Zwei Arten der Unsterblichkeit
Der religiöse Impuls, die Suche nach Sinn,
die über den eingeschränkten Raum der
Daseinserfahrung in dieser Welt hinausgeht,
ist ein immerwährendes Wesensmerkmal
der Menschheit.1
Peter Berger, The Desecularization of the World
Atheisten betrachten das Leben nach dem Tod als eine religiöse Behauptung, die man nicht ernst nehmen muss; denn immerhin gibt es viele Religionen in der Welt mit scheinbar konkurrierenden Jenseitsvorstellungen. Aus atheistischer Sicht können nicht alle richtig sein, sondern bestenfalls eine; und höchstwahrscheinlich sind alle falsch. Für Atheisten ist das Leben nach dem Tod Teil eines religiösen Weltbildes, das mittlerweile weitgehend widerlegt worden ist. Kurzum, Religion ist »schlechte Wissenschaft«, und Atheisten meinen, es sei an der Zeit, dass sie zugunsten »guter Wissenschaft« verschwinde.
In diesem Kapitel prüfe ich die entsprechenden Argumente und zeige, dass sie grundfalsch sind. Der Glaube an das Leben nach dem Tod ist kein ausschließlich religiöser, sondern wird auch schon seit Platon von der westlichen Philosophie vertreten. Außerdem stimmen die Weltreligionen völlig darin überein, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Mit anderen Worten: Der Glaube an das Jenseits ist universell. Wenn wir sehen, wie solche Überzeugungen in den frühen Kulturen entwickelt wurden, können wir die Hypothese aufgeben, dass sie eine primitive Form von Wissenschaft darstellen. Das ist keineswegs ihre Quelle. Und wenn wir schließlich untersuchen, was die großen Religionen über das Leben nach dem Tod sagen, stellen wir fest, dass sich ihre Vorstellungen sehr viel weniger unterscheiden bzw. untereinander »konkurrieren«, als Atheisten das annehmen. Im Grunde gibt es nur zwei Hauptversionen eines Lebens nach dem Tod: die östliche und die westliche. Im Osten geht man davon aus, dass sich die Seele nach dem Tod mit einer transzendenten und letzten Wirklichkeit vereinigt, während man im Westen eine körperliche Auferstehung annimmt. Dies sind die beiden maßgeblichen Arten von Unsterblichkeit, an die Menschen tatsächlich glauben; und um diese beiden wird es uns hier gehen.
Beginnen wir mit dem atheistischen Einspruch, um dann im weiteren Verlauf des Kapitels zu prüfen, ob er wahr ist. In unserem Zeitalter des aggressiven Atheismus überfallen Nichtgläubige die religiös Gläubigen gern mit der Frage: »Woher weißt du, dass deine Religion recht hat und alle anderen Religionen irren?« Hier der atheistische Autor Kai Nielsen: »Warum die Bibel statt des Koran … der kanonischen buddhistischen Texte … der hinduistischen Texte? Es gibt keinen Grund, die christliche Offenbarung diesen anderen vorzuziehen.«2 Ein Punkt für den Atheisten. Es gibt viele Religionen in der Welt, und die meisten Gläubigen haben keine vergleichende Untersuchung durchgeführt, um festzustellen, welche Glaubensvorstellungen richtig sind. Die meisten Christen sind deshalb Christen, weil sie in Tulsa, Oklahoma, geboren wurden oder in San Diego, Kalifornien. Wären sie in Kabul zur Welt gekommen, dann wären sie wahrscheinlich Moslems. »Mit sehr wenigen Ausnahmen«, schrieb Bertrand Russell, »akzeptiert ein Mensch die Religion der Gemeinschaft, in der er lebt, was deutlich macht, dass ihn der Einfluss der Umgebung dazu gebracht hat, der fraglichen Religion anzuhängen.«3 Auf welcher rationalen Grundlage versichert der Gläubige also die exklusive Wahrheit seiner jeweils eigenen Religion und folglich ihrer besonderen Jenseitsvorstellungen?
In einer meiner Debatten beschuldigte mich mein Gegenüber sogar, ich sei ein Atheist. Im Laufe der Geschichte, so stellte er fest, hätten die Menschen viele Götter verehrt. »Sie glauben nicht an Krishna, oder? Nein. Und wie steht es mit Buddha? Nein. Was ist mit Baal oder Thor oder Poseidon oder Ahura Mazda? Nein. Nun, dann sind Sie ein Atheist. Immerhin lehnen Sie 99 Prozent aller Götter ab. Der einzige Unterschied zwischen Ihnen und mir«, so schloss mein nichtgläubiger Kontrahent, »ist der, dass ich Ihren Gott zu dieser langen Liste hinzufüge.«
Manche Christen schließen sich diesem Gedankengang weitgehend an. Ich habe mir die Aufzeichnung einer Debatte zwischen einem Vertreter des Christentums und einem Atheisten aus den sechziger Jahren angehört. Der Atheist griff den Islam, den Hinduismus und den Buddhismus scharf an. Was er sagte, war unsinnig, bösartig und intolerant. Der Christ stimmte ihm freudig zu und drückte damit letztlich aus: Mach weiter und prügle auf diese Religionen ein. Ich bin auf deiner Seite. Ich verteidige nur meine eigene Religion, nämlich das Christentum. Der Atheist fand es skurril, dass jeder Mensch sich von der Vorstellung abgestoßen fühlt, seine eigene Religion könnte albern oder falsch sein, aber bereitwillig zustimmt, dass die anderen Religionen der Welt einiges zu beantworten haben. So kommen wir also wieder zu der Frage des Atheisten: Wenn es so viele Religionen gibt, was macht deine zur wahren und den Rest zu falschen?
Diese Frage hat eine direkte Bedeutung für das Jenseitsthema. Anscheinend hat jede Religion, zumindest jede der westlichen, eine andere Vorstellung vom Leben nach dem Tod. Außerdem scheint jede dieser Vorstellungen aus dem betreffenden geografischen Umfeld abgeleitet zu sein. Das wird deutlich, wenn wir die verschiedenen Bilder vom Himmel vergleichen. Für Moslems in der arabischen Wüste ist der Himmel eine Oase mit Palmen und Datteln. Die amerikanischen Ureinwohner stellten sich die ewigen Jagdgründe vor, wo sie Hirsche und Büffel jagen konnten. Die Wikinger hofften, nach dem Tod in Walhalla aufgenommen zu werden, wo sie tagsüber Schlachten kämpfen und nachts ihre Siege feiern würden. Diese Vorstellungen sind ofensichtlich die Produkte kultureller Hofnungen und Erwartungen. Die östlichen Religionen werden bei solchen Debatten meist ignoriert. Wenn Atheisten sie erwähnen, heben sie typischerweise hervor, wie sehr sie sich von westlichen Religionen unterscheiden.
Die meisten Atheisten nehmen sich wenig Zeit, religiöse Behauptungen genauer zu untersuchen, weil sie das ganze Unterfangen von Anfang an für unsinnig halten. Für viele von ihnen ist Religion eine Art verpfuschte Wissenschaft. Jede einzelne Jenseitsvorstellung ist eingebettet in eine umfassendere religiöse Erzählung über die Welt, und aus atheistischer Sicht sind diese Erzählungen nichts weiter als primitive Versuche, Phänomene zu erklären, die furchterregend oder geheimnisvoll sind. Bei einer Debatte, die ich im November 2008 mit dem Philosophen Daniel Dennett in Puebla, Mexiko, geführt habe, erklärte Dennett gönnerhaft, Religion sei eine Art Hilfspflanze, ein Vorläufer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Religionen, so argumentierte er, hätten ihre subjektiven und weitgehend fantasievollen Bilder der Realität angeboten, bis die wissenschaftliche Objektivität aufkam. Jetzt aber sei es an der Zeit, krude religiöse Spekulationen durch rationale wissenschaftliche Erklärungen zu ersetzen. Ähnliche Argumente haben auch der Astronom Carl Sagan, der Physiker Steven Weinberg und andere geäußert. Aus der Sicht dieser Atheisten können religiöse Jenseitsvorstellungen jetzt als Teil dieses primitiven Pakets aufgegeben werden.
Die atheistische Kritik verdient eine Antwort, aber einen ihrer Aspekte können wir von Anfang an ablehnen. Die atheistische Annahme, religiöse Vielfalt untergrabe die Wahrheit religiöser Behauptungen, ist einfach falsch. Wenn es um unterschiedliche Jenseitsvorstellungen oder irgendeine andere Doktrin geht, dann bedeutet Uneinigkeit auf keinen Fall, dass solche Vorstellungen nicht wahr wären. Und auch die Tatsache, dass man sein Christentum erlernt hat, weil man im Bible Belt aufgewachsen ist, sagt nichts darüber aus, ob solche Überzeugungen wahr oder falsch sind. Der Atheist erliegt hier dem, was man in der Logik einen »genetischen Trugschluss« nennt. Der Ausdruck hat nichts mit Genen zu tun, sondern bezieht sich auf Ursprünge. Sie können sich das so vorstellen: Wenn man in New York aufgewachsen ist, wird man mit größerer Wahrscheinlichkeit an Einsteins Relativitätstheorie glauben, als wenn man in Neuguinea groß geworden wäre. Jemand aus Oxford in England wird mit größerer Wahrscheinlichkeit ein Atheist sein als jemand aus Oxford, Mississippi. Was sagt uns das über den Wahrheitsgehalt solcher Überzeugungen? Nichts. Die geografischen Wurzeln Ihres Glaubens haben keine Bedeutung für die Gültigkeit Ihrer Überzeugungen.
Aber was ist mit der umfassenderen atheistischen Behauptung, Religionen stellten eine Art Ersatzwissenschaft dar, ihnen fehlte nicht nur die wissenschaftliche Objektivität, sondern ihre Behauptungen schlössen sich auch gegenseitig aus? Wir wollen das prüfen, indem wir einen kurzen Ausflug in die Geschichte unternehmen und uns die Jenseitsvorstellungen verschiedener Kulturen genauer ansehen. Wir vergleichen hier keine Religionen – etwas, was vielen Christen aus einem Grund zuwider ist, den der Priester und Autor Ronald Knox so formuliert: »Die vergleichende Religionswissenschaft ist der beste Weg, vergleichsweise religiös zu werden.«4 Was wir hier machen, ist etwas ganz anderes. Wir versuchen nicht, die religiöse Vielfalt zu bestätigen oder zu behaupten, dass alle Religionen gleich gültig sind, sondern wir vergleichen eine Reihe atheistischer Behauptungen über die Weltreligionen mit der empirischen Realität dessen, was die Anhänger dieser Weltreligionen tatsächlich glauben.
Zu den verblüffendsten Aspekten des Jenseitsglaubens gehört die Tatsache, dass er absolut universell ist. Alan Segal hat das in seiner mit kirchlicher Lehrautorität versehenen Untersuchung Life after Death eindeutig festgestellt. Segal zeigt, dass jede Kultur seit Beginn der Menschheitsgeschichte irgendeine Vorstellung von fortdauernder Existenz vertreten hat. Frühe Zivilisationen in Ägypten, Mesopotamien, China, Indien und auf dem amerikanischen Doppelkontinent haben alle daran geglaubt, dass es irgendeine Art von Leben jenseits des Grabes gibt.5 Segal weiß natürlich, dass nicht jeder einzelne Mensch in diesen Kulturen ein Weiterleben nach dem Tod erwartet hat. Die meisten frühen Kulturen haben lediglich bei den Angehörigen des herrschenden Adels Vorkehrungen für ein zukünftiges Leben im Jenseits getroffen. Bauern und andere gewöhnliche Leute galten als nicht wichtig genug, um die Erwägung eines Lebens nach dem Tod zu rechtfertigen.
In Ägypten haben beispielsweise Tausende von Arbeitern die drei Pyramiden von Gise errichtet. Die Ägypter balsamierten die Körper ihrer Pharaonen ein, bandagierten sie und bestatteten sie manchmal in mehreren Särgen, die ineinandergestellt wurden. Das Gesicht wurde gewöhnlich mit einer Maske bedeckt, um die Identität des Verstorbenen zu wahren. Sumerische Ausgrabungen haben gezeigt, dass Angehörige der herrschenden Klasse in Särgen beigesetzt wurden, die verschiedenste Grabbeigaben enthielten, darunter Schmuck, Kronen, Spiele, Waffen und Essgeräte. Gelegentlich wurden Diener mit ihren Herren begraben, um ihnen auch im nächsten Leben zu dienen. Diese Tatsachen widerlegen die Vorstellung, dass die alten Religionen nur den Eliten als Werkzeug dienten, um das gemeine Volk mit seinem Schicksal auszusöhnen, indem man ihm eine wunderbare Existenz im nächsten Leben versprach. »Man ging davon aus«, schreibt der Theologe John Hick, »dass sich die Ungleichheit in diesem Leben auch im nächsten fortsetzen würde.«6
Die Universalität des Jenseitsglaubens ist erstaunlich, weil er nicht zu den empirisch ofensichtlichen Überzeugungen gehört, die man in jeder Gesellschaft von den frühesten Anfängen der Menschheit an erwarten würde. Es überrascht nicht, dass man überall an Berge, Regengüsse oder Tiere glaubte, weil das alles ohne Zweifel sinnlich erfahrbar war. Aber es ist eine völlig andere Sache, wenn alle Kulturen in der Geschichte bis in unsere Gegenwart einer Idee anhängen, die sich anscheinend durch keine Erfahrung bestätigen lässt. Diese verblüffend ähnlichen Vorstellungen verlangen nach einer Erklärung. Natürlich ist es einfach, die Universalität des Jenseitsglaubens herunterzuspielen, indem man sagt, darin würden sich lediglich primitive Naturerklärungen widerspiegeln. Doch Anthropologen beharren darauf, dass es unsinnig ist, religiöse Überzeugungen prähistorischer Gesellschaften ohne schriftliche Zeugnisse auf diese Weise zu interpretieren. Denken Sie an den Glauben mancher alten Völker, dass der Himmel von zahlreichen Göttern bewohnt wird. Heute können wir kaum der Versuchung widerstehen, das als armseligen Versuch zu deuten, Antworten auf Fragen wie »Warum geht die Sonne auf?« oder »Warum regnet es?« zu finden. Aber im Grunde wissen wir gar nicht, ob die Menschen damals solche Fragen gestellt haben. Denn eigentlich braucht man einen ziemlich hoch entwickelten Verstand, um für das Aufgehen der Sonne oder für Regenfälle nach einer überzeugenden Erklärung zu suchen. Sinnvoll sind derartige Fragen überhaupt nur, wenn man davon ausgeht, dass natürliche Vorgänge rational einleuchten können und ausnahmslos bestimmten Gesetzen folgen. Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass die Menschen in diesen Kulturen solche Überlegungen angestellt haben. Der Atheist projiziert hier auf anachronistische Weise unsere moderne Denkweise auf alte Völker.
Ich sage nicht, dass die Menschen im Altertum dumm waren oder nicht nach Erklärungen für Naturphänomene gesucht haben. Das haben sie getan. Aber aus der anthropologischen Literatur können wir entnehmen, dass sie ihre Erklärungen auf einer anderen Ebene gesucht haben, als wir es heute tun. Denken Sie beispielsweise an einen afrikanischen Stammeshäuptling, der glaubte, die Götter müssten zornig sein, wenn eine Hungersnot oder Krankheit über seinen Stamm hereinbrach, sodass die Schamanen Rituale zu seiner Besänftigung abhalten mussten. Was könnte vom atheistischen Standpunkt aus ein ofensichtlicheres Beispiel für schlechte Wissenschaft sein? Vielleicht müssen wir den Biologen Richard Dawkins überreden, dem Stammesoberhaupt zu erklären, dass die Krankheit durch eine besonders bösartige Insektenart übertragen wird. Aber das würde den afrikanischen Häuptling wahrscheinlich nicht beeindrucken, sondern er würde ungefähr so argumentieren: »Natürlich weiß ich, dass die Insekten das machen, aber meine Frage lautet, warum das ausgerechnet meinen Leuten passiert. Warum wird mein Stamm geschwächt, während andere nicht heimgesucht werden?« Der Häuptling würde eine natürliche Erklärung nicht ablehnen, aber er würde sie auch nicht für vollständig oder angemessen halten. Der Wissenschaftler sagt ihm, wie es dazu kommt, aber was der Häuptling wirklich wissen will, ist, warum das seinem Stamm passiert.
Der Anthropologe Pascal Boyer schreibt: »Wenn Menschen übernatürliche Ursachen finden, hat das nichts damit zu tun, dass sie das Wirken mechanischer oder biologischer Ursachen ignorieren, sondern dass sie Fragen stellen, die über diese Ursachen hinausgehen.«7Mit anderen Worten: Die Wurzeln des religiösen Impulses der Menschheit liegen nicht in wissenschaftlicher Ignoranz, sondern in dem, was Rudolf Otto als »Gefühl des Numinosen« bezeichnete. Gemeint ist damit ein Gefühl, dass unsere Existenz etwas Beängstigendes, Ehrfurchtgebietendes und Erhabenes an sich hat, das aus einer anderen Art von Wirklichkeit zu stammen scheint.8 So gesehen verbindet der Tod zwei Dimensionen des Lebens. Die Vorfahren werden zum Teil deshalb für ihre Weisheit verehrt, weil sie jetzt dieser anderen Dimension angehören und gleichsam den vollständigen Blick auf die Dinge haben. Das Leben nach dem Tod ist also Teil der menschlichen Vorstellung, dass es zwei Arten von Wirklichkeit gibt: die Welt, in der wir leben, und eine andere, dauerhaftere »Welt hinter der Welt«. Unsere Welt ist abhängig und irgendwie weniger real als diese andere Welt, und die Menschen versuchen mit religiösen Gefühlen und Ritualen, Verbindung zu jener tieferen Wirklichkeit aufzunehmen.
Wir wollen uns nun genauer ansehen, was die drei abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – über das Leben nach dem Tod zu sagen haben. In allen drei Religionen finden wir eine offizielle und eine inoffizielle Lehre. Beide sind weit verbreitet und sollen deshalb berücksichtigt werden. Die offizielle Lehre ist die körperliche Auferstehung. Die Moslems sind berühmt für ihre Schilderungen des Jenseits im Sinne körperlicher Freuden (und Schmerzen). In ihrem Himmel findet man beispielsweise herzhafte Mahlzeiten, erholsamen Schlaf und jede Menge Sex. Die alternative, inoffizielle Sicht – in allen drei Religionen von der mehr kontemplativen Richtung vertreten – ist die Unsterblichkeit der Seele: Der Körper vergeht, aber die Seele lebt weiter. Seltsamerweise stammt diese Vorstellung ursprünglich weder aus der Bibel noch aus dem Koran, sondern aus der griechischen Philosophie.
Atheisten, die standhaft behaupten, das Leben nach dem Tod sei eine religiöse Idee, wundern sich vielleicht, dass solche Gedanken auch von den Philosophen im 5. Jahrhundert v. Chr. intensiv diskutiert wurden. Die herausragende Bedeutung des Themas im Gedankengut der klassischen Antike hat den Philosophen Leo Strauss sogar zu der Bemerkung inspiriert, Transzendenz sei kein Reservat der Offenbarungsreligion. 9 Bei den alten Griechen und Römern kamen die interessantesten Vorstellungen über das Leben nach dem Tod nicht aus den Tempeln, sondern von den Philosophen. Sie gründeten sich auf Vernunft, nicht auf Offenbarung. Die griechische Religion hatte nur eine sehr schwache, verwässerte Jenseitsvorstellung. In der Gesellschaft, die Homer in der Ilias und der Odyssee porträtiert, sind nur die Götter unsterblich, während Sterblichkeit zum Menschsein gehört. Das Beste, worauf Menschen hoffen können, ist dauerhafter Ruhm durch große Taten im Krieg oder einen Sieg bei den Olympischen Spielen. Nicht dass es jenseits des Todes keine Zukunft für Menschen gäbe; ihr Weg führt sie hinab in die unwirkliche, schattenhafte Unterwelt, die »Hades« genannt wird. Nach dieser Aufassung schaffen es nur einige wenige Glückliche auf die Inseln der Gesegneten, meist große Helden, die aus einer Liaison der Götter stammen.
Während die griechische Religion, wie die meisten anderen Systeme, keinen Versuch machte, ihre Aussagen über das Jenseits zu rechtfertigen, finden wir bei Sokrates in Platons Phaidon das erste bekannte Argument für ein Leben nach dem Tod. Sokrates erklärt, dass unsere Körper sterblich sind, weil sie aus vergänglichem Material bestehen, dass unsere Seele aber solchen Beschränkungen nicht unterworfen ist. Da die Philosophen die Seele vom Körper und den Geist von physischen Bedürfnissen befreien möchten, vertritt Sokrates die Meinung, das Leben nach dem Tod sei die Verwirklichung dessen, was die Philosophen immer schon gewollt hätten. Und in dem Maße, wie man diese Art von intellektueller Meisterschaft in diesem Leben erlangt, bekommt man einen Vorgeschmack auf das, was einen im nächsten erwartet. Kein Wunder, dass Sokrates so gelassen war, als er den Schierlingsbecher leerte.
Sokrates lebte zu einer Zeit, als die Religion in aller Welt blühte. Wissenschaftler bezeichnen sie als »Achsenzeit«. Während dieser Periode um das 5. Jahrhundert v. Chr. verbreitete sich in Persien der Zarathustrismus, in China der Konfuzianismus und Taoismus, in Indien der Buddhismus. Hinduismus und Judentum traten ebenfalls in eine neue Entwicklungsphase ein. Es mag befremdlich klingen, wenn ich sage, dass sich Religionen »entwickeln«. Aber es ist nichts Außergewöhnliches an der Vorstellung, dass religiöse Ideen eine Art Evolution durchlaufen oder dass unser Verständnis des Himmels eine Geschichte hat. Die meisten Gläubigen haben damit kein Problem. Atheisten jedoch unterstellen manchmal, dass die Religion sich nur selbst aktualisiert, um ihre Lehren an die Realität anzupassen. Aber macht das nicht auch die Wissenschaft? Wir beurteilen die Wissenschaft nicht nach den Werken des Thales oder des Ptolemäus; wir sprechen ganz selbstverständlich von wissenschaftlichem Fortschritt. Wie die Achsenzeit zeigt, gibt es auch einen religiösen Fortschritt. Niemand sagt, dass sich die Wahrheit selbst verändert – das Relativitätsprinzip hat schon mehrere Milliarden Jahre funktioniert, bevor Einstein es entdeckte –, aber unser menschliches Verständnis kann sich verändern, und es tut das auch.
Ein klassischer Fall von religiösem Fortschritt ist im Judentum die Entwicklung vom Unglauben zum Glauben an ein Leben nach dem Tod. Dass die Juden ursprünglich ein Leben nach dem Tod geleugnet haben, mutet wie eine Ironie an, immerhin sind sie die Begründer des Monotheismus. Aber die Menschen, die als erste die Vorstellung von einem einzigen Gott entwickelten, waren Nachzügler bei den Jenseitsvorstellungen. Die Thora, die ersten fünf Bücher des Alten Testaments, erwähnt nicht ausdrücklich ein Leben nach dem Tod. In den Büchern des Hiob, der Prediger und anderen gibt es mehrere Passagen, aus denen man schließen kann, dass wir leben und sterben, und damit ist die Geschichte zu Ende. Die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod entwickelte sich für die Juden seltsamerweise aus einem frustrierten Gerechtigkeitsdenken heraus. Die alten Israeliten waren der Meinung, dass die gehorsame Befolgung der göttlichen Gesetze belohnt würde, und solche Belohnungen erwartete man in diesem Leben. Ein langes Leben, große Herden, viele Konkubinen – was kann sich ein Mann sonst noch wünschen? Sogar Zion, die von Gott versprochene Erneuerung Israels, wurde auf Erden erwartet.
Doch als die Juden verheerende Verluste und Niederlagen hinnehmen mussten, beispielsweise das Babylonische Exil im 6. Jahrhundert v. Chr., kamen ihnen Zweifel an den Aussichten für eine irdische nationale Wiedergeburt und auch an dem diesseitigen Lohn für ein tugendhaftes Leben. Während dieser Zeit stellten die Juden nie ihren Status als auserwähltes Volk in Frage, und auch die Treue zu ihrem Gott gaben sie trotz mancher Zweifel und Enttäuschungen nicht auf. Stattdessen gelangten sie zu der Überzeugung, dass es ein Leben nach dem Tod gab, in dem ein »Neues Jerusalem« errichtet und allen Menschen Gerechtigkeit widerfahren würde. Diese Sichtweise spiegelt sich in späteren Büchern des Alten Testaments wider, beispielsweise Jesaja und Daniel. In Daniel 12, 2 heißt es: »Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu.« Aus dieser Sicht wird das Kommen des Messias das Ende der Welt und die Zeit des Gerichts ankündigen. Am Tag des Gerichts wird Gott entscheiden, wie unser Leben nach dem Tod aussehen soll. Einige werden ihre himmlische Belohnung erhalten, andere in den Flammen der Hölle schmoren, ein Bild, das die Juden vielleicht aus der zentralen Stellung des Feuers im Zarathustrismus abgeleitet haben.
Der jüdische Konsens über das, was nach dem Tod geschieht, ergab sich aus den Folgen einer Debatte zwischen Sadduzäern und Pharisäern. Die Sadduzäer waren die biblischen Schriftgelehrten, die ihre Ablehnung der Unsterblichkeit mit dem begründeten, was in der Thora gesagt und nicht gesagt wird. Die Pharisäer waren die Intellektuellen, deren Argumente über eine wortgetreue Auslegung der Texte hinausgingen. Da wir nach dem Bilde Gottes geschaffen sind, so erklärten sie beispielsweise beharrlich, hätten wir auch Anteil an Gottes Unsterblichkeit. Die Auseinandersetzung zog sich über zwei Jahrhunderte und wurde etwa um das 1. Jahrhundert v. Chr. zugunsten der Pharisäer entschieden. Heute, so erklärt der Historiker Jacob Neusner, ist der Glaube an ein Leben nach dem Tod im Judentum die herrschende Lehrmeinung. Dieser Status ist vielleicht der Tatsache zu verdanken, dass die Juden damit trotz aller Leiden, die sie als Volk zu erdulden hatten, immer noch an Gottes Gerechtigkeit glauben konnten. »Die Vorstellung der Unsterblichkeit im Judentum«, schreibt Abraham Neuman, »entstand nicht, um die Menschen zu beschwichtigen, sondern um Gott zu rechtfertigen.«10
Es dauerte zwar lange, bis die Juden die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod akzeptierten, aber als sie es taten, gaben sie ihr einen radikal neuen Sinn. Das wird deutlich, wenn wir die jüdische Jenseitsvorstellung mit der sokratischen vergleichen. Während Sokrates die Ansicht vertrat, die Seele würde beim Tod den Körper verlassen und in einem himmlischen Reich von Ideen weiterleben, glaubten die Juden an die Auferstehung des Fleisches. Beim Jüngsten Gericht, so meinten sie, würde Gott Körper und Seele wieder miteinander verbinden, sodass die gesamte Person jenseits des Grabes weiterlebt.
Die Christen haben diese jüdische Vorstellung der körperlichen Auferstehung übernommen. Das ist kaum überraschend, weil das Christentum die einzige Religion in der Geschichte ist, die eine andere Religion, das Judentum, für vollständig wahr hält. Doch wie der Theologe N. T. Wright hervorhebt, war die Auferstehung für Juden eine relativ periphere Lehre, während sie im Christentum eine absolut zentrale Rolle spielt. Die Juden erwarteten ihre Auferstehung am Ende der Zeit. Christen versicherten, der Messias sei bereits erschienen und drei Tage nach seiner Kreuzigung von den Toten auferstanden. Während die Juden allgemein davon ausgingen, dass wir in unserem irdischen Körper auferstehen, erklärten die Christen, wir würden neue, übernatürliche Körper haben, so wie Christus, als er seinen Jüngern erschien. Das Neue Testament berichtet, Christus habe einen normal aussehenden Körper gehabt, Fisch essen und seine Jünger berühren können, aber es sei dennoch ein ungewöhnlicher Körper gewesen, der beispielsweise durch Wände habe gehen können. Davon abgeleitet versicherten die Christen, nach dem Tod würde Gott unsere Seelen in neue Körper kleiden, die unvergänglich und unzerstörbar seien. In dieser Gestalt würden wir ewig als verkörperte Seelen in der Gegenwart Gottes weiterleben.
Wenn die Juden eine körperliche Auferstehung behaupten und diese Vorstellung vom Christentum übernommen wurde, warum glauben manche Christen dann heute, dass nur unsere Seelen nach dem Tod weiterleben? Das hängt zum Teil mit dem enormen Einfluss der platonischen Philosophie auf das frühe Christentum zusammen. Eine noch wichtigere Rolle spielt jedoch die Herausforderung, die das Newton’sche wissenschaftliche Weltbild für die mittelalterliche christliche Kosmologie war. Im Mittelalter stellte man sich das Universum dreistufig vor – den Himmel über uns, die Erde in der Mitte und die Hölle ganz unten. Mit dem Zusammenbruch des ptolemäischen Universums und dem Aufstieg der Newton’schen Astronomie wurde es immer schwieriger, Himmel und Hölle einen Platz im Universum zuzuweisen. Die Newton’sche Physik enthielt auch Gesetze über das Verhalten von Materie, die sich nur schwer mit der Vorstellung vereinbaren ließen, dass Körper den Tod überleben und dauerhaft wiederhergestellt werden können. Viele Christen begannen, ihre Ideen über die Seele, den Himmel und die Hölle zu revidieren. Die platonische Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele gewann neue Attraktivität, denn sie umging die kosmologischen Schwierigkeiten. Wenn nur unsere immaterielle Seele überlebt, dann brauchen wir nicht zu erklären, wie unser Körper den Tod überdauert. Außerdem müssen wir nicht mehr genau angeben, wo sich Himmel und Hölle befinden. In den letzten Jahren haben sich Theologen wie N. T. Wright nachdrücklich gegen diese platonische Sicht ausgesprochen und sich für die ursprüngliche christliche Vorstellung einer Auferstehung der ganzen Person eingesetzt.
Jedenfalls wurde das christliche Verständnis der Unsterblichkeit historisch sowohl vom Judentum als auch von der griechischen Philosophie beeinflusst. Davon unabhängig haben die Christen jedoch ihre eigene Lehre über die Zeit formuliert. Für die Juden wie auch für die Griechen bedeutete »Ewigkeit« so viel wie »für immer«. Himmel und Hölle scheinen im Alten Testament eine Zeit zu bezeichnen, die sich unendlich in die Zukunft erstreckt, und Gott hält man für ewig in dem Sinne, dass er seit jeher in der Vergangenheit existiert hat und für immer in der Zukunft existieren wird. Nach jüdischem Verständnis sind menschliche Seelen unsterblich, aber nicht ewig, denn sie haben nicht immer existiert; Gott hat sie – wie die Welt – aus dem Nichts erschaffen. Der Kirchenvater Augustinus hat diese alten Vorstellungen jedoch in verblüffender Weise modifiziert. Augustinus argumentierte, die Zeit selbst sei nicht ewig. Er vertrat die Ansicht, Gott habe das Universum nicht in der Zeit, sondern mit der Zeit erschaffen. Gott schuf die Zeit zusammen mit dem Universum! »Vor« dem Universum gab es keine Zeit. Die Christen des Mittelalters haben aus diesen augustinischen Ideen eine neue Sicht des Lebens nach dem Tod formuliert, das nun in einem ewigen Reich außerhalb von Raum und Zeit stattfindet. Da die Ewigkeit nicht als Fortdauer, sondern als Aufhebung von Zeit verstanden wird, tritt das Christentum seit Augustinus nicht für ein Leben nach dem Tod, sondern eher für ein Leben »jenseits« des Todes ein.
Nun wollen wir uns den östlichen Religionen zuwenden, dem Hinduismus und dem Buddhismus. Hier finden wir eine ganz andere Sicht des Lebens nach dem Tod, die in gewisser Weise an die platonische Philosophie erinnert, sich aber doch nachdrücklich davon unterscheidet. Bevor wir genauer darauf eingehen, möchte ich mich jedoch gegen die Behauptung wenden, dass östliche Systeme wie Konfuzianismus, Buddhismus und Taoismus atheistisch sind und ein Leben nach dem Tod ablehnen. Thomas Huxley bezeichnete beispielsweise den Buddhismus als »ein System, das … den Glauben an Unsterblichkeit für einen Fehler und die Hoffnung darauf für eine Sünde hält«.11 Andere haben Ähnliches über den Konfuzianismus und den Taoismus geschrieben.
Diese Sicht des östlichen Denkens ist falsch, aber sie enthält ein kleines Körnchen Wahrheit, das sie fortbestehen lässt. Den Konfuzianismus interpretiert man wahrscheinlich besser nicht als Religion, sondern als einen ethischen Kodex. »Wenn man noch nicht das Leben kennt, wie sollte man den Tod kennen?«, sagte Konfuzius einem Schüler. 12 Hier erinnert die Position des Konfuzius an Sokrates, der erklärt hat, der Gegenstand seiner Studien sei nicht die Natur, sondern eher die menschliche Natur. Aber sogar der ethische Kodex des Konfuzius folgt dem, was er »Weg des Himmels« nennt: »Der Himmel hat die Tugend in mir gezeugt.« Der konfuzianische Gelehrte Tu Wei-Ming schreibt, dass »der Himmel … in der konfuzianischen Tradition deutlich im Vordergrund steht«.13
Dasselbe finden wir im Buddhismus, zumindest in der Form des Buddhismus, die heute überwiegend weltweit praktiziert wird. Im Hinayana oder »Kleinen Fahrzeug«, das vor allem in Sri Lanka, Thailand und Kambodscha verbreitet ist, gibt es tatsächlich keinen Gott. Aber das gilt nicht für den Mahayana-Buddhismus, das »Große Fahrzeug«, die sehr viel weiter verbreitete Form, die in China, Korea und Japan vorherrscht. In Mahayana-Texten wie der Lotus-Sutra begegnet man einem Pantheon göttlicher Wesen, die ihr himmlisches Reich verlassen, um in der Welt zu wirken und den Menschen zum Nirwana, der Erleuchtung, zu verhelfen. In seinem Buch Discovering God hebt der Soziologe Rodney Stark hervor, dass die überwiegende Zahl der Buddhisten Buddha selbst als Gott verehren und »die meisten buddhistischen Tempel mit niederen Gottheiten vollgestopft« sind.14
Trotz der Unterschiede im Hinblick auf die Götter akzeptieren die Mönche des Hinayana und des Mahayana einmütig ein Leben nach dem Tod, weil beide Richtungen die Doktrin der fortwährenden Wiedergeburt billigen. Diese Lehre besagt, dass Menschen einen Kreislauf von Geburten und Toden durchlaufen. Dabei sind die Buddhisten keineswegs glücklich über dieses endlose Rad des Lebens; vielmehr gilt diese Reise als ein trauriger Weg, den man eines Tages zu verlassen hofft. Den Ausgang findet man aber nur durch das Nirwana. Eine populäre chinesische Version des Buddhismus, das »Reine Land«, setzt das Nirwana sogar mit einem konkreten materiellen Ort vollkommener Glückseligkeit gleich, der die Erleuchteten und Tugendhaften erwartet. 15 Die zentrale Bedeutung dieser Doktrin findet man bestätigt, wenn man sich buddhistische Tempel in Asien anschaut, wo Wiedergeburten und zukünftige Leben einen herausragenden Platz in künstlerischen Darstellungen und monastischer Hingabe einnehmen. Im Hinblick auf den Taoismus schreibt der taoistische Gelehrte Liu Xiaogan: »Die Möglichkeit und Bedeutung der Unsterblichkeit ist das Kardinalprinzip der taoistischen Religion.«16
Die ältesten und einflussreichsten östlichen Lehren über das Leben nach dem Tod findet man im Hinduismus. Der Buddhismus hat seine Jenseitsvorstellungen eigentlich von den Hindus übernommen, denn immerhin wurde Gautama Siddhartha, der Gründer des Buddhismus, in Indien geboren und als Hindu erzogen. Die hinduistische Lehre der Reinkarnation – ein fortwährender Kreislauf von Geburt und Tod – hat dreitausend Jahre überdauert und alle Jenseitsvorstellungen des Ostens beeinflusst. Der Hinduismus kennt nicht nur ein Leben nach dem Tod, sondern auch ein Leben vor der Geburt. Das Leben, das wir jetzt führen, ist lediglich ein Zwischenstadium im Verlauf einer langen Reihe von Inkarnationen. Wann immer wir sterben, zerfällt unser Körper, aber die Seele lebt weiter und verkörpert sich stets aufs Neue. Die Reinkarnation löst auf diese Weise das geografische Problem und beantwortet die Frage, wo wir alle diese Leben verbringen: hier auf der Erde! Außerdem glauben Hindus, dass jedes Leben mit dem folgenden nicht nur durch die Wiederverkörperung derselben Seele verbunden ist, sondern auch durch ein kosmisches Gesetz.
Das ist Karma, das universelle moralische Gesetz von Ursache und Wirkung. Karma bedeutet, dass »jeder bekommt, was er verdient«, oder dass »zurückkommt, was man ausgesendet hat«. Unser Schicksal in diesem Leben ist die Folge unseres Handelns im vorherigen Leben. Wem es also jetzt schlecht geht, der muss in einer früheren Existenz etwas Schreckliches getan haben. Wenn man aber diesmal ein tugendhaftes Leben führt, kann man seine Zukunftsaussichten optimieren. Manche Kritiker des Hinduismus haben behauptet, die Karmatheorie nähre den Fatalismus oder Inaktivität: Wenn ich einen Menschen sähe, der verhungert oder ertrinkt, dann sollte ich ihm nicht helfen, weil er sein Schicksal verdient hätte. Auf diesen Einwand antworten die Weisen mit ihren Kommentaren in den Veden, den alten heiligen hinduistischen Schriften: Natürlich sollte ich ihm helfen; es war Teil seines Karmas, dass ich ihm in dieser Notsituation begegnet bin.
In der Achsenzeit wurde diese alte Hindu-Lehre von der Reinkarnation durch ein philosophisches Werk transformiert, die sogenannten Upanischaden. Die Upanischaden leiteten ein neues Verständnis des Hinduismus ein, das manchmal als »Vedanta« oder »›postvedischer‹ Hinduismus« bezeichnet wird. In den Upanischaden heißt es, dass wir in einer nichtrealen Welt leben, die wir irrtümlich für real halten. Mit anderen Worten: Wir gehen von der falschen Annahme aus, dass wir die Welt so wahrnehmen, wie sie tatsächlich ist. Das ist jedoch ein Trick von »Maya«, der Illusion, und dieser Trick nutzt die Spiegel von Raum und Zeit. Tatsächlich ist die Realität völlig anders, als unsere Sinne sie wahrnehmen. Wir erleben Objekte in der Welt als unterschiedlich, und wir halten uns selbst für individuelle Seelen, die von der Welt getrennt sind. Könnten wir jedoch hinter die Spiegel der Erfahrung schauen und den Schleier lüften, dann würden wir erkennen, dass in Wirklichkeit keiner dieser Unterschiede existiert. In Wirklichkeit ist alles eins. Die Upanischaden behaupten, dass es nur eine einzige Möglichkeit gibt, den mühsamen Kreislauf der Reinkarnation zu durchbrechen: Wir müssen erkennen, dass unsere individuellen Seelen identisch sind mit dem Einssein der letztgültigen Wirklichkeit.
Wie ich bereits erwähnt habe, wurde die hinduistische Vorstellung der Reinkarnation vom Buddhismus übernommen. Allerdings haben die Buddhisten sie zur Idee der Wiedergeburt umgewandelt. Im Buddhismus werden die Menschen in eine Abfolge von Leben hineingeboren, aber nicht alle Leben müssen sich unbedingt auf dieser Erde oder auch nur in diesem Universum abspielen. Der Buddhismus kennt eine Vielzahl von Welten. Zwar postuliert auch er eine kausale Verbindung zwischen den verschiedenen Leben durch Karma, aber man ist nicht in jedem Leben dieselbe Person. Nach buddhistischem Verständnis tragen die Handlungen meines früheren Lebens zur Erklärung meiner gegenwärtigen Umstände bei, aber diese früheren Handlungen wurden nicht von derselben Person begangen, die jetzt »Dinesh« ist. Außerdem lehnen die Buddhisten die Vorstellung ab, dass wir Individuen sind oder Seelen haben. Natürlich ist den Buddhisten klar, dass wir die Welt als Individuen erleben, aber ihnen geht es darum, dass diese Erfahrung irreführend ist. Unsere Erleuchtung besteht zum Teil darin, dass wir die Vorstellung des »Ich« als illusorisch erkennen; in Wirklichkeit gibt es keinen Menschen hinter dem Vorhang. Der Ausdruck »Nirwana« bedeutet wörtlich »das Erlöschen, Verwehen oder Ausblasen«, und falls Sie sich fragen, wer ausgeblasen werden soll – Sie selbst müssen ausgeblasen werden wie eine Kerze.
Was haben wir bei diesem Überblick über konkurrierende Jenseitsvorstellungen gelernt? Im Gegensatz zu dem, was die Atheisten sagen, ist das Leben nach dem Tod nicht nur eine westliche Idee, sondern eine universelle. Zudem ist diese Idee keine ausschließlich religiöse, sondern sie hat ihre Wurzeln auch in der westlichen Philosophie. Wir sehen, dass der Glaube an ein Leben nach dem Tod keineswegs abartig oder beschränkt ist, sondern eine global und historisch normale Denkweise. Im Grunde gibt es zwei rivalisierende Sichtweisen eines Lebens nach dem Tod. Die erste beschreibt ein Überleben ohne den Körper, die zweite ein Überdauern der gesamten Person – Seele und Körper zusammen. Aber nun gibt es eine dritte Position, einzigartig für unsere Kultur und unsere Zeit. Zum ersten Mal existiert eine Gruppe von Menschen, die ein Leben nach dem Tod nicht nur leugnet, sondern diese Leugnung auch für die einzig vernünftige Denkweise hält. Da wir nun die Alternativen kennen, können wir uns den empirischen Beweisen zuwenden, um festzustellen, welche Position korrekt ist.