dem 4. Jahrhundert und in einem alten Streit zwischen den Vertretern des Gottes- und des Menschenstaats.

Wir wollen nun untersuchen, welche Auswirkungen der christliche Glaube an Transzendenz und ein Leben nach dem Tod auf die Vorstellungen von Menschenwürde und Menschenrechten hatte. Als die amerikanischen Gründerväter das zu etablieren versuchten, was sie als Novus Ordo Seclorum, eine »neue Ära« oder »Neuordnung der Zeit«, bezeichneten, diskutierten sie darüber, auf welcher Basis die radikale Behauptung, dass »alle Menschen gleich geschaffen sind«, am besten bekräftigt werden könne. Die Formulierung kam schließlich von Thomas Jefferson, einem Mann der Aufklärung und einem Mann der Wissenschaft, der zugleich neben Benjamin Franklin der vielleicht am wenigsten gottesfürchtige unter den Gründervätern war. Aber auch wenn sie sich von der christlichen Orthodoxie entfernt hatten, glaubten Jefferson und Franklin doch an Gott und ein Leben nach dem Tod. Und als Jefferson schließlich die Quelle für den selbstverständlichen Gleichheitsgrundsatz benannte, war es niemand anders als »der Schöpfer«. Nach Ansicht der amerikanischen Gründerväter haben alle Rechte ihren gemeinsamen Ursprung in »den Gesetzen der Natur und im Gott der Natur«. Die Unabhängigkeitserklärung bezieht sich auf Gott als Quelle der göttlichen Vorsehung und zugleich als höchsten Richter des Gewissens im Jenseits.11

Heute mag es uns seltsam erscheinen, dass Gott und die göttliche Vorsehung als Quelle des Rechts beschworen werden. Deshalb wollen wir die Frage stellen: Wenn Rechte nicht von Gott abgeleitet werden, wovon dann? Nun, sie könnten evolutionär angelegt sein. Vielleicht hat uns die natürliche Auslese so ausgestattet, dass wir die Würde der anderen respektieren. Aber selbst wenn es so wäre, besteht das Problem darin, dass es nichts mit Rechten zu tun hätte. Rechte sind die moralische Sprache der Politik. Wie Alexis de Tocqueville es einmal ausgedrückt hat: »Die Idee des Rechts bedeutet einfach, die Tugend in die politische Welt einzuführen.«12 Rechte haben nichts damit zu tun, wie wir handeln, sondern wie wir handeln sollten. Folglich ist die Evolution hier ziemlich irrelevant. Eine zweite mögliche Quelle von Rechten ist die Vorstellung, dass wir alle ohne Unterschied Menschen sind und deshalb dieselben Rechte und Privilegien haben. Aber Affen sind ohne Unterschied Affen, und doch haben sie nicht dieselben Rechte und Privilegien. Natürlich handeln Affen gelegentlich ihren eigenen »Sozialvertrag« aus, aber wie der Anthropologe Frans de Waal hervorhebt, handelt es sich dabei um Koalitionen der Starken, die sich organisieren, um den Rest der Gruppe zu beherrschen und zu kontrollieren.13 Und auf genau dieselbe Weise waren menschliche Gemeinschaften jahrtausendelang organisiert.

Auf welcher Basis hat also die Novus Ordo Seclorum seine neue Lehre von Menschenwürde und Menschenrechten begründet? Eigentlich war diese Lehre gar nicht so neu; neu war lediglich ihre Durchsetzung. In historischen Berichten über Amerika und Großbritannien werden die Menschenrechte gewöhnlich auf den Philosophen John Locke zurückgeführt, aber Locke selbst hat viele Ideen zusammengefasst, die andere vor ihm entwickelt hatten. In Wirklichkeit reichen die westlichen Vorstellungen von Menschenwürde und Menschenrechten bis ins frühe 16. Jahrhundert zurück. Wenige Jahrzehnte nach der Entdeckung der Neuen Welt brachen in Spanien eine Reihe folgenschwerer Streitigkeiten aus, die nicht nur die intellektuelle Basis für Menschenrechte legten, sondern bei denen auch zum ersten Mal politisch anerkannt wurde, dass diese Rechte für alle menschlichen Wesen gelten sollten. Der Streit drehte sich um die Frage, ob die amerikanischen Ureinwohner Seelen hatten.

Das ist nun wirklich ein Thema, über das man debattieren kann. Heute würden Atheisten vermutlich sagen: »Natürlich hatten sie keine Seelen, und wir haben auch keine. « Wenn Sie die Anerkennung von Menschenwürde und Menschenrechten zu schätzen wissen, dann sollten Sie froh sein, dass Atheisten mit einer solchen Einstellung im 16. Jahrhundert keinen Einfluss hatten. Der Grund für die Debatten in Spanien waren unterschiedliche Ansichten zwischen den Eroberern und den christlichen Missionaren. Fast unverzüglich nach der Gründung der ersten Kolonien auf den amerikanischen Kontinenten hatten die Eroberer und ihre Nachfolger damit begonnen, die Ureinwohner zu versklaven. Die Missionare protestierten bei der spanischen Krone und der römischen Kirche dagegen und erklärten, diese Versklavung sei unmoralisch und ungerecht. Die Gegenseite trug die üblichen Argumente vor: Die Ureinwohner sind nicht wie wir, sie sind keine Christen, sie sind nicht einmal zivilisiert. Juan Ginés de Sepúlveda, ein angesehener Vertreter der Lehren des Aristoteles, schlug sich auf die Seite der Sklavenhalter und erklärte beharrlich, die Ureinwohner seien, mit den Worten des Aristoteles, »von Natur aus Sklaven«.

Aber der Dominikaner Francisco de Vitoria, ein Theologe an der Universität von Salamanca, war anderer Meinung. Für ihn machte es keinen Unterschied, ob die Ureinwohner zivilisiert waren oder nicht. Ja, es spielte noch nicht einmal eine Rolle, dass sie keine Christen waren; denn Gott hatte alle Menschen, ob Christen oder nicht, nach seinem Ebenbild geschaffen. Da Gott unsterblich ist, haben Menschen unsterbliche Seelen, die unsere gottgleiche Natur widerspiegeln. Und da wir Gottes Schöpfung sind, hat nur Gott und kein Mensch ein letztgültiges Anrecht auf uns. Vitoria argumentierte, die Versklavung der amerikanischen Ureinwohner würde unsterbliche Seelen auf Werkzeuge zur Erlangung materieller Vorteile reduzieren. Ungeachtet ihrer Nützlichkeit und ungeachtet ihrer Vorteile für Spanien und die spanische Krone müsse diese Praxis verboten werden, weil Gott damit beleidigt werde.

Papst Paul III. stimmte Vitoria zu und erklärte 1537 in der Bulle Sublimis Deus, dass »Indianer und andere Menschen, die vielleicht in Zukunft von Christen entdeckt werden, auf keinen Fall ihrer Freiheit oder ihres Eigentums beraubt werden dürfen, auch wenn sie nicht an Jesus Christus glauben«. Einige Jahre später stellte Kaiser Karl V. alle weiteren spanischen Expeditionen nach Amerika ein. Noch nie zuvor, schreibt der Historiker Lewis Hanke, hatte ein mächtiges Imperium »angeordnet, auf weitere Eroberungen zu verzichten, bis über deren Rechtmäßigkeit entschieden sein würde«.14 Im Jahr 1550 veranstaltete der Kaiser im Kloster von Valladolid einen großen Disput über die moralische Rechtfertigung der spanischen Eroberungen. Sepúlveda sprach sich für die Kolonialinteressen aus und argumentierte, die Indianer seien seelenlose Barbaren, die in ihrem eigenen Interesse von den Spaniern regiert werden sollten. Auf der Gegenseite stand ein leidenschaftlicher Fürsprecher für die Ureinwohner, der spanische Mönch Bartolomé de Las Casas. Wie alle menschlichen Wesen, so trug er vor, hätten auch die Indianer unsterbliche Seelen, die ihnen eine besondere Würde verliehen. Er wies ebenso nachdrücklich auf die Gewalt hin, der die Indianer vorgeblich »in ihrem eigenen Interesse« ausgesetzt waren. Zwar stellte sich die spanische Krone auf die Seite von Las Casas und erließ eine Reihe von Gesetzen, um die Rechte der Indianer zu schützen, doch wurden diese Gesetze in den Kolonien weitgehend ignoriert, und die große Entfernung von Spanien machte ihre Durchsetzung fast unmöglich.

Gleichwohl stellt der Disput von Valladolid einen historischen Meilenstein dar. Intellektuelle und politische Verfechter der Freiheit wie John Locke in England und die amerikanischen Gründerväter in Philadelphia haben sich auf diese Argumente bezogen, um eine dauerhafte Basis für Menschenwürde und Menschenrechte zu begründen. 15 Wir lernen aus dem Disput von Valladolid, dass es bedeutsam ist, ob wir andere Menschen als Seelen wahrnehmen, denen Unsterblichkeit verliehen ist, oder nicht: Solche Überzeugungen wirken sich darauf aus, wie wir sie im Hier und Jetzt behandeln.

Die Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei liefert uns ein weiteres erstaunliches Beispiel für die diesseitigen Konsequenzen des Jenseitsglaubens. In meinem letzten Buch What’s So Great about Christianity habe ich gezeigt, dass die Sklaverei eine universelle Praxis war und nur die Kirche sich dagegen ausgesprochen hat. Der grundsätzliche Widerstand gegen die Sklaverei hat sich als eine ganz und gar christliche Idee entwickelt; und das ist der Grund, warum die einzigen Bewegungen zur Abschaffung der Sklaverei, die es in der Geschichte gab, von Christen organisiert wurden. Außerdem waren es nur christliche Nationen, die aus eigener freier Entscheidung die Sklaverei abgeschafft haben. Diese Nationen haben den Sklaven eine Freiheit gewährt, die sie sich aus eigener Kraft nicht sichern konnten. »Andere Revolutionen waren Aufstände der Unterdrückten«, schrieb Ralph Waldo Emerson. »Diese war die Umkehr der Tyrannen.«16

Atheisten bestreiten natürlich die zentrale Rolle des Christentums, behaupten, der Glaube an ein Leben nach dem Tod habe die Institution der Sklaverei begünstigt und deren Abschaffung sei weitgehend eine säkulare Angelegenheit gewesen. Michael Shermer weist beispielsweise ausdrücklich darauf hin, dass die Bibel keinen Einwand gegen die Sklaverei erhebt und sogar Passagen enthält, in denen Sklaven angewiesen werden, ihren Herren zu gehorchen. Andere Atheisten behaupten, diese biblische Billigung der Sklaverei müsse die Qualen der Sklaven zusätzlich verschlimmert haben, besonders in Amerika, wo die meisten von ihnen Christen waren. Außerdem hätten Christen jahrhundertelang Sklaven gehalten und sie durch das Versprechen eines besseren Lebens im Jenseits von Aufständen abgehalten. Sogar in der Zeit direkt vor dem amerikanischen Bürgerkrieg hätten Christen auf beiden Seiten gestanden und sich in den Südstaaten vehement für die Sklaverei eingesetzt, während sie sich in den Nordstaaten dagegen aussprachen. Atheisten weisen darauf hin, dass sich ein echter Widerstand gegen die Sklaverei in Europa und Amerika nicht vor dem 18. Jahrhundert entwickelte und genau mit der historischen Epoche zusammenfiel, die man als »Aufklärung« bezeichnet. Deshalb sei die Ablehnung der Sklaverei eher eine säkulare Idee der Aufklärung als eine christliche Vorstellung.

Was ist von dieser atheistischen Kritik zu halten? Die Aufforderung des Neuen Testaments, dass Sklaven ihren Herren gehorchen und Herren ihre Sklaven freundlich behandeln sollten, muss man im Kontext des christlichen Lebens im Römischen Reich verstehen. Der Apostel Paulus akzeptierte die Institution der Sklaverei aus demselben Grund, aus dem er das römische Steuersystem und die Regeln des römischen Militärdienstes billigte: Er hatte keine Wahl. In der Apostelgeschichte heißt es jedoch ganz klar, dass Christen ihre Glaubensgenossen nicht versklaven sollten. Jede Sozialphilosophie ist daran zu messen, wie sie von ihren Anhängern interpretiert und umgesetzt wird. Führende Christen wie der Kirchenvater Gregor von Nyssa haben gepredigt, dass Christen keine Sklavenhalter sein sollten; und als diese Botschaft sich in Europa verbreitete, sind die Christen dem Aufruf gefolgt.

Vielfach wird angenommen, dass Christen die griechische und römische Praxis der Sklavenhaltung bis in die moderne Zeit fortgesetzt haben, aber das trifft nicht zu. Das Christentum kam im 4. Jahrhundert an die Macht, und die Sklaverei in Europa wurde zwischen dem 4. und 10. Jahrhundert weitgehend aufgegeben. Der Historiker Rodney Stark weist darauf hin, dass es im spätmittelalterlichen christlichen Europa praktisch keine Sklaven mehr gab. Die Sklavenhaltung wurde durch Leibeigenschaft ersetzt, keine freundliche Einrichtung, aber zumindest eine, die auf gegenseitigen Rechten und Pflichten zwischen den Herren und den Leibeigenen beruhte. Die Leibeigenen zahlten Pacht und behielten einen Teil ihrer Erzeugnisse. Sie konnten heiraten, wen sie wollten, und selbst darüber entscheiden, wann sie arbeiteten, wie sie ihre Kinder erzogen und was sie in ihrer »Freizeit« taten. Kurzum, sie waren keine »beweglichen Sachen« oder »menschlichen Werkzeuge«. 17 Falls Sie je vor der Wahl stehen sollten, Leibeigener oder Sklave zu sein, dann entscheiden Sie sich besser für die Leibeigenschaft.

Im amerikanischen Süden breitete sich die Sklaverei aus einem einfachen Grund aus: In der Neuen Welt gab es eine Menge schwerer Arbeit zu verrichten, und durch den afrikanischen Sklavenhandel standen dafür viele Männer und Frauen zur Verfügung. In Roll, Jordan, Roll, der vielleicht besten Studie über die amerikanische Sklaverei, schrieb der marxistische Gelehrte Eugene Genovese, die Klasse der Pflanzer in den Südstaaten habe ein mächtiges eigennütziges Interesse an der Sklavenhaltung entwickelt. Der Einsatz der Südstaaten für die Sklaverei war ausschließlich durch dieses eigennützige Interesse motiviert, und das Heraufbeschwören der biblischen Theologie war für die Pflanzer wenig mehr als eine Rationalisierung der Tatsache, dass sie unwillige Afrikaner zu kostenloser Arbeit zwangen. Heute ist wohl jedermann klar, dass die meisten dieser Rationalisierungen wie beispielsweise der Fluch über Ham beziehungsweise Kanaan (1. Mose 9, 18 – 28) und Ähnliches kompletter Unsinn sind. In der Bibel steht nirgendwo, dass Ham schwarz war! Dass Südstaatler, die sich als Christen bezeichneten, trotzdem die Sklaverei verteidigten, mag manche Leute überraschen, wirklich erstaunen kann es jedoch nur jemanden, der die Tiefe der menschliche Selbstsucht nicht versteht.

Genovese begann seine Untersuchung in der Erwartung, dabei festzustellen, das Christentum habe die Sklaven mit ihren Lebensbedingungen versöhnt, indem es ihnen vermittelte, sie sollten auf ihre Erlösung im Jenseits warten und nicht mit der Befreiung in diesem Leben rechnen. Das entspricht genau den Unterstellungen der Atheisten. Und Genovese stellte tatsächlich fest, dass die Hoffnung auf Erlösung in der Ewigkeit vielen Sklaven während der dunklen Nacht ihrer Gefangenschaft Trost spendete. Zu seinem Erstaunen entdeckte er jedoch, dass solche himmlischen Erwartungen die Sklaven keineswegs mit ihrem irdischen Los aussöhnten. Sie entwickelten vielmehr ein mächtiges Ethos der Befreiung, in dem die Hoffnung auf Erlösung in der nächsten Welt unauflöslich mit der Forderung nach Freiheit in dieser Welt verbunden war. Genovese, der später zum Katholizismus konvertierte, zeigt, wie die Sklaven die Bibel lasen, um dieses Ethos zu entwickeln. Denken Sie an die Zeilen des großen Spirituals: »Go down, Moses, way down to Egypt land and tell old Pharao, let my people go.« (»Geh los, Moses, geh nach Ägypten hinab und sag dem alten Pharao: Lass mein Volk ziehen.«) Von hier, aus dem Buch Exodus, leiteten die Sklaven eine Analogie zwischen ihrer eigenen Situation und jener der Israeliten in ägyptischer Gefangenschaft ab. In diesem Sinne wurde Moses nicht nur zum Fürsprecher der unterdrückten Juden, sondern auch der afrikanischen Sklaven in Amerika; und viele befreite Sklaven nannten ihre Kinder später »Moses«. Anders, als die atheistische Kritik unterstellt, vermittelte die Bibel den Sklaven eine großartige Befreiungsbotschaft.18

Anfang des 18. Jahrhunderts begannen Gruppen von Quäkern und evangelikalen Christen in Amerika mit den ersten organisierten Kampagnen gegen die Sklaverei. Motiviert wurden sie dazu durch eine biblische Lehre: die schlichte Vorstellung, dass wir in den Augen Gottes alle gleich sind. Vorher war diese Aufassung als spirituelle Wahrheit interpretiert worden, die nur für das nächste Leben Gültigkeit hatte. Aber die Quäker und evangelikalen Christen erklärten beharrlich, die Idee habe grundlegende Auswirkungen auf das Diesseits. Und so leiteten sie aus der theologischen Vorstellung der Gleichheit aller Menschen vor Gott die politische Lektion ab, dass kein Mensch das Recht hat, einen anderen ohne dessen Einverständnis zu beherrschen. Dieser revolutionäre Gedanke bildete nicht nur die Grundlage für die Abschaffung der Sklaverei, sondern auch für die amerikanische Demokratie. Die moderne repräsentative Demokratie beruht letzten Endes auf demselben Prinzip: Kein Mensch hat das Recht, über einen anderen ohne dessen Zustimmung zu herrschen.

Was haben wir hier also gelernt? Wir haben gesehen, dass die Vorstellungen von Transzendenz und Ewigkeit keineswegs gegen das Leben und die Zivilisation gerichtet sind, wie Atheisten unterstellen, sondern dass sie in Wirklichkeit einige unserer großartigsten und segensreichsten sozialen und politischen Ideale geprägt haben. Zu diesen Idealen, die religiöse und säkulare Menschen gleichermaßen für erstrebenswert halten, gehört eine Privatsphäre, die sich der staatlichen Kontrolle entzieht, sowie eine grundsätzliche Gleichheit aller Menschen vor Gott, welche die Basis der Menschenrechte bildet. Paradoxerweise ist es die Welt jenseits der Welt, die in unserer Welt am meisten bewirkt hat. Das bedeutet, dass das Leben nach dem Tod nicht nur eine rationale Vorstellung und sogar ein wahrscheinlich realistischer Glaube ist, sondern auch eine Überzeugung, die unsere Zivilisation erhält und stärkt. Der westliche Glaube an ein Leben nach dem Tod hat uns zu dem gemacht, was wir sind; und ihn über Bord zu werfen wäre deshalb ein großes Risiko, weil wir damit im Laufe der Zeit auch einige unserer am höchsten geschätzten Ideale verlören.