Ewigkeit und kosmische Gerechtigkeit
Viel für andere und wenig für uns selbst zu
empfinden, unsere Eigenliebe zu bezähmen und
unseren wohlwollenden Gefühlen nachzugeben,
stellt die Perfektion der menschlichen Natur dar.1
Adam Smith, The Theory of Moral Sentiment
Nachdem ich zwei Beweise für das Leben nach dem Tod vorgelegt habe, einen aus den Neurowissenschaften und einen weiteren aus der Philosophie, präsentiere ich nun einen dritten Beweis, der zugleich eine Möglichkeit darstellt, meine Hypothese zu überprüfen. Dies ist ein sogenanntes präsumtives Argument, und ich muss zunächst einiges klarstellen, um zu zeigen, um welche Art von Argument es sich handelt und wie es funktioniert. Stellen Sie sich einen Kriminalbeamten vor, der nicht dahinterkommt, wie sein Verdächtiger das Verbrechen begangen haben könnte. Der Verdächtige hat beispielsweise ein zweifelsfreies Alibi für den Zeitpunkt, als die Leiche an einem bestimmten Ort abgelegt wurde. Unser Lieutenant Columbo brütet über diesem Rätsel, und dann hat er eine Idee: Der Mann muss einen Komplizen gehabt haben! Man nimmt einen Komplizen an, schon erscheinen die ansonsten unerklärlichen Fakten eines Falls vollkommen schlüssig. Und obwohl er nichts über den Komplizen weiß, ist die Hypothese des Polizisten so überzeugend, dass sie die bekannten Fakten des Falls erklären kann.
Ein zweites Beispiel: Eine Frau wundert sich darüber, dass ein Mann, mit dem sie seit Jahren liiert ist, ihr immer noch keinen Heiratsantrag gemacht hat. Er behauptet immer, dass er noch auf den richtigen Zeitpunkt wartet. Sie quält sich mit der Frage herum: Warum will er sich nicht binden? Nach einer Weile erklären ihre besten Freundinnen ihr: »Er wird dich nie heiraten. Er hat gar nicht die Absicht, dich zu heiraten.« Die Freundinnen wissen nichts Konkretes über die wahren Absichten des Mannes, und ihre Einschätzung ist eigentlich nur eine Vermutung. Aber damit lassen sich Verhaltensweisen erklären, die sonst unerklärlich sind. Wie glaubhaft ist denn die Vorstellung, dass ein Mann, der so lange gezaudert hat, seinen Antrag zu irgendeinem nicht näher bezeichneten »richtigen Zeitpunkt« machen wird? Es ist sehr viel vernünftiger, davon auszugehen, dass er einfach nur nach Vorwänden sucht, weil er nicht heiraten will, zumindest nicht sie. In diesem Beispiel gibt es eine Tatsache, die nicht direkt bekannt, aber überzeugend ist, weil sie die bekannten Fakten sinnvoll erscheinen lässt. Die Fakten werden sozusagen zu einer empirischen Bestätigung der Voraussetzung.
Hier nun mein präsumtives Argument für das Leben nach dem Tod: Anders als materielle Objekte und alle übrigen lebenden Geschöpfe bewohnen wir Menschen zwei Welten: In der einen sind die Dinge, wie sie sind, die andere zeigt uns, wie sie sein sollten. Wir sind moralische Tiere, die erkennen, dass es nicht nur Naturgesetze gibt, denen jedes Objekt im Universum unterworfen ist, sondern auch moralische Gesetze, die das Verhalten eines besonderen Objekts im Universum beherrschen, und dieses Objekt sind wir selbst. Während das Universum äußerlich durch »Fakten« bewegt wird, werden wir innerlich auch durch »Werte« motiviert. Aber diese Werte entziehen sich der natürlichen und naturwissenschaftlichen Erklärung, weil die von der Wissenschaft entdeckten physikalischen Gesetze nur die Art und Weise betreffen, wie die Dinge sind, nicht aber die Art und Weise, wie sie sein sollten. Außerdem besteht die Essenz der Moral darin, den starken Motor des menschlichen Eigennutzes zu beschränken und anzufechten, was der Moral einen unzweifelhaft antievolutionären Schub verleiht. Wie erklären wir also die Existenz moralischer Werte, die im Gegensatz zu unserer animalischen Natur stehen? Die Annahme, dass es eine kosmische Gerechtigkeit gibt, die nicht in diesem, sondern in einem anderen Leben jenseits des Grabes erlangt wird, ist die bei weitem beste und in mancher Hinsicht einzige Erklärung. Diese Vorbedingung begründet voll und ganz, warum Menschen auch dann noch für Güte und Gerechtigkeit eintreten, wenn die Welt böse und ungerecht ist.
Beachten Sie, was dieses präsumtive Argument nicht sagt: Es behauptet keineswegs, dass irgendwo anders Gerechtigkeit herrschen muss, weil es in dieser Welt Ungerechtigkeit gibt. Es sagt auch nicht, dass der menschliche Wunsch nach einer besseren Welt ausreicht, eine andere Welt zu erzeugen, die besser ist. Es beginnt vielmehr mit der Erkenntnis, dass die Wissenschaft zwar vieles in der Natur explizit erläutert, einen großen Teil der menschlichen Natur aber anscheinend überhaupt nicht zu erklären vermag. Vor allem die Evolutionstheorie begründet zwar plausibel, warum wir selbstsüchtige Tiere sind, sie kann jedoch nicht überzeugend darlegen, warum wir gleichzeitig der Meinung sind, wir sollten nicht selbstsüchtig sein. Weit davon entfernt, wie jedes andere Tier den Tatsachen des Lebens ins Gesicht zu sehen, hegen wir Ideale, die nie erfüllt wurden und nie vollständig erfüllt sein werden. Wir sind Geschöpfe mit Fehlern, die so handeln, als sollten sie fehlerfrei sein. Wir wissen, dass wir in einer ungerechten Gesellschaft leben, wo der Bösewicht es oft an die Spitze schafft, während der Gute scheitert, aber wir halten weiter daran fest, dass unsere Gesellschaft anders sein sollte. Wir sagen Dinge wie: »Was man sät, das wird man ernten«, wohl wissend, dass es in dieser Welt nicht immer so ist. Trotz der harten Tatsachen des Lebens versichern wir unermüdlich, dass es so sein sollte. Mit anderen Worten: Unsere Ideale widersprechen der Wirklichkeit unseres Lebens. Einzigartig unter allen lebenden und nichtlebenden Objekten versuchen wir anscheinend, gegen die Gesetze der Evolution zu verstoßen und uns der Kontrolle der Naturgesetze zu entziehen.
Warum ist das so? Warum agieren wir weiterhin so, als gäbe es eine bessere Welt mit besseren Idealen, die über diese Welt zu Gericht sitzt? Die beste Erklärung lautet meiner Meinung nach, dass es eine solche Welt gibt. Anders gesagt: Die Annahme eines Lebens nach dem Tod und der Verwirklichung des Ideals kosmischer Gerechtigkeit ist besser als jede andere Hypothese geeignet, unser moralisches Wesen sinnvoll zu erklären.
Bevor wir nun mit unserer Diskussion beginnen, möchte ich noch einen Einwand beantworten, der manchem Leser schon auf der Zunge liegen wird. Skeptiker werden vielleicht meine Behauptung ablehnen, dass gewisse Eigenschaften der menschlichen Natur sich der wissenschaftlichen Erklärung zu entziehen scheinen. Sie werden mich beschuldigen, ich suchte hier auf schändliche Weise beim »Gott der Lücken« Zuflucht. Sie werden sagen, dass ich an Gott und das Übernatürliche appelliere, um Phänomene zu begründen, die die Wissenschaft noch nicht erklärt hat. Wie Carl Sagan im Buch The Varieties of Scientific Experience schrieb: »Mit dem Fortschreiten der Wissenschaft scheint es für Gott immer weniger zu tun zu geben.«2 Für einen Skeptiker ist es nicht legitim, sich auf Lücken zu berufen, denn dass die Wissenschaft jetzt noch keine Antwort hat, bedeutet nicht, dass sie nicht morgen oder irgendwann später die Lösung finden wird. So gesehen ist der Gott der Lücken ein letzter verzweifelter Schachzug des Theisten, der nach kleinen Löchern im wissenschaftlichen Verständnis der Welt sucht und diese dann seiner bevorzugten Gottheit übergibt.
Einige Kreationisten spannen diese Art von Lücken vor ihren Karren, um einen übernatürlichen Schöpfer zu postulieren. Sie behaupten beispielsweise, die Wissenschaft habe keine Erklärung für die Kambrische Explosion, also müsse Gott dabei direkt seine Hand im Spiel gehabt haben. Aber es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die Kambrische Explosion sich einer natürlichen Erklärung entzieht, auch wenn wir diese Erklärung noch nicht haben. Die »Lücken«-Kritik der Skeptiker ist in einem solchen Fall durchaus berechtigt. Auf meine Argumente passt sie jedoch nicht, weil ich keinen Gott der Lücken postuliert habe; im Prinzip habe ich Gott bisher überhaupt nicht ins Spiel gebracht. Und obwohl die Skeptiker sich typischerweise für Verfechter der Wissenschaft halten, ist ihr Einwand zudem genauso unwissenschaftlich wie jener der Kreationisten.3 Für den Skeptiker ist eine Lücke eine Art Ärgernis, eine kleine Lakune wissenschaftlicher Ignoranz, deren Existenz einem Missgeschick gleichkommt, das wahrscheinlich bald beseitigt sein wird. Wahre Wissenschaftler wissen Lücken dagegen zu schätzen. Sie suchen nach ihnen und arbeiten beharrlich innerhalb der Gletscherspalten, weil sie dort nicht nach einem fehlenden kleinen Puzzlestück suchen, sondern in der Lücke ein Indiz sehen, dass die ganze Basis des theoretischen Rahmenwerks falsch sein könnte. In diesem Fall gäbe es tiefere Zusammenhänge zu entdecken, und die Lücke wäre eine Öffnung, die zu einem revolutionären neuen Verständnis führen könnte.
Lücken sind die Hauptadern wissenschaftlicher Entdeckungen. Die meisten großen wissenschaftlichen Fortschritte der Vergangenheit haben mit Lücken begonnen und endeten bei neuen Annahmen, die unser gesamtes Verständnis der Welt in einem neuen Licht erscheinen ließen. Mit anderen Worten: Das präsumtive Argument ist kein Taschenspielertrick, mit dem man Unsichtbares postuliert, um Sichtbares zu erklären, sondern es verdeutlicht genau die Art und Weise, wie Wissenschaft funktioniert und Wissenschaftler ihre größten Entdeckungen machen. Kopernikus hat sich beispielsweise die Lücken in der ptolemäischen kosmologischen Theorie vorgenommen. Wie der Historiker Thomas Kuhn zeigt, waren diese Lücken wohlbekannt, aber viele Wissenschaftler hielten sie für unproblematisch. Immerhin sprach die Erfahrung stark für Ptolemäus: Die Erde scheint sich nicht zu bewegen, während die Sonne anscheinend ihre Bahn am Himmel zieht. Kuhn merkt an, dass viele Wissenschaftler versuchten, die Lücken durch »Flicken und Dehnen« zu schließen, indem sie weitere ptolemäische Epizykel einfügten.4 Kopernikus sah in den Lücken jedoch eine Gelegenheit, eine verblüffende neue Hypothese aufzustellen. Statt es für selbstverständlich zu halten, dass die Erde das Zentrum des Universums ist und die Sonne sich um die Erde dreht, sprach er sich für die Annahme aus, dass die Sonne das Zentrum darstellt, um das sich die Erde und auch andere Planeten drehen. Als Kopernikus diese These formulierte, hatte er keinen direkten Beweis dafür, und ihm war klar, dass seine Theorie gegen die Intuition und alle Erfahrung sprach. Trotzdem erklärte er, die Annahme des Heliozentrismus könne die astronomischen Daten besser erklären und solle deshalb als korrekt akzeptiert werden. Dies ist ein klassisches präsumtives Argument, das eine Lücke schließt und uns im weiteren Verlauf eine völlig neue Sicht auf unseren Platz im Universum gibt.
Auf ähnliche Weise nahm sich Einstein bestimmte Lücken vor und versuchte, im Rahmen der klassischen Physik die Gesetze der Bewegung mit den Gesetzen des Elektromagnetismus in Übereinstimmung zu bringen. Auch in diesem Fall hielten viele Wissenschaftler die Lücke für nicht besonders gravierend. Ganz sicher würde die klassische Newton’sche Physik das Problem bald lösen, und dann wäre die Lücke geschlossen. Man brauchte Einsteins Genie, um zu erkennen, dass es sich hier nicht um ein geringfügiges Problem handelte, sondern die Lücke ein Indiz dafür war, dass die gesamte Newton’sche Physik ein mangelhaftes Konzept darstellte. Und ohne ein einziges Experiment oder eine empirische Untersuchung durchzuführen, bot Einstein eine präsumtive Lösung an. Er sagte, wir hätten seit Jahrhunderten Raum und Zeit als absolut angenommen und diese Annahme habe ein scheinbar unlösbares Problem hervorgebracht. Wie wäre es also, wenn wir die Annahme änderten? Wie wäre es, wenn wir davon ausgingen, dass Raum und Zeit sich relativ zum Beobachter verhalten? Nun können wir die beobachteten Fakten über den Elektromagnetismus und die Lichtgeschwindigkeit erklären, die bisher nicht zusammenpassten. Einstein überprüfte seine Theorie, indem er sie auf die Umlaufbahn des Planeten Merkur anwendete. Man wusste, dass Merkur ganz leicht von der Umlaufbahn abwich, die nach den Newton’schen Gesetzen zu erwarten war. Eine weitere Lücke! Und auch hier herrschte die Meinung vor, dass eine konventionelle wissenschaftliche Erklärung die Lücke bald schließen und die Anomalität aus der Welt schaffen würde. Aber in Wirklichkeit wies die Lücke darauf hin, dass das gesamte Newton’sche Paradigma unzulänglich war. Als Einstein feststellte, dass seine eigene Theorie die Umlaufbahn des Merkur auf eine Weise erklärte, wie Newtons Theorie es nicht konnte, wusste er, dass sein Konzept das überlegene war.5
In den letzten Jahrzehnten haben Wissenschaftler die Existenz von dunkler Materie und dunkler Energie akzeptiert, ebenfalls auf der Basis präsumtiver Argumente. Auch hier ergab sich das Problem aus verschiedenen Lücken. Wir haben es im Kapitel über Physik schon angesprochen: Als die Wissenschaftler die Menge der Materie im Universum maßen, reichten ihre Ergebnisse nicht aus, um den Zusammenhalt der Galaxien zu erklären. Als sie die Menge der Energie maßen, reichte sie ebenfalls nicht aus, um die beschleunigte Expansion des Universums nachvollziehbar zu machen. Natürlich hätte man auch hier sagen können, dass es sich lediglich um Lücken handelt, die man durch neue Beobachtungen oder Gleichungen bald würde schließen können, aber hartnäckige Wissenschaftler wussten es besser. Ihnen war klar, dass wir schon ausreichend Kenntnisse über die Materie und Energie haben, die unsere Instrumente messen können, aber damit lässt sich das Verhalten des Universums und der Galaxien einfach nicht erklären. Folglich muss es eine neue Art von Materie und Energie geben, die all unsere wissenschaftlichen Geräte nicht aufspüren können und die keinen bekannten wissenschaftlichen Gesetzen folgt. Nur mit dieser Annahme ließ sich das Problem lösen. Anders ausgedrückt: Die Lücke erforderte eine Neubewertung unseres gesamten wissenschaftlichen Verständnisses von Materie und Energie. Auf dieser Basis postulierte man die Existenz von dunkler Materie und dunkler Energie, und trotz ihrer ursprünglichen Skepsis haben die meisten Wissenschaftler diese Theorie akzeptiert, weil sich mit ihrer Hilfe Phänomene erklären lassen, die sonst weitgehend unverständlich blieben.
Diese Beispiele zeigen, dass die Wissenschaft immer wieder Gebilde postuliert, die noch niemand gesehen hat, von der Raumzeit bis zur dunklen Materie, deren Existenz allein dadurch bestätigt wird, dass sie Phänomene erklären, die wir sehen und messen können. Wir sehen nun auch, dass Lücken nichts Negatives, sondern etwas Positives sind und der wahrhaft wissenschaftliche Ansatz in der Frage besteht, ob sie möglicherweise als Indizien dienen können, die uns zu einem breiteren und tieferen Verständnis der Welt führen. Und wir wissen nun, wie präsumtive Argumente am besten funktionieren, innerhalb und außerhalb der Wissenschaft. Die Annahme, von der man ausgeht, ist eine Art Hypothese, die besagt: »So müssen die Dinge sein, damit sie die Welt sinnvoll erklären können.« Dann testen wir die Annahme mit der Frage: »Wie gut erklärt sie die Welt?« Wir können diese Frage nicht beantworten, ohne zu überlegen, ob andere Erklärungen vielleicht besser sind. Ist das der Fall, dann brauchen wir unsere Annahme nicht. Ist das nicht der Fall, dann bleibt unsere Annahme, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag, die beste Erklärung der Daten, die wir haben. Wir sollten die Hypothese akzeptieren, bis eine bessere Erklärung auftaucht. Die Hypothese, die ich anzubieten habe, lautet: »In einer Welt jenseits unserer Welt muss kosmische Gerechtigkeit existieren, damit die beobachteten Fakten über menschliche Moral einen Sinn ergeben.« Diese Annahme wollen wir nun überprüfen.
Moral ist ein ebenso universelles wie überraschendes Faktum der menschlichen Natur. Wenn ich Moral als »universell« bezeichne, dann beziehe ich mich nicht auf diesen oder jenen moralischen Kodex. Im Grunde beziehe ich mich auf gar keinen äußeren moralischen Kodex, sondern ich meine die Moral als innere Stimme, die Quelle in unserem Inneren, die Adam Smith den »unbeteiligten Beobachter« genannt hat.6 In diesem Sinne ist Moral ein Richter, der uns nicht nötigt, sich aber zuverlässig zu Wort meldet. Er hat nicht die Macht, uns zu zwingen, doch er spricht mit unzweifelhafter Autorität. Natürlich können wir ablehnen, was die Moral gebietet, und das tun wir häufig auch, aber Schuldgefühle oder Reue sind dann unvermeidlich. Sie stellen sich ein, weil wir zu Selbstvorwürfen und Gewissensbissen fähig sind. Sogar Leute, die schamlos gegen die Moral verstoßen – zum Beispiel chronische Lügner oder notorische Diebe –, reagieren unvermeidlich mit Entschuldigungen und Rationalisierungen, wenn sie ertappt werden. Sie sagen: »Ja, ich habe gelogen, aber unter diesen Umständen hatte ich keine Alternative.« Oder: »Ja, ich habe gestohlen, aber ich muss doch für meine Familie sorgen.« Kaum jemand sagt: »Natürlich bin ich ein Lügner und ein Dieb, und ich finde das voll in Ordnung.« Die Moral sorgt für einen universellen Maßstab oder Standard, auch wenn dieser Standard fast genauso universell verletzt wird.
Moral ist eine überraschende Eigenschaft der Menschheit, weil sie den Gesetzen der Evolution zu widersprechen scheint. Evolution ist deskriptiv: Sie sagt, wie wir uns verhalten. Moral ist präskriptiv: Sie sagt, wie wir uns verhalten sollten. Abgesehen davon scheint evolutionäres Verhalten das genaue Gegenteil von moralischem Verhalten zu sein. Evolution impliziert, dass wir selbstsüchtige Geschöpfe sind, die in der Welt überleben und sich fortpflanzen wollen. Das sind wir in der Tat, aber wir sind auch selbstlose Geschöpfe, die sich für das Wohlergehen anderer einsetzen, das uns manchmal sogar wichtiger ist als unser eigenes. Wir nehmen am Spiel des Lebens teil und sind verständlicherweise parteiisch im Hinblick auf unser eigenes Wohlergehen, wohingegen die Moral sich fernhält, die Dinge unparteiisch oder mit dem »Auge Gottes« betrachtet und uns aufordert, uns für das Wohlergehen anderer einzusetzen. Während die Evolution also einen deskriptiven Bericht über den menschlichen Eigennutz erstellt, gibt uns die Moral einen Standard des menschlichen Verhaltens vor, der häufig dem Eigennutz zuwiderläuft.
Wenn wir also nur evolutionäre Primaten sind, wie lässt sich dann die Moral als eine zentrale und universelle Eigenschaft unserer Natur erklären? Warum sollte sich Moral unter Geschöpfen entwickeln, die zwanghaft auf Überleben und Fortpflanzung ausgerichtet sind? Darwin selbst war das Problem durchaus klar. In The Descent of Man argumentierte er, dass, »wenn auch eine hohe Stufe der Moralität nur einen geringen oder gar keinen Vorteil für jeden individuellen Menschen und seine Kinder über die andern Menschen in einem und demselben Stamme darbietet, doch eine Zunahme in der Zahl gut begabter Menschen und ein Fortschritt in dem allgemeinen Maßstab der Moralität sicher dem einen Stamm einen unendlichen Vorteil über einen andern verleiht« .7 Darwin geht es darum, dass ein Stamm von tugendhaften Patrioten, dessen Angehörige alle bereit sind, Opfer für die Gruppe zu bringen, erfolgreicher sein und deshalb von der natürlichen Auslese stärker begünstigt würde als ein Stamm von selbstsüchtigen Individuen. Dies ist das Gruppenselektionsargument, und über viele Jahrzehnte hielt man es für einen akzeptablen Weg, Evolution und Moral miteinander zu vereinbaren.
Aber mittlerweile ist den Biologen klar, dass dieses Argument eine fatale Schwachstelle hat. Wir müssen uns die Frage stellen, wie ein Stamm von Individuen überhaupt altruistisch werden konnte. Stellen Sie sich einen Stamm vor, in dem viele Leute ihre Nahrung mit anderen teilen oder die Gemeinschaft freiwillig vor Angriffen von außen schützen. Wie würde es nun individuellen Betrügern ergehen, die von dieser Regelung profitieren, aber ihre eigene Nahrung horten und sich weigern, freiwillig etwas für die Gemeinschaft zu tun? Diese Halunken würden eindeutig am besten dastehen. Anders gesagt: Betrüger könnten leicht zu Trittbrettfahrern werden, die von den Opfern der anderen profitieren, ohne selbst irgendwelche Opfer zu bringen, und sie würden mit größerer Wahrscheinlichkeit überleben als ihre altruistischer eingestellten Stammesgenossen. In The Origin of Virtue präsentiert uns Matt Ridley ein aktuelleres Beispiel: Wenn man sich darauf verlassen könnte, dass niemand in einer Gemeinschaft Autos stiehlt, dann müssten Autos nicht mehr abgeschlossen werden, und man könnte eine Menge Kosten für Versicherungen, Wegfahrsperren und Alarmvorrichtungen sparen. Der gesamten Gemeinschaft würde es besser gehen. Aber, so schreibt Ridley: »In einer solchen Welt des Vertrauens könnte ein Einzelner davon profitieren, dass er gegen die soziale Regel verstößt und ein Auto stiehlt.« Nach dieser Logik würden sogar Stämme, die patriotisch und altruistisch begonnen haben, bald voller selbstsüchtiger Betrüger sein. Das Problem der Trittbrettfahrer gilt nicht für alle Situationen – es gibt einige wenige Umstände, unter denen die Gruppenselektion immer noch funktioniert –, aber seine Anerkennung hat Darwins Gruppenselektionsargument als generelle Erklärung für moralisches Verhalten innerhalb eines evolutionären Rahmens doch viel Überzeugungskraft genommen.8
In den sechziger und frühen siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts haben die Biologen William Hamilton und Robert Trivers einen neuen und vielversprechenderen Ansatz vorgestellt, der in Richard Dawkins’ Buch Das egoistische Gen zusammengefasst wird. Dawkins argumentiert, die Grundeinheit des Überlebens sei nicht das Individuum, sondern eher das Gen. In einer seiner denkwürdigsten Formulierungen schreibt Dawkins: »Wir sind Überlebensmaschinen – Roboter, blind programmiert zur Erhaltung der selbstsüchtigen Moleküle, die Gene genannt werden.«9 Auf den ersten Blick kommt es einem verrückt vor, so über Evolution zu denken, aber Dawkins, der hier sein eigenes präsumtives Argument einsetzt, stellt fest, dass Moral dadurch auf eine Weise erklärt wird, die vorher unmöglich erschien.
Die geniale Theorie des egoistischen Gens erklärt Moral nicht als Ergebnis individueller, sondern eher genetischer Selbstsucht. »Altruismus«, schreibt der Biologe E. O. Wilson, »wird als der Mechanismus wahrgenommen, durch den sich die DNA selbst vervielfältigt.«10 Das mag zynisch erscheinen, doch dahinter steckt eine Art kalter Logik. Denken Sie an eine Mutter, die in ein brennendes Haus rennt, um ihre beiden Kinder zu retten, die dort in der Falle sitzen. Ein Akt reiner mütterlicher Selbstlosigkeit? Nun, so sieht es aus. Aber William Hamilton erinnert uns daran, dass ein Kind 50 Prozent der mütterlichen Gene in sich trägt. Wenn zwei oder mehr Kinder bedroht sind, dann ist es für eine Mutter rational sinnvoll, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, wenn sie dadurch die Aussichten verbessern kann, dass ihre Gene durch ihren Nachwuchs überleben. Was vom individuellen Standpunkt wie Altruismus aussieht, kann vom genetischen Standpunkt als Egoismus interpretiert werden.
Unter Hamiltons Rahmenbedingungen ist moralisches Verhalten eine Art »Vetternwirtschaft«. Diese Vorstellung hilft uns zu verstehen, warum bestimmte Insekten, Vögel und andere Tiere ihr eigenes Wohlergehen gefährden, um das ihrer Artgenossen zu fördern. Grüne Meerkatzen und Präriehunde stoßen beispielsweise Warnrufe aus, wenn sich ein Raubtier nähert, und manchmal werden sie dadurch selbst zum Ziel des Überfalls. Warum riskieren sie auf diese Weise ihr eigenes Leben? Die Theorie der »Vetternwirtschaft« besagt, dass sie es tun, weil sie mit denen verwandt sind, denen sie helfen. Es gibt also einen evolutionären Ausgleich: Wer Risiken eingeht, maximiert zwar nicht seine individuelle Überlebenschance, wohl aber die Chance, dass die eigenen Gene in zukünftigen Generationen weiterleben. Vom genetischen Standpunkt aus betrachtet, ist die Hilfe für Verwandte einfach eine Form der Selbsthilfe.11
Aber dieses Ausleseverfahren hat nur einen begrenzten Erklärungswert, weil es lediglich begründet, warum Tiere und Menschen sich Verwandten gegenüber altruistisch verhalten. Im alltäglichen Leben helfen Menschen und manchmal sogar Tiere aber auch zahllosen anderen, die nicht ihre Gene haben. Robert Trivers hat das mit »Altruismus auf Gegenseitigkeit« erklärt. Man würde es vielleicht besser als Handel auf Gegenseitigkeit bezeichnen, denn Trivers meint damit eigentlich, dass Geschöpfe sich anderen gegenüber großzügig verhalten, weil sie erwarten, dass sie dafür etwas zurückbekommen. Vampirfledermäuse teilen ihre Nahrung beispielsweise nicht nur mit Verwandten, sondern ebenso mit anderen Artgenossen, die ihnen kurz zuvor etwas abgegeben haben, und auch andere Tiere praktizieren diese Art von Tauschgeschäften. Trivers unterstellt nicht, dass die Tiere dabei bewusst planen oder gezielt vorgehen, sondern er argumentiert, dass die natürliche Auslese die Instinkte für nützliche Tauschgeschäfte mit einem Überlebensvorteil ausgestattet hat. Und natürlich ist es in der menschlichen Gesellschaft üblich, dass Nachbarn und Bekannte sich gegenseitig einen Gefallen tun; ja, wir machen sogar Geschäfte mit völlig Fremden, ausnahmslos motiviert von dem Prinzip, dass »eine Hand die andere wäscht«. Altruismus wird hier also als eine Art Egoismus mit langfristiger Perspektive verstanden.12
Aber auch der Altruismus auf Gegenseitigkeit kann nicht erklären, warum wir anderen Gutes tun, die keine Gegenleistung dafür anbieten. Ein junger Mann überlässt seinen Sitzplatz im Bus einer achtzigjährigen Frau. Sie ist weder seine Großmutter, noch kann er vernünftigerweise annehmen, dass sie ihm nächste Woche im Gegenzug ihren Sitzplatz überlassen wird. Weder die Vetternwirtschaft noch der Altruismus auf Gegenseitigkeit können in diesem Fall als Erklärung dienen. Aber solche Akte des Altruismus sind unter Menschen weit verbreitet und absolut üblich. Viele Leute spenden Blut, ohne dafür irgendeine Belohnung zu erwarten. Andere helfen freiwillig Schwerbehinderten. Wieder andere spenden Geld für den Kampf gegen Malaria oder für Aidsopfer in Afrika, engagieren sich für den Tierschutz im eigenen Umfeld, gegen Sextourismus in Thailand oder religiöse Verfolgung in Tibet. Seit eh und je gibt es Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das Leben bedürftiger Fremder zu verbessern, oder die ihr eigenes Leben für Leute aufs Spiel gesetzt haben, die nicht mit ihnen verwandt sind und sich unmöglich für ihre Hilfe revanchieren können.
Einige Biologen geben zu, dass die Evolution hier keine Erklärung zu bieten hat. »Altruismus gegenüber Fremden«, schreibt der Biologe Ernst Mayr, »ist ein Verhalten, das durch die natürliche Auslese nicht unterstützt wird.«13 Trotzdem versuchen einige eingefleischte Anhänger der Evolutionslehre auch dieses Verhalten innerhalb des evolutionären Rahmenwerks unterzubringen. Ihr bestes Argument lautet, dass hinter scheinbar desinteressiertem Altruismus gegenüber Fremden ebenfalls ein heimliches persönliches Motiv steckt. Unser guter Ruf ist uns lieb und teuer, weil er unsere gesellschaftliche Position fördert und vielleicht sogar unsere Heiratsaussichten verbessert. Michael Shermer räumt ein, es sei möglich, sich einen guten Ruf zu erwerben, indem man so tut, als engagiere man sich für das öffentliche Wohl, meint jedoch, solchen Leuten käme man im Lauf der Zeit auf die Schliche. Er argumentiert: »Am besten überzeugt man andere davon, dass man ein moralischer Mensch ist, indem man es wirklich ist und nicht nur so tut, als ob.« Der Psychologe David Barash stimmt ihm zu: »Sei moralisch, und dein Ruf wird davon profitieren.« Das Motiv bleibt hier der persönliche Nutzen; wir helfen anderen nicht um ihrer selbst willen, sondern weil wir persönlich etwas davon haben. Einmal mehr wird moralisches Verhalten als äußere Tarnung des egoistischen Gens erklärt.14
Aber Shermer und Barash setzen sich nie wirklich mit Machiavellis These als Einwand gegen ihre Überlegungen auseinander. Machiavelli argumentiert: Ein Mensch, der sich in jeder Hinsicht zum Guten bekenne, müsse unter so vielen, die das Schlechte tun, notwendig zugrunde gehen; ein reicher Mann, der ständig großzügig sei, werde bald ein armer Mann sein. Sehr viel besser sei es, so lautet sein schlauer Rat, sich den Anschein der Großzügigkeit zu geben, dabei aber so wenig wie möglich zu verschenken. Mit anderen Worten: Es ist besser, tugendhaft zu erscheinen, als wirklich tugendhaft zu sein: »Jeder sieht, was du scheinst. Nur wenige fühlen, wie du bist.« Beharrlich erklärt Machiavelli, dass die Menschen, denen es in der Welt am besten geht, ebenjene skrupellosen Zeitgenossen sind, die Tugend nur gelegentlich und als Mittel zum Zweck einsetzen, um einen strategischen Gewinn zu erzielen.15 Wenn Machiavelli recht hat, dann sind es nach den Regeln der natürlichen Auslese die Moralheuchler und nicht die wirklich moralischen Menschen, die gedeihen und sich vermehren. Und für den empirischen Beweis könnte er ganz gewiss auch heute einige wohlbekannte erfolgreiche Protagonisten dieser Couleur nennen.
Wenn es natürlich eine kosmische Gerechtigkeit im Leben nach dem Tod gibt, dann sind die Schurken am Ende die Verlierer. Wir sehen das an einem schönen Beispiel aus Dantes Inferno, wo wir im Kreis der Betrüger Guido da Montefeltro begegnen. Guidos militärische Fähigkeiten als Ghibellinenführer beruhten überwiegend auf seiner meisterhaften Beherrschung dessen, was er als »des Fuchses würdig« bezeichnete. Mit seinen Gaunereien war er überaus erfolgreich und wurde nie zur Rechenschaft gezogen. Kurzum, er war ein echter Machiavellist. Später im Leben wurde er Franziskanermönch, nicht weil er seine früheren Missetaten bereute, sondern weil er glaubte, auf diese Weise Gott zu täuschen und doch noch ins Paradies zu gelangen. »Gewisslich hätte sich erfüllt mein Glaube«, erklärt er in der Göttlichen Komödie. Doch anders als leichtgläubige Menschen lässt Gott sich nicht betrügen, und so erhält Guido am Ende seine wohlverdiente Strafe.16 Wie dieses Beispiel zeigt, sorgt die kosmische Gerechtigkeit immer für einen Ausgleich, aber es widerspricht einfach der Realität zu behaupten, dass die Waagschalen in dieser Welt stets ausgeglichen sind. Irdische Gerechtigkeit ist fehlerhaft und unvollkommen; vor diesem Hintergrund ist die Aussage von Barash und Shermer, dass moralisches Verhalten sich immer in diesem Leben auszahlt, nicht besonders überzeugend.
Alle diese evolutionären Versuche zur Erklärung moralischen Verhaltens verfehlen jedenfalls ihr Ziel, denn was auch immer sie erklären mögen, es hat nichts mit Moral zu tun. Stellen Sie sich einen Ladeninhaber vor, der regelmäßig seine Profite erhöht, indem er seine Kunden betrügt. Er macht das ganz behutsam, sodass er nie aufällt und sein guter Ruf nicht leidet. Obwohl der Mann im Spiel des Überlebens erfolgreich ist, wird ihm sein Gewissen, falls er denn ein solches hat, innerlich immer wieder zu schaffen machen. Das reicht vielleicht nicht aus, um sein Verhalten zu ändern, aber er wird sich zumindest nicht gut dabei fühlen und sich am Ende vielleicht selbst verachten. Welche Begründung haben unsere evolutionären Erklärungen dafür? Gar keine. Sie alle versuchen, moralisches Verhalten auf Eigennutz zu reduzieren, aber wenn man darüber nachdenkt, wird einem klar, dass echte Moral nicht auf dieses Niveau abgesenkt werden kann. Moral ist nicht die innere Stimme, die sagt: »Sei wahrhaftig, wenn es dir nützt« oder »Sei freundlich zu denen, die in der Lage sind, dir später einmal zu helfen«, sondern sie ist frei von solchen Berechnungen. Weit davon entfernt, der verlängerte Arm des Eigennutzes zu sein, schränkt die Stimme des unparteiischen Beobachters egoistisches Verhalten typischerweise ein. Denken Sie darüber nach: Wenn Moral einfach der verlängerte Arm unserer Selbstsucht wäre, dann würden wir sie nicht brauchen. Wir brauchen keine moralischen Vorschriften, um den Leuten zu sagen, dass sie in ihrem eigenen Interesse handeln sollen; das tun sie ohnehin. Der Sinn moralischer Vorschriften und Verfügungen besteht gerade darin, die Leute dazu zu bringen, dass sie ihre eigennützigen Interessen unterordnen und einschränken.
Es gibt einen zweiten, tieferen Sinn, in dem evolutionäre Theorien menschliche Moral nicht erklären können. Wir erkennen das, wenn wir uns die verschiedenen Versuche zur Erklärung von Altruismus im Tierreich ansehen. Vor einiger Zeit stieß ich im Londoner Telegraph auf einen Artikel mit der Überschrift: »Animals Can Tell Right from Wrong«.17 Ich las ihn mit Interesse und fragte mich, ob die Tiere nun endlich darüber nachdächten, dass es vielleicht nicht in Ordnung ist, andere Tiere zu fressen. Denn das größte Problem des Tierschutzes besteht immerhin darin, dass man auch die Tiere dazu bringen müsste, seine Gebote zu respektieren. Doch leider war der Artikel an diesem Punkt nicht erhellend. Aber es wurde über Beispiele berichtet, wie Wölfe, Kojoten, Elefanten, Wale und sogar Nagetiere gelegentlich ein kooperatives und altruistisches Verhalten zeigen. Das vielleicht eindrucksvollste Beispiel stammte aus der Arbeit des Anthropologen Frans de Waal, der Gorillas, Bonobos und Schimpansen untersucht hat. Er behauptet, dass unsere »nächsten Verwandten«, die Schimpansen, viele Verhaltensweisen an den Tag legen, die als moralisch gelten, darunter die Bevorzugung von Familienangehörigen und Altruismus auf Gegenseitigkeit.18 Doch de Waal ist klar, dass Schimpansen zwar miteinander kooperieren oder sich gegenseitig helfen, aber nicht das Gefühl haben, dass sie helfen sollten. Anders gesagt: Sie haben kein Verständnis für die normative Basis moralischen Verhaltens, die natürlich für Menschen die eigentliche Essenz der Moral darstellt. Bei der Moral geht es nicht nur um das, was wir tun, sondern vor allem um das, was wir tun sollten. Evolutionäre Theorien wie Vetternwirtschaft und Altruismus auf Gegenseitigkeit gehen völlig an diesem einzigartigen menschlichen Verständnis der Verpflichtung zu moralischem Verhalten vorbei. Solche Theorien können zwar unser Verständnis dafür fördern, warum wir uns kooperativ verhalten und anderen helfen, aber sie können nicht erklären, warum es gut oder richtig oder unsere Pflicht ist, sich so zu verhalten. Sie begehen das, was der Philosoph G. E. Moore einen »naturalistischen Fehlschluss« genannt hat, denn sie verwechseln das, was ist, mit dem, was sein sollte. Sie erklären, was ist, und meinen, sie hätten damit begründet, wie die Dinge sein sollten.
Aber wenn die Evolution nicht erklären kann, warum Menschen zu moralischen Primaten wurden, wer kann es dann? Jetzt ist es Zeit, unser präsumtives Argument zu testen. Die Annahme lautet, dass praktisch alle Vorstellungen eines Lebens nach dem Tod, insbesondere die religiösen Vorstellungen, in der Idee kosmischer Gerechtigkeit wurzeln. Nehmen wir den Hinduismus: »Du bist in diesem Leben ein gieriger und habsüchtiger Mensch; na gut, im nächsten Leben wirst du eine Kakerlake sein.« Auch der Buddhismus hat ein sehr ähnliches Verständnis von Reinkarnation. Judentum, Islam und Christentum dagegen halten an der Idee des Jüngsten Gerichts fest, bei dem die Tugendhaften ihren Lohn und die Übeltäter ihre gerechte Strafe erhalten werden. Im Brief an die Galater (6, 7) heißt es: »Was der Mensch sät, das wird er ernten.« Und eine ähnliche Passage aus der dritten Sure des Korans lautet: »Am Tag der Auferstehung werdet ihr euren vollen Lohn bekommen. « In all diesen Lehren ist das Leben nach dem Tod nicht eine bloße Fortsetzung unseres irdischen Daseins, sondern eine andere Art von Existenz, die auf einer Begleichung irdischer Rechnungen basiert. Diese Theorien besagen: Auch wenn wir im Diesseits nicht immer Gerechtigkeit finden, gibt es eine letzte Gerechtigkeit. Bei dieser zukünftigen Abrechnung wird man ernten, was man gesät hat.
Wir wollen nun von der Annahme ausgehen, dass es eine kosmische Gerechtigkeit nach dem Tod gibt, und fragen, ob diese Annahme uns hilft, das große Rätsel der menschlichen Moral zu lösen. Das scheint sie eindeutig zu tun. Menschen erkennen, dass es in dieser Welt keine ultimative Güte und Gerechtigkeit gibt, aber sie halten weiterhin an ihren Idealen fest. Unser Gewissen beurteilt uns nicht nach dem Standard des durchtriebenen Selbstverherrlichers, sondern nach den Maßstäben des unbeteiligten Beobachters. Wir bewundern den guten Menschen, auch wenn es ein böses Ende mit ihm nimmt, und wir schmähen den erfolgreichen Schurken, der mit seinen Schandtaten davongekommen ist. Evolutionäre Theorien sagen das Gegenteil vorher: Wäre moralisches Verhalten nur ein Produkt gerissener und erfolgreicher Berechnung, dann sollten wir abgefeimte Intriganten bewundern und ihnen nacheifern. Aber das tun wir nicht, sondern wir handeln so, als gäbe es ein moralisches Gesetz, nach dem wir für unser Handeln verantwortlich gemacht werden. Unser Gewissen richtet uns, als gäbe es ein letztgültiges Tribunal, bei dem wir für unsere Taten »schuldig« oder »nicht schuldig« gesprochen werden. Es scheint keinen Grund zu geben, warum wir uns an diese Standards halten und unser Leben daran messen sollten, wenn sie nicht gewissermaßen gesetzgebend wären. Sind sie das aber, dann muss ihre Gerichtsbarkeit in einer anderen Welt liegen, denn sie existiert eindeutig nicht in dieser. Die Annahme einer kosmischen Gerechtigkeit in einer Existenz jenseits dieses Lebens führt uns also zu einer sinnvollen Erklärung moralischer Standards und moralischer Verpflichtungen, wie es evolutionäre Theorien in dieser Form nicht können.
Ironischerweise sind es die Behauptungen der Atheisten, die am besten verdeutlichen, worum es mir geht. Auf den letzten Seiten von The Selfish Gene – jenem Buch, das zeigen soll, wie wir alle mechanische Produkte unserer egoistischen Gene sind – schreibt Richard Dawkins: »Wir haben die Macht, uns unseren Schöpfern entgegenzustellen … Lasst uns verstehen lernen, was unsere eigenen egoistischen Gene vorhaben, denn dann haben wir vielleicht die Chance, ihre Pläne zu durchkreuzen.«19 Ein Jahrhundert zuvor hatte Thomas Huxley im Hinblick auf den kosmischen Prozess des evolutionären Überlebens genauso argumentiert: »Lasst uns ein für alle Mal verstehen, dass der ethische Fortschritt der Gesellschaft nicht davon abhängt, dass wir den kosmischen Prozess nachahmen oder gar vor ihm davonlaufen, sondern dass wir ihn bekämpfen.«20 Das sind nun sehr seltsame Forderungen. Wenn wir, wie Dawkins uns anfangs gesagt hat, die Roboter unserer egoistischen Gene sind, wie soll es uns dann möglich sein, gegen sie zu rebellieren oder ihre Pläne zu durchkreuzen? Kann sich das ferngesteuerte Auto gegen den Menschen wenden, der die Fernsteuerung in der Hand hält? Kann die Software sich gegen ihren Programmierer erheben? Das ist eindeutig absurd.
Aber warum empfehlen Dawkins und Huxley dann eine Vorgehensweise, die ihre eigenen Argumente untergräbt und den gesamten Kurs der Evolution durchkreuzt? Wenn wir innerhalb des evolutionären Rahmenwerks bleiben, gibt es auf diese Frage keine Antwort. Es kann sie nicht geben, weil wir zu verstehen versuchen, warum überzeugte Verfechter der Evolution die Evolution transzendieren und in gewisser Hinsicht ihre eigene Natur untergraben wollen. Im Tierreich sehen wir nichts dergleichen: Löwen beschließen nicht, die Jagd auf Gazellen aufzugeben; Füchse fordern sich nicht gegenseitig auf, nicht mehr hinterlistig zu sein; Parasiten zeigen nicht die geringsten Anzeichen von Reue darüber, dass sie ihre Wirte ausbeuten. Sogar Schimpansen und andere Affen rebellieren trotz ihrer genetischen Nähe zum Menschen nicht gegen ihre Gene oder versuchen, etwas anderes zu werden, als die Natur ihnen einprogrammiert hat.
Was ist dann mit uns Menschen los? Was bewegt sogar den Atheisten dazu, die Moral über sein geschätztes evolutionäres Paradigma zu stellen? Wenn wir von der Annahme einer kosmischen Gerechtigkeit ausgehen, liegt die Antwort auf der Hand. Menschen – Atheisten ebenso wie religiös Gläubige – bewohnen zwei Welten. Die eine ist die evolutionäre Welt, die wir als »Reich A« bezeichnen wollen. Und dann gibt es noch eine weitere Welt, die wir »Reich B« nennen können. Bemerkenswert ist, dass wir, die in Reich A leben, gleichwohl die Standards von Reich B in unsere eigene Natur eingebaut haben. Das ist die Stimme der Moral, die uns mit unserem eigenen selbstsüchtigen Wesen unzufrieden macht und uns ständig hoffen lässt, dass wir uns darüber erheben können. Unsere Hypothese erklärt also die seltsame Natur der Tugendhaftigkeit. Sie kann uns nicht zwingen, weil ihr gesetzgebender Standard von einer anderen Welt ist; aber wir können ihr auch nicht entrinnen. Sie ist verbindlich für uns, weil unser Handeln in dieser Welt letztlich und unvermeidlich in der anderen Welt beurteilt wird. Und schließlich hilft uns die Hypothese auch zu verstehen, warum die Menschen moralische Normen so oft verletzen. Das geschieht, weil unsere Interessen in dieser Welt uns sehr nah sind, während die Folgen unseres Handelns in der nächsten Welt uns so weit entfernt erscheinen, dass wir sie leicht vergessen.
Als Einstein entdeckte, dass seine Relativitätstheorie etwas begreiflich machen konnte, was Newton nicht zu erklären vermochte – die Umlaufbahn des Merkur –, war er begeistert. Er kannte die »Lücke« und war in der Lage, sie zu schließen, nicht innerhalb des alten theoretischen Rahmenwerks, sondern indem er eine revolutionäre neue Theorie entwickelte. Und innerhalb des neuen Paradigmas gab es nicht die geringste Lücke. In diesem Kapitel haben wir keine Lücke, sondern einen gewaltigen Abgrund im evolutionären Paradigma entdeckt, das Rätsel der menschlichen Moral, der universellen Stimme in unserem Inneren, die uns drängt, auf eine Weise zu handeln, die unserer Natur als evolutionäre Primaten widerspricht. Es sind beträchtliche Anstrengungen unternommen worden, die Lücke im Rahmen der Evolutionstheorie zu schließen, aber wie wir gesehen haben, ist das nicht gelungen. Unsere Gegenhypothese einer kosmischen Gerechtigkeit in einer Welt jenseits der Welt leistet wesentlich bessere Dienste. Sie bietet uns eine Möglichkeit, unsere Hypothese eines Lebens nach dem Tod zu testen – indem wir sie auf die menschliche Natur anwenden und fragen, ob sie dazu beiträgt, zu erklären, warum wir so sind, wie wir sind. Und das tut sie tatsächlich. In Verbindung mit anderen Argumenten bestätigt uns dies auf verblüffende Weise, dass der moralische Primat für ein anderes Leben ausersehen ist, dessen konkrete Ausgestaltung davon abhängt, wie er sein Leben in dieser Welt führt.