3. Der Placebo-Effekt im Gehirn
Falls Sie mein Buch »Ein neues Ich« gelesen haben, wird Ihnen in diesem Kapitel einiges bekannt vorkommen. Wenn Sie meinen, Sie kennen diese Informationen bereits gut genug, können Sie das Kapitel entweder überspringen oder es überfliegen, um Ihr Wissen ein bisschen aufzufrischen. Im Zweifelsfall lesen Sie es lieber, denn es ist wichtig, die darin angesprochenen Zusammenhänge wirklich zu verstehen, um die folgenden Kapitel begreifen zu können.
Wie die Geschichten in den beiden vorigen Kapiteln veranschaulicht haben, kann unser Körper auf einen neuen Geist oder »ein neues Ich« reagieren, wenn wir unseren Seinszustand wahrhaftig verändern. Dazu müssen wir zunächst unser Denken verändern, denn die enorme Größe unseres Vorderhirns befähigt uns Menschen, unsere Gedanken realer zu machen als alles andere – und genauso funktioniert das Placebo. Um erkennen zu können, wie dieser Prozess abläuft, müssen wir zunächst einmal drei wesentliche Elemente untersuchen: Konditionierung, Erwartung und Bedeutung Wie wir sehen werden, arbeiten diese drei Konzepte zusammen, um die Placebo-Reaktion zu orchestrieren.
Von Konditionierung dem ersten Element, war bereits im letzten Kapitel bei Pawlow die Rede. Hier noch einmal zum Rekapitulieren: Eine Konditionierung findet statt, wenn eine Erinnerung aus der Vergangenheit (beispielsweise die Einnahme von Aspirin) mit einer physiologischen Veränderung (keine Kopfschmerzen mehr) assoziiert wird, weil wir diese Erfahrung so oft gemacht haben. Man kann es sich folgendermaßen vorstellen: Wenn man merkt, dass man Kopfschmerzen hat, nimmt man im Wesentlichen eine innere physiologische Veränderung wahr (man spürt Schmerzen). Als Nächstes sucht man automatisch im Außen nach etwas (in diesem Fall nach einer Aspirin-Tablette), um innerlich etwas zu verändern. Der innere Zustand (Schmerzen) veranlasst dazu, darüber nachzudenken, was sich in der Vergangenheit als hilfreich erwies, um dieses Empfinden zu verändern (eine Aspirin-Tablette einnehmen und so die Kopfschmerzen lindern).
Der äußere Anreiz, hier Aspirin, erzeugt eine bestimmte Erfahrung, die eine physiologische Reaktion bzw. Belohnung hervorruft und damit zu einer inneren Veränderung führt. Wenn wir eine innere Veränderung bemerken, achten wir darauf, was im Außen diese Veränderung bewirkt hat. Aus diesem Ereignis – nämlich eine innere Veränderung durch etwas von außen Kommendes – entsteht dann eine sogenannte assoziative Erinnerung.
Durch häufige Wiederholung kann der äußere Reiz aufgrund der Assoziation unter Umständen so stark oder so verstärkt werden, dass man die Aspirin-Tablette durch eine genauso aussehende Zuckerpille ersetzen kann und diese zu einer automatischen inneren Reaktion führt (die Kopfschmerzen werden gelindert). Das ist eine Funktionsweise des Placebos. Die Abbildungen 3.1A, 3.1B und 3.1C (siehe Seite 88) veranschaulichen diesen Konditionierungsprozess.
Erwartung, das zweite Element, kommt dann ins Spiel, wenn wir begründet ein anderes Ergebnis antizipieren. Leidet jemand zum Beispiel unter chronischer Arthritis und erhält von seinem Arzt ein neues Medikament, das, wie dieser begeistert erklärt, die Schmerzen lindert, geschieht etwas anderes (die Schmerzen lassen nach). Damit hat der Arzt die Suggestibilität seines Patienten genutzt.
Je nachdem, wie anfällig wir für Suggestionen sind, assoziieren wir etwas Äußeres (das neue Medikament) ganz natürlich mit der Entscheidung für eine andere Möglichkeit (schmerzfrei sein). Im Kopf ergreifen wir ein anderes zukünftiges Potenzial und hoffen, antizipieren und erwarten ein entsprechend anderes Ergebnis. Wenn wir dieses neue Ergebnis emotional annehmen und uns zu eigen machen und unsere Emotionen stark genug sind, können Gehirn und Körper nicht mehr zwischen der Vorstellung einer neuen schmerzfreien Befindlichkeit und dem tatsächlichen Eintreten des Ereignisses unterscheiden. Für das Gehirn und den Körper ist es das Gleiche.
Das Gehirn aktiviert dabei dieselben Nervenbahnen, als hätte sich unsere Befindlichkeit tatsächlich geändert (als hätte das Medikament die Schmerzen gelindert), und schüttet auch ähnliche chemische Verbindungen in den Körper aus.
Abb. 3.1A
Abb. 3.1 B
Abb. 3.1C
In Abb. 3.1A erzeugt ein Reiz eine physiologische Veränderung, eine sogenannte Reaktion oder Belohnung. Das wiederholte Zusammenbringen eines Reizes mit einem konditionierten Reiz erzeugt weiterhin eine Reaktion, wie in Abb. 3.1B aufgezeigt wird. In Abb. 3.1C wird gezeigt, wie das Entfernen des Reizes und Ersetzen durch einen konditionierten Reiz – beispielsweise ein Placebo – dieselbe physiologische Reaktion hervorrufen kann.
Dann geschieht tatsächlich, was wir erwarten (keine Schmerzen mehr zu haben), weil Gehirn und Körper aus ihrer Apotheke das Medikament herstellen, das perfekt geeignet ist, unsere innere Befindlichkeit zu verändern. Jetzt befinden wir uns in einem neuen Seinszustand – das heißt, Geist und Körper arbeiten wie ein einziges System zusammen. So viel Macht haben wir!
Bedeutung ist das dritte Element, welches beim Placebo-Effekt eine Rolle spielt. Wenn wir einer Handlung eine neue Bedeutung bzw. einen neuen Sinn verleihen, steht eine willentliche Absicht dahinter. Anders ausgedrückt: Lernen und verstehen wir etwas Neues, dann stecken wir mehr bewusste, zielgerichtete Energie hinein.
In der Studie mit den Zimmermädchen, von der im vorigen Kapitel die Rede war, haben sie ihren täglichen Verrichtungen mehr Bedeutung beigemessen, nachdem sie verstanden hatten, wie sehr sie sich tagtäglich bei der Arbeit körperlich betätigen und wie sie davon profitieren. Sie saugten nicht einfach nur Staub, scheuerten und wischten, sondern trainierten dadurch bewusster ihre Muskeln, bauten Kraft auf und verbrannten Kalorien. Da das Staubsaugen, Scheuern und Wischen mehr Bedeutung hatte, nachdem sie von den Wissenschaftlern über die positiven körperlichen Auswirkungen dieses »Trainings« aufgeklärt worden waren, bestand die Absicht bzw. das Ziel der Zimmermädchen nicht mehr nur darin, ihre Arbeit zu erledigen, sondern auch darin, zu trainieren und ihre Gesundheit zu verbessern.
Und genau das passierte auch. Die Probandinnen der Kontrollgruppe wiesen ihrer Arbeit diese Bedeutung nicht zu. Sie wussten nicht, wie wichtig ihre Tätigkeit für ihre Gesundheit ist, und deshalb profitierten sie auch nicht so davon – obwohl sie genau die gleichen Tätigkeiten verrichteten.
Das Placebo funktioniert genauso. Je mehr man an die Wirkung einer bestimmten Substanz, Prozedur oder Operation glaubt, weil man über die damit verbundenen Vorteile und positiven Wirkungen Bescheid weiß, desto größer ist die Chance, auf den Gedanken an eine gesundheitliche Besserung zu reagieren und tatsächlich zu gesunden.
Anders ausgedrückt: Je mehr Bedeutung man einer potenziellen Erfahrung mit einer Person, einem Ort oder einer Sache im Außen verleiht, um eine Veränderung im Innern zu bewirken, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen, willentlich herbeigeführten Änderung der inneren Befindlichkeit nur durch Gedanken. Und je besser man eine neue gesundheitliche Auswirkung akzeptieren kann – weil man weiß, welche potenziellen Belohnungen sich aus einem entsprechenden Handeln ergeben –, desto deutlicher wird das mental erzeugte Modell und desto besser kann man Geist und Körper darauf einstellen, genau das zu replizieren. Einfach ausgedrückt könnte man sagen: Je mehr wir an die Ursache glauben, desto besser ist die Wirkung.
Das Placebo: Anatomie eines Gedankens
Wenn der Placebo-Effekt davon abhängt, wie ein Gedanke die Physiologie verändern kann – also von der Macht des Geistes über die Materie –, wäre es vielleicht eine gute Idee, uns einmal unsere Gedanken anzuschauen und herauszufinden, wie sie mit dem Gehirn und dem Körper interagieren. Zunächst einmal wollen wir uns mit unseren ganz persönlichen, alltäglichen Gedanken beschäftigen.
Wir Menschen sind Gewohnheitstiere. Tag für Tag gehen uns etwa 60.000 bis 70.000 Gedanken durch den Kopf1, von denen 90 Prozent genau die gleichen Gedanken sind wie bereits am Tag zuvor. Wir stehen auf derselben Seite des Bettes auf, erledigen die gleichen alltäglichen Verrichtungen im Badezimmer, kämmen uns die Haare so wie immer, essen Tag für Tag das gleiche Frühstück und sitzen dabei auf demselben Stuhl, mit der Tasse in derselben Hand, fahren auf derselben Strecke zur selben Arbeit und tun das, womit wir uns so gut auskennen, mit denselben Menschen (die dieselben emotionalen Knöpfe drücken) – und das jeden Tag. Dann hasten wir nach Hause, wo wir fix unsere E-Mails durchschauen, damit wir schnell zu Abend essen und eilig unsere Lieblingsshow im Fernsehen anschauen können. Dann putzen wir uns wie immer vor dem Zubettgehen die Zähne, um dann husch, husch, zur selben Zeit wie immer ins Bett zu gehen, nur um am nächsten Tag hurtig wieder aufzustehen und das Gleiche wieder zu tun.
Heißt das, wir leben den größten Teil unseres Lebens auf Autopilot? Genau das will ich damit sagen. Wir denken die gleichen Gedanken, und deshalb treffen wir dieselben Entscheidungen, die wiederum zu den immer gleichen Verhaltensweisen führen, was uns immer wieder die gleichen Erfahrungen beschert, die die gleichen Emotionen erzeugen. Und diese immer wieder gleichen Emotionen rufen die immer gleichen Gedanken hervor.
Betrachten Sie einmal Abbildung 3.2 und verfolgen Sie, wie die gleichen Gedanken die gleiche, gewohnte Realität kreieren.
Abb. 3.2. So erzeugen wir allein durch unsere Gedanken immer wieder die gleiche Realität.
Aufgrund dieses mehr oder weniger bewussten Prozesses bleibt auch die Biologie die Gleiche. Selbst wenn Sie vielleicht heimlich auf Veränderung in Ihrem Leben hoffen, verändern sich weder Ihr Gehirn noch Ihr Körper, denn Sie denken immer wieder die gleichen Gedanken, führen die gleichen Handlungen aus und erleben dieselben Emotionen. Sie erzeugen dieselben Gehirnaktivitäten, die dieselben Schaltkreise aktivieren und die gleichen chemischen Stoffe im Gehirn produzieren, welche wiederum die Körperchemie auf immer wieder die gleiche Weise beeinflussen. Diese chemischen Verbindungen senden denselben Genen die gleichen Signale, dieselbe Genexpression erzeugt die gleichen Zellbausteine (Proteine), und der Körper bleibt der Gleiche (über Proteine später mehr). Und da die Proteinexpression Ausdruck von Leben bzw. Gesundheit ist, bleiben auch Ihr Leben und Ihre Gesundheit gleich.
Werfen Sie einmal einen Blick auf Ihr Leben. Was bedeutet das für Sie?
Wenn Sie heute die gleichen Gedanken wie gestern denken, werden Sie heute höchstwahrscheinlich auch dieselben Entscheidungen treffen, die morgen die gleichen Verhaltensweisen bewirken. Und dieselben Gewohnheiten, die Sie morgen an den Tag legen, produzieren gleiche zukünftige Erfahrungen für Sie. Die immer gleichen zukünftigen Ereignisse erzeugen in Ihnen immerzu die gleichen vorhersehbaren Emotionen, sodass Sie jeden Tag die gleichen Gefühle fühlen. Ihr Gestern wird zu Ihrem Morgen – in Wahrheit ist also Ihre Vergangenheit Ihre Zukunft.
Sind Sie bis zu diesem Punkt mit mir einer Meinung? Dann könnten wir auch sagen, das vertraute Gefühl, das ich soeben beschrieben habe, entspricht Ihrer Identität, Ihrer Persönlichkeit, Ihrem Seinszustand. Es ist etwas Bequemes, Müheloses und Automatisches, Ihr altbekanntes Ich, welches, wenn wir ehrlich sind, in der Vergangenheit lebt. Durch tagtägliches Beibehalten dieses redundanten Prozesses (denn Sie wachen morgens auf und antizipieren bzw. erwarten dieses »Ich«-Gefühl Tag für Tag) kann dieser vertraute Seinszustand nur die immer wieder gleichen Gedanken auslösen, welche Sie dazu bringen, nach demselben automatisch ablaufenden Zyklus bestehend aus Wahlmöglichkeiten, Verhaltensweisen und Erfahrungen zu gieren, damit Sie wieder das vertraute Gefühl spüren, welches Sie als Ihr »Ich« betrachten. Und so bleibt auch Ihre Persönlichkeit immer gleich.
In diesem Sinne erzeugt Ihre Persönlichkeit Ihre persönliche Realität. So einfach ist das. Und Ihre Persönlichkeit besteht aus dem, was Sie denken, wie Sie handeln und wie Sie sich fühlen. Diese Ihre derzeitige Persönlichkeit, die gerade diese Zeilen liest, hat die derzeitige persönliche Realität erschaffen, die Ihr Leben ist.
Wenn Sie eine neue persönliche Realität erzeugen wollen – ein neues Leben –, müssen Sie Ihre in der Vergangenheit gedachten Gedanken untersuchen, reflektieren und verändern. Sie müssen sich Ihrer unbewussten Verhaltensweisen bewusst werden, für die Sie sich entschieden haben und die zu den immer gleichen Erfahrungen geführt haben. Dann müssen Sie eine neue Wahl treffen, ein neues Handeln an den Tag legen und neue Erfahrungen kreieren. Abbildung 3.3 zeigt, wie die Persönlichkeit die persönliche Realität beeinflusst.
Abb. 3.3. Ihre Persönlichkeit besteht aus Ihren Gedanken, Handlungen und Gefühlen. Das ist Ihr Seinszustand bzw. Ihre Befindlichkeit. Die immer wieder gleichen Gedanken, Handlungen und Gefühle fesseln Sie an die gleichbleibende persönliche Realität der Vergangenheit. Doch wenn Sie sich als Persönlichkeit neue Gedanken, Handlungen und Gefühle zu eigen machen, erschaffen Sie unweigerlich eine neue persönliche Realität der Zukunft.
Sie müssen die Emotionen, die Sie im Gedächtnis behalten und verinnerlicht haben und Tag für Tag leben, achtsam beobachten und entscheiden, ob Sie sich mit einem von diesen Emotionen bestimmten Leben wirklich etwas Gutes tun.
Die meisten Leute versuchen, sich eine neue persönliche Realität auf Basis ihrer alten Persönlichkeit zu kreieren, aber das funktioniert nicht. Um Ihr Leben zu verändern, müssen Sie buchstäblich jemand anderes werden. Bleiben Sie dran und erfahren Sie von fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen, die diesen Prozess untermauern, der in Abbildung 3.4 noch einmal zu verfolgen ist.
Abb. 3.4. So erzeugen wir nur durch Gedanken eine neue Realität.
Wenn Ihnen dieses Modell einleuchtet, sollte Ihnen klar sein, dass neue Gedanken zu neuen Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen führen, welche wiederum in neuen Verhaltensweisen resultieren, die neue Erfahrungen nach sich ziehen. Neue Erfahrungen erzeugen neue Emotionen; neue Emotionen und Gefühle inspirieren zu neuen Gedanken. Das nennt man Evolution. Ihre persönliche Realität und Ihre Biologie – Ihre Schaltkreise bzw. neuronalen Vernetzungen im Gehirn, Ihre innere Chemie, Ihre Genexpression und letztendlich Ihre Gesundheit – sollten sich aufgrund dieser neuen Persönlichkeit und dieses neuen Seinszustands verändern. Offensichtlich beginnt alles mit einem Gedanken.
Ein kurzer Blick auf die Funktionsweise des Gehirns
Ich habe Begriffe wie Schaltkreise im Gehirn, neuronale Netze, Hirnchemie und Genexpression erwähnt, sie aber noch nicht ausführlich erklärt. Der Rest dieses Kapitels ist einigen einfachen wissenschaftlichen Erklärungen gewidmet, wie Gehirn und Körper zusammenarbeiten. Damit soll ein vollständiges Modell aufgebaut werden, wie wir wirklich zum Placebo werden können.
Das Gehirn besteht zu mindestens 75 Prozent aus Wasser und hat die Konsistenz eines weich gekochten Eis. Ein paar Milliarden Nervenzellen, die sogenannten Neuronen, sind in dieser wässrigen Umgebung nahtlos nebeneinander angeordnet. Jede Nervenzelle ähnelt einer blattlosen, aber elastischen Eiche, mit wehenden Ästen und Wurzelsystemen, die sich mit anderen Nervenzellen verbinden und die Verbindung wieder lösen können. Eine einzelne Nervenzelle kann 1000, aber auch über 100.000 solcher Verbindungen aufweisen, je nachdem, wo im Gehirn sie angesiedelt ist. Der Neokortex – das denkende Gehirn – verfügt beispielsweise über 10.000 bis 40.000 Verbindungen pro Neuron.
Früher haben wir das Gehirn als eine Art Computer betrachtet; gewisse Ähnlichkeiten gibt es zwar durchaus, aber wie wir inzwischen wissen, ist das bei Weitem nicht alles. Jedes einzelne Neuron ist sein eigener Biocomputer mit über 60 Megabyte RAM. Es kann ungeheure Mengen an Daten verarbeiten – Hunderttausende von Funktionen pro Sekunde. Wenn wir etwas Neues lernen und neue Erfahrungen machen, stellen unsere Neuronen neue sogenannte synaptische Verbindungen her und tauschen miteinander elektrochemische Informationen aus. Die Stelle, an welcher der Informationsaustausch zwischen den Zellen stattfindet – die Spalten zwischen den Verästelungen des einen Neurons und der Wurzel eines anderen Neurons – heißen Synapsen. Durch Lernen entstehen neue synaptische Verbindungen, die durch Erinnerungen fest miteinander verdrahtet werden. Eine Erinnerung ist also eigentlich eine langfristige Beziehung oder Verbindung zwischen Nervenzellen. Das Erzeugen und Verändern solcher Verbindungen beeinflusst im Laufe der Zeit die physische Struktur des Gehirns.
Unsere Gedanken setzen im Gehirn eine Mischung aus mehreren chemischen Substanzen frei, die sogenannten Neurotransmitter (Serotonin, Dopamin und Acetylcholin beispielsweise). Beim Denken wandern Neurotransmitter von einem Ast des Neuronenbaums über den synaptischen Spalt zur Wurzel eines anderen Neuronenbaums. Wenn sie den Spalt überquert haben, feuert das Neuron einen elektrischen Informationsblitz ab. Denken wir die gleichen Gedanken immer wieder, feuert das Neuron immer wieder auf dieselbe Weise und stärkt dadurch die Beziehung zwischen den beiden Zellen, damit sie beim nächsten »Informationsfeuer« dieser Neuronen das Signal einfacher übertragen können. Dabei bilden sich im Gehirn physische Nachweise, dass etwas nicht nur gelernt, sondern auch erinnert wurde. Dieser Prozess selektiver Verstärkung ist die synaptische Potenzierung.
Wenn ganze Neuronenwälder aufeinander abgestimmt feuern, um einen neuen Gedanken zu unterstützen, wird eine weitere chemische Verbindung (ein Protein) in der Nervenzelle produziert. Dieses Protein begibt sich ins Zentrum der Zelle, den Nukleus oder Zellkern, und landet dort in der DNA, wo es mehrere Gene aktiviert; es schaltet sie sozusagen ein.
Die Aufgabe der Gene besteht in der Produktion von Proteinen, die die Körperstruktur und die Körperfunktionen aufrechterhalten. Deshalb stellt die Nervenzelle schnell ein neues Protein her, um neue Verästelungen zwischen Nervenzellen aufzubauen. Wird ein Gedanke oder eine Erfahrung oft genug wiederholt, stellen unsere Gehirnzellen nicht nur stärkere Verbindungen miteinander her (was sich auf die physiologischen Funktionen auswirkt), sondern auch insgesamt mehr Verbindungen (was sich auf die physische Struktur des Körpers auswirkt). Das Gehirn wird mikroskopisch angereichert. Sobald wir einen neuen Gedanken denken, verändern wir uns – neurologisch, chemisch und genetisch. Durch das Erlernen von etwas Neuem, durch neue Gedanken und frische Erfahrungen können innerhalb von Sekunden Tausende neuer Verbindungen aufgebaut werden. Wir können also durch Gedanken auf der Stelle neue Gene aktivieren – einfach durch einen neuen Geist. Das ist die Macht des Geistes über die Materie.
In einer Versuchsanordnung des Nobelpreisträgers Eric Kandel, M.D., verdoppelte sich die Anzahl synaptischer Verbindungen bei Ausbildung neuer Erinnerungen in den stimulierten sensorischen Nervenzellen auf 2600. Doch wenn diese ursprüngliche Lernerfahrung nicht ständig wiederholt wurde, ging die Anzahl der Verbindungen in gerade einmal drei Wochen auf die ursprünglichen 1300 zurück.
Indem wir Gelerntes also oft genug wiederholen, stärken wir die Gemeinschaft der Neuronen, und sie werden unsere Erinnerungen unterstützen. Falls wir es nicht tun, bilden sich die synaptischen Verbindungen bald wieder zurück, und die Erinnerung wird ausgelöscht. Um neue Gedanken, Entscheidungen, Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Überzeugungen und Erfahrungen wirklich fest in unserem Gehirn zu verankern, müssen wir sie daher ständig aktualisieren, überprüfen und erinnern.2 Abbildung 3.5 (siehe Seite 98) hilft dabei, mit Neuronen und neuronalen Netzen vertraut zu werden.
Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie unglaublich groß dieses System ist, können Sie sich eine Nervenzelle vorstellen, die sich mit 40.000 anderen Nervenzellen verbindet und, sagen wir, 100.000 Bits an Informationen pro Sekunde verarbeitet und diese Informationen mit anderen Neuronen teilt, die wiederum jeweils 100.000 Funktionen pro Sekunde verarbeiten. Ein solches Netzwerk aus kooperierenden Neuronenhaufen wird als neuronales Netz bezeichnet und die darin enthaltene Gemeinschaft aus synaptischen Verbindungen als Neuronenkreis.
Während in den grauen Nervenzellen physische Veränderungen stattfinden und Neuronen ausgewählt und angewiesen werden, sich in riesigen Netzen zu organisieren, die Hunderte Millionen Bits an Informationen verarbeiten können, verändert sich auch die physische »Hardware« des Gehirns und passt sich an die von der Außenwelt eingehenden Informationen an. Wenn diese Netze mit ihren wie in einem verrückten Gewitter zusammen- und auseinanderlaufenden elektrischen Aktivitäten im Laufe der Zeit immer wieder eingeschaltet werden, nutzt das Gehirn immer wieder dieselben Hardwaresysteme (die physischen neuronalen Netze) und generiert dabei ein Softwareprogramm (ein automatisches neuronales Netz). So wird das Gehirn programmiert. Die Hardware erzeugt die Software, und das Softwaresystem ist in die Hardware eingebettet – und jedes Mal, wenn die Software zum Einsatz kommt, verstärkt sie die Hardware.
Abb. 3.5. Das ist eine einfache grafische Darstellung von Neuronen in einem neuronalen Netz. Der winzige Abstand zwischen den Verästelungen der einzelnen Neuronen, über den die Kommunikation zwischen den Neuronen stattfindet, heißt synaptischer Spalt. Auf einem Platz von der Größe eines Sandkorns haben etwa 100.000 Neuronen mit über einer Milliarde Verbindungen Platz.
Während man also ständig dieselben Gedanken denkt und dieselben Gefühle fühlt, weil man nichts dazulernt bzw. nichts Neues macht, aktiviert das Gehirn seine neuronalen Netze in den immer wieder selben Sequenzen, Mustern und Kombinationen. Sie entwickeln sich zu automatisch ablaufenden Programmen, die wir täglich unbewusst nutzen. Wir haben ein automatisches neuronales Netz zum Sprechen einer Sprache, zum Rasieren des Gesichts oder zum Auflegen von Make-up, zum Tippen auf dem PC, zum Beurteilen der Kollegen usw., denn diese Handlungen haben wir schon so oft ausgeführt, dass sie praktisch zu etwas Unbewusstem wurden. Wir müssen nicht mehr bewusst darüber nachdenken. Es geht ganz mühelos.
Abb. 3.6. Wenn Ihre Gedanken, Entscheidungen, Verhaltensweisen, Erfahrungen und emotionalen Befindlichkeiten jahrelang gleichbleiben – dieselben Gedanken entsprechen immer denselben Gefühlen und verstärken diesen endlosen Kreislauf –, dann wird Ihr Gehirn in einer begrenzten Signatur fest verschaltet, weil Sie Ihr Gehirn dauernd in gleichen Mustern aktivieren und so tagtäglich den gleichen Geist kreieren. Mit der Zeit verstärken sich diese neuronalen Netze auch auf der biologischen Ebene. Das Gehirn tendiert dann physisch dazu, stets dieselbe Geisteshaltung zu erzeugen – wir denken in Schubladen. Die Gesamtheit dieser fest vernetzten Kreisläufe bezeichnen wir als unsere Identität.
Diese Schaltkreise wurden so oft verstärkt, dass sie nun fest verdrahtet sind. Die Verbindungen zwischen Neuronen verkleben sozusagen, weitere Schaltkreise bilden sich aus, und die Verästelungen werden größer und physisch dicker – so wie man eine Brücke verstärkt, ein paar neue Straßen baut oder eine Autobahn verbreitert, damit mehr Verkehr darauf fahren kann.
Eines der wichtigsten Grundprinzipien der Neurowissenschaft besagt: »Nervenzellen, die gleichzeitig feuern, verbinden sich miteinander.«3 Wenn das Gehirn immer wieder auf dieselbe Weise aktiv ist, wird auch immer wieder dieselbe mentale Ebene reproduziert. Aus neurowissenschaftlicher Sicht entspricht das aktive, arbeitende Gehirn dem Geist. Wenn Sie also tagtäglich dieselbe Geisteshaltung reproduzieren und sich so geistig einprägen bzw. erinnern, wer Sie Ihrer Meinung nach sind, bringen Sie Ihr Gehirn dazu, auf dieselbe Weise zu reagieren, und aktivieren jahrelang ohne Unterbrechung dieselben neuronalen Netze. Sind Sie dann erst einmal Mitte dreißig, hat sich Ihr Gehirn eine sehr begrenzte Signatur aus automatischen Programmierungen aufgebaut. Dieses fixe Muster wird dann als Ihre Identität bezeichnet.
Man kann es sich wie eine Schublade im Gehirn vorstellen. Natürlich gibt es im Gehirn keine Schublade im buchstäblichen Sinn. Aber das sogenannte »Schubladendenken« impliziert, dass man sein Gehirn physisch in einem begrenzten Muster fest verschaltet hat, wie es in Abbildung 3.6 (siehe Seite 99) dargestellt wird. Indem immer wieder dieselbe Geisteshaltung reproduziert wird, bestimmen die am häufigsten aktivierten neurologisch verschalteten Kreisläufe, wer Sie aus freiem Willen sind.
Neuroplastizität
Unser Ziel ist demnach, einen offenen Geist zu entwickeln, außerhalb der Schublade zu denken, damit das Gehirn auf neue Weise aktiviert wird, wie Abbildung 3.7 veranschaulicht. Sooft wir unser Gehirn dazu bringen, anders zu funktionieren, denken wir im wahrsten Sinn des Wortes um. Wie Forschungen aufgezeigt haben, wächst das Gehirn durch Nutzung und verändert sich – dank der sogenannten Neuroplastizität, der Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit des Gehirns. Je länger ein Mathematiker beispielsweise Mathematik studiert, desto mehr Nervenverästelungen sprießen im dafür zuständigen Gehirnareal.4 Und professionelle Musiker, die seit Jahren im Orchester spielen, vergrößern die Teile des Gehirns, die mit Sprache und Musikalität assoziiert werden.5
Abb. 3.7. Beim Erlernen von Neuem und beim Aufkommen neuer Gedanken feuert das Gehirn in neuen Sequenzen, Mustern und Kombinationen. Viele unterschiedliche neuronale Netze werden auf andere Weise aktiviert. Und immer wenn das Gehirn anders arbeitet, verändert sich auch der Geist. Da wir über unsere Schubladen hinausdenken, führen nun neue Gedanken zu neuen Wahlmöglichkeiten, neuen Verhaltensweisen, neuen Erfahrungen und neuen Emotionen. Damit verändert sich auch unsere Identität.
Neuroplastizität funktioniert wissenschaftlich ausgedrückt durch Pruning (»Ausdünnung«) und Sprouting (»Aussprossung«). Diese Begriffe bedeuten genau das, wonach sie klingen: Es geht darum, neuronale Verbindungen, Muster und Schaltkreise zu eliminieren und neue aufzubauen. In einem gut funktionierenden Gehirn läuft dieser Prozess in Sekundenschnelle ab.
Forscher der Universität von Kalifornien in Berkeley haben das in einer Studie an Laborratten demonstriert. Wie sie herausfanden, verfügen Ratten, die in einem reichen Umfeld leben (gemeinsamer Käfig mit Geschwistern und Nachkommen, viele unterschiedliche Spielsachen), über größere Gehirne mit mehr Neuronen und mehr Verbindungen zwischen diesen Neuronen als Ratten in weniger gut ausgestatteten Umgebungen.6 Wieder einmal wird klar: Indem wir Neues lernen und neue Erfahrungen machen, verändern wir buchstäblich unser Gehirn.
Die Befreiung aus fest verschalteten, das alte Ich fortschreibenden Programmketten und Konditionierungen erfordert ziemlich viel Mühe, aber auch Wissen. Wer wesentliche neue Informationen über sich oder sein Leben erfährt, stickt ein ganz neues Muster in die dreidimensionale Stickarbeit seiner grauen Zellen. Damit steht mehr Rohmaterial zur Verfügung, um das Gehirn auf neue und andere Weise arbeiten zu lassen. Wir können das Leben aus der Perspektive eines neuen Geistes, eines neuen »Ichs« wahrnehmen und so ein anderes Bild der Wirklichkeit entwickeln.
Den Fluss des Wandels durchqueren
Um uns zu verändern, müssen wir uns daher unseres unbewussten Selbst bewusst werden (welches, wie wir inzwischen wissen, einfach aus fest verschalteten Programmierungen besteht). Nicht dieselben Entscheidungen zu treffen wie tags zuvor ist eine der schwierigsten Veränderungen, weil wir sofort ein ungutes Gefühl haben, wenn wir nicht mehr die gleichen Gedanken denken, die uns zu denselben Entscheidungen führen, woraufhin wir automatisch wie gewohnt agieren, damit wir immer wieder das Gleiche erleben und die immer wieder gleichen Emotionen unsere Identität bekräftigen. Dieser neue Seinszustand ist unvertraut, weil er uns unbekannt ist. Er fühlt sich nicht »normal« an. Wir haben das Gefühl, wir seien nicht mehr wir selbst – eben weil wir nicht mehr wir selbst sind. Weil sich alles ungewiss anfühlt, können wir nicht mehr das Gefühl des vertrauten Ichs voraussehen, ebenso wenig, wie es sich in unserem Leben spiegelt.
Doch trotz allen Unbehagens ist dies genau der Moment, in dem wir wissen, dass wir in den Fluss des Wandels gestiegen sind. Wir haben unbekanntes Terrain betreten. Sobald wir nicht mehr unser altes Ich sind, müssen wir die Kluft zwischen dem alten und dem neuen Ich überqueren, die in Abbildung 3.8 deutlich zu erkennen ist. Oder anders ausgedrückt: Wir können nicht einfach mal flott im Walzerschritt in eine neue Persönlichkeit hineintanzen. Es braucht seine Zeit.
Abb. 3.8. Um den Fluss des Wandels zu durchqueren, müssen wir unser immer gleiches, vertrautes und berechenbares Ich aufgeben, das mit den immer gleichen Gedanken, Entscheidungen, Verhaltensweisen und Gefühlen zu tun hat, und in eine Leere bzw. in das Unbekannte eintreten. Die Kluft zwischen dem alten und dem neuen Ich ist der Tod der alten Persönlichkeit. Wenn wir das alte Ich zurücklassen, müssen wir ein neues Ich kreieren – mit neuen Gedanken, neuen Wahlmöglichkeiten, neuen Verhaltensweisen und neuen Emotionen. Das Eintreten in diesen Fluss ist der Schritt hin zu einem neuen, unberechenbaren, unvertrauten Ich. Das Unbekannte ist der einzige Ort, wo wir etwas kreieren können – aus Bekanntem kann man nichts Neues erschaffen.
Wenn Menschen in den Fluss des Wandels treten, ist die Leere zwischen dem alten und dem neuen Ich so unangenehm, dass sie auf der Stelle zurück in ihr altes Ich schlüpfen. Unbewusst denken sie: »Das fühlt sich nicht richtig an, ich fühle mich unwohl«, oder: »Ich fühle mich nicht gut damit.« Sobald sie diesen Gedanken bzw. diese Autosuggestion akzeptieren, treffen sie unbewusst wieder die alten Entscheidungen, wodurch sie auch wieder in ihre alten, gewohnten Verhaltensweisen verfallen und dadurch dieselben Erfahrungen kreieren, die automatisch die alten Emotionen und Gefühle bekräftigen. Dann sagen sie sich: »Das fühlt sich richtig an«, und meinen doch eigentlich: Das fühlt sich vertraut an.
Sobald wir das unangenehme Gefühl beim Durchqueren des Flusses des Wandels als den biologischen, neurologischen, chemischen und sogar genetischen Tod des alten Ichs erkennen, haben wir Macht über den Wandel und können den Blick auf das andere Flussufer richten. Akzeptieren wir, dass dieser Wandel die fest verschalteten Schaltkreise unserer jahrelangen unbewussten und immer selben Gedanken strukturell verändert, können wir besser damit umgehen. Wenn wir verstehen, dass das unangenehme Gefühl mit dem Abbau alter Einstellungen, Überzeugungen und Wahrnehmungen einhergeht, die immer wieder unserer Gehirnarchitektur eingeätzt wurden, können wir es aushalten. Leuchtet es uns ein, dass das Verlangen, gegen das wir mitten im Wandel ankämpfen, tatsächlich ein Entzug von den chemisch-emotionalen Süchten des Körpers ist, können wir es durchstehen.
In dem Wissen um echte biologische Veränderungen unbewusster Gewohnheiten und Verhaltensweisen können wir weitermachen. Und wenn wir uns daran erinnern, dass wir unsere Gene aus diesem Leben und aus unzähligen früheren Generationen modifizieren, bleiben wir dran und bis zum Ende inspiriert dabei.
Diese Erfahrung wird auch als dunkle Nacht der Seele bezeichnet. Es ist der Phönix, der sich selbst entzündet und zu Asche verbrennt. Das alte Ich muss sterben, damit ein neues Ich wiedergeboren werden kann. Natürlich fühlt sich das unangenehm an!
Aber das ist in Ordnung, denn das Unbekannte ist der perfekte Ort, um etwas zu erschaffen – der Ort voller Möglichkeiten. Was könnte es Besseres geben? Fast alle Menschen sind darauf konditioniert worden, vor dem Unbekannten davonzulaufen, und jetzt müssen wir lernen, uns in der Leere, im Unbekannten wohlzufühlen, anstatt davor Angst zu haben.
Vielleicht denken Sie jetzt, Sie mögen diese Leere nicht, denn die Orientierung geht Ihnen darin verloren und Sie sehen nicht, was vor Ihnen liegt; Sie können Ihre Zukunft nicht (mehr) vorhersehen. Doch meiner Ansicht nach ist genau das großartig, denn die Zukunft lässt sich am besten vorhersagen, indem wir sie kreieren – nicht aus dem Bekannten, sondern aus dem Unbekannten.
Um das neue Ich hervorzubringen, brauchen wir eine andere Biologie. Neue neuronale Verbindungen müssen sprießen oder versiegelt werden, und zwar durch die bewusste Entscheidung, Tag für Tag neue Gedanken zu hegen und anders zu handeln. Diese neuen Verbindungen müssen durch das ständige, wiederholte Kreieren derselben Erfahrungen gestärkt werden, bis sie zu einer Gewohnheit werden. Durch die Emotionen genügend vieler neuer Erfahrungen müssen wir uns mit neuen chemischen Zuständen vertraut machen. Neuen Genen müssen Signale gesandt werden, um neue Proteine zu produzieren und dadurch unseren Seinszustand auf neuartige Weise zu definieren. Wenn, wie wir gesehen haben, die Proteinexpression der Ausdruck des Lebens ist und dieser wiederum der Gesundheit des Körpers entspricht, dann führt all dies zu einer neuen Ebene struktureller und funktionaler Gesundheit und Lebendigkeit. Ein erneuerter Geist und ein erneuerter Körper entwickeln sich.
Wenn dann nach der langen Nacht voller Dunkelheit ein neuer Tag anbricht und der Phönix erneuert aus der Asche steigt, haben wir ein neues Ich erfunden. Die physische, biologische Expression des neuen Ichs wird im wahrsten Sinn des Wortes zu einer anderen Person. Das ist wahre Metamorphose.
Die Kontrolle durch die Umwelt überwinden
Man könnte auch sagen, das Gehirn spiegelt alles wider, was wir wissen und erlebt haben. Aus dieser Sicht wird verständlich, warum jede Interaktion mit der Außenwelt dazu beigetragen hat, Ihr heutiges Ich zu formen. Die komplexen neuronalen Netze, die während Ihrer gesamten Lebenszeit auf der Erde gleichzeitig aktiv waren und aufeinander reagierten, haben Billionen von Verbindungen aufgebaut, weil Sie dazugelernt und Erinnerungen gebildet haben. Da jede Stelle, an der ein Neuron sich mit einem anderen Neuron verbindet, als »Erinnerung« bezeichnet wird, ist Ihr Gehirn eine lebende Aufzeichnung Ihrer Vergangenheit. Die unglaublich vielen Erfahrungen mit allem und jedem zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten in der Außenwelt wurden in die Verwinkelungen Ihrer grauen Substanz eingeprägt.
Die meisten Menschen denken also von Natur aus in der Vergangenheit, denn wir benutzen die Hardware und die Softwareprogramme unserer Erinnerungen an die Vergangenheit. Wenn wir dann Tag für Tag das gleiche Leben leben, immer wieder das Gleiche tun, dieselben Menschen am selben Ort treffen und aus dem Gestern die gleichen Erfahrungen kreieren, dann ist unsere Innenwelt den Einflüssen unserer Außenwelt ausgeliefert. Unser äußeres Umfeld kontrolliert, wie wir denken, handeln und fühlen. Wir sind die Opfer unserer persönlichen Realität, denn unsere persönliche Realität erzeugt unsere Persönlichkeit – und das ganz unbewusst. Dadurch verstärken sich wiederum dieselben Gedanken und Gefühle. Unsere Außenwelt und unsere Innenwelt passen jetzt zusammen und tanzen ein Tänzchen; sie verschmelzen und gleichen sich an – ebenso wie wir uns immer gleichen.
Wenn unsere Umwelt steuert, wie wir tagtäglich denken und fühlen, dann erfordert Veränderung, dass etwas an uns oder in unserem Leben stärker ist als die gegenwärtigen äußeren Umstände.
Denken und Fühlen, Fühlen und Denken
So wie Gedanken die Sprache des Gehirns sind, sind Gefühle die Sprache des Körpers. Wie wir denken und fühlen, erzeugt einen Seinszustand bzw. eine Befindlichkeit. Seinszustand bedeutet, dass Geist und Körper zusammenarbeiten. Ihr derzeitiger Seinszustand ist also Ihre echte Geist-Körper-Verbindung.
Jedes Mal, wenn ein Gedanke hochkommt, erzeugt das Gehirn nicht nur Neurotransmitter, sondern produziert noch eine weitere Substanz – ein kleines Protein, ein Neuropeptid, welches als Botenstoff fungiert und eine Botschaft an den Körper schickt. Der Körper reagiert darauf mit einem Gefühl. Das Gehirn bemerkt dieses Gefühl des Körpers und erzeugt daraufhin einen weiteren Gedanken, der genau zu diesem Gefühl passt und noch mehr von denselben chemischen Botschaften erzeugt, die uns das denken lassen, was wir gerade fühlen.
Denken erzeugt also Gefühle, und Gefühle erzeugen daraufhin wiederum Gedanken, die diesen Gefühlen entsprechen – wie in einer Schleife (die bei den meisten Menschen jahrelang immer weitergeht). Und weil das Gehirn aufgrund der Gefühle des Körpers immer wieder die gleichen Gedanken erzeugt, welche Signale zur Produktion der gleichen Emotionen schicken, führen wiederkehrende Gedanken offensichtlich zu einem fest vernetzten neuronalen Schaltmuster.
Doch was passiert im Körper? Da Gefühle der Modus operandi des Körpers sind, konditionieren die aufgrund automatischer Gedanken ständig gefühlten Emotionen den Körper darauf, diese Emotionen, die dem unbewussten, fest vernetzten Geist und Gehirn entsprechen, zu verinnerlichen. Das heißt, der bewusste Geist verliert die Kontrolle, und der Körper wird auf sehr reale Weise unterbewusst programmiert, eigenständig zu arbeiten und gewissermaßen einen eigenen Geist auszubilden.
Ist diese Denk- und Gefühlsschleife dann lange genug gelaufen, verinnerlicht der Körper die vom Gehirn signalisierten Emotionen. Der vielfach wiederholte Kreislauf wird zu einer festen, tief verwurzelten Einrichtung, die einen vertrauten Seinszustand erzeugt – auf Basis alter, immer wieder recycelter Informationen. Diese Emotionen sind nichts weiter als die chemischen Aufzeichnungen vergangener Erfahrungen; sie treiben unsere Gedanken und werden immer wieder von vorn abgespielt. Solange das so weitergeht, leben wir in der Vergangenheit. Kein Wunder, dass es uns so schwerfällt, unsere Zukunft zu verändern!
Wenn die Neuronen immer wieder auf dieselbe Weise feuern, regen sie die Ausschüttung der immer selben chemischen Neurotransmitter und Neuropeptide in Gehirn und Körper an, die den Körper darauf trainieren, weiterhin diese Emotionen zu verinnerlichen, indem sie ihn erneut verändern. Die Zellen und Gewebe empfangen diese spezifischen chemischen Signale an bestimmten Rezeptorstellen; das sind sozusagen die Stationen, an denen die chemischen Botenstoffe andocken. Diese Botenstoffe passen ganz genau zur jeweiligen Rezeptorstelle, so wie bei einem Puzzle bestimmte Formen in die jeweiligen Lücken passen.
Man kann sich diese chemischen Botenstoffe, die eigentlich Emotionsmoleküle sind, als Träger von Strichcodes vorstellen, durch welche die Zellrezeptoren die elektromagnetische Energie der Botenstoffe lesen können. Wenn es einen genauen Treffer gibt, bereitet sich die Rezeptorstelle vor. Der Botenstoff dockt an, die Zelle empfängt die chemischen Botschaften und erzeugt oder ändert daraufhin ein Protein. Das neue Protein aktiviert die Zell-DNA im Zellkern. Die DNA wickelt sich auf, das Gen für das entsprechende Signal von außerhalb der Zelle wird eingelesen, und die Zelle stellt aus ihrer DNA ein neues Protein her (zum Beispiel ein bestimmtes Hormon) und gibt es in den Körper ab.
So wird der Körper vom Geist trainiert. Wenn dies jahrelang geschieht, weil immer wieder die gleichen Signale von außerhalb der Zelle von derselben mentalen Ebene geschickt werden (weil die Person jeden Tag das Gleiche denkt, macht und fühlt), dann werden logischerweise auch immer wieder dieselben Gene auf dieselbe Weise aktiviert, denn der Körper empfängt die gleichen Daten aus der Umwelt. Es werden keine neuen Gedanken entzündet, keine neuen Entscheidungen getroffen, keine neuen Verhaltensweisen an den Tag gelegt, keine neuen Erfahrungen angenommen und keine neuen Gefühle erzeugt. Werden dieselben Gene immer wieder mit den gleichen Informationen aus dem Gehirn aktiviert und ausgewählt, dann nutzen sie sich, ähnlich wie die Gangschaltung im Auto, mit der Zeit ab. Der Körper produziert Proteine mit schwächeren Strukturen und weniger Funktionen. Wir werden krank und alt.
Im Laufe der Zeit entwickelt sich eines von zwei Szenarien: Die Intelligenz der Zellmembran, die beständig die gleichen Informationen empfängt, kann sich an die Bedürfnisse des Körpers anpassen und modifiziert ihre Rezeptorstellen, um mehr von diesen chemischen Substanzen andocken zu lassen. Sie erzeugt im Prinzip mehr Dockingstationen, um der Nachfrage Herr zu werden – so wie im Supermarkt eine weitere Kasse aufgemacht wird, wenn die Schlangen zu lang werden. Läuft das Geschäft weiterhin gut (strömen also die gleichen chemischen Stoffe herein), muss man zusätzliche Arbeitskräfte einstellen und Kassen aufmachen. Dann hat der Körper seinen eigenen Geist entwickelt.
Das zweite Szenario sieht so aus: Die Zelle wird durch die ständige Bombardierung mit Gefühlen und Emotionen überlastet und schafft es nicht mehr, diese ganzen chemischen Botenstoffe andocken zu lassen. Diese ständig nachproduzierten Substanzen hängen jetzt mehr oder weniger Tag für Tag vor den (geschlossenen) Türen der Docking-Station der Zelle herum. Die Zelle gewöhnt sich daran und ist nur noch bereit, ihre Türen zu öffnen, wenn das Gehirn sehr viel stärkere Emotionen produziert. Durch intensivere Emotionen wird die Zelle stimuliert, die Türen der Docking-Station wieder aufzumachen, sich wieder einzuschalten (mehr über die Bedeutung von Emotionen später – sie sind ein wesentlicher Teil der Placebo-Gleichung).
Im ersten Szenario, wo die Zelle neue Rezeptorstellen produziert, verlangt der Körper nach diesen bestimmten chemischen Substanzen, wenn vom Gehirn nicht genügend produziert werden. Dann beherrschen unsere Gefühle unsere Gedanken – der Körper kontrolliert den Geist. Das meine ich, wenn ich davon spreche, dass der Körper die Emotion erinnert bzw. verinnerlicht. Er wurde biologisch darauf konditioniert und ist dadurch ein Spiegel des Geistes geworden.
Im zweiten Szenario wird die Zelle vom Ansturm der chemischen Stoffe überwältigt, und die Rezeptoren werden desensibilisiert. Der Körper fordert daraufhin wie ein Drogensüchtiger einen höheren chemischen Kitzel, um die Zelle einzuschalten. Anders ausgedrückt: Wir müssen ärgerlicher, besorgter, schuldiger und verwirrter werden als das letzte Mal, damit der Körper stimuliert wird. Dann brechen wir vielleicht ein kleines Drama vom Zaun oder schreien grundlos den Hund an, einfach damit der Körper seine Lieblingsdroge bekommt. Oder jemand kann es einfach nicht lassen und erzählt immer wieder, wie sehr er seine Schwiegermutter verachtet, damit der Körper mit noch mehr starken Substanzen die Zelle erregen kann. Oder wir beschäftigen uns obsessiv mit einem ganz furchtbaren, jedoch eingebildeten Ereignis, damit der Körper von Adrenalin überschwemmt wird. Wenn die emotionalen chemischen Bedürfnisse des Körpers nicht befriedigt werden, fordert er vom Gehirn, noch mehr von diesen Substanzen zu produzieren – der Körper kontrolliert das Gehirn. Für mich klingt das nach einer Sucht, weshalb ich in diesem Zusammenhang oft von emotionaler Sucht spreche.
Wenn Gefühle derart unser Denken bestimmen, wenn wir nicht über unsere Gefühle hinausdenken können, dann stecken wir im Programm. Wir denken, was wir fühlen, und wir fühlen, was wir denken. Gedanken und Gefühle verschmelzen – man könnte sagen, wir »dühlen« und »fenken«. Wir sitzen in dieser Schleife fest, und der Körper – als unbewusster Geist – glaubt tatsächlich, er durchlebe dieselbe vergangene Erfahrung rund um die Uhr immer wieder – 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Geist und Körper sind eins, ausgerichtet auf ein von unseren unbewussten Programmierungen bestimmtes Schicksal. Um etwas zu verändern, müssen wir also über den Körper und all seine emotionalen Erinnerungen, Süchte und unbewussten Gewohnheiten hinauswachsen – das heißt, uns nicht länger über den Körper, der der Geist ist, definieren lassen.
Das ständige Wiederholen des Kreislaufs aus Denken und Fühlen und dann Fühlen und Denken ist der Konditionierungsprozess des Körpers, den der bewusste Geist liefert. Sobald der Körper zum Geist geworden ist, nennt man das eine »Gewohnheit« – eine Gewohnheit bedeutet: Der Körper ist der Geist.
Im Alter von 35 Jahren besteht unser Ich zu 95 Prozent aus verinnerlichten Verhaltensweisen, Fähigkeiten, emotionalen Reaktionen, Überzeugungen, Wahrnehmungen und Einstellungen, die wie ein unterbewusstes, automatisch ablaufendes Computerprogramm funktionieren.
Unser Ich besteht also zu 95 Prozent aus einem unterbewussten oder sogar unbewussten Seinszustand. Damit arbeiten 5 Prozent bewusster Geist gegen 95 Prozent unterbewusste Erinnerungen an. Da können wir noch so positiv denken – die 5 Prozent bewusster Geist haben das Gefühl, sie schwimmen gegen den Strom der restlichen 95 Prozent des Geistes, der unbewussten Körperchemie, die alles verinnerlicht und erinnert hat, was wir in den vergangenen 35 Jahren an Negativem in uns aufgenommen haben. Geist und Körper arbeiten dabei gegeneinander. Kein Wunder, dass wir im Kampf gegen diese Strömung nicht sehr weit kommen!
Deshalb nannte ich mein letztes Buch »Ein neues Ich – Wie Sie Ihre gewohnte Persönlichkeit in vier Wochen wandeln können«; denn das ist die stärkste Gewohnheit, mit der wir brechen müssen: ständig so zu denken, zu fühlen und sich zu verhalten, dass die unbewussten Programmierungen, die ein Spiegel unserer Persönlichkeit und unserer persönlichen Realität sind, verstärkt werden. Wir können keine neue Zukunft kreieren, solange wir uns an die Emotionen der Vergangenheit klammern. Das ist einfach unmöglich.
So werden Sie zum Placebo
Mit einem Beispiel wollen wir das jetzt alles zusammenbringen. Ich wähle bewusst etwas Negatives aus, denn solche Ereignisse halten uns in unseren Grenzen, während erfolgreiche, stärkende und erhebende Geschehnisse uns meist dabei unterstützen, eine bessere Zukunft zu erschaffen (dieser Prozess wird schon bald klarer werden).
Stellen Sie sich vor, Sie hatten in der Vergangenheit ein schreckliches Erlebnis, als Sie öffentlich eine Rede halten sollten; das hat bei Ihnen emotionale Narben hinterlassen (Sie können sich nach Belieben ein anderes verletzendes Ereignis vorstellen). Wegen dieser Erfahrung haben Sie Angst davor, sich vor andere Leute zu stellen und etwas zu sagen. Sie fühlen sich unsicher, ängstlich und alles andere als selbstbewusst. Schon beim Gedanken daran, in einen Besprechungsraum auf 20 Leute zu blicken, schnürt sich Ihnen die Kehle zu, Sie haben einen Knoten im Bauch, und Ihr Gehirn und Denken ist wie festgefroren.
All diese Reaktionen unterliegen dem Hoheitsbereich Ihres autonomen Nervensystems, welches unbewusst funktioniert, also unterhalb des Radars Ihrer bewussten Kontrolle. Autonom bedeutet automatisch – dieser Teil des Nervensystems reguliert die Verdauung, das Hormonsystem, den Blutkreislauf, die Körpertemperatur etc., ohne dass Sie das bewusst steuern könnten. Sie können nicht beschließen, Ihren Herzschlag oder den Blutfluss in die Extremitäten zu verändern, Gesicht und Nacken zu erhitzen, den Stoffwechsel andere Verdauungsenzyme ausschütten zu lassen oder Millionen Nervenzellen abzuschalten, damit sie nicht mehr auf Befehl losfeuern. Man kann noch sosehr probieren, eine dieser Funktionen bewusst zu verändern – höchstwahrscheinlich klappt das nicht.
Ihr Körper verändert die Physiologie des autonomen Nervensystems nur, weil Sie den Gedanken an eine Zukunft, in der Sie vor Zuhörern eine Präsentation halten, mit der emotionalen Erinnerung an die Vergangenheit assoziieren, als das Sprechen vor Publikum schieflief. Wenn dieser Gedanke an eine mögliche Zukunft ständig mit Gefühlen der Vergangenheit wie Angst, Versagen, Peinlichkeit assoziiert wird, konditioniert der Geist den Körper nach und nach darauf, automatisch mit diesen Gefühlen zu reagieren. So geraten wir ständig von Neuem in uns vertraute Seinszustände – unsere Gedanken und Gefühle werden eins mit der Vergangenheit.
Jetzt wollen wir uns anschauen, wie das im Gehirn abläuft. Erfahrungen bauen bekanntermaßen den Erregungskreislauf im Gehirn aus. Ein neurologisch als Erinnerung eingeprägtes Ereignis hinterlässt also physisch im Gehirn sozusagen einen Fußabdruck und wird fest vernetzt. In der Folge können Sie in Gedanken Ihre Schritte nachvollziehen und die negative Erfahrung beim Sprechen vor Publikum aufrufen. War die Erfahrung emotional stark genug aufgeladen, können Sie sich auch emotional an die ganzen Gefühle erinnern, die mit Ihrem Versagen als Redner verbunden waren. Sie haben sich durch die Erfahrung offenbar chemisch verändert.
Gefühle und Emotionen sind die Endprodukte vergangener Erfahrungen. Wenn uns eine Erfahrung einnimmt, erfassen unsere Sinne dieses Ereignis und melden die wichtigen Informationen über fünf verschiedene sensorische Kanäle zurück ans Gehirn. Wenn diese neuen Daten im Gehirn ankommen, rotten sich Nervenzellen zusammen und organisieren sich in neuen neuronalen Netzen, die dieses neue äußere Ereignis widerspiegeln. Sobald diese Schaltkreise sich zusammenfinden, erzeugt das Gehirn einen chemischen Stoff, um dem Körper zu signalisieren, seine Physiologie zu verändern. Diesen chemischen Stoff nennt man ein Gefühl oder eine Emotion. Wir können uns also an vergangene Ereignisse erinnern, weil wir uns daran erinnern, wie es sich angefühlt hat.
Als damals Ihr Vortag schieflief, veränderten die Informationen, die Ihre fünf Sinne aus Ihrem äußeren Umfeld aufnahmen, Ihre inneren Gefühle. Die von Ihren Sinnen verarbeiteten Informationen (der Anblick der Gesichter im Publikum, die Größe des Zimmers, die hellen Lampen über Ihrem Kopf, das Echo der Mikrofone und die ohrenbetäubende Stille nach Ihrem ersten kläglichen Scherz; der Anstieg der Temperatur im Raum, sobald Sie zu reden anfingen; der Geruch Ihres alten Eau de Cologne, den Ihr Schweiß verströmte) – all das veränderte Ihren inneren Seinszustand. Indem Sie dieses bestimmte Ereignis in Ihrer äußeren Welt der Sinne (die Ursache) mit den in Ihrer inneren Welt der Gedanken und Gefühle ablaufenden Veränderungen (der Wirkung) in Verbindung brachten, erzeugten Sie eine Erinnerung. Sie assoziierten die Ursache mit einer Wirkung – und damit begann Ihr Konditionierungsprozess.
Nach der selbst verschuldeten Folter dieses Tages – zum Glück wurden Sie wenigstens nicht mit vergammeltem Grünzeug beworfen – fuhren Sie heim. Auf der Fahrt dachten Sie immer wieder an diesen Vorfall. Und bei jedem Erinnern bzw. Ins-Gedächtnis-Rufen, also dem Wiederheraufbeschwören derselben Geisteshaltung, produzierten Sie mal mehr, mal weniger dieselben chemischen Veränderungen im Gehirn und im Körper. In gewissem Sinne haben Sie dadurch immer wieder die Vergangenheit erneut bestätigt und damit die Konditionierung verstärkt.
Ihr Körper agierte als Ihr unbewusster Geist und konnte deshalb nicht zwischen dem tatsächlichen Ereignis, welches den emotionalen Zustand herbeiführte, und den von Ihnen im Nachhinein gedanklich erzeugten Emotionen unterscheiden. Der Körper meinte, er würde dieselbe Erfahrung immer wieder von Neuem durchleben, obwohl Sie in Wirklichkeit allein gemütlich im Auto saßen. Der Körper reagierte physiologisch, als würden Sie diese Erfahrung tatsächlich in der Gegenwart noch einmal durchleben. Sie haben dabei die Schaltkreise im Gehirn aktiviert und miteinander vernetzt, die aus durch diese Erfahrung entstandenen Gedanken erzeugt wurden, und dadurch im Körper die synaptischen Verbindungen aufrechterhalten und in diesen Netzen sogar noch dauerhaftere Verbindungen aufgebaut: Sie haben eine Langzeiterinnerung erzeugt.
Zu Hause angekommen, erzählten Sie Ihrem Partner bzw. Ihrer Partnerin, Ihren Freunden und vielleicht auch Ihrer Mutter davon, und beim Erzählen all der schmerzlichen Einzelheiten dieses Traumas regten Sie sich emotional total auf. Sie durchlebten erneut die mit diesem Ereignis verbundenen Emotionen und konditionierten Ihren Körper dadurch chemisch auf das vergangene Ereignis dieses Tages und trainierten ihn physiologisch dazu, zu Ihrer persönlichen Geschichte zu werden – unterbewusst, unbewusst und automatisch. Die Tage danach waren Sie launisch, was auch den anderen auffiel; und sooft Sie gefragt wurden, was denn mit Ihnen los sei, konnten Sie einfach nicht widerstehen und ergriffen die Gelegenheit beim Schopf, Ihre Sucht nach den chemischen Stoffen der Vergangenheit noch zu verstärken. Die Befindlichkeit, die aufgrund dieser Erfahrung entstand, war einfach eine einzige, tagelange emotionale Reaktion. Aus den Wochen, in denen Sie bei jeder Erinnerung daran immer wieder dieselben Gefühle spürten, wurden Monate oder sogar Jahre; die emotionale Reaktion wurde also weiter verlängert. Inzwischen ist sie nicht nur ein Teil Ihres Temperaments, Charakters und Ihrer Natur, sondern auch Ihrer Persönlichkeit. Sie sind zu diesen Emotionen geworden.
Werden Sie nun gebeten, erneut vor einer Gruppe zu sprechen, schrecken Sie davor zurück und werden ängstlich. Ihr äußeres Umfeld (die Situation) kontrolliert Ihr Inneres (Ihre Reaktion), und Sie können nicht darüber hinauswachsen. Sie warten nur auf den Gedanken, dass Ihre Zukunft (vor Publikum zu sprechen) Ihrem Gefühl in der Vergangenheit ähneln wird (eine unerträgliche Qual), und schon reagiert Ihr Körper automatisch und unterbewusst wie durch Zauberhand. Sie können machen, was Sie wollen – Ihr bewusster Geist schafft es scheinbar nicht, die Kontrolle zu übernehmen. In Sekundenschnelle treten Unmengen konditionierter Reaktionen aus der körperlichen und geistigen Apotheke in Aktion: starkes Schwitzen, ein trockener Mund, weiche Knie, Übelkeit, Schwindel, Kurzatmigkeit und unkontrollierbare Erschöpfung – alles nur wegen eines einzigen Gedankens, der die Physiologie verändert. Also für mich hört sich das sehr nach einem Placebo an.
Wenn Sie könnten, würden Sie die Gelegenheit, als Sprecher aufzutreten, ablehnen und zum Beispiel sagen: »Ich bin unfähig, vor Publikum zu sprechen«, »Ich bin unsicher, wenn ich vor vielen Leuten stehe«, »Ich bin nicht gut im Präsentieren«, oder: »Ich bin zu ängstlich, um öffentlich aufzutreten.« Und sooft Sie sagen: »Ich bin …« (hier können Sie Ihre eigenen Aussagen einfügen), erklären Sie eigentlich, dass Ihr Geist und Ihr Körper auf eine bestimmte Zukunft ausgerichtet sind bzw. dass Ihre Gedanken und Gefühle eins sind mit Ihrem Schicksal. Sie verstärken dadurch einen erinnerten und verinnerlichten Seinszustand. Wenn jemand Sie dann zufällig fragen würde, warum Sie so sind, wie Sie sind, würden Sie sicher eine Geschichte erzählen, die zu Ihren vergangenen Erinnerungen und Emotionen passt – und sich damit wieder darin bestärken, so zu sein. Wahrscheinlich würden Sie die Geschichte sogar noch ein wenig aufpolieren.
Auf einer biologischen Ebene erklären Sie dadurch eigentlich, dass Sie physisch, chemisch und emotional durch dieses Jahre zurückliegende Ereignis verändert wurden und seitdem gleich geblieben sind; Sie haben sich dafür entschieden, sich über Ihre Grenzen und Beschränkungen zu definieren.
In diesem Beispiel sind Sie sozusagen von Ihrem Körper versklavt worden (denn er ist zum steuernden Geist geworden). Sie sind in die Falle Ihrer äußeren Umstände getappt (denn die Erfahrung mit Menschen und Dingen an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt beeinflusst Ihr Denken, Handeln und Fühlen), und Sie haben sich in der Zeit verirrt (denn Sie leben in der Vergangenheit und nehmen die Zukunft vorweg, und dadurch sind Geist und Körper nie im gegenwärtigen Moment präsent). Um Ihren derzeitigen Seinszustand zu verändern, müssten Sie also über diese drei Elemente hinauswachsen: Ihren Körper, Ihr Umfeld und die Zeit.
Denken Sie jetzt einmal an den Anfang des Kapitels zurück; dort hieß es, das Placebo entsteht aus drei Elementen: Konditionierung, Erwartung und Bedeutung. Nun erkennen Sie, dass Sie Ihr eigenes Placebo sind. Warum? Weil alle drei Elemente ins Spiel kommen – wie das vorher beschriebene Beispiel zeigt.
Erstens: Wie ein talentierter Tiertrainer haben Sie Ihren Körper auf einen unterbewussten Seinszustand konditioniert, in dem Geist und Körper eins sind – Ihre Gedanken und Gefühle sind miteinander verschmolzen –, und Ihr Körper ist nun nur durch Gedanken darauf programmiert, automatisch, biologisch und physiologisch wie der Geist zu wirken. Jedes Mal, wenn Sie auf einen äußeren Reiz stoßen – zum Beispiel die Möglichkeit, als Lehrer tätig zu sein –, reagiert Ihr von Ihnen konditionierter Körper wie die von Pawlow konditionierten Hunde unterbewusst und automatisch auf den Geist dieser vergangenen Erfahrung.
Wie fast alle Placebo-Studien aufgezeigt haben, kann ein einziger Gedanke das autonome Nervensystem des Körpers aktivieren und erhebliche physiologische Veränderungen hervorrufen; wir steuern unsere innere Welt einfach durch das Assoziieren eines Gedankens mit einer Emotion. Alle unterbewussten, autonomen Systeme werden durch die mit der Angst verbundenen vertrauten Gefühle und körperlichen Empfindungen verstärkt – und das spiegelt sich in der Biologie perfekt wider.
Zweitens: Wenn Ihre Erwartung so aussieht, dass Ihre Zukunft wie Ihre Vergangenheit sein wird, dann denken Sie nicht nur in der Vergangenheit, sondern wählen für sich auch eine bekannte Zukunft, die ausschließlich auf Ihrer Vergangenheit beruht, und nehmen das Ereignis emotional an, bis der Körper (als der unbewusste Geist) meint, er lebe im gegenwärtigen Moment in dieser Zukunft. Ihre ganze Aufmerksamkeit ist auf eine bekannte, vorhersehbare Realität gerichtet, wodurch Sie neue Wahlmöglichkeiten, Verhaltensweisen, Erfahrungen und Emotionen einschränken. Sie klammern sich an die Vergangenheit und sagen sich dadurch unbewusst Ihre Zukunft voraus.
Drittens: Indem Sie einer Handlung Bedeutung bzw. bewusste Absicht zuweisen, wird das Ergebnis verstärkt. Das, was Sie sich tagtäglich sagen (in diesem Beispiel, Sie seien kein guter Sprecher, und Reden vor Publikum rufe bei Ihnen Panik hervor), hat für Sie Bedeutung. Sie sind empfänglich für Ihre eigenen Autosuggestionen geworden. Und wenn Ihr derzeitiges Wissen auf Ihren Schlussfolgerungen aus vergangenen Erfahrungen basiert, erzeugen Sie ohne neues Wissen immer wieder die Ergebnisse, die Ihrem Geist entsprechen. Verändern Sie die Bedeutung und Ihre Intention, dann verändern Sie auch die Ergebnisse – wie die Zimmermädchen aus der Studie im vorgehenden Kapitel.
Die Wahrheit ist also: Egal, ob Sie versucht haben, etwas zum Positiven zu verändern und in einen neuen Seinszustand zu kommen, oder auf Autopilot liefen und in Ihrem alten Zustand stecken geblieben sind – immer waren Sie selbst das Placebo.
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1. Vickers, People v. the State of Illusion, Regie S. Cervine (Phoenix, AZ: Exalt Films, 2012), Film; siehe auch Laboratory of Neuro Imaging, University of California, Los Angeles, http://www.loni.ucla.edu/About_Loni/education/brain_trivia.shtml.
2 L. R. Squire und E.R. Kandel, Memory: From Mind to Molecules (New York: Scientific American Library, 1999); siehe auch D. Church, The Genie in Your Genes: Epigenetic Medicine and the New Biology of Intention (Santa Rosa, CA: Elite Books, 2007), S. 94.
3 Auch bekannt als Hebb’sche Lernregel/Hebb’sches Gesetz; siehe D. O. Hebb, The Organization of Behavior: A Neuropsychological Theory (New York: John Wiley & Sons, 1949).
4 K. Aydin, A. Ucar, K. K. Oguz u.a., »Increased Gray Matter Density in the Parietal Cortex of Mathematicians: A Voxel-Based Morphometry Study«, American Journal of Neuroradiology, Bd. 28, Nr. 10: S. 1859–1864 (2007).
5 V. Sluming, T. Barrick, M. Howard u.a., »Voxel-Based Morphometry Reveals Increased Gray Matter Density in Broca’s Area in Male Symphony Orchestra Musicians«, NeuroImage, Bd. 17, Nr. 3: S. 1613– 1622 (2002).
6 M. R. Rosenzweig und E. L. Bennett, »Psychobiology of Plasticity: Effects of Training and Experience on Brain and Behavior«, Behavioural Brain Research, Bd. 78, Nr. 1: S. 57–65 (1996); E. L. Bennett, M. C. Diamond, D. Krech u.a., »Chemical and Anatomical Plasticity Brain«, Science, Bd. 146, Nr. 3644: S. 610–619 (1964).
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