Kapitel 9

Nicht von dieser Welt

Die Philosophie entdeckt das Leben nach dem Tod

 

Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen.1

Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus

 

 

Im vorangegangenen Kapitel haben uns die Ergebnisse der Hirnforschung gezeigt, dass Bewusstsein und freier Wille anscheinend nicht den Gesetzen der Physik unterworfen sind, woraus wir vernünftigerweise auf ein Leben nach dem Tod schließen dürfen. Nun will ich einen zweiten, davon völlig unabhängigen Beweis für das Leben nach dem Tod präsentieren. Dabei stütze ich mich auf einige der herausragendsten Philosophen der letzten beiden Jahrhunderte, um den Standort eines ewigen Reiches jenseits der physikalischen Gesetze zu ermitteln. Sowohl die westlichen als auch die östlichen Lehren der Unsterblichkeit benötigen ein derartiges Reich, und ich werde ihre Erwartungen rechtfertigen, dass es existiert. Anschließend werde ich zeigen, dass ein ewiger Teil von uns dieses Reich jetzt bewohnt und wir uns bei unserem Tod mit ihm wiedervereinigen werden. Unser Reiseführer auf diesem Weg wird erstaunlicherweise der atheistische Philosoph Arthur Schopenhauer sein. So wie Vergil Dantes spiritueller Wegweiser durch Hölle, Fegefeuer und Himmel war, wird Schopenhauer unser intellektueller Wegweiser sein und uns in eine Welt führen, die jenseits der Wissenschaft und jenseits unserer sinnlichen Wahrnehmung liegt.

Schopenhauer war der erste große Philosoph des Westens, der sich ausdrücklich als Atheist zu erkennen gab. Andere wie Hobbes, Hume und Diderot lehnten Gott zwar ab, bekannten sich aber nie explizit zum Atheismus. Schopenhauer begann in gewisser Weise eine Tradition des öffentlichen Atheismus, die in der Philosophie von Nietzsche, Heidegger und Sartre fortgesetzt wurde. In eine angesehene Danziger Kaufmannsdynastie geboren, entwickelte Schopenhauer eine schillernde und exzentrische Persönlichkeit. Seine Perspektive war pessimistisch, in gesellschaftlicher Hinsicht war er elitär und äußerte sich des Öfteren verächtlich über Frauen, in seinen politischen Einstellungen war er reaktionär. Als eine Gruppe von Aufständischen sich im September 1848 in Frankfurt erhob, bot Schopenhauer den Soldaten seine Wohnung an, damit sie durch das Fenster auf die Aufrührer schießen konnten. Er stellte dem Truppenführer sogar sein Opernglas als Visier zur Verfügung. Obwohl Schopenhauer stark von Kant beeinflusst war, hat er zum Glück nie dessen einschläfernden Schreibstil übernommen. Seine Prosa ist klar, lebendig und prägnant.

Schopenhauer fand zu seinen Lebzeiten keine Anerkennung als großer Philosoph. Der bekannteste deutsche Denker des frühen 19. Jahrhunderts war vielmehr Georg Wilhelm Friedrich Hegel, den Schopenhauer für einen Angeber und »gemeinen Scharlatan« hielt. Schopenhauer war verblüfft, dass die Leute Hegel lasen, wo sie doch, wie er sich ausdrückte, dasselbe Gerede in einem Irrenhaus hätten hören können. Überzeugt, dass Hegel eine ganze Generation korrumpierte, ging Schopenhauer nach Berlin und verkündete, er werde zur gleichen Zeit wie Hegel an der Universität Vorlesungen halten. Der Schuss ging nach hinten los; niemand besuchte Schopenhauers Veranstaltungen. Schopenhauer bewarb sich auch mit einem Essay über die Ursprünge der Moral um einen Preis der Königlich-Dänischen Societät der Wissenschaften. Aber obwohl er der einzige Bewerber war, weigerten sich die Juroren, ihm den Preis zu verleihen, teilweise wegen seiner verächtlichen Äußerungen über Hegel und andere Denker. Schopenhauer veröffentlichte seinen Essay dann mit dem Untertitel: »Nicht gekrönt von der Königlich-Dänischen Societät der Wissenschaften«.2

Trotz dieser Mätzchen war Schopenhauer ein Mann von enormer philosophischer und moralischer Ernsthaftigkeit, und heute gilt er als einer der größten und originellsten Denker. Während der letzten 150 Jahre hatte er einen beachtlichen Einfluss auf die europäische Philosophie wie auch auf die Kunst und inspirierte beispielsweise Nietzsche, Wagner und Wittgenstein. Sein Ruf basiert auf einem einzigen Buch, Die Welt als Wille und Vorstellung, das 1819 veröffentlicht wurde. Schopenhauer erklärte, es enthalte »die wahre Lösung der Rätsel der Welt«.3 Alle gebildeten Menschen sollten dieses Werk lesen; in Deutschland haben alle gebildeten Menschen es gelesen. Es ist ein echter Klassiker, vergleichbar mit jedem Werk von Locke und von sehr viel höherem Niveau als Der Fürst von Machiavelli oder Rousseaus Gesellschaftsvertrag. Trotzdem ist Schopenhauer in Amerika und Großbritannien nicht so bekannt und hat keinen so herausragenden Platz im Lehrplan wie Machiavelli, Locke oder Rousseau. Dasselbe gilt freilich auch für Kant, obwohl er weithin als der größte moderne Philosoph gilt, mit dem sich nur die Denker Platon und Aristoteles messen könnten. Der Hauptgrund für diese Vernachlässigung liegt nach meiner Überzeugung darin, dass Schopenhauer und Kant eine tödliche Bedrohung für eine ganze Anzahl von Annahmen darstellen, die hinter der angloamerikanischen Philosophie und Naturwissenschaft stecken. Schopenhauer und Kant untersuchen diese »Selbstverständlichkeiten« und zeigen, dass darunter noch grundlegendere Voraussetzungen verborgen sind, die einer rationalen Prüfung nicht standhalten. Wenn Schopenhauer und Kant recht haben, dann sind die meisten Ansichten der Gebildeten im heutigen Westen auf Sand gebaut und benötigen ein völlig neues Fundament, um als rational gelten zu dürfen.

Seit fast zwei Jahrhunderten ist der empirische Realismus die vorherrschende Weltsicht der gebildeten Eliten in Großbritannien und Amerika. Der empirische Realismus ist ein enger Verwandter des Materialismus, und die meisten Materialisten wie auch die meisten herausragenden Wissenschaftler sind empirische Realisten. Der empirische Realismus basiert auf einer Annahme, die den meisten Leuten selbstverständlich erscheint: Es gibt dort draußen eine reale Welt, die wir objektiv durch unsere Sinne und durch wissenschaftliche Untersuchungen und Beobachtungen kennenlernen können. Das bezeichnet man gelegentlich als »Korrespondenztheorie der Wahrheit«, weil dabei eine Korrespondenz zwischen der realen Welt und unserem sinnlichen und intellektuellen Verständnis dieser Welt angenommen wird. Natürlich erkennen aufgeklärte Menschen, dass unsere Sinne uns bisweilen in die Irre führen können, etwa bei Luftspiegelungen oder wenn Stöcke im Wasser gebogen aussehen. Aber sie glauben weiterhin, dass, von solchen Ausnahmen abgesehen, unser Verstand und unsere Sinne uns unter geeigneten Bedingungen ein zuverlässiges und genaues Bild der Wirklichkeit vermitteln.

Der empirische Realismus ist in den Aussagen führender Atheisten ofenkundig. Der Biologie Francis Crick schreibt, dass »es eine äußere Welt gibt … die weitgehend unabhängig von unserer Beobachtung ist«, und dass die Wissenschaft etwas darüber herausfinden kann, »indem wir unsere Sinne und die Funktionen unseres Gehirns benutzen«. Der Physiker Steven Weinberg schreibt, die meisten Wissenschaftler verträten die Philosophie, »dass es eine objektive Realität gibt«, die durch wissenschaftliche Techniken untersucht werden kann. Der Biologe E. O. Wilson erklärt, der moderne Fortschritt beruhe auf den Prinzipien der Aufklärung von »objektiver Wahrheit auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis«. Wilson denkt ganz ofensichtlich an die Wahrheit des empirischen Realismus, wenn er schreibt: »Würde der Empirismus widerlegt … wäre das sicher die folgenreichste Entdeckung in der menschlichen Geschichte.«4

Nutzen wir also die Gelegenheit, den empirischen Realismus zu widerlegen oder zumindest seine irrationalen Grundlagen aufzudecken. Hier sind ein paar empirische Beobachtungen: »Schau mal, da ist das Empire State Building«, »Könntest du mir bitte die Butter reichen?« oder »Atme einfach diese Meeresbrise ein«. Und nun wollen wir fragen, wo sich diese Objekte genau befinden. Sehe ich das Empire State Building irgendwo dort draußen? Nicht wirklich; ich sehe es in meiner Vorstellung. Es wäre eine lächerliche Annahme, dass das Empire State Building materiell Einzug in meinen Kopf gehalten hätte; stattdessen formt mein Geist dort ein Abbild des Gebäudes. Und das ist es, was ich wirklich im Kopf habe, nicht das Bauwerk selbst, sondern ein Bild davon. Und das gilt natürlich genauso für die Butter, das Meer, die Luft und jede andere sinnliche Wahrnehmung.

Nun wollen wir eine Frage stellen, die zentral für die moderne westliche Philosophie ist: Woher wissen wir, dass die Abbilder der Wirklichkeit in unserem Kopf tatsächlich mit der Realität selbst korrespondieren? Das ist eine tiefgründige Frage, denn sie rüttelt an den Grundfesten des Realismus, der uns angeboren ist, uns anerzogen wurde und die unverzichtbare Voraussetzung unseres täglichen Lebens wie auch der modernen Wissenschaft darstellt. Praktisch alle Menschen, ob Wissenschaftler, Gelehrte oder ganz gewöhnliche Leute, gehen einfach davon aus, dass die Realität ungefähr genauso sein muss, wie sie sich unserem Verstand und unseren Sinnen darstellt. Dieser nichthinterfragte Realismus ist die alltägliche Grundlage, auf der wir unser Verständnis mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung bringen. Man muss schon sehr subtil darüber nachdenken, um sich zu fragen, wie das möglich ist.

Der englische Philosoph George Berkeley war der erste Denker, der die volle Bedeutung dieser Frage erkannt hat. Auch Berkeley ist nicht sehr bekannt, wahrscheinlich aus demselben Grund wie Kant und Schopenhauer. Zwar wurde die Stadt Berkeley in Kalifornien ebenso nach ihm benannt wie die University of California in Berkeley, aber wahrscheinlich weiß sogar die Mehrzahl der Studenten dort nur sehr wenig über George. Das ist schade, denn obwohl Berkeley nur eine einzige Idee hatte, gehört diese zu den befremdlichsten Vorstellungen, die je irgendjemand hatte, vergleichbar mit Darwins Evolutionstheorie. Bei Berkeleys Idee geht es darum, was wir tatsächlich wahrnehmen und wissen. »Die einzigen Dinge, die wir wahrnehmen«, schreibt Berkeley, »sind unsere Wahrnehmungen. « Berkeley stellt fest, dass die Menschen seit Jahrtausenden angenommen haben, es gebe dort draußen eine freistehende Wirklichkeit und wir wüssten das, weil wir in unserem Kopf ein Bild davon wiederherstellen können. Aber wenn wir ehrlich sind, sagt Berkeley, dann müssen wir zugeben, dass wir Abbild und Wirklichkeit nicht nebeneinanderlegen können, um festzustellen, ob sie identisch oder auch nur ähnlich sind. Das hängt damit zusammen, dass wir nicht zu beidem Zugang haben, sondern nur zum Abbild, nicht jedoch zur damit korrespondierenden Wirklichkeit. Eigentlich, so sagt Berkeley, haben wir nicht den geringsten Grund zu der Annahme, dass irgendetwas außer dem Abbild existiert. Wir nehmen an, dass unsere Erfahrungen die Wirklichkeit in irgendeiner Weise reflektieren, aber unsere Erfahrungen sind alles, was wir kennen oder jemals gekannt haben. Deshalb ist es nach Berkeleys Meinung eine überflüssige Hypothese oder pure Illusion, eine Realität jenseits unserer Erfahrungen zu behaupten. Berkeleys verblüffende Schlussfolgerung lautet, dass die materielle Welt außerhalb unserer Sinne einfach nicht existiert.

Sein Gedankengang ist ein verheerender Schlag nicht nur gegen den empirischen Realismus, sondern auch gegen den Materialismus. Im Grunde untergräbt er die Unterscheidung zwischen dem Materiellen und dem Mentalen, die wir bisher auch in diesem Buch gemacht haben. Bislang haben wir argumentiert, dass das subjektive mentale Reich zwar weitgehend außerhalb der wissenschaftlichen Sphäre liegt, die Wissenschaft aber doch eindrucksvolle Fortschritte beim Verständnis der objektiven materiellen Welt gemacht hat. Berkeley argumentiert, dass diese Unterscheidung keinen Bestand hat; sogar das, was wir als »objektive materielle Welt« bezeichnen, wird durch subjektive mentale Erfahrungen verstanden. Alles, was wir sehen, hören und berühren können, scheint unzweifelhaft materiell und körperlich zu sein, und doch sind unsere Erfahrungen damit unzweifelhaft mental. Nehmen wir ein Beispiel von Samuel Johnson und stellen uns einen Felsen vor. Was könnte realer und solider sein als ein Felsen? Gehen Sie hin und treten Sie dagegen. Dort muss ganz eindeutig ein Felsen sein, denn Sie haben ihn mit Ihrem Fuß gespürt und den Schmerz wahrgenommen, als Sie dagegengetreten haben. Aber Berkeley behauptet, diese ganze Erfahrung – das Bild des Felsens, die Schmerzempfindung, Ihr eigenes kurzes Luftschnappen, das Sie gehört haben – sei nur in Ihrer Vorstellung geschehen. Abgesehen von dieser Erfahrung gäbe es keinen »realen« Felsen. Der Felsen ist nicht mehr als Ihre Erfahrung von ihm. Erfahrungen sind demnach alles, was wir haben, doch wir verwechseln sie ständig mit einer erfundenen, nichtexistierenden Realität, von der wir annehmen, dass sie sich außerhalb unserer Erfahrungen befindet. 5

Bestürzt angesichts Berkeleys Argument, haben empirische Realisten sich mehr als zwei Jahrhunderte darum bemüht, es zu widerlegen. Schauen wir uns einige ihrer besten Versuche an, darunter den des Philosophen Karl Popper. Popper hat die Meinung vertreten, man könne Berkeleys Annahme testen, dass die Sonne, die Sterne und die Bäume nur in unseren Vorstellungen existieren. Wir können eine Kamera oder ein Aufzeichnungsgerät aufstellen und dann den Raum verlassen. Wenn wir zurückkehren, hat die Kamera ein Bild der Sonne, der Sterne oder der Bäume aufgenommen. Also waren diese Objekte eindeutig auch während unserer Abwesenheit dort, und deshalb existieren sie nicht nur in unseren Vorstellungen. Doch wenn wir genauer darüber nachdenken, zeigt sich, dass Poppers vermeintlich »ausgezeichnete Widerlegung« Berkeley ganz und gar nicht widerlegt.6 Denken Sie an den entscheidenden Beweis, nämlich die Fotos. Wo befinden sich diese Fotos denn? Ah ja, wie Popper haben Sie deren unabhängige Existenz unterstellt, nicht wahr? Aber Berkeley würde sagen, dass diese Fotos ebenso wie Sonne, Sterne und Bäume nur in Ihrer Vorstellung existieren. Wo sonst haben Sie sie denn wahrgenommen? Die Widerlegung des Subjektivismus funktioniert nicht, weil sie auf der versteckten Annahme des Realismus basiert, der Annahme, dass es Objekte gibt, die eine unabhängige Existenz außerhalb unserer Vorstellungen haben.

Der Kognitionspsychologe Steven Pinker hat ebenfalls versucht, Berkeley zu widerlegen. Pinker nimmt sich zunächst Berkeleys Behauptung vor, dass die Stühle, die wir in einem Raum wahrnehmen, nichts weiter sind als eine Ansammlung von Bildern und Empfindungen, die wir erfahren; von diesen Wahrnehmungen abgesehen, gibt es keine Stühle. Nach Pinkers Ansicht »hat Berkeleys Idee nie funktioniert. Stellen Sie sich einen Raum mit zwei identischen Stühlen vor. Jemand kommt herein und vertauscht sie. Ist der Raum noch derselbe oder anders als vorher? Für jedermann ofensichtlich ist er anders. Aber Ihnen ist keine Eigenschaft bekannt, die einen Stuhl vom anderen unterscheidet … Sie wissen, dass beide Stühle identisch sind, aber Sie wissen genauso, dass sie sich unterscheiden .«7

Das ist ein ziemlich ausgefuchstes Experiment, dem wir sorgfältig nachgehen müssen. Pinker beginnt mit zwei identischen Stühlen, die sich dort draußen in einem Raum befinden. Das scheint ein sicherer Ausgangspunkt zu sein, aber Pinker hat hier schon eine entscheidende Annahme eingeführt, die Berkeley in Frage stellen würde. Pinker geht davon aus, dass unabhängig von seinen Vorstellungen materielle Objekte dort draußen existieren, und Berkeley hält diese Annahme für falsch. Die Stühle existieren lediglich an einem Ort, nämlich in unserem Kopf. Da wir alle Bilder von Stühlen im Kopf haben, ist die Behauptung, dass es abgesehen von diesen Bildern noch andere Stühle gibt, nicht gerechtfertigt. Lassen wir diesen Einwand gelten – und ich sehe keine Möglichkeit, das Argument zu bestreiten – , dann fällt Pinkers gesamtes Experiment in sich zusammen. Die Stühle und ihre ursprüngliche Anordnung, die Leute, die sie vertauscht haben, die neue Anordnung: Das alles hat nur in Pinkers Kopf stattgefunden. Aber Pinker erkennt nicht, dass es keine Grundlage dafür gibt, diese mentalen Bilder auf der einen Seite mit einer freistehenden Realität auf der anderen gleichzusetzen. Der empirische Realismus benebelt uns so stark, dass sogar ein Mann von Pinkers Format gewohnheitsmäßig etwas, zu dem er Zugang hat, nämlich seine Erfahrung, mit etwas verwechselt, zu dem er keinen Zugang hat, nämlich die freistehende Realität. Pinkers Scheitern demonstriert den zentralen Irrtum des empirischen Realismus: die Unfähigkeit, zwischen Erfahrung und Realität zu unterscheiden, und die chronische Verwechslung von beiden.

Trotz Berkeleys Kritik des empirischen Realismus versteht man ihn völlig falsch, wenn man daraus schließt, dass er die Gültigkeit von Erfahrungen leugnet. Im Gegenteil, Berkeley ist ein echter Empiriker, der sagt: Sehen wir uns einmal an, was wir wirklich haben. Nun, was wir wirklich haben, sind Erfahrungen, und das ist alles. Was Berkeley leugnet, ist nicht die Welt, die wir erfahren, sondern die Existenz einer Zweitausfertigung in Form einer Welt von Objekten, die mit unseren Erfahrungen korrespondiert und doch davon getrennt ist. In diesem Zusammenhang ist es ein amüsantes Streiflicht, dass Berkeley behauptet, seine Philosophie sei für den Mann auf der Straße vollkommen einleuchtend.8 Zeigen Sie dem Mann auf der Straße das Empire State Building und fragen Sie ihn: »Woher weißt du, dass es dort ist?« Seine Antwort wird lauten: »Nun, ich kann es doch sehen. Ich kann mit den Aufzügen bis ganz nach oben fahren. Ich kann es berühren. Und da es seit längerer Zeit nicht mehr gereinigt worden ist, kann ich es sogar riechen.« Indem er seine sinnlichen Wahrnehmungen aufzählt, würde der Mann eine vollständige Beschreibung des Empire State Buildings abgeben. Und er würde nicht den geringsten Gedanken daran verschwenden, ob es, getrennt von seinen Wahrnehmungen, ein »reales« Empire State Building gibt, das die Grundlage für seine Erfahrungen bildet. Vielmehr würde er die Eigenschaften, die er beobachtet und erfahren hat, für das Empire State Building halten. Und damit, so sagt Berkeley, hätte der Mann ganz recht. Berkeleys Philosophie, die ursprünglich dem gesunden Menschenverstand so völlig fremd zu sein schien, erweist sich bei näherer Betrachtung erstaunlicherweise als gut damit vereinbar.

Für Berkeley sind nur zwei Dinge real: die Erfahrung und das erfahrende Subjekt. Der Philosoph David Hume hat Berkeleys Argument radikalisiert, indem er das erfahrende Subjekt in Frage stellte. Hume räumte ein, dass es Erfahrung gibt, bestritt jedoch die Existenz eines »Ich«, das Erfahrungen macht. Hume fragte: Wo lässt sich dieses »Ich« in der Erfahrung finden? Es gibt Lachen und den Geschmack von Meerrettich und alle möglichen anderen Eindrücke und Ideen, und das ist alles, was die Erfahrung hergibt. Zwar nehmen wir automatisch an, dass es ein »Ich« geben muss, das diese Eindrücke und Ideen hat, aber Hume erklärt beharrlich, dass es sich dabei lediglich um eine Annahme handelt, und behauptet, das »Ich« sei eine Fiktion, die der Erfahrung unnötigerweise hinzugefügt werde. Außerdem wies Hume darauf hin, es sei nicht gerechtfertigt, unseren Erfahrungen eine Verursachung zuzuschreiben, obwohl wir das aus Gewohnheit regelmäßig tun. In Wirklichkeit kommen unsere Erfahrungen als eine Art Prozession zu uns, eine nach der anderen, wobei manche regelmäßiger in Verbindung mit anderen auftreten.9 Humes kompromisslose Skepsis stellt in Frage, was Menschen wissen können. Hume zufolge gibt es keine rationale Basis dafür, eine Welt außerhalb unserer Erfahrungen zu postulieren. Außerdem können wir diese Erfahrungen nicht sinnvoll interpretieren, und wir wissen nicht einmal, dass wir diejenigen sind, die sie haben.

Hier würde ich nun eigentlich gern Schopenhauer in den Mittelpunkt rücken, aber ich muss ihn über seinen Vorgänger und philosophischen Mentor Immanuel Kant einführen. Es war Kant, der sich aufmachte, Humes Problem »in seinen weitesten Implikationen« zu lösen. Kant wird manchmal als »Skeptiker« bezeichnet, aber es war sein erklärtes Ziel, den Skeptizismus zu überwinden, was er die »Euthanasie der reinen Vernunft« nannte. Kant wird auch vorgeworfen, er habe nicht geglaubt, dass es dort draußen eine reale Welt gibt, aber er hat leidenschaftlich an deren Existenz geglaubt, selbst wenn niemand vor ihm sie hatte nachweisen können. Wie wir sehen werden, war Kant auch ein Freund des Empirismus, aber ihm war klar, dass er den Empirismus vor seinen unkritischen Verfechtern retten musste. Manchmal wird Kant sogar als wissenschaftsfeindlich beschrieben, obwohl der selbst ein Wissenschaftler war, der wichtige Beiträge zur Astronomie und Physik geleistet hat.

Kants philosophischer Ansatz unterscheidet sich stark von allen seinen Vorgängern. Er fragte nicht: Gibt es dort draußen eine reale Welt? Ist Wissenschaft eine gültige Form der Erkenntnis? Kant ging von der Prämisse aus, dass dort draußen selbstverständlich eine Welt existiert und die Wissenschaft selbstverständlich eine Quelle echter Erkenntnis darstellt. Dann fragte er: Aber woher wissen wir das? Oder anders ausgedrückt: Wie ist irgendetwas von diesem Wissen möglich? In seinem Meisterwerk Die Kritik der reinen Vernunft hat Kant die systematischste Rekonstruktion des menschlichen Wissens vorgenommen, die je versucht wurde. Schopenhauer meinte, Kant sei »vielleicht der originellste Kopf, den jemals die Natur hervorgebracht hat«, und sagte über den Hauptteil der Kant’schen Philosophie: »Sie ist so klar begründet, dass kein irgend scheinbarer Einwand dagegen hat aufgetrieben werden können. Es ist Kants Triumph und gehört zu den wenigen metaphysischen Lehren, die man als wirklich bewiesen und als eigentliche Eroberungen im Felde der Metaphysik ansehen kann.«10 Schopenhauer erkannte die Implikationen von Kants Ideen in vollem Umfang. Er führte sie über Kant hinaus und errichtete seine eigene Philosophie auf der Kant’schen Grundlage.

Kants Widerlegung des Skeptizismus beginnt mit dem Eingeständnis, dass Wahres darin enthalten ist. Da alles Wissen auf Erfahrung basiert, sagt Kant, wird unser Wissen über die Welt durch unsere Sinne, unser Gehirn und unser Nervensystem gefiltert. Was wir wahrnehmen und verstehen, ist das, was die Ausstattung des menschlichen Körpers uns wahrzunehmen und zu verstehen ermöglicht. Und diese Ausstattung hat eindeutig ihre Grenzen. Hunde können Frequenzen wahrnehmen, die das menschliche Ohr nicht hört. Aale können über elektrische Signale Informationen empfangen, die uns nicht zugänglich sind. Fledermäuse nutzen die Echolokation, um in der Dunkelheit zu navigieren. Menschen haben diese Möglichkeit nicht. Es gibt also eindeutig bestimmte Formen von Information und Wissen, die uns aufgrund unserer körperlichen Beschaffenheit nicht zugänglich sind.

Wir können uns diese Grenzen am Beispiel einer Videokamera verdeutlichen. Sie zeichnet Bild und Ton auf, nicht jedoch Gerüche oder den Geschmack von Gegenständen. Man könnte sagen, dass die Videokamera zwei Kanäle zur Erfassung der Wirklichkeit hat. Wir Menschen verfügen über fünf Sinne, und so gesehen besitzen wir ein Fünfkanalsystem zum Erfassen der Wirklichkeit. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass alles, was wir mit diesem System nicht wahrnehmen können, niemals Teil unserer Wirklichkeit sein kann. Das bedeutet nicht, dass nichts anderes existiert. Die Beispiele der Aale und Fledermäuse zeigen uns, dass es durchaus andere Formen der Wahrnehmung und des Wissens gibt, die jenseits unserer Fähigkeiten liegen. Und ganz sicher könnte es noch viele weitere Formen des Wissens geben, zu denen kein einziges lebendes Geschöpf Zugang hat. Immerhin sind alle Lebewesen in derselben Lage wie wir: Ihr Wahrnehmungsvermögen ist von Natur aus auf ihre Sinnesausstattung beschränkt.

Was können wir nun wissen oder nicht wissen? Um diese Frage zu beantworten, stellen wir uns zunächst einen Apfel vor. Fragen Sie sich, wo die Röte ist, die wir sehen. Ist sie im Apfel? Nein, sie existiert eigentlich in unserer Vorstellung, abgeleitet von den Eindrücken, welche die Lichtsignale auf unseren Augen hinterlassen, die dann im visuellen System des Gehirns verarbeitet werden. Auf ähnliche Weise schmecken, riechen und fühlen wir den Apfel mit Hilfe unserer Sinne und unseres Nervensystems. Und ofensichtlich ist die Erfahrung des Apfels für uns alle gleich, denn als Menschen haben wir die gleiche Art von Sinnesorganen. Folgt daraus nun, dass wir uns die Dinge nur vorstellen und es keinen realen Apfel gibt? Natürlich nicht. Kant beharrt darauf, dass es einen Apfel geben muss, weil er schließlich die Eindrücke in unserem Kopf hervorruft. Gäbe es keinen Apfel, dann gäbe es auch diese Eindrücke nicht. Für Kant ist der Apfel das »Ding an sich«, und was wir sehen, schmecken und berühren, ist die phänomenale Erscheinung des Apfels. Und das gilt für alle unsere Erfahrungen.

Auf dieser Basis, so erklärt Kant, leben wir Menschen in zwei Welten, der Welt, so wie sie ist, und der Welt, so wie wir sie durch unseren Verstand und unsere Sinne erfassen können. Kant bezeichnet die Welt, so wie sie ist, als »Noumenon« und die Welt, so wie sie uns erscheint, als »Phänomen«. Das ist vielleicht die berühmteste Unterscheidung der westlichen Philosophie, und deshalb wollen wir ihre Bedeutung etwas genauer untersuchen. Kants Argument lautet, dass alle menschliche Erfahrung einschließlich wissenschaftlicher Erkenntnisse ein Wissen über die phänomenale Welt ist. Weil wir Erfahrungen nur über unsere Sinne und entsprechend eingestellte Instrumente machen können, ist die phänomenale Welt die empirische Welt, in der die Wissenschaft das Sagen hat. Wissenschaftliche Erkenntnis und empirisches Wissen sind also durchaus möglich. Sie stellen jedoch kein Wissen über die Realität als solche dar, sondern nur über die Realität, wie sie durch unsere Sinne wahrgenommen wird. Wissenschaft untersucht also Erfahrungen und nicht die Wirklichkeit, wie sie unabhängig von Erfahrungen existiert. Innerhalb des Reichs der Erfahrung, so erklärt Kant beharrlich, ist Wissenschaft die beste Methode, um zu Erkenntnissen zu gelangen, und folglich ist ihre Autorität hier uneingeschränkt. Aber als empirische Form der Untersuchung ist die Wissenschaft ihrer Natur nach unfähig, irgendwelche Behauptungen über die andere Welt aufzustellen. Jeder Versuch, so meint Kant, wäre lächerlich, weil er Behauptungen aufstellen würde, die offensichtlich über die Kompetenz der Wissenschaft hinausgehen.

Kant hat festgestellt, dass die phänomenale Welt, die Welt, die wir durch unsere Sinne erfahren und mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden untersuchen, als materielle Welt den Gesetzen der Materie unterworfen ist. Diese Welt existiert in Raum und Zeit. Für Kant sind Raum und Zeit jedoch keine abstrakten Einheiten dort draußen im Universum, sondern Modalitäten der menschlichen Wahrnehmung, Teil der Ausstattung des menschlichen Geistes. Diese Aussage mag seltsam klingen, doch gibt es Physiker, die sagen, dass sie Relativität und Raumzeit im Kant’schen Sinne verstehen. Einstein war mehr ein empirischer Realist als Kant, aber auch er hat sein Leben lang beharrlich erklärt, dass die Unterscheidungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keine objektiven Fakten in der Welt, sondern einfach eine menschliche Weise darstellen, Erfahrungen zu ordnen.11 Eine bezeichnende Implikation der Kant’schen Analyse besteht darin, dass Raum und Zeit beide in der phänomenalen Welt angesiedelt sind. Außerhalb des Phänomenalen gibt es keinen Raum und keine Zeit.

Das bringt uns in das Reich des Noumenalen, die von unserer Erfahrung unabhängige reale Welt. Können wir sicher sein, dass sie existiert? Natürlich können wir das, sagt Kant, denn würde sie nicht existieren, dann hätten wir keine phänomenalen Erfahrungen. Sie sind ofensichtlich Erfahrungen von etwas, und dieses Etwas ist die noumenale Welt. Auf der Grundlage unseres Wissens über die phänomenale Welt können wir auch sagen, was das noumenale Reich nicht ist: Es ist nicht an die materiellen Gesetze gebunden. Es ist eine Welt, die nicht durch Raum und Zeit eingeschränkt wird. Außerdem ist es eine Welt, zu der unser Verstand und unsere Erfahrung keinen direkten Zugang haben. Das ist so ziemlich alles, was wir darüber sagen können. Mit allem, was darüber hinausgeht, würden wir uns ein Wissen anmaßen, das wir nicht besitzen und niemals besitzen werden. Dennoch hat Kant den Nachweis geführt, dass die Welt unserer Erfahrung nicht die einzige Welt ist. Im Grunde ist sie lediglich die Manifestation einer anderen Welt, einer Wirklichkeit, die hinter dem Schleier der menschlichen Erfahrung verborgen liegt.

So weit das noumenale Reich auch von unserem gewöhnlichen Leben entfernt sein mag, hilft es uns doch, einige der tiefgründigsten Rätsel des Lebens zu erklären. Im vorigen Kapitel haben wir uns beispielsweise mit der Frage abgemüht, wie der freie Wille in einem Universum existieren kann, das den Gesetzen der Physik unterworfen ist. Kants Antwort lautet, dass man Freiheit in einem »doppelten Sinne« verstehen muss. Auf der einen Seite ist Freiheit eine Eigenschaft der noumenalen Welt und unterliegt als solche nicht den Gesetzen der Physik. Auf diese Weise können wir überhaupt erst freie oder nichtdeterminierte Entscheidungen treffen. Aber die Folgen freier Entscheidungen, wenn wir beispielsweise unseren Arm heben oder einen Ball werfen, manifestieren sich natürlich in der phänomenalen Welt. Deshalb bewegt sich der Arm oder der Ball entsprechend den Bewegungsgesetzen. In diesem Sinne funktioniert Freiheit in der phänomenalen Welt, der Welt der Erfahrung.12

Für Schopenhauer war Kants Philosophie in ihren zentralen Behauptungen unanfechtbar, und er machte dort weiter, wo Kant aufgehört hatte. Gleichzeitig zögerte Schopenhauer nicht, Kant zu korrigieren, wo er einen Irrtum zu erkennen meinte. So hatte Kant beispielsweise sehr wenig über die noumenale Welt geschrieben. Das passte zu seiner Behauptung, dass wir eigentlich nichts über ein Reich sagen können, das jenseits aller Erfahrung liegt. Aber Schopenhauer unterschied zwischen etwas kennen und von etwas wissen. Ich kenne Verdis Opern nicht, aber ich weiß von ihnen. Ich kenne Bill und Hillary Clinton nicht, aber ich habe selbstverständlich von ihnen gehört, einschließlich verschiedener Dinge über Bill, die ich lieber nicht wissen würde. Schopenhauer sagt eine ganze Menge über das Noumenale, und an einem Punkt, der für unsere Zwecke eine direkte Relevanz hat, folgt er Kant nicht. Kant schreibt typischerweise im Plural über das Noumenale – also Noumena statt Noumenon –, wenn er sich auf die Dinge als solche bezieht.

Aber Schopenhauer zeigt, dass das nicht richtig sein kann. Damit verschiedene Dinge existieren können, so schreibt er, braucht man eine Differenzierung, und das ist nur in einer Welt von Raum und Zeit möglich. Wenn ein materielles Objekt von einem anderen unterschieden werden soll, dann muss es entweder im Raum oder in der Zeit existieren, sonst wären die beiden Objekte identisch. Sogar abstrakte Zahlen oder Formen müssen in der zeitlichen Abfolge oder räumlichen Konfiguration verschieden sein, damit sie voneinander zu trennen sind. Aber wie Kant selbst anmerkt, sind Raum und Zeit Modalitäten der menschlichen Sinneswahrnehmung und lassen sich nicht auf das Noumenale anwenden. Schopenhauer schlussfolgert, dass es außerhalb des Reichs von Raum und Zeit keine Differenzierung gibt. Im Reich des Noumenon ist alles immateriell, und alles ist eins.13

Schopenhauers Vorstellung vom transzendenten Einssein gründet sich auf Kant und ist doch ein wesentlicher Fortschritt, weil sie Kants Gedanken weiterentwickelt. Schopenhauer ging auch auf eine Frage von Hume ein, die Kant nicht aufgegriffen hatte, nämlich die Überlegung, ob man wissen kann, dass das Selbst existiert. »Die Welt ist meine Vorstellung«, schreibt Schopenhauer in der berühmten Anfangszeile seines Opus magnum Die Welt als Wille und Vorstellung. Damit drückt er aus, dass die Existenz der Welt selbst abhängig von der Vorstellung des denkenden Subjekts ist. Für einen Realisten klingt das absurd, und deshalb fordert Schopenhauer seine Leser auf, über die Welt nachzudenken und sich dann selbst, also das denkende Subjekt, aus diesen Überlegungen herauszurechnen. Wo ist nun die Welt? Sie ist ganz ofensichtlich verschwunden. Es gibt keine Welt ohne Subjekte in dieser Welt, und außerdem ist die Welt als Erfahrung im Kopf dieser Subjekte angesiedelt. Also ist Subjektivität die notwendige Grundlage von Objektivität. Der Realismus ist falsch, schreibt Schopenhauer, weil er den zum Scheitern verurteilten Versuch unternimmt, ein Objekt ohne ein Subjekt zu postulieren. Und der Materialismus ist ebenso falsch, weil er »die Philosophie des bei seiner Rechnung sich selbst vergessenden Subjekts« ist.14

Hume irrt sich also, wenn er sagt, dass es kein Selbst gibt. Wir wissen, dass es existiert, weil es die Voraussetzung all unserer Erfahrungen ist. Aber Hume hatte in gewisser Hinsicht doch recht: Wenn wir die Erfahrung an sich untersuchen, können wir kein »Ich« darin finden, weil das Selbst das ist, was die Erfahrung macht, aber seinerseits nicht unabhängig von seinen Erfahrungen erkannt werden kann. Kant hatte argumentiert, man könne das Objekt als solches, also beispielsweise einen Apfel, nicht unabhängig von der sinnlichen Erfahrung des Sehens, Berührens und Schmeckens kennen. Schopenhauer erklärt nun, das Subjekt sei in genau derselben Position: Wir können uns selbst nur durch unsere Erfahrungen kennen. Aber unserem innersten Wesen nach sind wir auch »Dinge an sich«. Mit anderen Worten, das »Ich« kann nicht direkt erfahren werden, weil es Teil der noumenalen Welt ist, und das sollte uns nicht überraschen, weil wir wie jedes materielle Objekt in der Welt simultan ein phänomenales und ein noumenales Reich bewohnen. Dieser sehr subtile Gedankengang führt zu der bemerkenswerten Schlussfolgerung, dass die Realität aus zwei verschiedenen Einheiten besteht, dem Geistigen und dem Materiellen, die beide ihrer inneren Natur nach noumenal und unerkennbar sind. Unser Wissen beschränkt sich auf die mittlere Welt der Interaktionen zwischen beiden.

Der Prüfstein für eine gute Theorie ist nicht nur die Logik ihrer Argumentation, sondern auch ihre Fähigkeit, Dinge zu erklären, die ohne sie geheimnisvoll blieben. Schopenhauer vertritt die Ansicht, seine Lehren trügen dazu bei, den Sinn der Moral und ganz besonders des menschlichen Mitgefühls zu verstehen. Im Gegensatz zu Kant war Schopenhauer kein Moralphilosoph. Er wollte Moral nie rechtfertigen, sondern nur erklären. Wie wir im folgenden Kapitel genauer untersuchen werden, ist die Moral im Allgemeinen und das Mitgefühl im Besonderen aus evolutionärer Sicht ein Rätsel, weil die Evolution besagt, dass wir selbstsüchtige Wesen sind, die vor allem überleben und sich in der Welt fortpflanzen wollen. Es ist nur schwer einzusehen, wie Spenden für Kinder in Ruanda in dieses Schema passen. Aber Schopenhauer sagt, wenn das Selbst noumenal und das Noumenale undifferenziert ist, dann bedeutet dies, dass Menschen ungeachtet ihrer phänomenalen Unterschiede im Kern ihres Wesens alle eins sind. Und vielleicht, so meint Schopenhauer, erkennen wir das auf einer gewissen Ebene. Daraus würde sich das Mitgefühl erklären, die Fähigkeit von Menschen, sich mit anderen zu identifizieren, an ihrem Schmerz Anteil zu nehmen und ihnen sogar dann zu helfen, wenn uns das etwas kostet oder Opfer abverlangt. Schopenhauers Lehre einer allumfassenden menschlichen Verbundenheit impliziert, dass wir uns selbst verletzen, wenn wir andere verletzen, ob uns das nun bewusst ist oder nicht.15 Diese Überlegung mag stimmen oder nicht, faszinierend ist jedenfalls, dass Menschen oft so handeln, als würde sie stimmen. Also hat Schopenhauers Philosophie etwas Prädiktives; sie vertieft unser Verständnis des menschlichen Verhaltens.

Inzwischen werden aufmerksame Leser festgestellt haben, dass Schopenhauers Ideen praktisch identisch sind mit denen der östlichen Religion und Philosophie, besonders den zentralen Lehren des Hinduismus und Buddhismus. Seit mehr als tausend Jahren haben die Weisen des Ostens erklärt, die letzte Wirklichkeit sei eins, die Welt unserer Wahrnehmung sei nicht die wahre Welt, unsere phänomenale Erfahrung eine Art Erscheinung oder Illusion und die Menschen seien nicht nur miteinander, sondern auch mit allen anderen Lebewesen verbunden. Diese starke Ähnlichkeit zwischen Schopenhauers Schlussfolgerungen und dem östlichen Denken hat im Westen viele Leute, darunter auch einige Gelehrte, zu der Vermutung verleitet, Schopenhauer habe seine Vorstellungen vom Hinduismus oder Buddhismus übernommen oder sich zumindest stark von diesen Lehren beeinflussen lassen. Aber Schopenhauers Biograf Brian Magee bestreitet das. Vielmehr habe Schopenhauer, wie Kant, vollkommen in der Tradition der westlichen Philosophie gestanden, die mit Parmenides und Platon begann und von Descartes, Locke, Berkeley und Hume fortgeführt wurde. Als Schopenhauer zu seinen Schlussfolgerungen gelangte, sah er, dass sie dem östlichen Denken sehr ähnlich waren, und diese Entdeckung erstaunte und entzückte ihn. In seinen späteren Schriften hob er diese Nähe zu den östlichen Lehren hervor, und er trug dazu bei, ein europäisches Publikum mit den Vorstellungen der östlichen Religionen vertraut zu machen. Aber Schopenhauer ging es nie darum, dass sich diese beiden Traditionen gegenseitig beeinflussten, sondern er hielt es für bemerkenswert, dass östliche und westliche Denker völlig unabhängig voneinander die wichtigsten Fragen aufgegriffen hatten und auf sehr unterschiedlichen Wegen im Kern zu demselben Ergebnis gelangt waren.16

Was bedeutet das nun alles für das Leben nach dem Tod? Schopenhauer gibt zu, dass unser Körper nach dem Tod zerfällt und unsere Individualität verlorengeht. Er bestreitet die Unsterblichkeit der Person, an die Juden, Christen und Moslems glauben. Wenn wir sterben, endet die phänomenale Welt für uns. »Du, als Individuum, endest mit dem Tod.« Kein Wunder, dass wir den Tod als Auslöschung wahrnehmen. Wir fürchten ihn, weil er eine Bedrohung für den Lebenswillen ist, in dem Schopenhauer die treibende Kraft unserer irdischen Existenz erkannt hat. Aber Schopenhauer behauptet, diese Furcht vor dem Tod sei selbst eine Illusion, weil der reale oder noumenale Teil von uns nicht sterben kann. Schopenhauer bestreitet nicht etwa ein Leben nach dem Tod, sondern bestätigt es: »Dein Wesen an sich selbst … kennt weder Zeit, noch Anfang, noch Ende … [In diesem Sinne] bist und bleibst du alles.« Mit anderen Worten: Nach dem Tod sind wir vollständig integriert in das Reich des Noumenalen, aus dem wir ursprünglich hervorgegangen sind. Für Schopenhauer, der dem Leben in dieser Welt pessimistisch gegenüberstand, ist der Tod eine Art Befreiung, ein Abwerfen des Schleiers der phänomenalen Existenz und die Entdeckung unseres wahren Einsseins miteinander und der grenzenlosen Realität selbst. Wenn wir sterben, ist die Zeit des Getrenntseins vorüber, und wir leben weiter als Teil der absoluten Wirklichkeit, welche die einzige Wirklichkeit ist, die es gibt.17

Schopenhauers Leben nach dem Tod ist kein christliches, aber wir sollten die Bedeutung seiner Leistungen nicht verkennen. Wie Kant ist Schopenhauer ein Denker von unvergleichlicher Größe, der seine Ideen innerhalb der rationalen Tradition formuliert hat, auf der das westliche Denken beruht. Schopenhauer war ein Atheist, und Kant war ein Christ, doch um die Existenz und die Eigenschaften des Noumenon, der Welt hinter der Welt, darzustellen, trugen beide Männer säkulare Argumente vor, ohne sich auf irgendwelche Ofenbarungen oder auf Gott zu berufen. Christen, Juden und Moslems versichern ebenso wie Hindus und Buddhisten, dass es diese unsichtbare Wirklichkeit gibt. Paradoxerweise zeigen Schopenhauer und Kant einen rationalen Weg zu demselben Ziel, das religiös Gläubige auf einem ganz anderen Weg erreicht haben. In gewisser Weise geben sie uns eine solide intellektuelle Grundlage für das, was vorher nur auf der Basis des Glaubens versichert wurde. Unsere Schlussfolgerung lautet also, dass es gute Gründe gibt, an ein Leben nach dem Tod zu glauben. Schopenhauer, der erste moderne Atheist, hat durch seine Philosophie gezeigt, dass die Atheisten an diesem entscheidenden Punkt falschliegen und die religiös Gläubigen recht haben.