Kapitel 4

Grenzgänge

Nahtoderfahrungen auf dem Prüfstand

 

Vor mir sah ich ein rotes Licht,
ungeheuer hell … Ich erkannte, dass dieses Licht
über das Universum herrschte.
1

A. J. Ayer, What I Saw When I Was Dead

 

 

Es wäre wunderbar, wenn wir das Leben nach dem Tod durch Gespräche mit Verstorbenen beweisen könnten. Leider scheint es das aber nur in der Fiktion zu geben. In Shakespeares Julius Caesar wird Brutus durch die Erscheinung des toten Caesar gewarnt, und Charles Dickens beschreibt in A Christmas Carol, wie verschiedene Geister dem Geizhals und herzlosen Geschäftemacher Ebenezer Scrooge eine Lektion erteilen. Filme wie »Ghost – Nachricht von Sam« und »The Sixth Sense« vermitteln uns teils ansprechende, teils erschreckende Vorstellungen davon, wie eine Kommunikation mit Verstorbenen aussehen könnte. In England und Amerika konsultierten die Menschen vor allem im 19. Jahrhundert gelegentlich »Medien«, um Botschaften von toten Verwandten zu erhalten. Sogar heute gibt es Parapsychologen, die solchen Berichten Glauben schenken, aber ich kann sie nicht ernst nehmen. Falls die Toten wirklich mit uns sprechen könnten, sollte man wohl eine regelmäßigere Kommunikation erwarten. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass von den Millionen und Abermillionen Verstorbenen nur eine Handvoll zurückkehrt, um uns mit der freundlichen Unterstützung eines finsteren Vermittlers nicht etwa wichtige Informationen zu geben, sondern überwiegend Kauderwelsch zu reden?

Aber auch wenn wir nicht mit den Toten reden können, scheint es doch einen anderen Weg für die empirische Untersuchung des Lebens nach dem Tod zu geben. Er besteht in der sorgfältigen Untersuchung der Berichte von Menschen, die dem Tod nah waren und vielleicht einen kurzen Blick auf das werfen konnten, was uns auf der anderen Seite erwartet. Wir müssen also die Wahrhaftigkeit von »Nahtoderfahrungen« in Erwägung ziehen. Für eine faire und umfassende Untersuchung wollen wir auch empirische Beweise für die Reinkarnation berücksichtigen. Selbst wenn es nicht möglich ist, das Leben nach dem Tod präsumtiv zu bestätigen, könnte es doch möglich sein, das Leben vor der Geburt rückblickend zu untermauern. Daraus könnten wir zumindest schließen, dass es etwas gibt, was jenseits der normalen Lebensspanne liegt. Es geht dabei auch nicht um irgendwelche übernatürlichen Fragen. Befürworter der Reinkarnation halten den Prozess für vollkommen natürlich – das ist schlicht und ergreifend die Art und Weise, wie das Universum funktioniert. Reinkarnation, so versichern die Hindus ganz gelassen, ist einfach ein noch nicht entdecktes Naturgesetz.

Auch wenn die Reinkarnation für viele Menschen im Westen ziemlich weit hergeholt klingt, sollten wir nicht vergessen, dass unsere eigenen Überzeugungen im Hinblick auf Religion, Wissenschaft und Gesellschaft den Menschen in anderen Kulturen ebenfalls bizarr erscheinen. Wahrscheinlich glauben zurzeit weltweit genauso viele Mensch an Reinkarnation wie an die jüdischen oder christlichen Vorstellungen eines Lebens nach dem Tod. Zwischen 20 und 25 Prozent der Amerikaner und Europäer sind heute überzeugt von der Reinkarnation.2 Und historisch war die Wiederverkörperung nicht nur im Osten, sondern auch im Westen eine wichtige Vorstellung, bei Pythagoras und Platon ebenso wie bei den Gnostikern; sogar atheistische Philosophen wie Hume und Schopenhauer haben sie ernst genommen, wobei Hume erklärte, sie sei die Version der Unsterblichkeit, die am besten zur Philosophie passe.3

Lange Zeit haben die Befürworter der Reinkarnation zugegeben, dass kein direkter Beweis möglich sei, aber argumentiert, die Vorstellung helfe, ansonsten rätselhafte Tatsachen in der Welt sinnvoll zu interpretieren. So kommt es beispielsweise vor, dass wir einen Ort zum ersten Mal besuchen und dabei ein Déjà-vu-Gefühl haben: als seien wir schon einmal dort gewesen. Vielleicht in einem früheren Leben, sagen die Befürworter der Reinkarnation. Liebe auf den ersten Blick kommt einem geheimnisvoll vor, bis man die Möglichkeit in Erwägung zieht, dass die beiden Menschen sich aus einer zurückliegenden Inkarnation kennen. Manche Kinder sind so auffallend anders als ihre Eltern, dass sich die Menschen in ihrer Umgebung fragen, wie das möglich ist; die Reinkarnation bietet eine Erklärung dafür. Und denken Sie an Wunderkinder wie Mozart, der schon in unglaublich jungen Jahren Symphonien und sogar Opern komponiert hat. Konnte er sich diese Fähigkeiten wirklich nur durch Übung oder den Einfluss der Umgebung angeeignet haben? Reinkarnationsgläubige halten die Annahme für vernünftiger, dass er sie in einem früheren Leben entwickelt hat.

Diese Argumente sind nicht überzeugend, denn die fraglichen Phänomene lassen sich auch ohne einen Rückgriff auf die Reinkarnation erklären. Mein Déjà-vu-Gefühl kann damit zusammenhängen, dass ich in der Vergangenheit eine ähnliche Erfahrung gemacht habe, an die ich mich vielleicht nicht mehr erinnere. Außerdem kommt es nicht nur vor, dass einem unbekannte Orte seltsam vertraut erscheinen, sondern bisweilen empfindet man vertraute Orte auch als seltsam fremd. Keins dieser Gefühle lässt sich nur dann verstehen, wenn man von einer so außergewöhnlichen Voraussetzung wie der Reinkarnation ausgeht. Liebe auf den ersten Blick hat sich als ziemlich unzuverlässig erwiesen, wenn sie nicht durch einen zweiten Blick bestätigt wird. Warum soll man die Reinkarnation bemühen, wenn menschliche Impulsivität und Kurzsichtigkeit ausreichen? Und die Erkenntnisse der Biologie und Vererbungslehre zeigen, dass Kinder Züge von ihren Vorfahren übernehmen können, mit denen sie sich deutlich von ihren Eltern unterscheiden.

Etwas verzwickter ist die Sache bei musikalischen oder mathematischen Wunderkindern. Der Skeptiker Paul Edwards ist der Meinung, dass Biologie und moderne Neurowissenschaften gemeinsam eine angemessene Erklärung liefern können. Er behauptet, Mozarts Gehirn, insbesondere der Teil des Kortex, der das Gehör betrifft, biete eine »vollkommen plausible« Erklärung für das kreative Genie des Mannes.4 Aber das ist nur eine Annahme. Was ist so einzigartig an Mozarts Gehirn, dass es ihn befähigt, diese außergewöhnlichen Symphonien und Opern zu komponieren? Edwards hat keine Ahnung, und auch sonst weiß es niemand. Sogar der Reichtum von musikalischem Talent in Mozarts Genpool kann seine Fähigkeiten nicht ausreichend erklären, denn sie stellen ganz ofenkundig eine eigene Klasse dar. Aber auch die Reinkarnation kann das Problem kaum lösen. Woher hatte Mozart sein Genie? Von einem anderen Musiker. Und woher stammte dessen Talent? Wieder von einem anderen. Nun, wo ist ihr musikalisches Stammkapital? Außerdem braucht diese Vererbungskette einen Anfang. Woher stammt also die Genialität dieses ersten Menschen? Zu sagen, dass er »so geboren wurde«, ist keine Antwort, denn dann könnten wir uns die Spurensuche sparen und einfach sagen, dass Mozart selbst so geboren wurde.

Aber die Argumente gegen die Reinkarnation sind nicht überzeugender als die Argumente dafür. Der Dichter Lukrez und der Kirchenvater Tertullian haben bereits erklärt, wenn wir schon früher gelebt hätten, dann müssten wir uns daran erinnern können. Aber der Philosoph C. J. Ducasse gab zu bedenken, dass dieser Einwand wenig beweist, weil die meisten Leute sich auch in ihrem gegenwärtigen Leben nur wenige Jahre zurückerinnern könnten. »Die Sache ist sogar noch schlimmer, denn wir haben auch keine Erinnerung an die meisten Tage unseres Lebens.«5 Wissen Sie noch, welche Kleidung Sie vor drei Wochen getragen haben oder mit wem Sie zum Essen verabredet waren? Wenn nicht, dann lässt sich daraus kaum schließen, dass Sie zu diesem Zeitpunkt nicht existiert haben.

Ein weiterer Einwand, ebenfalls von Tertullian, lautet, die Reinkarnation gehe anscheinend davon aus, dass die Weltbevölkerung stabil bleibt, weil jeder Mensch immer wieder geboren wird. Da die Bevölkerung jedoch stetig wächst, woher sollen die zusätzlichen Seelen kommen? Dies ist Edwards’ »Lieblingsargument« in seinem Buch, das sich gegen die Reinkarnation wendet.6 Aber wenn die hinduistische Version der Reinkarnation zutrifft, dann ist dieses Argument nicht besonders stichhaltig. Immerhin können die Seelen im Hinduismus von Menschen zu Tieren und von Tieren zu Menschen wandern. Außerdem betrachtet man Seelen als Emanationen einer einzigen Wirklichkeit, so wie das Licht auf der Erde die Emanation einer einzigen Sonne ist. Die Antwort der Hindus lautet also, dass neue Seelen auf dieselbe Weise entstehen können, wie die ursprünglichen Seelen entstanden sind.

Der Psychiater Ian Stevenson, lange Jahre Professor an der University of Virginia, hat die Reinkarnationsdebatte auf eine neue Stufe gestellt, indem er zahlreiche Fallstudien über Kinder veröffentlichte, die sich an frühere Leben erinnern können. Insgesamt handelt es sich um mehr als 2500 Fälle, und es kommen weiterhin regelmäßig neue hinzu. Stevenson räumt ein, dass es sich bei einigen davon um Irrtümer oder sogar Täuschungen handeln kann, aber insgesamt ist er überzeugt, dass seine Datensammlung es verdient, ernst genommen zu werden. Der beliebte holistische Guru Deepak Chopra stimmt ihm zu und erwähnt Stevensons Arbeit in einem seiner Bücher als ernsthaften empirischen Beweis für die Reinkarnation.7

In einem Fall berichtet Stevenson über einen indischen Jungen namens Prakash, der seiner Familie erklärte, sein richtiger Name sei Nirmal und er habe in einem anderen Dorf gelebt. Er erzählte Einzelheiten über seine »wirkliche« Familie und deren geschäftliche Aktivitäten sowie Namen von Verwandten und Freunden. Mehrmals versuchte er, zu seinem anderen Zuhause wegzulaufen, bis seine Eltern ihn deswegen schlugen. Ein paar Jahre später konnte er seinen »wahren« Vater besuchen und erkannte ihn sofort. Der Mann hatte tatsächlich einen Sohn namens Nirmal gehabt, der vor Prakashs Geburt gestorben war. Prakash erkannte auch einige der Leute, die er als frühere Verwandte und Freunde bezeichnet hatte, und er berichtete genaue Einzelheiten über sie und sein ehemaliges Zuhause. Stevenson, der den Fall einige Wochen nach der Wiederbegegnung untersuchte, erstellte eine Liste von 34 Einzelheiten, an die sich Prakash erinnern konnte. Die betrefenden Leute konnten auf Nachfrage alles bestätigen. Prakash kannte die Lebensumstände dieser anderen Familie sehr genau, obwohl Angehörige beider Familien bezeugten, dass sie vorher nichts übereinander gewusst hatten.

Stevenson präsentiert solche Fälle schlüssig und ausgewogen. Manchmal zeigt er, dass die Kinder Geburtsmale oder Krankheiten haben, die denen der angeblichen früheren Inkarnation auf unheimliche Weise gleichen. In mehr als einem Fall geht es um Kinder, deren panische Angst vor Wasser sich zum Teil dadurch zu erklären scheint, dass die frühere Inkarnation durch Ertrinken starb. Einige der interessantesten Fälle zeichnen sich durch Xenoglossie aus, wobei die Kinder eine Sprache sprechen, die sie nicht kennen. Da sprachbegabte Kinder fremde Wörter und Sätze überall aufschnappen können – aus Filmszenen, von Werbetafeln, aus einem Buch, das ein Mitreisender im Zug liest –, beweist Xenoglossie als solche nur wenig. Sehr viel signifikanter sind Stevensons Fälle, wo ein Kind sich in einer anderen Sprache unterhalten und Fragen beantworten kann. Zu Stevensons sensationellsten Beispielen gehören solche, in denen Kinder körperliche Wundmale aufweisen, von denen sie behaupten, sie würden aus einem früheren Leben stammen. Stevensons Daten umfassen mehr als ein Dutzend solcher Fälle, in denen die Kinder nicht nur ihre früheren Leben genau angeben können, sondern auch darüber berichten, auf welche Weise sie durch Stiche oder Schüsse getötet wurden. Stevenson und seine Kollegen konnten die Existenz dieser namentlich genannten Personen bestätigen. Anschließend verifizierten sie in jedem Fall die angegebene gewaltsame Todesart. Am erstaunlichsten war, dass sie am Körper der Kinder genau an den angegebenen Stellen Narben fanden. In Stevensons Unterlagen befinden sich Fotos davon. Er erörtert verschiedene Interpretationsmöglichkeiten der Beweise und kommt zu dem Schluss, dass die Reinkarnationshypothese am sinnvollsten erscheint.8 Stevensons Daten haben gewisse Schwächen, die er bereitwillig zugibt. Einige seiner Fallstudien sind ziemlich alt. Viele beziehen sich auf Quellen, die sich an eine frühere Existenz erinnern, welche im Nachbardorf verbracht wurde. Diese Nähe lässt es denkbar erscheinen, dass die Kinder ihre Informationen nicht aus einem vergangenen Leben, sondern auf andere Weise erhalten haben. Stevenson nennt keine glaubwürdigen Fälle, in denen ein Kind detaillierte Informationen über ein früheres Leben in einem anderen Land berichtete. Nichts in der Reinkarnationslehre besagt, dass alle Inkarnationen auf eine bestimmte geografische Zone beschränkt sind. Im Magazin Skeptic ist die Rezension eines von Stevensons Büchern erschienen. Seine Daten werden dort als vage und sogar etwas frisiert bezeichnet, soweit es um eine genaue Übereinstimmung zwischen den Wunden der Toten und den Narben auf den Körpern der angeblichen neuen Inkarnationen geht. Dennoch scheinen mir die Übereinstimmungen überzeugend genug. Stevensons Arbeit ist so beeindruckend, das der Atheist John Belof ihm zugesteht, er habe ein »schwieriges Rätsel« gestellt, und hinzufügt: »Ich bezweifle nicht, dass hier etwas Paranormales im Spiel ist.«9

Ich bezweifle das sehr wohl. Um akzeptieren zu können, dass Reinkarnation etwas ist, was allen Menschen geschieht, möchte ich darüber zumindest Beweise aus aller Welt sehen. Stevenson und seine Kollegen führen zwar auch Fälle aus Sri Lanka, Brasilien, der Türkei, dem Libanon, Nigeria und sogar Amerika auf, aber die überwiegende Mehrzahl stammt aus Indien. Stevenson behauptet, das habe damit zu tun, dass die Hindukultur Kinder ermutigt, über solche Erfahrungen zu sprechen; anderswo, so schreibt er, begegne man Kindern, die derartige Themen ansprechen, so schockiert und ungläubig, dass sie ihre Geschichten für sich behalten. Ja, aber wenn Reinkarnation ein globales Phänomen wäre, würden wir erwarten, dass mehr Kinder unerschrocken genug wären, um auch in dieser Hinsicht ihre Meinung ebenso frei auszusprechen, wie sie es bekanntlich bei anderen Themen tun. Ein weiteres ernstes Problem besteht darin, dass Stevenson nicht die Landessprachen spricht und auf Dolmetscher angewiesen ist. Die Gefahr, dass er ein abgekartetes Spiel nicht erkennt, steigt meines Erachtens dadurch erheblich. Ich bin in Indien aufgewachsen und weiß, wie Kinder, die behaupten, sie seien religiös geweiht, zu Berühmtheiten werden, manchmal eine große Anhängerschaft haben und auch Geldspenden bekommen. Deshalb finde ich es naheliegend, dass Familien ein Komplott schmieden, um die passenden »Beweise« präsentieren zu können. Das ist gewiss nicht bei den meisten oder allen von Stevensons Fällen geschehen, aber da wir nicht wissen, welche authentisch sind, können wir sie nur schwer einschätzen. Meine Schlussfolgerung lautet deshalb, dass Reinkarnation möglich, aber unwahrscheinlich ist.

Wenn wir von der Reinkarnation zu Nahtoderlebnissen übergehen, wird das Feld sofort weiter, sowohl hinsichtlich der beteiligten Wissenschaftler als auch in Hinblick auf den Umfang und die Qualität der weltweit gesammelten Daten. Auch hier hat ein einziger Mann den Anfang gemacht, der Arzt Raymond Moody mit seinem 1975 veröffentlichten Buch Life after Life. Moody berichtete über 150 Menschen, die aus den verschiedensten religiösen und sozialen Umfeldern kamen, für tot erklärt worden oder dem Tod nahe gewesen waren und erstaunliche Erfahrungen gemacht hatten. Noch unglaublicher wurden die Berichte dadurch, dass die meisten dieser Leute ähnliche, in einigen Fällen sogar praktisch identische Erlebnisse beschrieben. Moody legte zwar Wert darauf, dass die einzelnen Fälle etwas variierten, fasste sie im Ergebnis aber doch zu einer Kernaussage zusammen.

In dieser Zusammenfassung zeigt ein Mensch klinische Todeszeichen oder wird vom Arzt für tot erklärt. Dennoch kann er weiterhin etwas wahrnehmen, hört ein lautes Geräusch und hat das Gefühl, sich rasch durch einen dunklen Tunnel zu bewegen. Er befindet sich jetzt außerhalb seines materiellen Körpers und kann ihn aus der Ferne sehen. (Genau diese außerkörperliche Erfahrung hatte meine Frau nach ihrem Unfall.) Doch er ist noch keine körperlose Seele, sondern hat eine Art neuen und anderen Körper. Er begegnet den Geistern von verstorbenen Verwandten und Freunden. Manche Leute berichten, sie hätten Jesus oder andere himmlische Wesen gesehen. Alle werden von einem hellen Licht geblendet, das sie in Wärme und Liebe einhüllt. Ihr gesamtes Leben liegt vor ihnen ausgebreitet, sodass sie es rückblickend betrachten und bewerten können. Seltsamerweise kommt ihnen die Zeit komprimiert vor, so als würden sie Vergangenheit und Zukunft in einer einzigen endlosen Gegenwart erleben. An dieser Stelle stoßen sie an eine Schranke, die den Punkt bezeichnet, an dem es kein Zurück mehr gibt. Sie möchten ihn überschreiten, erkennen jedoch, dass ihre Zeit noch nicht gekommen ist und sie zur Erde zurückkehren müssen. Irgendwie werden sie wieder mit ihrem Körper vereint. Sie berichten anderen Menschen über ihre Erfahrungen, können sie aber nicht vollständig in Worte fassen. Oft ernten sie mit ihren Berichten auch Gelächter und Spott. Trotzdem haben ihre Erlebnisse nachhaltige Auswirkungen; sie verlieren ihre Angst vor dem Tod und werden zu freundlicheren, liebevolleren Menschen.10

Moody war klar, dass seine Berichte vielen Leuten unwahrscheinlich vorkommen mussten, und deshalb nannte er zahlreiche Beispiele aus der Geschichte, die belegten, dass Nahtoderlebnisse nicht ungewöhnlich waren. Platon berichtet in Der Staat über einen Soldaten, der in der Schlacht tödlich verwundet worden war. Als die Leiche des Mannes zur Verbrennung auf einen Scheiterhaufen geworfen wurde, kehrte er plötzlich zum Leben zurück und spürte, wie seine Seele den Körper verließ. Die Seele passierte einen Durchgang, wo sie auf andere Geistwesen traf. Alle Seelen wurden von göttlichen Wesen empfangen und danach beurteilt, was sie in ihrem Erdenleben getan hatten. Dem Soldaten sagte man jedoch, er werde nicht beurteilt, sondern solle in die materielle Welt zurückkehren. Er wachte auf und fand sich auf dem Scheiterhaufen wieder. Der Mönch Bede berichtete im 8. Jahrhundert in seiner Geschichte des englischen Volks über einen ähnlichen Fall. Das Tibetische Totenbuch, das etwa um dieselbe Zeit entstand, weist Sterbende an, sich darauf vorzubereiten, dass sie einen Bericht über ihr Leben abgeben, während sie sich durch die Dunkelheit auf das strahlende Licht der reinen Wirklichkeit zubewegen.11

Als Ernest Hemingway im Ersten Weltkrieg von einem Schrapnell verwundet worden war und in Italien im Krankenhaus lag, schrieb er einem Freund, dass 1918 in einer schicksalhaften Nacht eine gewaltige Bombe in der Dunkelheit explodierte. »Da bin ich gestorben. Ich spürte, wie meine Seele oder irgendetwas direkt aus meinem Körper kam, so als würde man ein Seidentaschentuch an einem Zipfel aus einer Tasche ziehen. Sie flog herum, kehrte dann zurück und ging wieder in den Körper hinein, und ich war nicht mehr tot.« Hemingway sagte, diese Erfahrung, die er als Grundlage für eine Szene in A Farewell to Arms nutzte, habe ihn verwandelt. Auch der Psychologe C. G. Jung hatte nach einem Herzinfarkt ein Nahtoderlebnis, bei dem er spürte, wie er seinen Körper verließ: Das Leben und die ganze Welt kamen ihm wie ein Gefängnis vor, schrieb er. Alles, was in der Zeit geschehe, sei dort in eine objektive Ganzheit zusammengefasst. Ein unbeschreibliches Ganzes, in das man mit verwoben sei. Als es vorüber war, habe es noch gute drei Wochen gedauert, bis er sich entschließen konnte, wieder zu leben. Sogar der Atheist A.J. Ayer, der auf einer Intensivstation einen Herzstillstand hatte, schrieb über eine Nahtoderfahrung, die seine bisherigen Annahmen widerlegte. Ayer befand sich plötzlich in einem Reich, wo »die Naturgesetze nicht mehr so funktionierten, wie sie sollten«. Er hatte das Gefühl, dass »es meine Aufgabe war, das wieder in Ordnung zu bringen«. Vor ihm erstrahlte »ein rotes Licht, überaus hell«, und irgendwie wusste er, dass es »über das Universum herrschte«. Dann kam er wieder zu Bewusstsein. Ayer blieb zwar Atheist, räumte jedoch ein, solche Erfahrungen lieferten »ziemlich starke Indizien …, dass der Tod dem Bewusstsein kein Ende setzt«.12

Moodys Buch löste unverzüglich eine Kontroverse aus, aber es zog auch viele neue Forscher an, die seine Behauptungen zu bestätigen oder zu widerlegen versuchten, darunter der Psychologe Kenneth Ring, der die ersten systematischen Untersuchungen von Nahtoderlebnissen durchführte. Der Kinderarzt Melvin Morse konzentrierte sich auf die Erfahrungen von Kindern. Der Kardiologie Michael Sabom, der anfangs »wirklich glaubte, Raymond Moody hätte alle reingelegt«, verglich die Erfahrungen von Herzpatienten, die über Nahtoderlebnisse berichteten, mit denen einer Kontrollgruppe, die keine derartigen Erfahrungen angaben. Die Arbeiten dieser Forscher bestätigten, erweiterten und systematisierten Moodys ursprüngliche Behauptungen. Kurz nach der Veröffentlichung von Moodys Buch wurde die International Association for Near Death Studies gegründet, um das Phänomen genauer zu untersuchen, und sie hat in der Verbandszeitschrift Journal of Near Death Studies eine Vielzahl von Daten aus aller Welt dokumentiert. Zur Erforschung von Nahtoderfahrungen gehört jetzt die getrennte Untersuchung verschiedener Kategorien von Nahtoderlebnissen – das Phänomen des außerkörperlichen Zustands, der dunkle Tunnel, das strahlend helle Licht, die Empfindung von Liebe und Wärme, der Lebensrückblick und die nachfolgende Verwandlung des Lebens. Diese Arbeiten verdeutlichen, wie lebhaft und real solche Erlebnisse für die betreffenden Menschen sind. Außerdem haben mehrere Leute berichtet, sie hätten, als sie klinisch tot waren, Dinge gesehen, die sie eigentlich unmöglich hätten sehen können. Ein elfjähriger Junge, der einen Herzstillstand erlitt, berichtete von einer außerkörperlichen Erfahrung, bei der er sehen konnte, wie die Ärzte und Schwestern an seinem Körper arbeiteten. Als es ihm wieder besserging, fasste er präzise zusammen, welche Prozeduren zur Wiederbelebung bei ihm angewendet worden waren, beschrieb die Farben der Instrumente und ihre Standorte im Raum und wiederholte sogar, was die Mediziner miteinander geredet hatten.13

Bemerkenswert war auch der Fall einer Frau aus Seattle, die über eine Nahtoderfahrung nach einem Herzinfarkt berichtete. Sie erzählte der Sozialarbeiterin Kimberly Clark, sie sei von ihrem Körper getrennt gewesen und nicht nur zur Zimmerdecke, sondern völlig aus dem Krankenhausgebäude hinausgeschwebt. Clark glaubte ihr nicht, aber ein kleines Detail, das die Frau erwähnte, ließ sie auf horchen. Die Frau sagte, sie habe auf dem dritten Stock an der Nordseite des Gebäudes, in dem sich die Notaufnahme befand, einen Schuh auf einem Sims liegen sehen. Es war ein Tennisschuh mit einer geflickten Stelle, und ein Schnürsenkel steckte unter dem Absatz. Die Frau bat Clark, nach dem Schuh zu suchen. Clark fand das lächerlich, weil sie wusste, dass die Frau nachts in die Notaufnahme gebracht worden war, sodass sie unmöglich hatte sehen können, was sich außerhalb des Gebäudes befand, ganz zu schweigen von einem Sims auf dem dritten Stock. Zögernd erklärte sie sich bereit, die Sache zu prüfen, und erst nachdem sie in mehreren Räumen gewesen war, dort jeweils aus dem Fenster geschaut hatte und schließlich auf den Sims hinausgeklettert war, hatte sie den Schuh gefunden und hereingeholt.14

Einige der sensationellsten Behauptungen bei der Untersuchung von Nahtoderfahrungen stammen von Blinden, die über außerkörperliche Erfahrungen berichteten, bei denen sie sehen konnten. Sie wurden zuerst von Elisabeth Kübler-Ross erwähnt, die Pionierarbeit bei der Erforschung der verschiedenen Phasen des Sterbens geleistet hat. In ihrem Buch Interviews mit Sterbenden berichtete Kübler-Ross über Patienten, die seit mindestens zehn Jahren blind waren und Nahtoderfahrungen beschrieben, bei denen sie genau angeben konnten, welche medizinischen Verfahren angewendet worden waren. Sie konnten sogar präzise sagen, welchen Schmuck die Leute in ihrer Umgebung getragen hatten, und die Farben ihrer Kleidung nennen. Leider veröffentlichte Kübler-Ross keine Fallstudien, aber in ihrem Buch Mindsight erwähnen Kenneth Ring und Sharon Cooper mehr als zwanzig Fälle von blinden Patienten, die detailliert über Nahtodwahrnehmungen berichteten, »die sich nicht von denen Sehender unterschieden«.15

Die Gallup Organization veröffentlichte im Jahr 1982 das Buch Adventures in Immortality (deutsch: Begegnungen mit der Unsterblichkeit), woraus hervorging, dass 15 Prozent der Amerikaner »ungewöhnliche Erfahrungen« beschrieben, die sie »an der Schwelle zum Tod« oder »in Todesnähe« gehabt hatten. Da die Terminologie in der Umfrage nicht präzise definiert war, mag der Prozentsatz für Nahtoderfahrungen übermäßig hoch erscheinen. Gleichwohl zeigen die Antworten auf Gallups spezielle Fragen, dass Millionen von Amerikanern nach eigenen Angaben zumindest einige Aspekte klassischer Nahtoderfahrungen erlebt haben. Man darf wohl erwarten, dass mit einer weiteren Verbesserung der Reanimationsverfahren noch mehr Menschen an der Schwelle zum Tod überleben und Nahtoderfahrungen zu berichten haben. Auch in Europa und Asien werden solche Fälle jetzt untersucht und als globales Phänomen anerkannt. Auf den ersten Blick scheinen sie stark für ein Leben nach dem Tod zu sprechen. Eine Umfrage unter amerikanischen Ärzten im Jahr 2005 hat gezeigt, dass 59 Prozent jetzt an eine Art von Leben nach dem Tod glauben; das sind sehr viel mehr als in anderen naturwissenschaftlichen Berufen. Das mag zum Teil damit zusammenhängen, dass sie immer wieder Patienten mit Nahtoderfahrungen begegnen. Ich glaube kaum, dass sie während ihrer medizinischen Ausbildung etwas darüber gelernt haben.16

Es ist nicht erstaunlich, dass die Erforschung von Nahtoderfahrungen von verschiedenen Seiten verspottet und sogar scharf angegriffen wird. Seltsamerweise kommt der Spott zum Teil von religiös Gläubigen, von denen man eher erwarten würde, dass sie empirische Belege für eins der zentralen Dogmen ihres Glaubens begrüßen würden. Der liberale Theologe Hans Küng und das evangelikale Magazin Christianity Today haben Nahtoderfahrungen kritisiert. Bis zu einem gewissen Grad ist es verständlich, warum liberale Theologen feindselig darauf reagieren. Für einige von ihnen geht es bei der Religion hauptsächlich um Teilen und soziale Gerechtigkeit, und die gesamte Jenseitsdiskussion ist ihnen peinlich. Warum traditionelle Christen protestieren, ist weniger ofensichtlich. Ein Grund lässt sich vielleicht in Billy Grahams Einwand zusammenfassen, dass »der Tod bei solchen Erfahrungen anscheinend nur selten irgendwelche negativen Konsequenzen hat«. John Ankerberg und John Weldon schrieben 1992 in einer Monografie, anscheinend fördere die Nahtodforschung »eine universelle Religion«, in der »Gott dem Bösen gegenüber ofenbar indifferent ist«, sodass am Ende fast jeder ein glückliches Leben im Jenseits führt. Das, so wenden sie ein, sei kein Christentum.17 Solche Einwände mögen manchen Leuten rachsüchtig vorkommen, aber ich glaube, sie spiegeln eine legitime Sorge hinsichtlich der Gerechtigkeit wider, die nicht spezifisch religiös ist. Wer von uns würde sich beispielsweise bei dem Gedanken wohl fühlen, dass Hitler die ewige Glückseligkeit genießt, ohne für seine monströsen Verbrechen gezahlt zu haben?

Gleichwohl wirkt der christliche Einspruch überzogen. Bei der überwältigenden Mehrzahl der Nahtoderfahrungen geht es zweifellos um Liebe, Vergebung und Glück. Diese Themen finden ihren Widerhall bei Moody, Ring und Sabom. Aber der Arzt Maurice Rawlings berichtet in seinem Buch Jenseits der Todeslinine über eine Reihe beängstigender und höllischer Nahtodbegegnungen, die bisweilen als ausgleichende Gerechtigkeit für schlimme Dinge empfunden werden, die jemand getan hat. Rawlings meint, dass nur die Hälfte der Nahtoderfahrungen positiv sind, während die Leute mit negativen Erfahrungen diese entweder verdrängen oder nicht erzählen, weil sie ihnen peinlich sind, ein Phänomen, das man häufig bei Opfern von Vergewaltigung und Missbrauch beobachten kann. Rawlings ist ein evangelikaler Christ, dem man vorgeworfen hat, dass seine Bücher Ausdruck seines religiösen Glaubens sind. Aber Dr. Bruce Greyson und Nancy Evans Bush haben ihren eigenen Bericht über »Distressing Near-Death Experiences« veröffentlicht, und die britische Forscherin Margot Grey beschreibt in ihrer Untersuchung Return from Death ebenfalls eine ganze Anzahl düsterer, grauenhafter Nahtoderfahrungen, die den von Rawlings dargestellten sehr ähnlich sind. Für Christen und andere Gläubige ist es am bedeutsamsten, dass Sabom und weitere Forscher unaufhörlich berichten, Nahtoderfahrungen erzeugten »ofenbar einen festeren Glauben und eine stärkere Bindung an traditionelle religiöse Praktiken«.18

Die meisten Kritiker von Nahtoderfahrungen sind Atheisten, welche die Bedeutung und Überzeugungskraft dieser Forschungsergebnisse erkannt haben und eine Vielzahl von Einwänden erheben. Der erste und ofensichtlichste lautet, dass diese Leute nicht wirklich tot waren. Streng betrachtet, ist das richtig. Es haben sich keine Leichen aus den Särgen erhoben, um bei ihrer eigenen Beerdigung überraschend eine Rede zu halten. Wenn man den Tod als den unwiderruflichen Zusammenbruch menschlicher Funktionen definiert, dann kann es ofensichtlich keine echte »Todeserfahrung« geben. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein hat vor fast einem Jahrhundert hervorgehoben, dass wir das Sterben nie wirklich erleben, so wie wir das Einschlafen nie wirklich erleben. In diesem Moment sind wir wach, und im nächsten schlafen wir; den Übergang nehmen wir nicht bewusst wahr. Auch der Tod selbst ist keine Erfahrung; er ist das Ende der Erfahrung.

Doch die Kritik scheint auf Haarspalterei zu basieren. Wir wollen wissen, was nach dem Tod kommt; und wenn wir solche Informationen nicht von denen erhalten können, die tatsächlich tot sind, dann sind Menschen, die dem Tod nahe waren, die nächstbeste Quelle. Dem »Tod nahe« ist zwar nicht »tot«, aber so nah dran wie möglich. Immerhin hatten viele Leute, die Nahtoderlebnisse beschreiben, keinen Herzschlag und keine Atmung mehr. Sie waren »klinisch tot«. Heute versteht man den Tod mehr als Ende der Hirn- denn als Ende der Herzfunktionen. In einer neueren niederländischen Studie mit fast 350 Patienten, die in der britischen Fachzeitschrift The Lancet erschien, berichtete der Arzt Pim van Lommel bezeichnenderweise über mehrere Nahtoderfahrungen, die sich ereigneten, nachdem die Hirnaktivität der Patienten vollständig aufgehört hatte.19

Ein zweites Gegenargument bezieht sich darauf, dass Nahtoderfahrungen Erinnerungen sind, deren Ursprung nicht der Prozess des Sterbens, sondern der Geburtsvorgang ist. Hier wird davon ausgegangen, dass wir am Ende des Lebens in gewisser Weise in den Mutterleib zurückkehren und noch einmal den ursprünglichen Geburtsprozess erleben. Carl Sagan hat sich diese Sicht in seinem Buch Broca’s Brain zu eigen gemacht. Auf den ersten Blick könnte diese Vorstellung verschiedene Aspekte der Nahtoderfahrung erklären: den Tunnel, das Gefühl des Schwebens, die Bewegung aus der Dunkelheit ins Licht. Aber Sagans Hypothese ist durch die Arbeit des Philosophen Carl Becker stark in Verruf geraten. Becker bezieht sich auf Forschungsarbeiten aus dem Bereich der frühkindlichen Wahrnehmung, die zeigen, dass Neugeborene nichts sehen können, wenn sie den Mutterleib verlassen. Und selbst wenn sie es könnten, verfügen Neugeborene noch nicht über mentale Fähigkeiten, und man kann nicht erwarten, dass sie irgendwelche Erinnerungen an den Geburtsvorgang haben. Zudem gleicht der Geburtskanal keineswegs einem Tunnel, durch den das Kind anmutig schwebt, sondern ist eine enge Passage, durch die das Baby gewöhnlich mit dem Kopf voran und manchmal wundgerieben oder mit blauen Flecken ins Leben gepresst wird. Und schließlich gibt es auch Berichte über Nahtoderfahrungen von Leuten, die durch einen Kaiserschnitt entbunden wurden und keinen normalen Geburtsprozess erlebt haben.20

Anspruchsvoller ist der Einwand, dass Nahtoderfahrungen kulturell konditioniert und deshalb unzuverlässig sind. Carol Zaleski beschreibt in Nah-Toderlebnisse und Jenseitsvisionen vom Mittelalter bis zur Gegenwart detailliert, wie Christen bei solchen Erfahrungen dazu neigen, Jesus zu sehen, Hindus den Kopf eines Elefanten und Juden einen Engel oder auch nur helles Licht. Deshalb interpretiert Zaleski solche Erfahrungen lieber als »literarische Motive«, die psychologische und moralische Wahrheiten enthalten. Aber das ist nicht logisch. Ein Christ sieht vielleicht ein leuchtendes Wesen und sagt, es sei Jesus, während ein Moslem es für Mohammed hält. Da niemand weiß, wie Jesus oder Mohammed ausgesehen haben – und wir getrost annehmen dürfen, dass dieses strahlende Wesen kein Namensschild trägt –, zeigt die Identifikation eindeutig ein Element kultureller Projektion. Doch kann man daraus nicht schließen, dass es kein strahlendes Wesen gab oder dass es sich dabei nur um eine Metapher handelt. Die gesamte Idee der literarischen Metapher, die bei Literaten wie Zaleski besonders beliebt ist, wird noch fragwürdiger, wenn wir sehen, dass es ungeachtet kultureller Variationen bei den Nahtoderfahrungen gemeinsame Elemente sind, die global auftreten. Zu diesem Schluss kommt der Soziologe Allan Kellehear bei einem kulturübergreifenden Vergleich von Nahtoderfahrungen. Sogar Susan Blackmore, eine starke Kritikerin von Nahtoderfahrungen, findet, dass sie »ähnliche Züge haben, die in unterschiedlichen Formen über alle Zeiten und Kulturen hinweg auftreten«.21

Zweifellos lautet die bevorzugte Erklärung unter atheistischen Kritikern, dass Nahtoderfahrungen nichts über das Leben nach dem Tod aussagen, weil sie verzerrte Zustände des Gehirns spiegeln. Der Psychologe Ron Siegel spricht von der Möglichkeit, dass Nahtoderfahrungen traumähnliche Bilder sind, wie sie auch bei Menschen auftreten, die halluzinogene oder bewusstseinsverändernde Drogen nehmen. Viele Leute erleben unter dem Einfluss solcher Drogen außergewöhnliche Wahrnehmungen und Empfindungen – verrückte Farben, hochfliegende Emotionen, Benommenheit, Orientierungslosigkeit oder Sehstörungen. Während dieser Zeit wissen die meisten von ihnen jedoch, dass sie unter dem Einfluss von Substanzen stehen. Auch fehlt diesen Erlebnissen die Geschlossenheit oder Zufriedenheit der Nahtoderfahrung. Und Menschen, die Nahtoderfahrungen haben, nehmen typischerweise kein Rauschgift. Viele von ihnen stehen nicht einmal unter dem Einfluss von Schmerz- oder Narkosemitteln. Der Forscher Melvin Morse hat eine Kontrollgruppe von Kindern, die viele Medikamente einnahmen, mit Kindern verglichen, die über Nahtoderfahrungen berichteten. Er stellte fest, dass kein Kind aus der Kontrollgruppe solche Erfahrungen hatte. Seine Schlussfolgerung lautete, dass »ein Mensch dem Tod nahe sein muss, um eine Nahtoderfahrung zu haben«.22

Manche der atheistischen Kritiker geben zwar zu, dass die üblichen Drogen keine Nahtoderfahrungen erzeugen, sind jedoch der Meinung, dass eine exotischere Mischung aus Drogen und Behandlung dazu in der Lage ist. Der Neurowissenschaftler Michael Persinger behauptet, er könne Nahtoderfahrungen simulieren, indem er Versuchspersonen einen Helm aufsetzt und bestimmte Teile ihres Gehirns elektrisch stimuliert. Der Psychiater Karl Jansen hat erklärt, das Betäubungsmittel Ketamin könne die charakteristischen Eindrücke von Nahtoderfahrungen nachahmen.23 Aber viele Patienten mit Nahtoderfahrungen haben sich nie solchen Behandlungen unterzogen und keine derartigen Drogen genommen. Persingers Helm funktioniert nicht zuverlässig ; der Atheist Richard Dawkins hat ihn getestet und keine Wirkung gespürt. Ketamin wird in der Medizin kaum noch verwendet, weil zu seinen Nebenwirkungen auch Orientierungsstörungen und Verfolgungswahn gehören. Diese Reaktionen sind völlig anders als das, was Patienten über Nahtoderfahrungen berichten. Selbst wenn Ketamin nicht solche Nebenwirkungen hätte und alle Eigenschaften von Nahtoderfahrungen reproduzierte, bliebe immer noch die Tatsache, dass dieses Mittel nicht mehr im Gebrauch ist und Menschen weiterhin über Nahtoderfahrungen berichten.

Das noch größere Problem besteht darin, dass es sich dabei um künstlich eingeleitete Zustände handelt. Sicher, man kann Laborpatienten Ketamin geben oder sie mit Elektroschocks behandeln und ihre dadurch ausgelösten Erfahrungen aufzeichnen, aber was beweist das? Wenn ich Ihnen sage, dass mich die Sonne blendet, können Sie nicht beweisen, dass es sich dabei um eine mentale Illusion handelt, indem Sie mir zeigen, dass Sie mich auch mit einer Taschenlampe blenden können. Und diese Analogie trift die Situation bei Nahtoderfahrungen nicht einmal vollständig. Immerhin ist es nicht nur so, dass Nahtoderfahrungen auftreten, ohne dass sie von außen provoziert werden, sondern sie treten bei Leuten auf, bei denen das Herz und manchmal auch das Gehirn alle Aktivitäten eingestellt hat.

Aber vielleicht, so sagen die Kritiker, setzt das Gehirn diese Drogen auf natürliche Weise frei. Dabei könnten verschiedene Neurotransmitter und Rezeptoren eine Rolle spielen, beispielsweise Serotonin, Endorphine oder die Aminosäure Glutamat. Michael Shermer argumentiert, dass diese chemischen Botenstoffe unter traumatischen Bedingungen im Gehirn Eindrücke hervorrufen können, die einer Nahtoderfahrung ähnlich sind.24 Shermer ist selbst ein ambitionierter Radfahrer und weiß, dass Sportler manchmal außerkörperliche Erfahrungen haben, hervorgerufen durch Reizentzug oder Sauerstoffmangel in großen Höhen. Außerdem führen die Kritiker ein evolutionäres Argument für diese Verbindung ins Feld. In einer lebensbedrohlichen Situation, so sagen sie, könnten wir als letzte Zuflucht unseren Körper mental verlassen und die Ereignisse wie ein Außenstehender beobachten. Das hilft, die Schmerzen zu lindern, und könnte sogar die vorgetäuschten Todesstrategien spiegeln, die unsere primitiven Vorfahren in ferner Vergangenheit nutzten, so wie manche Tiere es heute noch tun, um Angriffe von Raubtieren zu überleben.

Das evolutionäre Argument ist interessant, aber bedeutungslos. Menschen, die praktisch keine Hirnfunktion mehr haben und deren Herz nicht mehr schlägt, sind nicht in der Lage, irgendetwas vorzutäuschen. Wie wollen Sie raffinierte Überlebensstrategien entwickeln, während Sie im Koma liegen? Dazu wären Sie nicht mal in der Lage, wenn Sie nur schliefen. Und Sportler mögen zwar ein Runner’s High oder sogar außerkörperliche Erfahrungen erleben, aber typischerweise bewegen sie sich nicht durch Tunnel, sehen kein strahlendes Licht und begegnen auch nicht ihren verstorbenen Verwandten. Soweit ich weiß, berichten sie nur dann über Begegnungen mit Jesus, wenn sie einen Sieg eingefahren haben. Die Psychologin Susan Blackmore meint, dass eine Nahtoderfahrung lediglich in solchen Fällen vorliegt, wenn nicht nur einzelne, sondern alle Merkmale gleichzeitig auftreten. Eine befriedigende Erklärung dafür muss außerdem begründen, warum diese Ansammlung von Erfahrungen über alle Kulturen hinweg einheitlich ist. Und schließlich reicht es nicht zu sagen: »Das sind alles nur mentale Zustände.« Man muss einen Grund für diese besonderen mentalen Zustände angeben. Mit anderen Worten: Warum gibt es Tunnel und strahlende Lichter – und wo kommt all die Liebe und Wärme her?

Blackmores eigene Erklärung wird die »Dying-Brain-Hypothese« genannt. Sie geht von der Annahme aus, dass die Mechanismen der Mustererkennung auch dann noch Bilder erzeugen, wenn das Gehirn zusammenbricht. Das Gehirn versucht also, aus der Erinnerung ein Modell der Wirklichkeit zu rekonstruieren, das vollkommen real erscheint, obwohl es nicht spiegelt, was sich außerhalb des Gehirns befindet. Aber wie erfüllt Blackmore dann ihre eigenen Kriterien für eine gute Erklärung? In ihrer Dying-Brain-Hypothese ist der Tunnel das Ergebnis einer Verengung der visuellen Leitungsbahnen. Die Gefühle von Freude und Frieden werden durch Endorphine und natürliche Opiate erzeugt, die der Organismus bei Stress freisetzt. Der Tunnel und das Licht sind eine Art von Spezialeffekten, die unsere Hirnrinde bei Sauerstoffmangel hervorbringt. Ein Zusammenbruch des Körperbilds und des Musters, das unser Gehirn von der Wirklichkeit hat, kann die Ursache der außerkörperlichen Erfahrung sein. Der Rückblick auf das eigene Leben ist die Folge davon, dass die Erinnerungssysteme des Gehirns versuchen, sich im Zuge des Zusammenbruchs neu zu organisieren. Diese Erinnerungssysteme zaubern auch die Bilder verstorbener Freunde und Verwandter herbei. Und schließlich wird der Eindruck von Zeitlosigkeit oder Ewigkeit durch ein Selbst genährt, das sich gerade auflöst und Erfahrungen von Zeit und Raum hinter sich lässt.

Die Stärke von Blackmores Hypothese liegt darin, dass sie die Ähnlichkeit von Nahtoderfahrungen aus aller Welt damit erklärt, dass »Gehirn, Hormone und Nervensystem bei allen Menschen ähnlich sind und sich deshalb auch die Erfahrungen gleichen, wenn diese Systeme versagen«.25 Kritiker weisen jedoch darauf hin, dass es für sterbende Gehirne nicht typisch ist, solche Erfahrungen zu erzeugen. Wäre es anders, dann hätte praktisch jeder Sterbende eine Nahtoderfahrung! Außerdem kann fast jeder, der einen Angehörigen hat sterben sehen, bezeugen, dass sterbende Gehirne zu verblassenden Erinnerungen, Zusammenhang- und Orientierungslosigkeit neigen. Diese Symptome unterscheiden sich grundlegend von den klaren Wahrnehmungen und Glücksgefühlen der typischen Nahtoderfahrung. Wenn diese das Ergebnis eines sterbenden Gehirns sind, dann sind die mentalen Fähigkeiten bereits zusammengebrochen. Tatsächlich aber führen die meisten Leute, die von solchen Erfahrungen berichten, ein ganz normales Leben. Wie hat denn ihr Gehirn die Auflösung rückgängig gemacht und seine normale Wahrnehmungsfähigkeit wiedererlangt? Dazu hat Blackmore nur sehr wenig zu sagen. Und auch sie würde wohl einräumen, dass die Dying-Brain-Hypothese nicht erklärt, wie klinisch Tote anscheinend Dinge wissen können, die ofensichtlich außerhalb ihrer Wahrnehmungsfähigkeit liegen.

Ich komme deshalb zu dem Schluss, dass für die Richtigkeit von Nahtoderfahrungen sehr viel mehr spricht als für die Reinkarnation. Zwar haben die Kritiker von Nahtoderfahrungen einige interessante Möglichkeiten ins Spiel gebracht – es könnte dies oder jenes sein –, aber Nahtoderfahrungen legen doch die Vermutung nahe, dass unser Bewusstsein den Tod überleben kann und ihn manchmal überlebt. Das ist natürlich eine unliebsame Schlussfolgerung für Leute, die ein Leben nach dem Tod leugnen. Aus ihrer Sicht sollten Nahtoderfahrungen, die auf ein solches Weiterleben hindeuten, nicht nur sehr selten, sondern völlig ausgeschlossen sein. Ein einziger authentischer Fall würde schon ausreichen, um die Annahme, dass »nach dem Tod nichts kommt«, zu widerlegen und zu demonstrieren, dass doch noch etwas kommt. Aber wir sollten nicht überbewerten, was wir hier erfahren haben. Da nur einige Leute Nahtoderfahrungen haben, ist es möglich, dass auch nur bei einigen Leuten das Bewusstsein den Tod überlebt. Auch sagen die damit verbundenen außerkörperlichen Erfahrungen uns nur sehr wenig darüber, wie das Leben nach dem Tod wirklich ist. Definitionsgemäß hat niemand je über eine Nahtoderfahrung berichtet, der die Grenze von diesem Leben zum nächsten voll überschritten hat. Schließlich ist »Überleben« nicht dasselbe wie »Unsterblichkeit«, weil wir theoretisch unseren Tod überleben und kurz darauf immer noch unser Bewusstsein verlieren könnten. Deshalb wollen wir einen Schritt weitergehen und fragen, ob die Gesetze der Wissenschaft dauerhaftere Möglichkeiten für ein Leben nach dem Tod zulassen oder sogar implizieren.