Kapitel 8

Das immaterielle Selbst

Wie das Bewusstsein den Tod überleben kann

 

Gehirne sind automatische, regelgeleitete,
determinierte Einheiten, während Menschen
persönlich verantwortlich handeln und frei sind,
eigene Entscheidungen zu treffen.
1

Michael Gazzaniga, The Ethical Brain

 

 

Jetzt wollen wir uns der Frage zuwenden, ob das Leben nach dem Tod nur möglich oder wirklich realistisch ist. Zunächst werden wir uns noch einmal mit dem Dualismus beschäftigen, der in der Wissenschaft ein erstaunliches Comeback erlebt hat. Zwar verstehen wir immer noch nicht ganz, wie Körper und Geist miteinander interagieren, aber wir haben eine erste Antwort auf etwas, was uns bisher wie ein unlösbares Problem erschienen ist. Wie wir gesehen haben, ermöglicht der Dualismus ein Leben nach dem Tod, aber er untermauert es nicht. Das hat damit zu tun, dass der Geist vielleicht immer noch einen irdischen Körper zur Inkarnation benötigt, so wie Softwareprogramme bestimmte Arten von Hardware brauchen. Deshalb müssen wir untersuchen, ob es Bereiche unseres mentalen Lebens gibt, die völlig unabhängig vom Körper sind, ja sogar unabhängig von den Naturgesetzen, die über den materiellen Körper herrschen. Wenn das so ist, dann dürfen wir damit rechnen, dass der Geist nach dem Tod entweder aus eigener Kraft weiterleben kann, wie Sokrates glaubte, oder in Verbindung mit einem größeren Geist, wie Hindus und Buddhisten es annehmen, oder in einer anderen Art von Körper, wie es den Vorstellungen der abrahamitischen Religionen entspricht. Indem wir zwei entscheidende Merkmale des mentalen Lebens – Bewusstsein und freien Willen – untersuchen, werde ich zeigen, dass es Aspekte unseres Geistes gibt, die sich nicht auf den materiellen Körper oder die ihn beschreibenden Gesetze reduzieren lassen. Wenn sich meine Argumente als stichhaltig erweisen, werden sie meinen ersten Beweis für ein Leben nach dem Tod darstellen.

Die Philosophie des Dualismus wird durch unsere alltäglichen Erfahrungen gestützt. Wir reden so, als würde sich unser Geist vom materiellen Gehirn unterscheiden. Man sagt etwa: »Greg hat den Entschluss gefasst, ins Konzert zu gehen.« Und nicht: »Gregs Hirnschaltkreise haben ihn veranlasst, ins Konzert zu gehen.« Descartes hat sich jedoch nicht nur auf seine Intuition verlassen, als er sich für den Dualismus aussprach. Er hat mehrere Argumente vorgebracht, und ich konzentriere mich hier auf eins, das in seinen Werken seltsamerweise nicht auftaucht, das ihm aber der Philosoph Antoine Arnaud zugeschrieben hat. Es lautet so: Wenn der Geist vom Körper unabhängig ist, dann sollten wir etwas über den Geist behaupten können, das nicht für den Körper gilt. (Erinnern Sie sich an Leibniz und sein Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren, das letztlich mit dieser Behauptung identisch ist.) Aber was könnte das sein? Wir alle kennen das berühmte Prinzip des Zweifels von Descartes. Descartes stellte die Frage, wie wir irgendetwas sicher wissen können. Wie können wir sicher sein, dass unsere Sinne uns nicht täuschen? Wie können wir wissen, dass wir unser Leben nicht nur träumen? Ich denke, ich sehe dort drüben ein paar Palmen, aber woher weiß ich, dass sie kein Trugbild sind? Ich denke, ich habe ein Gehirn, aber wie kann ich wissen, dass nicht ein böser Dämon die Beweise manipuliert hat, um mich zu täuschen?

Aus ebendiesen Zweifeln leitete Descartes ab, dass es eine Sache gibt, die sich nicht bezweifeln lässt. Dass Descartes zweifelte, bedeutet, dass er denken musste. Sogar wenn er sich täuschen ließ, sogar wenn er sich irrte, dachte er immer noch über etwas nach. Das ist sein berühmtes »Cogito, ergo sum«: »Ich denke, also bin ich.« Aber wenn Descartes weiß, dass er denkt, dann kann er im Hinblick auf seinen Geist etwas mit Sicherheit behaupten, was er im Hinblick auf sein Gehirn nicht sicher wissen kann. Folglich muss sich der Geist vom Gehirn unterscheiden.

So genial Descartes’ Argument auch ist, konnte es doch die meisten Philosophen nicht überzeugen. Gleichwohl hat der Dualismus in den letzten Jahren neuen Respekt und neue Anhänger gewonnen, unter Philosophen ebenso wie unter Wissenschaftlern. Auch wenn die meisten Philosophen sich immer noch für Materialisten halten, haben einige von ihnen erkannt, dass der scheinbar unüberwindliche Einwand gegen den Dualismus (»Wie kann der Geist den Körper bewegen?«) am Ende wohl doch nicht so stark ist. Der Einwand wurzelt in der Autorität der Wissenschaft: Da die Welt von physikalischen Gesetzen beherrscht wird, wie können da immaterielle Gedanken, Überzeugungen und Wünsche zu materiellen Ergebnissen führen? Natürlich kommt der objektive Ansatz der Wissenschaft an die subjektive, immaterielle Welt der Gedanken, Überzeugungen und Wünsche gar nicht heran, denn nur die materielle Welt wird von den Gesetzen der Physik beherrscht. Dass die Wissenschaft nicht erklären kann, wie das Immaterielle das Materielle beeinflusst, ist eigentlich nur bezeichnend für die begrenzte Reichweite der Wissenschaft.

Das Comeback des Dualismus in der Wissenschaft hat mit neueren Entwicklungen in der Medizin zu tun. Sie zeigen, dass mentale Aktivitäten nicht nur materielle Folgen haben, sondern auch die Neuronen in unserem Gehirn wiederherstellen und neu programmieren. In The Mind and the Brain beschreibt der Arzt Jeffrey Schwartz seine Arbeit mit Patienten, die unter Zwangsstörungen leiden. Dabei handelt es sich um Störungen der Hirnchemie, die den Patienten dazu veranlassen, sich beispielsweise alle paar Minuten die Hände zu waschen oder vor Spinnen zu flüchten, von denen er sich verfolgt fühlt, oder jeden Morgen mit der Furcht aufzuwachen, dass sich auf seinem Gesicht Exkremente befinden. Seit Jahrzehnten werden Zwangsstörungen mit Medikamenten und Verhaltenstherapie behandelt, die den Patienten zwingen will, »sich der Furcht zu stellen«. Wenn man also eine paranoide Furcht vor Spinnen oder vor der Berührung mit Exkrementen hat, dann besteht ein Teil der Behandlung darin, dass man Spinnen auf sich herumkriechen lassen oder den Kopf in einen Misthaufen stecken muss.

Diese Behandlung zeigte bisher nur mäßigen Erfolg. Es überrascht nicht, dass viele Patienten sie demütigend fanden und rundweg ablehnten. Schwartz entwickelte etwas, was er »kognitive Therapie« nennt. Die Patienten lernen dabei, ihren Geist neu auszurichten, weg von den Zwängen, und ihre Gedanken und Handlungen idealerweise auf Angenehmeres zu konzentrieren. Diese Behandlung zeigt nicht nur eindrucksvolle Resultate, sondern Schwartz hat auch festgestellt, dass die Gehirne der Patienten dabei neu verschaltet wurden, sodass sie keine paranoiden und zerstörerischen Zwänge mehr empfanden. Mit anderen Worten: Die Patienten modifizierten nicht nur ihre zwanghaften Gedanken, sondern gaben ihrem Gehirn tatsächlich eine neue Ordnung.2

In gewisser Weise ist die Entdeckung von Schwartz, dass der Geist das Gehirn verändern kann, nicht neu. Ärzte wissen schon lange, dass mentaler Stress hohen Blutdruck fördern kann. Der Neurowissenschaftler Mario Beauregard hebt außerdem hervor, dass eins der am häufigsten nachgewiesenen Phänomene in der Medizin der Placeboeffekt ist, der dazu führt, dass es Patienten, die nur Scheinmedikamente erhalten, deutlich besser geht. Die Patienten glauben, sie hätten eine wirksame Arznei erhalten, und ihr Körper reagiert entsprechend. Ein weniger bekanntes komplementäres Phänomen ist der Noceboeffekt, bei dem es darum geht, was mit dem Körper eines Menschen geschieht, der glaubt, er sei infiziert oder verseucht worden. Patienten, die davon überzeugt sind, dass ein bestimmtes Medikament bei ihnen Übelkeit auslösen wird, empfinden tatsächlich Übelkeit, auch wenn sie in Wirklichkeit nur eine Zuckerpille als Scheinmedikament erhalten haben. Ganz ähnlich geht es Medizinstudenten, die manchmal die Symptome von Krankheiten entwickeln, die sie gerade studieren, und Patienten, die glauben, sie würden sich im Krankenhaus neue Beschwerden zuziehen, deren Symptome dann tatsächlich bei ihnen auftreten.3

All das zeigt, dass der Geist den Körper beeinflussen kann und dies auch tut. Aber bis vor relativ kurzer Zeit hat man angenommen, dass sich die neuronale Verschaltung des Gehirns in der Kindheit entwickelt und im späteren Leben weitgehend unveränderlich ist. Die Forschungsarbeiten von Schwartz beispielsweise haben aber gezeigt, dass Hirnsysteme neu verschaltet werden können und sich manchmal als Reaktion auf mentale Aktivitäten sogar selbst neu verschalten. Schwartz steht mit seinen Forschungsergebnissen nicht allein; der Neurowissenschaftler Fred Gage etwa hat gezeigt, dass Gehirne als Reaktion auf Umwelteinflüsse regelmäßig neue Neuronen erzeugen und schlafende aktivieren. Heute ist das Phänomen der »Neuroplastizität« unter Medizinern weitgehend akzeptiert, und es hat eine Vielzahl neuer Therapien hervorgebracht. Der Psychiater Norman Doidge zeigt in seinem Buch The Brain That Changes Itself, was solche Therapien bewirken können: Sie helfen Kindern, Lernbehinderungen zu überwinden, älteren Menschen, ihr Gedächtnis zu verbessern, und sogar gelähmten Schlaganfallpatienten, ihre Bewegungsfähigkeit und Sprache zurückzugewinnen. In jedem Fall, so berichtet Doidge, trainiert die Behandlung das Gehirn, sich neu auszurichten oder »den Kanal zu wechseln«, sodass ein anderes Hirnareal die Funktionen des geschädigten oder gestörten Bereichs übernimmt. Doidge hat festgestellt, dass bei Schlaganfallpatienten nach solchen Behandlungen eine »massive Reorganisation des Gehirns« zu verzeichnen war, bei der die rechte Hemisphäre Funktionen der linken übernahm. Sogar mentale Aufgaben, die normalerweise vom linken Hirn geleistet werden, wurden nun vom rechten ausgeführt.4 Und es ist nicht das Gehirn als solches, das sich neu programmiert, sondern der Geist des Patienten, der diese Leistung mit Hilfe von Therapeuten vollbringt.

Diese Forschungsergebnisse sind nicht nur für den Dualismus von grundlegender Bedeutung, sondern auch für das Leben nach dem Tod. Wenn unser Geist unabhängig genug ist, um Veränderungen im Körper und im Gehirn hervorzubringen, dann dürfen wir auch vernünftigerweise davon ausgehen, dass er die Auflösung des Körpers und des Gehirns überleben kann. In Zusammenarbeit mit dem Physiker Henry Stapp hat Schwartz eine kühne Theorie darüber entwickelt, auf welche Weise mentale Zustände körperliche Zustände beeinflussen können. Für Schwartz und Stapp liegt die Antwort auf diese Frage in den wichtigsten Entdeckungen der Quantenphysik, die besagen, dass subatomare Teilchen ihre präzise Position nur preisgeben, wenn wir sie messen. In der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik, formuliert von Niels Bohr, Werner Heisenberg und anderen, besteht das Problem nicht in der Unzulänglichkeit von Messungen, sondern darin, dass die Partikel keinen Ort haben, bis wir sie messen. Es ist der Akt des Messens, der ein Partikel dazu treibt, aus einer unbestimmten »Superposition« in einen bestimmten und realen Zustand zu wechseln. Mit anderen Worten: »Der Beobachter scheint auf der Quantenebene eine zentrale Rolle bei der Festlegung der Natur der Wirklichkeit zu spielen«,5 wie die Physiker Paul Davies und John Gribbin schreiben.

Das ist genauso überraschend, wie es uns erscheint. Aber nach fast einem Jahrhundert hat sich der Überraschungseffekt ein wenig abgenutzt, und die heutigen Physiker halten es für sinnlos zu fragen, wie solche Phänomene möglich sind. Man schreibt sie dem seltsamen Quantenverhalten zu und akzeptiert, dass die Welt auf diese Weise zu funktionieren scheint: Die Quantenphysik gilt als die am umfangreichsten getestete Theorie in der Wissenschaft und hat eine Fülle neuer Technologien wie Transistoren, Laser, Geräte zur bildlichen Darstellung des Gehirns und Halbleiter ermöglicht. Schwartz und Stapp vertreten die Ansicht, dass kognitive Therapien die Quantenphysik nutzen, indem sie Patienten beibringen, ihr Bewusstsein auf produktive statt auf gestörte mentale Zustände zu richten. Das führt dazu, dass das Bewusstsein auf der Quantenebene eine materielle Kraft erzeugt, welche die Wahrscheinlichkeit für die Realisierung der bevorzugten Zustände erhöht. Auf diese Weise kann der Patient mit Hilfe seiner entsprechend trainierten Willenskraft die Position der subatomaren Partikel festlegen und so die materielle Wirklichkeit innerhalb des Gehirns verändern.6

Die Theorie von Schwartz und Stapp ist umstritten und bedarf noch weiterer Überprüfung und Analyse, aber sie liefert zumindest einen plausiblen Ansatzpunkt für das Verständnis, wie mentale Zustände körperliche Zustände beeinflussen könnten. Indem sie das Bewusstsein als das »fehlende Verbindungsglied« identifizierten, haben Schwartz und Stapp zudem ein für unsere Überlegungen wichtiges Thema angesprochen: Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, dann überlebt wahrscheinlich das Bewusstsein, entweder ganz für sich oder in irgendeiner Art von neuem Körper. Aber das Bewusstsein ist vermutlich der verwirrendste Untersuchungsgegenstand der Wissenschaft. Das erscheint uns paradox, weil für gewöhnliche Menschen nichts ofensichtlicher sein könnte als Bewusstsein. Bewusstsein ist schließlich etwas, was wir alle haben und direkter kennen als irgendetwas sonst. Wir sind mit dem Bewusstsein so vertraut, dass wir jede Nacht freudig darauf verzichten, nur um es am Morgen wieder zurückzubekommen. Aus wissenschaftlicher Sicht scheint das Bewusstsein jedoch unerklärlich. »Wir haben keine wissenschaftliche Erklärung« dafür, schreibt der Kognitionspsychologe Steven Pinker. Und der Philosoph David Chalmers fügt hinzu: »Wir kennen das Bewusstsein sehr viel intimer als den Rest der Welt, aber wir verstehen den Rest der Welt sehr viel besser als das Bewusstsein. «7

Für den Philosophen John Locke war das Bewusstsein beides: ein großes Mysterium und irgendwie zentral für die persönliche Identität. In seinem Essay Concerning Human Understanding formuliert er die bekannte Auforderung, sich einen Prinzen und einen Schuster vorzustellen, die sich nachts zur Ruhe begeben. Während sie schlafen, werden die Inhalte ihres jeweiligen Bewusstseins ausgetauscht. Locke fragt: Wird jeder von beiden, wenn er am Morgen aufwacht, noch derselbe Mensch sein? Für Locke lautet die Antwort ja. Sowohl der Prinz als auch der Schuster haben noch denselben Körper. Aber dann fragt Locke, ob sie auch dieselbe Person sein werden. Auf diese Frage antwortet er nein, denn jeder wird nun die Erinnerungen und das innere Bewusstsein des jeweils anderen haben. In dieser Hinsicht ist der Prinz der Schuster und der Schuster der Prinz geworden. Persönliche Identität, so behauptet Locke, ist nicht die Identität von Substanz, sondern die Identität von Bewusstsein.8

Moderne Philosophen diskutieren das Bewusstsein nicht mehr am Beispiel von Prinzen und Schustern, sondern von Zombies. Ja, wir reden über diese merkwürdigen Geschöpfe in Hollywoodfilmen à la »Die Nacht der lebenden Toten«. Zombies sind wie Menschen, aber sie haben kein inneres Leben. Sie handeln wie Menschen, aber ihnen fehlt das Bewusstsein. Hollywood ist begeistert von Zombies und hat eine Vielzahl solcher Wesen in Szene gesetzt, aber der Zombie der Philosophen ist sehr viel interessanter. Er ist die materielle Kopie einer Person. Sein Körperbau gleicht in jeder Hinsicht dem eines Menschen, Organ für Organ und Zelle für Zelle. Mehr noch, er verhält sich auch genauso wie ein Mensch. Er isst Hotdogs mit Chili, jubelt bei Fußballspielen und schnarcht im Schlaf. Zugegeben, bisher hat noch niemand einen solchen Zombie konstruiert, aber die philosophische Frage lautet: Ist ein derartiges Geschöpf möglich? Wenn ja, dann haben wir ein Wesen, das körperlich und funktional mit Menschen identisch ist, dem aber das menschliche Merkmal des Bewusstseins fehlt. Die unvermeidliche Schlussfolgerung lautet, dass es für das menschliche Bewusstsein keine materielle Erklärung gibt.

Das Zombie-Beispiel ist rein theoretisch, aber tatsächlich wird das Bewusstsein seit Jahrzehnten untersucht und entzieht sich bisher jeder wissenschaftlichen Erklärung. Legen Sie das Bewusstsein unter ein Mikroskop, und Sie sehen, nun ja, nichts. Fragen Sie einen Hirnforscher, ob Sie bei Bewusstsein sind, und er kann es nur wissen, wenn Sie es ihm sagen. Es gibt keine physikalischen Fakten oder wissenschaftlichen Gesetze, die zu der Vorhersage oder Erwartung führen, dass ein Bewusstsein existieren sollte, und es gibt für das Bewusstsein auch keine gute evolutionäre Erklärung. Im Buch Consciousness Regained argumentiert Nicholas Humphrey, dass uns das Bewusstsein hilft wahrzunehmen, wie andere denken, damit wir besser mit ihnen kooperieren können, um Nahrung zu finden und uns vor Raubtieren zu schützen.9 Aber Millionen anderer Geschöpfe, von Amöben über Bakterien bis zu Insekten, überleben – soweit wir wissen – ohne Bewusstsein. Im Grunde brauchen wir das Bewusstsein für keine der Aktivitäten, die den Menschen das Überleben und die Fortpflanzung sichern. Das Bewusstsein hilft uns nicht einmal dabei, andere zu durchschauen, weil wir zu ihrem Bewusstsein keinen Zugang haben, sondern nur zu unserem eigenen. Man könnte natürlich sagen, dass wir auf ihr Handeln reagieren, aber das ist genau der Punkt: Wir können mit anderen Menschen zusammenarbeiten, ohne dass irgendjemand irgendwelche inneren Zustände haben müsste. Ameisen scheinen das zu tun, und wenn sie es können, dann können wir es vermutlich auch. So merkwürdig uns das erscheinen mag, Biologen sagen, wir könnten genau so leben, wie wir es tun, ohne irgendeine Art von innerem Bewusstsein zu haben.

Der Philosoph Daniel Dennett hat die vielleicht ausdauerndsten Anstrengungen unternommen, das Bewusstsein aus wissenschaftlicher Sicht zu erklären. In seinem Buch Consciousness Explained zieht er die Möglichkeit in Erwägung, dass es gar kein Bewusstsein gibt. Und das soll nicht etwa ein Witz sein. Ich habe zweimal mit Dennett debattiert, und er zeigt nicht die geringste Spur von Humor. Dennett diskutiert ausführlich den Philosophen-Zombie und stellt am Ende fest, dass solche Geschöpfe nicht möglich sind. Aber dann widerlegt er sich selbst, indem er erklärt, das innere Leben der Menschen sei eine Illusion, sodass wir eigentlich Zombies sind. Weil ihm klar ist, wie haarsträubend das klingt, behauptet er etwas, was er als »intentionale Haltung« bezeichnet. Auch wenn Leute kein Bewusstsein und folglich auch keine Gefühle oder Absichten haben, sollten wir sie so behandeln, als hätten sie das alles.10

Aber wenn wir wirklich Zombies sind, warum sollen wir dann etwas anderes vortäuschen? Warum nicht die Möchtegernhaltung aufgeben, uns selbst so akzeptieren, wie wir sind, und einen »Tag der Zombies« ins Leben rufen? Abgesehen davon weist schon der bloße Akt der Vortäuschung eindeutig darauf hin, dass wir Ziele und Absichten und damit sehr wohl ein Bewusstsein haben. Dennett hat also die Absurdität seiner Position nicht etwa verringert, sondern noch weiter erhöht. Die eigentliche Frage lautet, warum ein intelligenter Mann wie Dennett so etwas von sich gibt. Der Grund: Er ist Anhänger einer materialistischen, objektiven Weltsicht, und Bewusstsein ist irreduzibel nichtmaterialistisch und subjektiv. Da Dennett alles in der Welt für materiell und objektiv hält, ist er aus ideologischen Gründen gezwungen, die Existenz immaterieller und subjektiver Phänomene zu leugnen. Also muss er, ohne eine Miene zu verziehen, behaupten, er sei ein Zombie, obwohl er genau weiß, dass es nicht stimmt.

Das Problem für den Materialismus und allgemeiner die moderne Wissenschaft liegt darin, dass die menschliche Subjektivität genauso eine Naturgegebenheit ist wie Planeten, Felsen und Bäume. Und subjektives Bewusstsein ist insofern eine ganz besondere Gegebenheit, weil darin alle anderen Gegebenheiten angesiedelt sind. Das Bewusstsein ist unser Fenster zur Wirklichkeit, nicht nur zur Realität der Welt dort draußen, sondern auch zur Realität unserer eigenen Existenz. Wir erkennen das Bewusstsein, weil wir es unmissverständlich wahrnehmen und weil wir durch das Bewusstsein alles andere wahrnehmen. Es gibt keine Möglichkeit, Bewusstsein vollständig von außen zu verstehen, weil es nur im Inneren wirkt. Psychologische Versuche, um das Bewusstsein »herumzukommen« oder »dahinterzukommen«, sind gleichermaßen zum Scheitern verurteilt. Da stünden sogar die Chancen besser, dass ich Augen am Hinterkopf hätte.

Der Philosoph David Chalmers argumentiert, wir sollten das Bewusstsein – wie Materie und Energie – einfach als nicht reduzierbares Element der Wirklichkeit akzeptieren. 11 In diesem Fall ließe es sich mit Magnetismus, Energie oder der Schwerkraft vergleichen und wäre etwas mit eigenen Gesetzen und Eigenschaften, die sich nicht unter Bezugnahme auf etwas anderes erklären ließen. Außerdem wäre der Dualismus damit voll gerechtfertigt, denn wir müssten das Materielle wie das Mentale als unterschiedliche Realitäten in der Welt anerkennen. Aber ob Chalmers nun recht hat oder nicht, wir können mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass Bewusstsein jenseits aller bekannten wissenschaftlichen Gesetze und Erklärungen liegt. Die überraschende Schlussfolgerung lautet, dass ein zentrales Merkmal unserer Identität und Menschlichkeit außerhalb der anerkannten physikalischen Naturgesetze wirkt. Eins dieser Gesetze besagt selbstverständlich, dass alle lebenden Körper sterblich sind. Aber das Bewusstsein ist kein Teil des Körpers, und es befindet sich auch nicht auf dieselbe Weise »im« Körper wie Nerven oder Neuronen. Bewusstsein ist lediglich eine Begleiterscheinung des Körpers und wirkt durch den Körper. Der Körper dient ihm als eine Art Empfänger und Transmitter, ist jedoch nicht sein Urheber oder Produzent. Was William James die »Übertragbarkeitsdoktrin« des Bewusstseins genannt hat, nach der unser individuelles Bewusstsein von einer äußeren Quelle stammt und abhängig ist, erscheint nun weitaus plausibler als die materialistische Alternative.

Aufgrund unserer bisherigen Überlegungen könnte man das Bewusstsein für etwas Einzigartiges halten. Aber es gibt noch einen anderen fundamentalen Aspekt des Menschseins, der sich ebenfalls wissenschaftlichen Erklärungen zu entziehen und keinen physikalischen Gesetzen zu unterliegen scheint. Das ist unser freier Wille. Wir erfahren den freien Willen genauso direkt wie das Bewusstsein, aber es gibt einen wichtigen Unterschied: Das Bewusstsein beschreibt meine Erfahrung, gewahr zu sein; deshalb kann ich mich in dieser Beziehung nicht irren. Wenn ich denke, dass ich bewusst bin, dann bin ich bewusst. Aber das gilt nicht für den freien Willen. Das hat damit zu tun, dass ich zu dem, was im Inneren meines Gehirns geschieht, nicht mehr Zugang habe als zu dem, was sich im Inneren meines Verdauungsapparats oder meines Kreislaufsystems abspielt. Mein Verhalten könnte also ohne mein Wissen auf mechanistische Weise durch meine inneren Hirnzustände verursacht sein. Dann würde ich immer noch glauben, ich hätte einen freien Willen, aber ich würde mich irren. Ich wäre eine lebendige Marionette, die mit der eigenen Leistung sehr zufrieden wäre, würde aber in Wirklichkeit nach der Pfeife der mächtigen Neuronen tanzen.

Führende materialistische Denker vertreten die Meinung, dass genau dies geschieht. Der Philosoph Owen Flanagan schreibt: »Dass der Wille anscheinend aus eigener Initiative hervorgeht, ist eine verständliche Illusion. Wir haben keinen Zugang zu den meisten ursächlichen Faktoren, die mit darüber entscheiden, wer wir sind und was wir tun.« Daniel Wegner sagt in The Illusion of Conscious Will, wir sollten unseren phänomenalen Willen nicht mit unserem empirischen Willen verwechseln. Der phänomenale Wille ist das Gefühl, einen freien Willen zu haben, eine Art »Urheber-Emotion«. Der empirische Wille wird dagegen durch ihm vorausgehende Kräfte verursacht, die unsichtbar für uns sind. »Jede unserer Handlungen ist in Wirklichkeit der Höhepunkt einer komplizierten Abfolge körperlicher und mentaler Prozesse.« Der Biologe E. O. Wilson schreibt, dass »die verborgene Vorbereitung mentaler Aktivitäten die Illusion des freien Willens gibt«.12

Der Einwand gegen den freien Willen kommt nicht von der Biologie oder den Neurowissenschaften, sondern von der Physik. Er wurde schon vor zweihundert Jahren von dem französischen Physiker Pierre Laplace formuliert, der schrieb, wenn wir die Position und die Bewegungsgröße jedes Partikels im Universum wissen könnten, dann könnten wir im Prinzip alle zukünftigen Ereignisse vorhersagen. Und nicht nur das; wir könnten auch zurückblicken und alles wissen, was in der Vergangenheit geschehen ist. Laplace ging es nicht darum, dass irgendjemand das alles wirklich herausfinden könnte, sondern dass alles, was geschieht, in den Naturgesetzen festgelegt ist. Wir sind Teil der Natur und bestehen wie alles andere aus Atomen und Molekülen. Folglich werden unsere Gedanken und Handlungen durch Kräfte verursacht, die seit den Anfängen des Universums gewirkt haben. In diesem Bild hat der freie Wille keinen Platz.

In den letzten Jahren hat die Arbeit des Psychologen Benjamin Libet die Vorstellung, dass wir nicht so frei sind, wie wir gern glauben, experimentell gestärkt. Libet bat freiwillige Versuchspersonen, einfache Bewegungen auszuführen, beispielsweise das Handgelenk zu schütteln oder mit den Fingern zu wackeln, und dabei genau festzuhalten, wann sie sich zu dieser Bewegung entschlossen hatten. Gleichzeitig setzte er ein EEG-Gerät ein, um die Hirnaktivitäten während des Versuchs zu überwachen. Libet wollte wissen, was zuerst kommt: die Entscheidung zu handeln, oder das entsprechende Feuern der Neuronen im Gehirn. Erstaunlicherweise stellte er fest, dass der Entschluss zum Handeln erst einige Millisekunden nach dem Aufleuchten der fraglichen Hirnareale getroffen wurde. Was Libet als das »Bereitschaftspotenzial« des Gehirns bezeichnet, geht der bewussten Entscheidung also voraus. Bei nachfolgenden Experimenten stellte Libet fest, dass das Gehirn bei manchen Arten von Entscheidungen bis zu einer halben Sekunde vor dem bewussten Entschluss in Aktion tritt. Libet interpretiert seine Ergebnisse nicht in dem Sinne, dass wir keinen freien Willen hätten, sondern sagt, das Gehirn schlage einen Handlungsverlauf vor und der Wille habe dabei einen kurzen Moment, um sein Veto einzulegen. Gleichwohl gesteht Libet dem freien Willen nur eine begrenzte Kompetenz zu. Seine Forschungsergebnisse legen die Vermutung nahe, dass der freie Wille überbewertet wird – unser Verhalten ist hauptsächlich durch Hirnzustände vorbestimmt, die messbare Aktivitäten entfalten, bevor der freie Wille ins Spiel kommt.13

Bedenken Sie die weitreichenden Folgen, wenn wir keinen freien Willen hätten. Keine der Entscheidungen, die Sie in Ihrem Leben getroffen haben, wäre dann wirklich Ihre eigene. Erinnern Sie sich noch an das Mädchen, das Sie bei Ihrem ersten Tanz aufgefordert haben? Oder wie Sie das Jurastudium geschmissen haben, um in Spanien Kurzgeschichten zu schreiben? Oder wie Sie heute Ihrem Partner gesagt haben, wie sehr Sie ihn lieben? Oder was Sie für die Zeit nach Ihrer Pensionierung geplant haben? Tut mir leid, aber keine dieser Entscheidungen haben Sie selbst getroffen … Wenn es keinen freien Willen gibt, dann wird die gesamte Literatur der westlichen Welt unverständlich, weil jede einzelne Figur von Ödipus bis Gatsby mit ihrem Handeln lediglich auf unkontrollierte Hirnzustände reagiert hat. Sicher, die Griechen glaubten, das Schicksal würde letztlich über unsere Bestimmung entscheiden, aber sie leugneten weder die persönliche Entscheidungsfreiheit noch die persönliche Verantwortung: Das Schicksal des Ödipus war nur deshalb tragisch, weil er beschlossen hatte, um jeden Preis herauszufinden, wer seine Eltern waren.

Ohne freien Willen wären auch kollektive Entscheidungen nicht mehr freiwillig, und die amerikanischen Gründerväter hätten in Philadelphia nicht aus freiem Entschluss eine Verfassung verabschiedet. Auch hätten die Amerikaner dann nicht Barack Obama zum Präsidenten gewählt. Wir könnten keine Entscheidung darüber treffen, die soziale Sicherheit oder das Gesundheitssystem zu verbessern. Wenn der freie Wille eine Illusion ist, dann gibt es keine guten oder bösen Taten, weil niemand in dieser Hinsicht eine Wahl hat. Dann könnte man Hitler nicht den Mord an den Juden zur Last legen. Dann wäre Abraham Lincoln einer Wahnvorstellung gefolgt, als er die Sklaverei für falsch erklärte, und die Sklavenhalter in den Südstaaten hätten sich nicht schuldig gemacht, als sie menschliche Wesen kauften und verkauften. In seinem Widerstand gegen die Rassentrennung wäre Martin Luther King damals nur seinen Hirnzuständen gefolgt, und sogar ruchlose Kriminelle könnten für ihre Taten nicht verantwortlich gemacht werden, weil auch ein kaltblütiger Mord sich der Kontrolle von Menschen entzöge, die keine Wahl hätten. Nicht nur unser Strafrecht, sondern auch unsere Systeme der Selbstverwaltung, Wirtschaftsverträge, Bürgerrechte, Bildung, Ehe und Sozialreformen setzen voraus, dass freie Bürger eine freie Wahl treffen. Wenn diese Annahme falsch wäre, dann wären alle diese Institutionen ein Schwindel, und die gesamte Struktur der modernen Gesellschaft müsste korrigiert werden.

Einigen materialistischen Denkern wie Daniel Dennett und Owen Flanagan ist klar, auf welchen absurden Weg sie uns geführt haben. Folglich gibt es eine wachsende Zahl von Philosophen, die gern zeigen würden, dass der freie Wille mit der materialistischen Weltsicht vereinbar ist.14 Natürlich ist das kein freier Wille nach klassischem Verständnis. Aber man versucht, den Leuten zu versichern, dass sie immer noch ein gewisses Maß an Autonomie und Wahlfreiheit in der Welt haben. Und wie ist das innerhalb eines materialistischen Rahmens möglich? Hier unterscheiden die Philosophen zwischen zwei Arten von freiem Willen. Die erste bezeichnen sie als »libertäre Freiheit«. Damit ist gemeint, dass unser Handeln frei ist, wenn es nicht vorherbestimmt ist und wir uns auch anders hätten entscheiden können. Diese Art von Freiheit schließt nicht aus, dass andere Faktoren unsere Wahl beeinflussen, aber die Entscheidung bleibt uns überlassen. Dennett und Flanagan behaupten, dass eine solche Freiheit in einem gesetzmäßig funktionierenden Universum ausgeschlossen ist. Die andere Art von Freiheit besteht in der Abwesenheit von Einschränkungen. Das bedeutet, dass wir die freie Wahl haben, wenn uns nichts im Weg steht. Unser Handeln kann zwar durch Hirnzustände verursacht oder determiniert sein, die sich unserer Kontrolle entziehen, aber es handelt sich dabei um unsere persönlichen Hirnzustände. Solange kein äußeres Hindernis uns von unseren Aktivitäten abhält, sind wir zumindest in diesem Sinne frei. Damit sagen Dennett und Flanagan also, dass wir wählen können, was wir wollen, auch wenn wir nicht wollen können, was wir wollen.

Kann dieser Versuch, die freie Wahl und den Determinismus unter einen Hut zu bringen, wirklich funktionieren? Ich glaube, nicht. Stellen Sie sich ein ferngesteuertes Auto vor, das sich durch ein Zimmer bewegt, ohne auf ein Hindernis zu stoßen. Es scheint absurd zu sagen, das Auto habe einen freien Willen, nur weil es nichts gibt, womit es zusammenstoßen könnte; in Wirklichkeit wird es voll und ganz von demjenigen kontrolliert, der die Fernbedienung in der Hand hat. Sogar auf der menschlichen Ebene ist die Vorstellung absurd, dass Schlafwandler oder Heroinsüchtige über ihr Handeln frei entscheiden, nur weil niemand sie zurückhält. Würde ein verrückter Neurowissenschaftler Ihr Gehirn manipulieren und Sie auf Meuchelmord programmieren, würden Sie dann frei und selbstbestimmt handeln? Natürlich nicht. Das ist es wirklich nicht, was wir unter Freiheit verstehen. Wenn Menschen Autonomie und Selbstbestimmung haben sollen, dann setzt das eine Art von Freiheit voraus, die weit über die Abwesenheit äußerer Beschränkungen hinausgeht.

Kehren wir zurück zum Argument von Laplace, der den freien Willen auf der Grundlage des Newton’schen Weltbilds verwirft. Aber dieses Paradigma ist durch die moderne Physik längst überholt. Viele Physiker haben erklärt, dass die Quantenphysik und ganz besonders die Unschärferelation durchaus einen Raum für den freien Willen eröffnen. Die Logik ist sehr einfach: Wenn das Universum deterministisch ist, kann es keinen freien Willen geben; das Universum ist aber nicht deterministisch, und deshalb kann es einen freien Willen geben. Der Physiker Stephen Barr kommt zu dem Schluss: »In den heute anerkannten Naturgesetzen gibt es nichts, was logisch nicht mit dem freien Willen vereinbar wäre.« 15

Für den freien Willen spricht noch mehr, wenn wir uns klarmachen, dass alle Versuche, ihn anzufechten, ohne Zusammenhang sind. In seinem Buch Possible Worlds schrieb der Evolutionist J.B.S. Haldane: »Wenn meine mentalen Prozesse vollständig durch die Bewegungen von Atomen in meinem Gehirn festgelegt sind, habe ich keinen Grund zu der Annahme, dass meine Überzeugungen der Wahrheit entsprechen … und deshalb habe ich keinen Grund zu der Annahme, dass mein Gehirn aus Atomen zusammengesetzt ist.«16 Ein Mensch, der den freien Willen leugnet, ist das intellektuelle Äquivalent zu jemandem, der sich von einer Klippe stürzt.

Einer der ersten Denker, die das Problem in seiner vollen Tragweite erkannt haben, war Immanuel Kant. In seinem Buch Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft führte er einen Beweis des freien Willens, der in seiner Originalität ebenso wie in seiner Richtung überrascht. Kant argumentierte, die Moral sei ein unverzichtbarer Teil des Menschseins. Es hat nie eine menschliche Kultur ohne Moral gegeben. Kein normales menschliches Wesen kann die Moral vollständig ablehnen; wer richtig und falsch nicht unterscheiden kann, gilt als Psychopath. Wenn man einen Materialisten mit unmenschlicher Brutalität behandelt – nicht als Person, sondern als Objekt –, dann wird er empört protestieren: »Das hättest du nicht tun dürfen!« Sosehr er sich darum bemühen mag, auch der Materialist kommt nicht ganz ohne Moral aus. Moral ist ein unbestreitbares Faktum in der Welt, nicht weniger real als irgendwelche anderen Fakten.

Sogar Materialisten, die den freien Willen leugnen, denken und handeln typischerweise moralisch wie jeder andere Mensch. Wie in diesem Kapitel schon erwähnt wurde, hält der Biologe E. O. Wilson den freien Willen für eine Illusion. Sehen wir uns also an, wie stimmig Wilson dieses Thema in einem seiner neueren Bücher unter dem Titel The Creation abhandelt. Der Untertitel lautet An Appeal to Save Life on Earth (Ein Aufruf zu Rettung des Lebens auf der Erde), ein Hinweis darauf, dass es hier um eine ethische Begründung des Umweltschutzes geht. Wilson sorgt sich, dass »wir einen falschen Weg eingeschlagen haben«, als wir anfingen, die Umwelt zu missbrauchen, sagt aber, es sei »nicht zu spät für einen Kurswechsel«. Er bietet »bewährte Vorschläge für Eltern und Lehrer«. Er präsentiert etwas, was er »ein überzeugendes moralisches Argument … für die Rettung der Schöpfung« nennt. Er empfiehlt einen »vorsichtigen Umgang mit Pestiziden«. Es wäre, so warnt er, »ein schwerer Fehler, auch nur eine einzige Art … aussterben zu lassen«. Er behauptet: »Die Zeit zu handeln … ist jetzt.«17 Fragen Sie sich selbst, was von diesen Aussagen einleuchtend ist, wenn wir nicht frei entscheiden können. Die Antwort lautet: gar nichts. Alles, was Wilson über die Umwelt schreibt – unsere Verantwortung für das Problem, seine Auforderung zum Umweltschutz, seine Empfehlungen für die Politik und das persönliche Verhalten, unsere Fähigkeit, seinen Rat anzunehmen und ihm zu folgen – , all das ergibt nur einen Sinn, wenn wir einen freien Willen haben.

Man kann Wilson einfach als Heuchler abtun, der bewusst täuschen will, aber Kant führt uns in eine sehr viel interessantere Richtung. Die Tatsache, dass wir von der Moral nicht wegkommen, sei entscheidend, argumentiert er, weil Moral ihrem Wesen nach von der Annahme einer freien Entscheidung ausgeht. Wilsons eigene Analyse veranschaulicht das. Die Tatsache, dass Wilson denkt, wir sollten bestimmte Dinge tun, impliziert, dass wir die Möglichkeit haben, sie zu tun. Das gilt für jede Art von moralischen Ratschlägen. Wenn ich jemandem erkläre: »Du hättest die Wahrheit sagen sollen«, dann folgt daraus, dass diese Person die Wahrheit hätte sagen können. Wenn Sie Ihr Kind ermahnen: »Du darfst bei der Prüfung nicht pfuschen«, dann bedeutet dies, dass Ihr Kind das Pfuschen unterlassen kann. Kant schreibt zur Moral, wir sollten bessere Menschen werden, folglich müssten wir es auch können. Wenn wir verärgert oder empört über jemanden sind, der sich auf eine bestimmte Weise verhalten hat, dann ist unsere Reaktion nur sinnvoll, sofern sich die betreffende Person auch anders hätte verhalten können. Sogar Emotionen wie Reue und Bedauern sind unverständlich, wenn es keinen freien Willen gibt. Was wir getan haben, tut uns leid. Deshalb muss es so sein, dass wir auch anders hätten handeln können. Aber wenn das alles stimmt, dann können sich Menschen zumindest gelegentlich und in einem gewissen Ausmaß frei entscheiden.

Nun können wir das Argument von Laplace auf den Kopf stellen. Laplace hat die Meinung vertreten, weil wir nur materielle Objekte in einem gesetzmäßig funktionierenden Universum seien, könnten wir keinen freien Willen haben. Wie alle Argumente steht und fällt auch dieses mit seiner Voraussetzung. Wenn die Voraussetzung gültig und der Gedankengang logisch ist, dann folgt die Schlussfolgerung unvermeidlich. Umgekehrt, wenn die Schlussfolgerung falsch ist, dann muss die Voraussetzung ebenso falsch sein. Mit Kants Hilfe haben wir gesehen, dass der freie Wille existiert, und daraus folgt, dass wir nicht nur materielle Objekte in einem gesetzmäßig funktionierenden Universum sein können. Das verblüffende Fazit besagt, dass ein Teil der menschlichen Natur transzendent jenseits der physikalischen Gesetze wirkt, die über die Materie herrschen.18

Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Entdeckung? Wir haben die Diskussion mit der Frage begonnen, ob es Aspekte unseres Menschseins gibt, die nicht den materiellen Beschränkungen dieser Welt unterworfen sind. Wir haben jetzt zwei zentrale Eigenschaften der menschlichen Natur gefunden – Bewusstsein und freier Wille –, die sich nicht auf Materie reduzieren lassen und unabhängig von ihr zu sein scheinen. Noch erstaunlicher ist, dass es für das Bewusstsein und den freien Willen keine natürliche Erklärung gibt und sie anscheinend nicht den physikalischen Gesetzen unterworfen sind. Was durch physikalische Gesetze festgelegt ist, beispielsweise der menschliche Körper und das menschliche Gehirn, ist vergänglich oder zerstörbar. Bewusstsein und freier Wille, die solchen Beschränkungen nicht unterliegen, sind es nicht. Bewusstsein und freier Wille sind außerdem die definierenden Eigenschaften der menschlichen Seele, die beides benötigt, um zwischen richtig und falsch unterscheiden zu können. Daraus ergibt sich die Konsequenz: Was auch immer mit unserem Körper und Gehirn nach dem Tod geschehen mag, unsere Seele lebt weiter.