Die praktischen Vorzüge des Glaubens
Wenn man den Geist öffnet, dann besteht
das Ziel wie beim Öffnen des Mundes darin,
ihn wieder um etwas von solider Beschaffenheit
zu schließen.1
G. K. Chesterton, Autobiographie
Ein Priester suchte Niccolò Machiavelli auf, als dieser im Sterben lag. Der Priester drängte Machiavelli, seine Sünden zu bereuen und dem Teufel abzuschwören. Machiavelli lag mit geschlossenen Augen da und sagte nichts. »Bereut Eure Sünden und sagt Euch von Satan los.« Machiavelli schwieg immer noch. Der Priester hob seine Stimme und fragte: »Wollt Ihr Eure Sünden bereuen und Euch von Satan lossagen?« Schließlich öffnete Machiavelli ein Auge und flüsterte: »Vater, zu einer Zeit wie dieser versucht man, sich keine neuen Feinde zu machen.« Die Geschichte ist fingiert, klingt jedoch überzeugend, weil sie in typischem Machiavellismus die vernünftige Frage aufwirft, um die es in diesem Kapitel geht. Wir haben gesehen, dass der Glaube an die Unsterblichkeit gut für die Gesellschaft ist, jedenfalls für die Menschen im Westen. Wir haben auch gesehen, dass dieser Glaube höchstwahrscheinlich der Realität entspricht. Trotzdem bleibt ein Rest von Ungewissheit. Deshalb setzen wir unsere Untersuchung fort und gehen hier der Frage nach, ob dieser Glaube für uns persönlich gut ist. Wir wollen ganz unverfroren über die praktischen Konsequenzen von Glauben und Unglauben nachdenken und gezielt fragen: »Was habe ich davon?«
Richard Dawkins versichert uns, dass solche Überlegungen irrelevant sind, weil es dabei nicht um die Wahrheit, sondern um die Nützlichkeit geht. Für Dawkins spielt es im Grunde keine Rolle, ob der Glaube an Gott oder ein Leben nach dem Tod vorteilhaft, nützlich oder tröstlich ist. »Wie kann es tröstlich sein«, fragt er, »an etwas zu glauben, was geradewegs kontrafaktisch ist? Das einfach den Fakten widerspricht? « Dawkins verhöhnt Leute, die an Gott und die Unsterblichkeit glauben, denn wenn es keinen Gott gäbe, wäre das Leben für sie »leer, sinnlos, vergeblich, eine Wüste aus Sinn- und Bedeutungslosigkeit«. Dawkins sagt: Was soll’s? Vielleicht ist das Leben leer. Er gibt uns das Beispiel eines Mannes, der sich weigert, den Tod seiner Frau zu akzeptieren, und beharrlich behauptet, das könne nicht wahr sein, weil sein Leben dadurch unerträglich, öde und leer würde. Dawkins bemerkt dazu: »Das Leben ohne Ehefrau kann durchaus unerträglich, öde und leer sein, aber das verhindert leider nicht, dass sie tot ist.«2
Dawkins’ Entschlossenheit, bei der Wahrheit zu bleiben, auch wenn sie unangenehm ist, wirkt ehrenwert und nötigt uns Bewunderung ab. Wie die Freiheit gehört die Wahrheit zu den zentralen Werten unserer Kultur, denen wir automatisch Beifall zollen. Aber schon Nietzsche beispielsweise hätte sich solchen Beifallsbekundungen nicht angeschlossen, hat er doch die überraschende Frage aufgeworfen: Warum ist die Wahrheit wichtig? Weshalb dieser Fetischismus mit der Vernunft? Aus welchem Grund sollten wir uns ohne Rücksicht auf die Konsequenzen an die Wahrheit halten? Um zu verstehen, worum es Nietzsche ging, stellen Sie sich vor, Sie lebten in den dreißiger oder vierziger Jahren und die Nazis kämen und fragten Sie, ob Sie Juden versteckt hielten. Oder stellen Sie sich vor, Sie schickten Ihre fünfzehnjährige Tochter zu einer Routineuntersuchung, nach der Sie der Arzt im Vertrauen darüber informierte, dass sie an einer unheilbaren Krankheit leidet und nur noch wenige Jahre zu leben hat. Würden Sie sich verpflichtet fühlen, Ihrer Tochter im Namen der Wahrheit dieses Todesurteil mitzuteilen? Ich bin mir nicht sicher, ob ich es täte, aber meine Entscheidung hätte nichts mit dieser Scheinanforderung zu tun, dass wir die Wahrheit ofenbaren müssen. Ich würde mich bei der Entscheidung eher danach richten, ob diese Information gut für ihr Leben wäre. Die Wahrheit müsste hier hinter pragmatischen Erwägungen zurückstehen. Anders, als Dawkins uns glauben machen will, ist es keine selbstverständliche Tugend, in jedem Fall die Wahrheit zu sagen. Es gibt Situationen, in denen man besser schweigt oder die Wahrheit sogar ignoriert. Aber Nietzsches Argument war noch grundsätzlicher. Seiner Meinung nach sollte die Wahrheit das Leben verbessern. Nicht das Leben muss der Wahrheit, sondern die Wahrheit sollte dem Leben dienen.
Hume argumentierte etwas anders. Vielleicht durchdringender als irgendjemand vor ihm nutzte Hume sowohl spekulative als auch empirische Überlegungen, um wichtige Fragen darüber aufzuwerfen, wie wir behaupten können, irgendetwas zu wissen. Wie kann ich sicher sein, dass die Sonne morgen wieder aufgehen wird, nur weil sie gestern aufgegangen ist? Wie kann ich sicher sein, dass A die Ursache für B war, nur weil B auf A gefolgt ist? Hume hielt Skepsis zwar für eine angemessene Denk-, aber nicht für eine angemessene Lebensweise. Ihm war klar, wie absurd es sein würde, wollte man versuchen, so zu leben, als wüsste man wirklich nicht, ob die Sonne am nächsten Tag wieder aufgeht. In einer bezeichnend aufrichtigen Passage in seinem Treatise of Human Nature erklärt Hume, er werde eine Weile über Philosophie schreiben und dann seine Papiere beiseitelegen und das Thema abhaken. Anschließend werde er Backgammon spielen, mit Freunden etwas trinken und die düstere Skepsis seiner Schriften unbekümmert ignorieren. Hume nannte seinen Ansatz »abgeschwächte« beziehungsweise »entschärfte Skepsis«, womit er meinte, dass er sie im Alltag unbeachtet ließ. Im Grunde verbrachte er seine Tage so, als seien philosophische Theorien eine Sache, das Leben jedoch eine ganz andere.3
Dawkins’ Begeisterung für die Wahrheit liegt vor allem in seinem Glauben begründet, dass die Wissenschaft das hauptsächliche, wenn nicht gar das einzige Mittel zum Verständnis der Wahrheit ist. Wie wir jedoch gesehen haben, ist die Wissenschaft in Wirklichkeit nicht fähig, die Realität als solche zu verstehen; sie kann bestenfalls Wahrheiten über die Welt der Erfahrung aufdecken. Und auch hier ist die Naturwissenschaft auf das Objektive beschränkt, und weite Bereiche der menschlichen Erfahrung – alle subjektiven Gedanken und Gefühle einschließlich Moral und Ästhetik sowie persönliche und soziale Beziehungen – sind ihr nicht zugänglich. Sogar innerhalb ihrer anerkannten Domäne entdeckt die Wissenschaft keine letzten, sondern nur provisorische Wahrheiten, die bei neuen Beweisen stets angepasst werden müssen. Wenn wir als Wahrheit akzeptieren, was die Wissenschaft heute für wahr hält, dann täten wir gut daran, uns zu erinnern, dass die Vertreter der Wissenschaft vor hundert Jahren genau dieselbe Position eingenommen haben, obwohl praktisch jede wissenschaftliche Theorie der damaligen Zeit mittlerweile radikal revidiert oder ersetzt wurde. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass viele wissenschaftliche Wahrheiten von heute in hundert Jahren wunderlich, wenn nicht gar lächerlich erscheinen werden.
Das wirkliche Ansehen der Wissenschaft basiert nicht auf ihrem Wahrheitsanspruch, sondern auf der schlichten Tatsache, dass sie gut funktioniert. Dawkins selbst erkennt das an. Einem Anthropologen, der ihm entgegenhielt, dass alle Kulturen gleichberechtigt sind und die Wissenschaft lediglich eine westliche Weltsicht darstellt, antwortete er: »Zeige mir einen kulturellen Relativisten in zehntausend Metern Höhe, und ich zeige dir einen Heuchler. Flugzeuge, die nach wissenschaftlichen Prinzipien gebaut wurden, funktionieren … Flugzeuge, die nach Stammestraditionen oder mythischen Vorgaben gebaut wurden … funktionieren nicht. Wer zu einer Anthropologen- oder Literaturkritikertagung fliegt, kommt dort höchstwahrscheinlich auch an, und dass das geschieht und man nicht in den nächsten umgepflügten Acker stürzt, liegt nur daran, dass viele in westlicher Wissenschaft ausgebildete Ingenieure richtig gerechnet haben.4
Das ist Dawkins in seiner polemischen Bestform, und ich bin an dieser Stelle absolut seiner Meinung. Wie den meisten Leuten auf der Welt ist mir eine Gesellschaft mit Flugzeugen, Computern und moderner Medizin sehr viel lieber als eine mit Ochsenkarren, Spitzhacken und Volksheilern. Ich will nur darauf hinweisen, auf welcher Basis Dawkins die Wissenschaft verteidigt. Für ihn ist die westliche Wissenschaft in erster Linie nicht deshalb überlegen, weil sie tiefer in die Natur der Wirklichkeit eindringt, sondern weil sie geflügelte Maschinen über den Ozean schicken kann. So ist das beste Argument für die Wissenschaft letzten Endes kein theoretisches, sondern ein praktisches.
In einer Hinsicht hat Dawkins im Hinblick auf die Wahrheit jedoch recht. Wenn man nicht mehr daran glaubt, dass etwas wahr ist, kann man auch die praktischen Vorteile dieses Glaubens nicht mehr nutzen. Niemand hat das deutlicher erkannt als Nietzsche. Für ihn war das Leben nach dem Tod mit Gott und der christlichen Weltsicht verknüpft. In einer berühmten Szene porträtiert Nietzsche einen sogenannten tollen Menschen oder Propheten, der aus den Bergen auf einen Marktplatz kommt und verkündet, er sei auf der Suche nach Gott. »Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter«, schreibt Nietzsche. »Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrien und lachten sie durcheinander. « Doch der tolle Mensch bringt ihr höhnisches Geschrei zum Schweigen. »›Wohin ist Gott?‹ rief er, ›ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? ‹«5
Was wir uns bei dieser Passage an erster Stelle vergegenwärtigen müssen, ist die Tatsache, dass sie sich nicht an religiös Gläubige, sondern an Atheisten richtet. Es sind die Atheisten, die über den abwesenden Gott spotten, und sie sind es auch, die Nietzsches Prophet für die eigentlichen Narren hält. Sie sind Narren, weil sie sich nicht darüber einig werden können, was der Tod Gottes bedeutet. Sie denken, sie könnten Gott und die Unsterblichkeit loswerden, aber trotzdem an den christlichen Werten und der christlichen Moral festhalten. Nietzsche hatte damit die viktorianischen Engländer im Visier, die einerseits erklärten, dass sie nicht an Gott und ein Leben nach dem Tod glaubten, andererseits jedoch ihr Eintreten für die ethischen und sozialen Ideale des Christentums versicherten. Eine klassische Vertreterin der viktorianischen Sichtweise ist die Schriftstellerin George Eliot, die erklärte, Gott sei »unfassbar«, die Unsterblichkeit »unglaublich«, die Pflicht jedoch »zwingend und absolut«.6 Aber Nietzsche hätte sich genauso gut auf die Atheisten unserer Zeit beziehen können, die argumentieren, dass sie Gott oder ein Leben nach dem Tod nicht brauchen, um moralisch zu sein. Der Philosoph Daniel Dennett erklärt beispielsweise: »Es gibt überhaupt keinen Grund, warum jemand, der nicht an die Immaterialität oder Unsterblichkeit der Seele glaubt, weniger fürsorglich und weniger moralisch sein und sich weniger für das Wohlergehen jedes Menschen auf der Welt engagieren sollte als jemand, der an ›das Geistige‹ glaubt.«7
Nietzsches Argument gegen die viktorianischen Engländer und ihre modernen Entsprechungen lautet: Wenn man das Fundament zerstört, muss das Gebäude am Ende zusammenbrechen. Denken Sie beispielsweise daran, was passiert, wenn eine Gesellschaft nicht mehr an die Aristokratie glaubt und zur Demokratie wird. Eine Weile denken die Aristokraten, dass sie ihren Lebensstil trotzdem fortsetzen können, aber dann stellen sie fest, dass das gewöhnliche Volk nicht mehr bereit ist, ihre Arroganz und ihr diskriminierendes Verhalten hinzunehmen. Nietzsches Argument läuft in die gleiche Richtung. In Götzen-Dämmerung spricht er Ungläubige wie George Eliot direkt an: »Sie sind den christlichen Gott los und glauben nun umso mehr, die christliche Moral festhalten zu müssen: das ist eine englische Folgerichtigkeit, wir wollen sie den Moral-Weiblein à la Eliot nicht verübeln.« Dabei werde jedoch übersehen, dass Gott, die Unsterblichkeit und die christliche Moral nicht voneinander zu trennen sind: »Wenn man den christlichen Glauben aufgibt, zieht man sich damit das Recht zur christlichen Moral unter den Füßen weg.«8
Manche Atheisten schließen sich Nietzsche hier gern an, denn die Aussicht auf einen Verfall der christlichen Moral ist ihnen sehr willkommen. »Das Schlimmste an der christlichen Religion ist ihre krankhafte und unnatürliche Einstellung zur Sexualität«, schrieb der Philosoph Bertrand Russell in Why I Am Not a Christian.9 Russell rechnete damit, dass eine Erosion des christlichen Glaubens eine Lockerung der moralischen und sozialen Einschränkungen im Hinblick auf die Sexualität zur Folge hätte. Da er für Freikörperkultur und freie Liebe eintrat, fand er diese Aussicht natürlich verlockend. Er war einer der ersten Apostel der sexuellen Revolution. In die gleiche Richtung denkt der Philosoph Ernest Nagel und feiert den Verfall von »moralischen Grundsätzen, die menschliche Impulse im Namen irgendeines unrealistischen jenseitigen Ideals unterdrücken wollen«.10 Anfangs beschränkte sich die sexuelle Revolution auf unkonventionelle Gemeinschaften von Künstlern und Intellektuellen an Orten wie Greenwich Village in New York oder das Rive Gauche in Paris. Normalerweise geht man nicht davon aus, dass Wirtschaftswissenschaftler besonders unkonventionell sind, aber hier ist der Kommentar von John Maynard Keynes über das Ethos der Bohemiens von Bloomsbury: »Wir haben die übliche Moral, Konventionen und traditionellen Vorstellungen völlig abgelehnt. Wir waren sozusagen im engeren Sinne des Wortes Immoralisten … Wir haben keine moralische Verpflichtung anerkannt, keine inneren Sanktionen, denen wir zu entsprechen oder zu gehorchen gehabt hätten. Vor Gott behaupteten wir, unsere eigenen Richter in eigener Sache zu sein.«11 Seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts ist der ehemals unkonventionelle Lebensstil zur gesellschaftlichen Norm geworden, sodass eine Art postchristlicher Moral inzwischen zum westlichen Ethos gehört. Aus der Sicht ihrer begeisterten Befürworter kann man die sexuelle Befreiung zu den praktischen Vorzügen rechnen, die der Verfall des Glaubens an Gott und das Jenseits mit sich gebracht hat.
Bis hierhin wäre Nietzsche einverstanden gewesen. Er bezeichnete sich selbst als »ersten Immoralisten« und konzentrierte seine antichristliche Polemik ausdrücklich darauf, traditionelle Vorstellungen von Schuld und Sünde auszurotten.12 Es ist zum Teil dem Einfluss Nietzsches zu danken, dass der Westen einen großen Umschwung erlebt hat. Früher war die Aussicht auf den Tod und das Jenseits ein mächtiger Ansporn für moralisches Verhalten: Wir sollten uns in diesem Leben wohlverhalten, weil wir im nächsten für unsere Taten zur Rechenschaft gezogen werden. Aber ohne den Glauben an ein Leben nach dem Tod ändert sich die gesamte Situation. Nun wird der Tod zur Ausrede für unmoralisches Verhalten oder zumindest für die Missachtung der alten Moralvorschriften. Das ist die Einstellung des Carpe Diem: Das Leben ist kurz, und deshalb sollten wir »den Tag voll auskosten«. In Andrew Marvells Gedicht »To His Coy Mistress« sagt der Erzähler, wenn das Leben endlos wäre, hätte er nichts dagegen zu warten, aber da der Tod an der nächsten Ecke lauert und der Körper bald verfallen wird, sollten sie miteinander ins Bett gehen und so tun, als gäbe es kein Morgen. »Das Grab ist ein intimer Ort, doch nur der Tod umarmt mich dort.«13 Marvells Gedicht ist ein Indiz dafür, dass es diese Denkweise schon vor Nietzsche gab, aber sie gewann Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts an Popularität, als der Glaube an Gott und das Jenseits dahinschwand.
Nietzsche lehnt jedoch leidenschaftlich die Vorstellung ab, dass wir die Regeln der christlichen Moral aufgeben und gleichzeitig die restliche Infrastruktur der christlichen Moral in ihrer Substanz erhalten können. Wenn wir Gott und das Leben nach dem Tod aufgeben, so argumentiert er, dann müssen wir auch die Vorstellungen von Gleichberechtigung, Menschenwürde, Demokratie, Menschenrechten und sogar Frieden und Mitgefühl aufgeben. Sie alle sind für Nietzsche Importe aus der Ära der Transzendenz, die er als »Schatten Gottes« bezeichnet, und nichts davon kann ohne die Annahme, die sie vertretbar machte, lange überleben. Die einzige Möglichkeit, über Gott und das Jenseits hinauszugehen, besteht in einer Neueinschätzung von Werten und letztlich einer neuen Menschengattung, einer Art von Übermenschen, die in Nietzsches Worten »jenseits von Gut und Böse« sind. Aber das hält er für ein sehr heikles und haarsträubendes Projekt. Nietzsche prophezeit, dass der Tod der Transzendenz eine entsetzliche moralische Krise hervorrufen wird, eine Auflösung von Idealen bis hin zum Nihilismus. Im 20. Jahrhundert, so sagt er, »werden wir Erschütterungen haben … und es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat«.14 Nietzsches Analyse gewinnt an Plausibilität durch die Tatsache, dass sie sich als so prophetisch erwiesen hat.
In einer Hinsicht liegen jedoch Nietzsche wie auch Dawkins falsch. Beide gründen ihre Analyse auf die Voraussetzung, dass es keinen Gott und kein Leben nach dem Tod gibt. Für beide scheint es unumstößlich, dass kein intelligenter Mensch von heute am Theismus oder am Jenseits festhalten kann. Wie fragwürdig zumindest die zweite Annahme ist, haben wir schon gesehen. Aber wir wollen nicht die eine Art von Dogmatismus mit einer anderen bekämpfen. Die beste Antwort auf falsche atheistische Gewissheiten sind nicht falsche Gewissheiten der Gegner. Also geben wir lieber zu, dass diese Fragen – besonders die Frage, was nach dem Tod kommt – auf der Basis rationaler Überlegungen nicht vollständig und endgültig beantwortet werden können.
Das hat nichts damit zu tun, dass das Leben nach dem Tod ein unwissenschaftliches Thema wäre, das sich rationaler Untersuchung und empirischer Verifikation entzöge. Im Gegenteil, die Gewissheit, dass der Tod nicht das Ende bedeutet, ist eine Tatsachenbehauptung. Sie kann auf der Basis vernünftiger Argumente bewertet werden, wie ich es in diesem Buch versucht habe, und sie kann auf dieselbe Weise wie andere Behauptungen über die Zukunft empirisch verifiziert werden. Wenn ich sage, dass der Aktienmarkt in zwanzig Jahren mindestens das Doppelte seines heutigen Werts haben wird oder dass es in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts einen Atomkrieg geben wird, dann sind das Behauptungen, die man verifizieren kann. Wir brauchen einfach nur abzuwarten. Der Theologe John Hick schreibt, das Leben nach dem Tod sei eine Behauptung, die der »eschatologischen Verifikation« unterliege.15 Wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, dann werden wir das alle irgendwann wissen. Richtig ist natürlich auch: Wenn es kein Leben nach dem Tod gibt, dann wird niemand da sein, um den Ungläubigen zu gratulieren. Aber in jedem Fall wird klar erkennbar sein, vielleicht für Beobachter in einer anderen Galaxie, vielleicht auch nur für Gott, dass eine Seite recht hatte.
Das Leben nach dem Tod scheint das Extrembeispiel für Hegels Prinzip zu sein, dass die Eule der Minerva erst mit einbrechender Dämmerung ihren Flug beginnt. Hegel meinte, dass wir in der Geschichte leben müssen, deren Entwicklungsrichtung jedoch erst im Rückblick voll zu erkennen vermögen. Das gilt ganz gewiss für das Leben nach dem Tod. Wir müssen in der Welt leben, aber vor unserem Tod können wir nicht mit Sicherheit wissen, ob diese Welt die einzige ist. Wir können unser Bestes tun, die Wahrscheinlichkeiten zu berechnen, aber es gibt keine Möglichkeit, allein durch vernünftige Überlegungen zur Gewissheit zu gelangen. Was sollen wir also glauben, wenn es um das Leben nach dem Tod geht? Und wichtiger noch, wie sollen wir jetzt leben?
Die Beantwortung dieser Fragen scheint unüberwindlich schwer, aber wir wollen dabei nicht vergessen, dass die meisten Entscheidungen im Leben, große wie kleine, angesichts begrenzter Informationen und ungewisser Ergebnisse getroffen werden. Sollen Sie das neue äthiopische Restaurant ausprobieren, das kürzlich in Ihrer Stadt eröffnet wurde? Lohnt es sich, mehr Geld in Immobilien zu investieren? Sollte Ihr Sohn Jura studieren oder ein Dichter werden? Sind Ihre Nachbarn schon zu alt, um noch ein weiteres Kind zu bekommen? Um diese Fragen zu beantworten, verfügen Sie jeweils über einige Informationen, aber es sind bei weitem nicht genug, um die Ergebnisse mit Sicherheit vorhersagen zu können. Auch hier fliegt die Eule der Minerva erst mit einbrechender Dämmerung. Insofern ist der agnostische Standpunkt verlockend: Vertagen wir die Entscheidung, bis wir alle Fakten kennen. Aber in Wirklichkeit ist diese Position die idiotischste von allen, weil sie nicht berücksichtigt, dass wir nie sämtliche Fakten kennen werden. Der Philosoph Sören Kierkegaard hat einmal gesagt, man müsse das Leben »vorwärts leben«, was bedeutet, dass wir Entscheidungen treffen und mit ihnen weiterleben müssen. Das ist keine Auforderung, uns in völliger Unkenntnis für oder gegen etwas zu entscheiden. Vielmehr sollen wir auf der Basis dessen, was wir wissen, die bestmögliche Entscheidung treffen und die Risiken eines »Ja« gegen die Risiken eines »Nein« abwägen. In allen genannten Fällen sagt uns deshalb die praktische Vernunft, dass wir darauf vorbereitet sein sollten, auch angesichts von Unwägbarkeiten zu entscheiden und zu handeln. Und genauso ist es im Hinblick auf das Leben nach dem Tod.
Und wie sollte unsere Entscheidung in dieser Sache angesichts einer gewissen Restunsicherheit aussehen? Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hat sich der Psychologe William James mit der Frage beschäftigt, wie man spekulative Einsichten in praktisches Handeln umsetzen sollte. James gründete seine Analyse auf eine berühmte Wette, die der Wissenschaftler und Mathematiker Blaise Pascal etwa zweihundert Jahre zuvor formuliert hatte. Bei der Pascal’schen Wette geht es um die Existenz Gottes, doch hat Pascal sein Argument anscheinend von dem mittelalterlichen moslemischen Denker Abu Hamid al-Ghazali übernommen. Bei dessen Wette geht es interessanterweise nicht um die Frage, ob Gott existiert, sondern ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Deshalb wollen wir uns an die Quelle begeben und mit al-Ghazali beginnen.
In seinem Buch The Alchemy of Happiness beschreibt al-Ghazali eine Begegnung zwischen einem Menschen, der an das Leben nach dem Tod glaubt, und einem anderen, der diese Vorstellung ablehnt. Der Ungläubige beharrt auf seinen Zweifeln, und deshalb ändert der Gläubige seine Methode. Es gehe bei dieser Frage nicht darum, was wir mit Sicherheit wissen können, erklärt er, sondern wie wir in einer bestimmten Situation handeln sollten. Angenommen, Sie wollten gerade etwas essen, und jemand sagt Ihnen, eine Schlange hätte soeben Gift darübergespritzt. Würden Sie es trotzdem essen? Natürlich nicht, denn es ist besser, Hunger zu haben, als ein solches Risiko einzugehen, auch wenn es sein kann, dass der Informant nur einen Witz gemacht oder gelogen hat. Oder stellen Sie sich vor, so sagt der Gläubige, Sie wären unheilbar krank und ein Wunderheiler böte Ihnen an, für wenig Geld einen Zauberspruch aufzuschreiben, der Sie heilen würde, wenn Sie ihn als Amulett um den Hals hängten. In einer verzweifelten Situation wäre das doch gewiss einen Versuch wert.
Wenn das aber so ist, sagt der Gläubige, dann denken Sie an die vielen Weisen, die im Laufe der Geschichte versichert haben, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Ist ihr Zeugnis nicht mehr wert als das eines Wunderheilers? Wenn wir die Risiken des Glaubens und des Unglaubens gegeneinander abwägen, sollten wir dann nicht diesen Weisen einen Vertrauensbonus geben? Al-Ghazali erwähnt einen frühen Führer des Islam, Ali, den Schwiegersohn des Propheten Mohammed, der einem Ungläubigen sagt: »Wenn du recht hast, dann wird es keinem von uns in der Zukunft schlechter gehen, aber wenn wir recht haben, dann werden wir davonkommen, und du wirst leiden.« Im ersten Szenario passiere also nichts, aber im zweiten warte der Himmel auf die Gläubigen und die Hölle auf die Ungläubigen. Wie geht man vernünftigerweise vor, wenn beide Szenarios richtig sein können? Al-Ghazalis Schlussfolgerung lautet: Wenn man bedenkt, dass im Zusammenhang mit Glauben und Unglauben so viel auf dem Spiel steht, ist vollkommen klar, was man in der Praxis zu tun hat. Auch wenn wir nicht sicher sein können, ob es wirklich ein Leben nach dem Tod gibt, rät uns die Vernunft, so zu handeln, als würde es existieren. 16
Al-Ghazali schrieb zu einer Zeit, als die meisten Menschen ein Leben nach dem Tod für selbstverständlich hielten; daran zu glauben war die allgemeine Einstellung, die von den Gläubigen mit einer gewissen Selbstzufriedenheit vertreten wurde, und die Beweislast lag sozusagen bei den Ungläubigen. Als William James das Thema vor einem Jahrhundert aufgriff, stand er einem völlig anderen Publikum gegenüber, den Gebildeten, deren Standardeinstellung irgendwo zwischen Agnostizismus und Unglauben angesiedelt war. Sie lehnten das Leben nach dem Tod nicht weniger selbstzufrieden ab, und innerhalb ihres Einflussbereichs lag die Beweislast überwiegend bei den Gläubigen. James war ein Pragmatiker, der den Glauben unter dem Aspekt seines »praktischen Nutzwertes« betrachtete. Ihm ging es darum, wie sich ein bestimmter Glaube konkret auf das Leben eines Menschen auswirkt. James versteht man vielleicht besser am Beispiel einer Frage, die Philosophen über Jahrhunderte hinweg gespalten hat: Steckt die Farbe in Objekten oder in Subjekten? Findet man also die Farbe Grün in den grünen Vorhängen oder in den Funktionsweisen unserer Augen und unseres Gehirns? James wäre das vollkommen gleichgültig gewesen, denn diese Unterscheidung spielt absolut keine Rolle, wenn man seine Wohnung einrichtet.
Sehen wir uns nun an, wie James seinen bodenständigen Denkansatz auf das Leben nach dem Tod anwendet. Unsterblichkeit sei eine drängende Frage, lautete sein Argument, vergleichbar der Situation eines Mannes, der auf einem Bergpass festsitzt und nun entscheiden muss, ob er bleibt, wo er ist, oder sich auf einen der vor ihm liegenden Pfade wagt. Schnee und Nebel versperren dem Mann die Sicht, und ihm ist klar, dass er leicht abstürzen könnte, wenn er sich auf den Weg macht. Das ist die eine Art von Risiko, sagt James. Angesichts dieser Gefahren ist die Versuchung groß, einfach stehen zu bleiben und nichts zu tun. Doch damit, so hebt James hervor, vermeidet man kein Risiko, sondern geht lediglich ein anderes ein: Wenn man nichts tut, wird man wahrscheinlich erfrieren.
James geht es darum, dass der Glaube an ein Leben nach dem Tod zwar mit dem Risiko behaftet ist, dass man eine Position ohne vollständigen Beweis übernimmt und sich folglich irren kann, der Unglaube jedoch eine andere Art von Risiko birgt, weil man sich in diesem Fall die Segnungen der Unsterblichkeit entgehen lässt, die dem Gläubigen versprochen werden. Die überlegene Rationalität der agnostischen Position – entscheide dich nicht, solange du nicht absolut sicher bist – hat keinen Bestand, wenn wir erkennen, dass es in Wirklichkeit zwei Arten von Risiken gibt. Anders als al-Ghazali oder auch Pascal sagt James nicht, dass unter diesen Umständen der Glaube die einzig vernünftige Haltung sei. Für James lautet die Kernfrage, welche Art von Risiko jemand eingehen will: Manche Leute entscheiden sich für die Unsterblichkeit und akzeptieren damit das Risiko eines metaphysischen Irrtums. Andere wollen um jeden Preis einen falschen Glauben an ein Leben nach dem Tod vermeiden und lehnen die Vorstellung deshalb ab, wobei ihnen bewusst ist, dass sie im Falle eines Irrtums ihren ewigen Frieden mit Gott opfern.17
Im Geiste von James wollen wir nun die Aktiva und Passiva des Jenseitsglaubens bilanzieren. Wie ich im letzten Kapitel schon erwähnt habe, steht auf der Kostenseite des Glaubens an ein Leben nach dem Tod, dass sich die Gläubigen vom diesseitigen Leben abwenden könnten, weil sie davon ausgehen, dass nur das jenseitige Leben von Wert ist. Hier besteht also die Gefahr der Trägheit und des Fatalismus, wie man sie bisweilen im Hinduismus und Buddhismus findet. Christopher Hitchens stellt das produktive, arbeitsame Leben eines Wissenschaftlers, der Jahre damit verbringt, Präparate zu sammeln und zu analysieren, in Gegensatz zu einem hinduistischen Weisen oder einem buddhistischen Mönch, der bewegungslos auf einem heiligen Platz sitzt.18 Wie Hitchens bevorzuge auch ich ein aktives Leben in dieser Welt, und ich habe mich nie von der resignativen Einstellung der östlichen Philosophie und Religion angezogen gefühlt. Aber in den westlichen Religionen findet man diesen Fatalismus nicht. Askese und Fleiß der modernen Wissenschaftler sind sogar ein direktes Vermächtnis der asketischen und fleißigen mittelalterlichen Mönche, welche die Gelehrten und Wissenschaftler ihrer Zeit waren. Breiter betrachtet, ist das diesseitige Leben in allen westlichen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – von größter Wichtigkeit, nicht nur, weil es ein Geschenk Gottes ist, sondern auch, weil unsere Taten in diesem Leben über unser Schicksal in der Ewigkeit entscheiden. Anders als Hinduismus und Buddhismus bieten die abrahamitischen Religionen kein zweites Leben und keine zweite Chance; alles hängt davon ab, wie wir jetzt leben. Fatalismus mag deshalb zwar bei einigen Sichtweisen des Lebens nach dem Tod auf der Sollseite der Bilanz stehen, aber das gilt nicht für alle oder auch nur die Mehrheit dieser Aufassungen.
Auf der Habenseite stehen für mich vier eindeutige Vorzüge des Glaubens an ein Leben nach dem Tod. Erstens gibt er uns Hoffnung, wenn wir sterben, und hilft uns, mit unserem Tod fertigzuwerden. Atheisten behaupten manchmal, dass sie den Tod nicht fürchten, aber wenn sie das sagen, sollten Sie wie bei Pinocchio beobachten können, wie ihre Nasen länger werden. Alle entwickelten Geschöpfe fürchten den Tod, weil sie einen angeborenen Überlebenswillen haben. Für einen aufrichtigen Atheisten ist der Tod eine absolute Katastrophe, weil er auch das erfolgreichste Leben am Ende zu einem Misserfolg macht. Wer an ein Leben nach dem Tod glaubt, fürchtet den Tod ebenfalls und lehnt ihn ab, denn auch gläubige Menschen haben von Natur aus den Wunsch weiterzuleben. Aber obwohl der Tod bei Gläubigen und Ungläubigen gleichermaßen Ängste hervorruft, ist er für den Gläubigen keine Katastrophe, sondern wird als Tor zu einem neuen und besseren Leben gesehen. Mit seinem gewohnten Pragmatismus erklärt William James, da wir alle sterben müssten, mache der Glaube an die Unsterblichkeit »leicht und glücklich, was ohnehin notwendig ist … und nimmt dabei eine Funktion wahr, die kein anderer Teil unserer Natur so erfolgreich ausfüllen kann«.19
Zweitens verleiht der Glaube unserem diesseitigen Leben mehr Sinn und Bedeutung. Damit will ich nicht sagen, das Leben Ungläubiger sei sinnlos und leer. Viele Atheisten erklären ausdrücklich, dass sie in ihrer Arbeit, ihrer Familie und in sozialen Beziehungen Sinn und Bedeutung finden. Doch leider ist das alles vergänglich. Wenn wir sterben, müssen wir unsere Arbeit zwangsläufig aufgeben und unsere Beziehungen unwiderruflich beenden. Diese Erkenntnis stört den sanften Fluss des Lebens, denn als einzige unter allen Geschöpfen wissen wir Menschen, dass wir sterben müssen. Es ist so, als würden wir unser Glück auf einer Insel suchen, von der wir wissen, dass sie – samt allem, was wir darauf erbaut haben – langsam im Meer versinkt. Wie Sartre bemerkte, ist die totale Verzweiflung die einzig ehrliche Antwort auf dieses Wissen. Das Leben wird, mit den Worten von Macbeth, »ein Märchen, erzählt von einem Dummkopf, voller Klang und Wut, das nichts bedeutet«.20 Das gilt jedoch nicht für den Gläubigen, der aufrecht gehalten wird durch seine Hoffnung und Überzeugung, dass sich dieses Leben in einem zukünftigen ewigen Leben vollendet und erfüllt.
Drittens gibt uns der Glaube einen Grund, moralisch zu handeln, und eine Möglichkeit, Moralvorstellungen an unsere Kinder weiterzugeben. Atheisten verhöhnen manchmal die käufliche Moral derjenigen, die ihr Wohlverhalten an die Erwartung knüpfen, dass sie im nächsten Leben dafür belohnt werden. Aber wie John Locke erklärt hat, verliert Tugend durch Belohnung nichts von ihrem Glanz. Im Gegenteil, es würde unseren Sinn für Gerechtigkeit verletzen, wenn gute Taten keine Belohnung erführen. Indem wir also an ein Leben nach dem Tod glauben, bestätigen wir die kosmische Gerechtigkeit; und das gibt uns Hoffnung, dass guter Wille am Ende belohnt und das Böse bestraft wird. Vor diesem Hintergrund empfinden wir moralisches Verhalten als einfacher und lohnender. Nun ist Moral, wie wir schon festgestellt haben, bei den Ungläubigen nicht sonderlich beliebt. Ein praktisches Motiv für den Atheismus ist die hedonistische Flucht vor den Forderungen der Moral. Wie Victor Stenger in God: The Failed Hypothesis schreibt: »Der Atheist hat den Trost, dass er das Leben nach dem Tod nicht fürchten muss.«21 Aber es besteht immer die Gefahr, dass diese Sicherheit eine Illusion ist. Man flüchtet durch einen Tunnel, nur um festzustellen, dass die »Behörden« am anderen Ende warten. Locke war selbst ein Hedonist, der seine Ideen auf die Prinzipien von Vergnügen und Schmerz gründete. Aus genau diesem Grund akzeptierte er das Leben nach dem Tod, weil er die Möglichkeit sah, dass eine allmächtige Gottheit existiert, die enorme Belohnungen und Strafen austeilen kann.22
Hier lassen wir natürlich zu, dass sich die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod mit der Vorstellung von Gott und Religion vermischt, aber das ist in der Praxis ohnehin üblich. Außerdem ist der Sinn für Moral zwar Teil der menschlichen Natur, doch die Religion stellt die hauptsächliche, wenn nicht einzige Möglichkeit dar, wie Eltern ihren Kindern in allen Kulturen und zu allen Zeiten moralisches Verhalten beibringen. Einige Atheisten argumentieren so wie der Psychologe Marc Hauser, dass »diese Ehe zwischen Moral und Religion … unnötig ist und dringend geschieden werden muss«.23 Atheisten möchten die religiöse Erziehung durch säkulare Moraltheorien ersetzen, wie sie beispielsweise von Philosophen wie Hegel und Heidegger entwickelt wurden. Nun kennen wir alle zwar Leute, die ihre Moral durch den Hinduismus oder das Christentum gelernt haben, aber wer hat seine Moral von Hegel oder Heidegger gelernt? Rein praktisch betrachtet, ist die Religion ein besserer Transmissionsriemen für die moralische Erziehung der Jugend als ein philosophisches Seminar.
Und schließlich gibt es starke Indizien dafür, dass der Glaube an ein Leben nach dem Tod unser Leben verbessert und uns selbst zu besseren Menschen macht. In seinem Buch Medicine, Religion, and Health fasst Harold Koenig viele Daten zusammen, die zeigen, dass religiöse Menschen, die an ein Leben nach dem Tod glauben, gesünder sind als Ungläubige. Sie leiden seltener unter Stress und Depressionen, sind weniger selbstmordgefährdet, weniger krankheitsanfällig und erreichen häufiger ein hohes Alter. Der Psychologe Jonathan Haidt erwähnt Umfragen, die zeigen, dass »religiöse Menschen im Durchschnitt glücklicher sind als nichtreligiöse«. Es gibt sogar Umfragen, aus denen hervorgeht, dass religiöse Menschen ein erfüllenderes Sexualleben haben als säkulare! Und der Soziologe Arthur Brooks zeigt am Ende seiner Studie über Philanthropie in Amerika, dass religiöse Menschen mit ihrer Zeit und ihrem Geld sehr viel großzügiger umgehen als diesseitig orientierte. Sie spenden nicht nur mehr für religiöse Projekte, sondern auch für weltliche.24 Nichts davon ist besonders überraschend, wenn man die Natur des Glaubens bedenkt: Die Aussicht auf ein Leben nach dem Tod gibt uns ein Motiv für Moral und Großzügigkeit, weil sie mit der kosmischen Gerechtigkeit verknüpft ist. Diese Daten legen nahe, dass der Glaube enorme praktische Vorzüge hat: Man lebt wahrscheinlich länger und gesünder, führt eine glücklichere Ehe und tut mehr für seine Mitmenschen.
Einige Leute sagen jetzt vielleicht: »Wunderbar! Sollen die anderen glauben, aber ohne mich!« Das ist kein Glaube, sondern »Glaube an den Glauben«, und diese Position findet man gar nicht so selten bei Zeitgenossen, die sich für besonders weltklug und besser als die breite Masse halten. Aber diese Einstellung ist ziemlich irrational. Wenn andere sich dafür entscheiden, die Vorzüge eines Lebens voller Hoffnung, Sinn und Nächstenliebe zu genießen, warum dann nicht auch Sie? Da so viel für den Glauben spricht, können Ungläubige nicht behaupten, ihre Position sei rationaler. Im Gegenteil: Unglaube ist weder intellektuell plausibel noch von praktischem Nutzen.