6. Suggestibilität

Der 36-jährige Ivan Santiago stand zusammen mit ein paar Paparazzi geduldig an einer Straße in New York City hinter einer Samtkordel vor dem Personaleingang eines Vier-Sterne-Hotels in der Lower East Side. Sie warteten auf einen ausländischen Würdenträger, der demnächst aus dem Gebäude kommen und in eine der beiden wartenden Limousinen steigen würde. Doch Santiago hielt keine Kamera umklammert. In einer Hand hielt er einen brandneuen roten Rucksack, mit der anderen griff er in den teilweise offenen Rucksack und umfasste den Griff einer Pistole mit Schalldämpfer. Santiago, ein imposanter Vollzugsbeamter aus Pennsylvania, mit einer Glatze, auf die Vin Diesel stolz wäre, kannte sich mit tödlichen Waffen aus. Im Dienst hatte er noch nie auf jemanden schießen müssen, doch heute war er dazu bereit.

Wenige Augenblicke zuvor war Santiago einfach auf dem Nachhauseweg gewesen und hatte in keiner Weise an Waffen, Rucksäcke, ausländische Würdenträger oder Attentate gedacht. Doch jetzt stand er hier, den Finger am Abzug, die Augenbrauen finster zusammengezogen und bereit, in ein paar Sekunden zum Mörder zu werden. Die Hoteltür ging auf, und seine Zielperson kam herausgeschlendert, in einem frischen weißen Hemd, mit Sonnenbrille auf der Nase und einer ledernen Aktentasche in der Hand. Der Mann machte zwei oder drei Schritte auf die wartende Limousine zu; da riss Santiago seine Pistole aus dem Rucksack und feuerte dreimal. Der Mann fiel auf den Gehsteig und rührte sich nicht mehr. Auf dem Hemd breitete sich ein Blutfleck aus.

Nur Sekunden später tauchte aus dem Nichts ein Mann namens Tom Silver auf, legte Santiago ruhig die eine Hand auf die Schulter und die andere auf die Stirn und sagte: »Ich zähle bis fünf und sage dann: ›Vollkommen erfrischt.‹ Dann öffnest du die Augen und wachst auf. Eins, zwei, drei, vier, fünf! Vollkommen erfrischt!«

Santiago sollte unter Hypnose einen Fremden erschießen (in Wirklichkeit war es ein Stuntman), und zwar mit einer harmlosen Airsoft-Pistole aus der Requisite. Das Ganze war ein Experiment von ein paar Wissenschaftlern, die das Undenkbare testen wollten: War es wirklich möglich, einen gesetzestreuen, rundherum guten Menschen durch Hypnose so zu programmieren, dass er sich in einen kaltblütigen Attentäter verwandelte?1

In der Limousine saßen die Forscher, die mit Silver zusammenarbeiteten, die Augen völlig gefesselt auf die Szene gerichtet: Cynthia Meyersburg, Ph.D., damals Postdoktorandin an der Harvard-Universität mit Fachgebiet experimentelle Psychopathologie; Mark Stokes, Ph.D., ein Neurowissenschaftler aus Oxford, der die Nervenbahnen, die mit Entscheidungsfindung zu tun haben, erforscht; und Jeffery Kieliszewski, Ph.D., ein forensischer Psychologe bei Human Ressource Associates in Grand Rapids, Michigan, der in Hochsicherheitsgefängnissen und Krankenhäusern für kriminelle Geisteskranke gearbeitet hatte.

Tags zuvor hatten die Forscher mit einer Gruppe von 185 Freiwilligen begonnen. Silver (zertifizierter klinischer Hypnotherapeut und Experte für investigative forensische Hypnose, der unter anderem dem taiwanesischen Verteidigungsministerium dabei geholfen hatte, einen internationalen Waffenhändlerdeal zu sprengen, bei dem es um 2,4 Milliarden Dollar ging) testete deren Hypnosesuggestibilität; nur fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung sind für Hypnose sehr empfänglich. Von den Probanden bestanden 16 den Test und wurden einer psychologischen Evaluierung unterzogen, um diejenigen auszumustern, die von dem Experiment unter Umständen bleibende psychologische Schäden davontragen würden. Elf Probanden wurden dem nächsten Test unterzogen, um herauszufinden, ob sie unter Hypnose tiefsitzende soziale Normen aufgeben würden. So würde sich zeigen, wer am empfänglichsten war.

Die Probanden wurden dafür in kleinere Gruppen aufgeteilt und zum Mittagessen in ein ziemlich volles Restaurant geführt. Ihnen war ohne ihr Wissen die posthypnotische Suggestion eingegeben worden, sobald sie sich hinsetzten, würden sich ihre Stühle sehr heiß anfühlen und sie sich wegen der Hitze in kürzester Zeit bis auf die Unterwäsche ausziehen – mitten im vollen Restaurant. Die Probanden folgten den Anweisungen in unterschiedlichem Umfang. Die Forscher eliminierten weitere sieben Teilnehmer, die ihrem Gefühl nach entweder einfach nur mitspielten oder nicht suggestibel genug waren, um den Anweisungen Folge zu leisten. Die anderen zogen sich in Sekundenschnelle bis auf die Unterwäsche aus; sie dachten wirklich, ihre Stühle wären extrem heiß.

Die vier Probanden, die weiterkamen, wurden zu einem Test gebeten, den kaum jemand fälschen konnte. Sie sollten in eine tiefe metallene Badewanne mit eisigem, nicht einmal zwei Grad kaltem Wasser steigen. Die Probanden wurden einzeln an Messgeräte zur Überwachung der Herzfrequenz, der Atemfrequenz und des Pulsschlags angeschlossen, und eine spezielle Thermobebilderungskamera überwachte die Körper- und die Wassertemperatur. Silver versetzte die Teilnehmer unter Hypnose und sagte ihnen, das kalte Wasser sei überhaupt nicht unangenehm, sie würden vielmehr das Gefühl haben, in schönes, warmes Badewasser zu steigen. Der Anästhesist Sekhar Upadhyayula überwachte den Test, ebenso das für alle Fälle bereitstehende medizinische Notfallpersonal.

Dieser Test entschied darüber, ob das Experiment durchgeführt werden konnte oder nicht. Normalerweise keucht ein Mensch, der so kaltem Wasser ausgesetzt ist, unwillkürlich reflexartig auf, wenn das Wasser die Brustwarzen erreicht. Die Herz- und Atemfrequenz steigen, die Person fängt an zu zittern, und die Zähne klappern – das nicht bewusst kontrollierbare autonome Nervensystem versucht automatisch, das innere Gleichgewicht zu bewahren. Selbst bei einer Person unter tiefer Hypnose wären die an das Gehirn gesandten Empfindungen unter diesen extremen Umständen normalerweise zu stark, um den hypnotischen Zustand aufrechtzuerhalten. Wer auch immer diesen Test bestand, war unbestreitbar sehr empfänglich für Hypnose.

Drei Probanden waren zwar tatsächlich tief hypnotisiert, allerdings nicht tief genug, um der intensiven Kälte standzuhalten, ohne die körperliche Homöostase zu verlieren. Das Maximum betrug 18 Sekunden im Kaltwasserbad. Doch der vierte Proband, Santiago, blieb über zwei Minuten darin, dann brach Dr. Upadhyayula den Test ab.

Vor dem Experiment war Santiagos Herzfrequenz hoch, doch kaum war er ins Wasser gestiegen, ging sie sofort herunter. Auf seinem EKG war nicht einmal ein Zucken zu erkennen, seine Atemfrequenz veränderte sich kein bisschen. Santiago saß zwischen den Eiswürfeln wie in einer warmen, gemütlichen Badewanne, was er seiner Überzeugung nach ja auch tat. Der Mann zuckte nicht einmal zusammen, sein Körper war nicht unterkühlt; und die Wissenschaftler wussten, sie hatten ihren Mann gefunden.

Santiago war unter Hypnose so suggestibel, dass sein Körper über diese Zeitspanne diese extremen äußeren Bedingungen bewältigen konnte; sein Geist konnte seine autonomen Funktionen steuern. Er war offenbar für den finalen Test geeignet.

Die Forscher hatten Santiagos beruflichen und privaten Hintergrund geprüft: Er war ein zuverlässiger Angestellter, ein treusorgender Sohn, ein liebevoller Onkel und ganz sicher nicht der Typ, der sich bereit erklären würde, jemanden kaltblütig zu töten. Würde es Silver gelingen, einen solchen Mann dazu zu bringen, zum Attentäter zu werden?

Damit die nächste Phase des Experiment valide war, durfte Santiago nichts über die Inszenierung wissen. Er konnte zwischen den mit ihm durchgeführten Experimenten und der Szene vor dem Hotel keine Verbindung herstellen. Zum Plan gehörte auch, dass die Fernsehproduzenten, die die Experimente filmten, sagten, er sei aus dem Programm ausgeschieden, solle aber am nächsten Tag noch einmal zu einem kurzen Abschlussinterview vorbeikommen. Bevor Santiago ging, wurde ihm zudem mitgeteilt, er würde nicht mehr hypnotisiert werden.

Am nächsten Tag kam Santiago zum Hotel zurück. Während er sich mit einem der Produzenten unterhielt, inszenierte das Team die Szene vor dem Hotel. Der Stuntman schnallte sich Kunstblut um; die Airsoft-Pistole aus der Requisite (die eine Druckwelle und einen Rückstoß verursachte wie eine richtige Feuerwaffe) wurde in einen roten Rucksack gelegt und auf dem Sitz eines direkt neben dem Ausgang geparkten Motorrads deponiert. Eine Samtkordel wurde vor dem direkt neben dem Hauptausgang befindlichen Personaleingang des Hotels angebracht; Paparazzi mit Film- und Videokameras vervollständigten die Szene. Zwei Geländewagen waren auf der Straße geparkt, anscheinend um den »ausländischen Würdenträger« und sein Gefolge wegzubringen.

Oben im Hotelzimmer beantwortete Santiago freundlich die Fragen seines »Abschlussinterviews«, bis die Produzentin sich für einen Moment mit den Worten entschuldigte, sie sei gleich wieder da. Sobald sie das Zimmer verlassen hatte, trat Silver ein, sagte, er wolle sich von Santiago verabschieden, schüttelte ihm die Hand und zog ihn kurz am Arm – ein Zeichen, das den inzwischen auf diesen Hinweis konditionierten Santiago anwies, sofort in hypnotische Trance zu verfallen. Er erschlaffte auf dem Sofa.

Nun sagte ihm Silver, ein »übler Typ« sei unten, und fügte hinzu: »Er muss eliminiert werden. Wir müssen ihn loswerden, und du wirst das machen.« Er erklärte Santiago, sobald er aus dem Gebäude komme, werde er auf einem Motorrad einen roten Rucksack sehen, in dem sich eine Pistole befinde. Santiago solle sich den roten Rucksack nehmen, zu der Samtkordel gehen und dort auf den Würdenträger warten, welcher mit einer Aktentasche aus dem Hotel treten werde. Weiterhin sagte er Santiago: »Sobald er herauskommt, richtest du die Pistole auf ihn und schießt: Peng! Peng! Peng! Peng! Aber sobald du das machst, vergisst du ganz einfach komplett, dass es überhaupt passiert ist.«

Schließlich implantierte Silver noch einen akustischen und einen physischen Stimulationstrigger, der Santiago zurück in Hypnose schickte, in der er den posthypnotischen Suggestionen von Silver folgte: Er sagte Santiago, er werde draußen vor dem Gebäude einen Segment-Producer erkennen, der ihm die Hand schütteln und sagen würde: »Ivan, das hast du supertoll gemacht.« Silver bat Santiago weiterhin, er solle ein »Ja« nicken, wenn er den Anweisungen Silvers Folge leisten würde, und Santiago nickte. Dann wurde er von Silver aus der Trance herausgeführt, und Silver tat, als wollte er sich wirklich verabschieden.

Nachdem Silver gegangen war, kam die Produzentin zurück, bedankte sich bei Santiago und sagte ihm, das Abschlussinterview sei nun vorbei und er könnte gehen. Kurz darauf verließ Santiago das Gebäude im Glauben, er würde jetzt nach Hause gehen.

Sobald er draußen war, kam der Segment-Producer auf ihn zu, schüttelte ihm die Hand und sagte: »Ivan, das hast du supertoll gemacht.« Das war der Trigger. Sofort schaute Santiago sich um, sah das Motorrad, ging hin und ergriff ganz ruhig den roten Rucksack auf dem Sitz. Er sah die rote Samtkordel und die Paparazzi, stellte sich neben sie und machte langsam den Rucksack auf.

Gleich darauf kam ein Mann mit einer Aktentasche aus der Tür. Ohne mit der Wimper zu zucken, zog Santiago die Pistole aus dem Rucksack und schoss dem Mann mehrere Male in die Brust. Die Blutbeutel unter dem Hemd des »Würdenträgers« platzten, und er brach dramatisch auf dem Boden zusammen.

Unmittelbar danach tauchte Silver auf und brachte Santiago dazu, die Augen zu schließen. Der Stuntman verließ eilig das Geschehen, und Silver holte Santiago aus der Trance heraus. Der Psychologe Jeffery Kieliszewski tauchte auf und bat Santiago, mit ihm und den anderen zu einer Abschlussbesprechung ins Hotel zu kommen. Dort erzählten die Wissenschaftler dem erstaunten Santiago, was geschehen war, und fragten ihn, ob er sich an das, was er getan hatte, und das, was draußen passiert war, erinnern konnte. Santiago konnte sich an gar nichts erinnern – bis Silver es ihm eingab.

Das Unterbewusste programmieren

In den ersten Kapiteln ging es um Einzelpersonen, die ein bestimmtes mögliches, vorgestelltes Szenario akzeptierten, woraufhin ihr Körper wie durch Zauberkraft auf dieses mentale Bild reagierte: Menschen, die seit Jahren unter dem unwillkürlichen Zittern der Parkinson-Krankheit litten, aber allein durch Gedankenkraft ihren Dopaminspiegel erhöhen konnten und ihre spastischen Lähmungen daraufhin auf mysteriöse Weise verschwanden; eine Frau mit chronischen Depressionen, die mit der Zeit ihr Gehirn physisch veränderte und ihren schwächenden emotionalen Zustand in Freude und Wohlbefinden transformieren konnte; Asthmatiker, die einen Anfall erlitten, obwohl sie nur Wasserdampf eingeatmet hatten, aber wiederum durch Einatmen desselben Wasserdampfes diese Bronchialkrämpfe beseitigen konnten; und natürlich die Männer mit starken Knieschmerzen, deren Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt war und die nach einer Scheinoperation am Knie wie durch ein Wunder geheilt wurden und auch noch Jahre später gesund waren.

In all diesen und ähnlichen Fällen hat die jeweilige Person sozusagen zunächst die Suggestion einer besseren Gesundheit akzeptiert, dann daran geglaubt und sich auf das Resultat ohne weiteres Analysieren eingelassen. Als diese Menschen das Potenzial der Genesung akzeptierten, richteten sie sich auf eine zukünftige mögliche Realität aus – und veränderten dadurch ihren Geist und ihr Gehirn. Sie glaubten an das Ergebnis und nahmen dabei auf der emotionalen Ebene die Vorstellung einer besseren Gesundheit an. Und so lebte ihr Körper – als der unbewusste Geist – im gegenwärtigen Moment in dieser zukünftigen Realität.

Sie konditionierten ihren Körper auf einen neuen Geist und sandten neuen Genen dadurch neue Signale, um neue Proteine für eine bessere Gesundheit zu exprimieren – und sie gelangten in einen neuen Seinszustand. Sobald sie sich auf ein neues mögliches Szenario einließen, analysierten sie nicht mehr, wie oder wann das passieren könnte. Sie vertrauten einfach auf einen besseren Seinszustand und behielten diese mentale und körperliche Befindlichkeit über längere Zeit bei. Dadurch wurden die richtigen Gene aktiviert und darauf programmiert, eingeschaltet zu bleiben.

Ob sie nun wochen- oder monatelang Zuckerpillen einnahmen, sich einmal eine Salzlösung injizieren ließen oder sich einer Scheinoperation unterzogen – all diese Menschen stärkten während der Studie, an der sie teilnahmen, ihre Akzeptanz, ihren Glauben und ihre Hingabe. Egal, ob sie täglich eine Pille gegen Schmerzen oder Depressionen schluckten: Die Pille erinnerte sie ständig daran, ihre absichtsvolle Aktivität zu konditionieren, von ihr eine Bedeutung zu erwarten und ihr eine Bedeutung zuzuweisen, wodurch der innere Prozess immer wieder bestärkt wurde. Der wöchentliche Arztbesuch im Krankenhaus, bei dem sie über ihre Verbesserungen befragt wurden; die Entscheidung, in einem bestimmten Umfeld mit Ärzten, Krankenschwestern, medizinischen Geräten und Wartezimmern zu tun zu haben; all dies löste sensorische Reaktionen aus, die sie mittels des assoziativen Gedächtnisses an die Möglichkeit einer neuen Zukunft erinnerte. Sie waren aus der Vergangenheit darauf konditioniert, den Ort namens »Krankenhaus» mit Gesundung zu verbinden. Sie nahmen ihre zukünftigen Veränderungen vorweg und wiesen dadurch dem gesamten Heilungsprozess Sinn und Bedeutung zu. Da all diese Faktoren eine Bedeutung und einen Sinn hatten, erhöhten sie die Suggestibilität der Patienten für die von ihnen erfahrenen Ergebnisse.

Das wirklich Sensationelle daran ist: Diese Veränderungen wurden nicht durch echte physische, chemische oder therapeutische Mechanismen bewirkt. Keine dieser Personen unterzog sich einer echten Operation oder Behandlung oder nahm wirksame Medikamente ein, die diese erheblichen gesundheitlichen Verbesserungen hätten bewirken können. Die Macht ihres Geistes hatte einen so großen Einfluss auf die Physiologie des Körpers, dass sie geheilt wurden. Wir können durchaus sagen: Ihre wahre Transformation geschah unabhängig vom bewussten Geist. Ihr bewusster Geist hat vielleicht den Ablauf initiiert, aber die eigentliche Arbeit geschah unbewusst, und die betreffenden Personen hatten keine Ahnung, wie es vor sich ging.

Das gilt auch für Ivan Santiago. Die Kraft seines Geistes unter Hypnose hatte eine solch starke Wirkung auf seine Physiologie, dass er im eiskalten Wasser nicht einmal zusammenzuckte. Er verdankte dies nicht seinem bewussten Geist, sondern der Kraft seines Unterbewussten, welches durch eine Suggestion verändert worden war. Hätte er diese Suggestion nicht akzeptiert, wäre etwas völlig anderes passiert. Er tat, was er tat, ohne darüber nachzudenken, wie er es bewerkstelligen konnte; in seinem Geist saß er eben nicht in einem Eisbad, sondern in angenehm warmem Wasser.

So wie der Hypnoseeffekt wird auch der Placeboeffekt von der Interaktion des Bewusstseins mit dem autonomen Nervensystem erzeugt. Der bewusste Geist verschmilzt mit dem unterbewussten Geist. Wenn Placebo-Patienten einen Gedanken als Realität akzeptieren und dann auf der emotionalen Ebene an das Endergebnis glauben und darauf vertrauen, dann gesunden sie.

Dieser biologische Wandel entsteht durch eine Kaskade physiologischer Geschehnisse – ohne den bewussten Geist zu involvieren. Die Überzeugungen gelangen ins Betriebssystem, wo diese Funktionen routinemäßig ausgelöst werden. Dadurch wird sozusagen ein Samen in fruchtbare Erde gepflanzt, und das System übernimmt automatisch die Führung. Niemand muss irgendetwas tun. Es passiert einfach.

Keiner der Probanden konnte bewusst seinen Dopaminspiegel um 200 Prozent in die Höhe schnellen lassen oder mental Zitteranfälle kontrollieren, neue Neurotransmitter gegen Depressionen produzieren, aus Stammzellen weiße Blutkörperchen machen oder Knorpel im Knie aufbauen – so wie auch Santiago es nicht bewusst geschafft hätte, beim Eintauchen in das eiskalte Wasser nicht zusammenzuzucken. Jeglicher willentliche Versuch in dieser Richtung wäre sicherlich ein erfolgloses Unterfangen. All diese Leute mussten Hilfe von einem Geist bekommen haben, der bereits wusste, wie all diese Prozesse initiiert werden. Voraussetzung für den Erfolg war die Aktivierung des autonomen Nervensystems, des unterbewussten Geistes.

Akzeptanz, Überzeugung und Einlassen

Wenn wir hier von Suggestibilität sprechen, mag das so klingen, als ob wir alle einfach auf Befehl beeinflussbar sein könnten. Wie wir in der Geschichte zu Beginn dieses Kapitels gehört haben, ist es allerdings nicht ganz so einfach. Manche Menschen – wie Ivan Santiago – sind empfänglicher bzw. suggestibler als andere. Und selbst Menschen mit hoher Suggestibilität reagieren auf manche Suggestionen besser als auf andere.

Manche der Teilnehmer am Hypnose-Experiment hatten beispielsweise keine Probleme damit, sich in der Öffentlichkeit aufgrund der entsprechenden posthypnotischen Suggestion bis auf die Unterwäsche auszuziehen, konnten jedoch die Vorstellung, eine Wanne mit eiskaltem Wasser sei in Wirklichkeit ein warmes Jacuzzi, unterbewusst nicht akzeptieren, und das, obwohl es normalerweise schwieriger ist, posthypnotische Suggestionen (unter anderem die Anweisung, einen unbekannten Menschen zu erschießen) wirksam einzusetzen, als Suggestionen, die während der eigentlichen Hypnose jemandes Zustand zeitweilig verändern.

Und wie Hypnose funktioniert auch die Placebo-Reaktion nicht bei allen Menschen. Placebo-Patienten, die die positiven Veränderungen jahrelang aufrechterhalten konnten (zum Beispiel die Männer, die eine Scheinoperation am Knie hatten), reagieren ganz ähnlich wie Menschen, denen posthypnotische Suggestionen eingepflanzt wurden. Bei manchen funktionieren solche Suggestionen wunderbar, bei anderen passiert nicht viel.

Viele Menschen, die unter einer Krankheit leiden, können die Vorstellung schwer akzeptieren, ein Medikament, ein Verfahren oder eine Behandlung könne ihnen helfen, geschweige denn ein Placebo. Warum nicht? Das Denken muss stärker sein als die Gefühle, damit neue Gedanken neue Gefühle hervorrufen, welche diese neuen Gedanken bestärken – bis die Person in einen neuen Seinszustand kommt. Doch wenn vertraute Gefühle zu vertrauten Gedanken führen und man diese Gewohnheit nicht transzendieren kann, verharrt man in demselben geistigen und körperlichen Zustand der Vergangenheit, und alles bleibt gleich.

Wenn aber eben diese Menschen, die nicht akzeptieren können, dass ein Medikament oder ein Verfahren ihnen helfen könnte, eine neue Ebene der Akzeptanz und des Glaubens erreichen und sich voll und ganz auf dieses Ziel einlassen, ohne sich ständig Sorgen zu machen und analysieren zu wollen, dann könnten sie stärker von diesem Prozess profitieren. Genau das ist Suggestibilität: einen Gedanken zu einer virtuellen Erfahrung zu machen und daraufhin den Körper auf neue Weise reagieren zu lassen.

Suggestibilität verbindet drei Elemente: Akzeptanz, Überzeugung und Sich-Einlassen. Je mehr wir akzeptieren, was wir tun, um unsere innere Befindlichkeit zu verändern, je mehr wir daran glauben und uns wirklich darauf einlassen, desto bessere Ergebnisse können wir erzielen. Bei Santiago war es ähnlich: Unter Hypnose, als sein Unterbewusstsein die Kontrolle hatte, konnte er Silvers Aussage über den zu eliminierenden »üblen Typen« vollkommen akzeptieren. Er glaubte, dass Silver die Wahrheit sagte, und er konnte sich darauf einlassen, Silvers detaillierte Anweisungen auszuführen, ohne sie zu analysieren oder kritisch darüber nachzudenken. Es gab kein Händeringen und keine Forderung nach Beweisen, kein Hinterfragen oder Zweifeln. Er tat es einfach.

Entscheidend ist die Emotion

Wenn wir die Vorstellung einer besseren Gesundheit hegen und diese Hoffnung bzw. diesen Gedanken – nämlich dass etwas Äußeres uns innerlich verändern kann – mit der emotionalen Vorausnahme dieser Erfahrung assoziieren, werden wir suggestibel für dieses Endresultat. Der ganze Ablauf wird entsprechend konditioniert, erwartet und mit Bedeutung versehen.

Doch entscheidend für diese Erfahrung ist die emotionale Komponente. Suggestibilität ist nicht einfach ein intellektueller Prozess. Viele Leute können sich intellektuell vorstellen, gesund zu werden, aber wenn sie das Resultat nicht auch emotional annehmen, haben sie keinen Zugang zum autonomen Nervensystem (so wie Santiago unter Hypnose). Das ist wesentlich, weil von hier aus alles unterbewusst programmiert wird (siehe Kapitel 3). Es ist eine generell akzeptierte psychologische Annahme, dass ein Mensch, der intensive Emotionen durchlebt, eher für Vorstellungen empfänglich und damit auch suggestibler ist.

Abb. 6.1. In der Erfahrung einer Emotion wird das autonome Nervensystem am Neocortex (dem Sitz des bewussten Geistes vorbei) aktiviert. Wenn wir unser denkendes Gehirn derart hinter uns lassen, gelangen wir in einen Bereich des Gehirns, der die Gesundheit reguliert, bewahrt und umsetzt.

Das autonome Nervensystem wird vom limbischen System kontrolliert, auch »emotionales Gehirn« oder »chemisches Gehirn« genannt. Wie in Abbildung 6.1 dargestellt, steuert das limbische System die unterbewussten Funktionen wie die geordneten chemischen Abläufe und die Homöostase zur Bewahrung der natürlichen physiologischen Balance des Körpers. Es ist das Zentrum der Emotionen. Beim Durchleben unterschiedlicher Emotionen wird dieser Teil des Gehirns aktiviert, die entsprechenden chemischen Moleküle der Emotion zu produzieren. Da dieses emotionale Gehirn unterhalb des »Radars« und der Kontrolle des bewussten Geistes existiert, wird in dem Moment, in dem man eine Emotion verspürt, das autonome Nervensystem aktiviert.

Durch das Annehmen einer höheren Emotion noch vor der eigentlichen Heilungserfahrung aktiviert die stärkere emotionale Reaktion (durch die man aus dem normalen Ruhezustand herauskommt) das unterbewusste System. Das Fühlen von Emotionen lässt uns Zugang zum Betriebssystem gewinnen und eine Veränderung programmieren, denn so signalisieren wir dem autonomen Nervensystem automatisch, es soll die unserem verbesserten Zustand entsprechenden chemischen Substanzen erzeugen. Dem Körper wird vom Gehirn und Geist eine Mischung aus diesen alchemistischen Elixieren geschickt; daraufhin wird der Körper emotional zum Geist.

Wie wir gesehen haben, geht das aber nicht mit irgendwelchen Emotionen. Die Überlebensemotionen, von denen bereits im letzten Kapitel die Rede war, bringen Geist und Körper außer Balance und regulieren die für eine optimale Gesundheit benötigten Gene herunter (oder schalten sie ab). Furcht, Ärger, Feindseligkeit, Ungeduld, Pessimismus, Konkurrenzdenken und Sorgen werden den geeigneten Genen keine Gesundheitssignale schicken, im Gegenteil: Sie aktivieren das für die Kampf-oder-Flucht-Reaktion zuständige Nervensystem und stellen den Körper auf eine Gefahrensituation ein. Dadurch geht die für die Heilung so wichtige Energie verloren.

Ähnlich ist das übrigens, wenn man versucht, etwas zu bewirken. Sobald man etwas versucht, übt man Druck gegen etwas aus, weil man sich um eine Veränderung bemüht. Man kämpft, versucht ein bestimmtes Resultat zu erzwingen, obgleich man sich darüber nicht im Klaren ist. Das bringt uns aus der Balance, ähnlich wie die Überlebensemotionen, und je frustrierter und ungeduldiger man wird, desto mehr gerät man ins Ungleichgewicht. Kennen Sie die Stelle in dem Film »Krieg der Sterne – Das Imperium schlägt zurück«, als Yoda zu Luke Skywalker sagt: »Nein. Versuchen nicht. Tun … oder nicht tun. Keinen Versuch es gibt …«? Dasselbe gilt auch für die Placebo-Reaktion. Es gibt kein Versuchen, nur ein Zulassen.

All diese negativen und stressigen Emotionen sind uns so vertraut und verbinden uns mit so vielen aus der Vergangenheit bekannten Ereignissen – und in diesem Fall bedeutet das eine schlechte Gesundheit. So können keine neuen Informationen den Genen neue Signale schicken. Die Vergangenheit bestärkt die Zukunft.

Abb. 6.2. Überlebensemotionen entstehen in erster Linie durch Stresshormone, die tendenziell eher eigennützige und begrenzte geistige wie körperliche Befindlichkeiten unterstützen. Durch das Annehmen von höheren, kreativeren Emotionen können wir unsere Energie auf ein anderes Hormonzentrum verlagern, das Herz öffnet sich, und wir fühlen uns selbstloser. An diesem Punkt beginnt der Körper, auf einen neuen Geist zu reagieren.

Andererseits öffnen Emotionen wie Dankbarkeit und Wertschätzung das Herz und heben die Energie im Körper – weg von den niedrigeren Hormonzentren. Dankbarkeit ist eine der mächtigsten Emotionen, um die Suggestibilität zu verstärken. Sie lehrt den Körper auf der emotionalen Ebene, dass das Ereignis, für das wir dankbar sind, bereits geschehen ist, denn normalerweise bedanken wir uns, nachdem etwas Erwünschtes eingetreten ist.

Lassen wir die Emotion der Dankbarkeit bereits vor dem eigentlichen Geschehen aufsteigen, glaubt der Körper (als der unbewusste Geist), das zukünftige Ereignis sei bereits geschehen – oder passiere im gegenwärtigen Moment. Deshalb ist Dankbarkeit der ultimative Zustand des Empfangens. In Abbildung 6.2 (siehe Seite 171) wird der Unterschied zwischen dem Ausdruck von Überlebensemotionen und von höheren Emotionen dargestellt.

Wenn wir die Emotion der Wertschätzung bzw. Dankbarkeit entstehen lassen und sie mit einer klaren inneren Ausrichtung verbinden, beginnen wir, das Ereignis emotional zu verkörpern. Wir verändern das Gehirn und den Körper. Insbesondere senden wir dem Körper chemische Anweisungen, die ihn wissen lassen, was der Geist auf der philosophischen Ebene weiß. Wir könnten auch sagen: Dann sind wir im gegenwärtigen Moment in einer neuen Zukunft. Wir verankern uns nicht mehr durch unsere vertrauten, primitiven Emotionen in der Vergangenheit, sondern gelangen durch höhere Emotionen in eine neue Zukunft.

Die zwei Gesichter des analytischen Geistes

Wir wollen noch einmal auf den unterschiedlichen Grad der Suggestibilität zurückkommen. In Abhängigkeit von verschiedenen Variablen ist jeder Mensch unterschiedlich empfänglich für Gedanken, Suggestionen und Befehle aus seiner äußeren und inneren Realität. Der Grad der Suggestibilität steht sozusagen in umgekehrtem Verhältnis zum Grad des analytischen Denkens (siehe Abbildung 6.3): Je stärker der analytische Geist ist (d.h. je mehr wir analysieren), desto weniger empfänglich sind wir; und je schwächer der analytische Geist ist, desto empfänglicher sind wir für Suggestionen.

Der analytische Geist (bzw. der kritische Geist) ist jener Teil des Geistes, den wir bewusst einsetzen und bewusst wahrnehmen. Er ist eine Funktion des denkenden Neokortex – jenes Gehirnareals, in dem unsere denkende, beobachtende, sich erinnernde und Probleme lösende Bewusstheit sitzt. Der Neokortex analysiert, vergleicht, bewertet, überdenkt, untersucht, stellt infrage, polarisiert, stellt auf den Prüfstand, argumentiert, rationalisiert und denkt nach. Und er überträgt das in der Vergangenheit Erfahrene und Gelernte auf Zukünftiges bzw. auf das, was er noch nicht erlebt hat.

Abb. 6.3. Das umgekehrte Verhältnis zwischen analytischem Geist und Suggestibilität

Beispielsweise hielten sich sieben der elf Probanden in dem Hypnose-Experiment zu Beginn dieses Kapitels nicht ganz an die Anweisung, sich in der Öffentlichkeit im Restaurant auszuziehen. Ihr analytischer Geist brachte sie »zu Sinnen«. In dem Moment, als sie zu analysieren begannen – Ist das richtig? Sollte ich das wirklich tun? Wie wird das aussehen? Wer schaut zu? Was denkt mein Freund von mir? –, war die Suggestion nicht mehr so stark, und sie kehrten zu ihrem alten, vertrauten Seinszustand zurück. Diejenigen, die sich sofort bis auf die Unterwäsche auszogen, taten das wiederum, ohne ihr Tun infrage zu stellen. Sie waren weniger analytisch (und somit empfänglicher für Suggestionen) als die anderen Testpersonen.

Der Neokortex ist in zwei Hälften unterteilt, die sogenannten Hemisphären; somit analysieren und denken wir oft in Dualität, also »gut/böse«, »richtig/falsch«, »positiv/negativ«, »männlich/weiblich«, »heterosexuell/homosexuell, »Demokraten/Republikaner«, »Vergangenheit/Zukunft«, »Logik/Emotion«, »alt/neu«, »Kopf/Herz« – Sie wissen schon, was ich meine. Und unter Stress beschleunigen die in den Körper gepumpten Stresschemikalien den analytischen Prozess zusätzlich. Dann analysieren wir noch mehr, um zukünftige Ergebnisse vorwegzunehmen und uns so auf Basis vergangener Erfahrungen vor eventuellen Worst-Case-Szenarien zu schützen.

Natürlich ist der analytische Geist an und für sich nichts Verkehrtes und leistet uns in unserem wachen, bewussten Leben nützliche Dienste. Er macht uns zu Menschen. Seine Aufgabe besteht darin, Sinn und Bedeutung zu schaffen und unsere Außenwelt (die Erfahrungen mit anderen Menschen und Dingen an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten) und unsere Innenwelt (unsere Gedanken und Gefühle) aufeinander abzustimmen und Kohärenz zu erzeugen.

Der analytische Geist kann am besten arbeiten, wenn wir ruhig, entspannt und fokussiert sind. Dann arbeitet er für uns, überdenkt gleichzeitig viele Aspekte des Lebens und liefert sinnvolle Antworten. Er hilft uns, aus unzähligen Optionen eine auszuwählen und Entscheidungen zu treffen, Neues zu erlernen, kritisch zu hinterfragen, ob wir etwas glauben sollten, soziale Situationen unter ethischen Gesichtspunkten zu bewerten, uns über den Sinn unseres Lebens klar zu werden, überzeugt zu unseren moralischen Ansichten zu stehen und wichtige sensorische Daten auszuwerten.

Der analytische Geist schützt uns als Erweiterung unseres Ego, um uns in der Außenwelt ein bestmögliches Überleben und Bewältigen zu ermöglichen (die Hauptaufgabe des Ego ist es eigentlich, uns zu schützen). Ständig wertet er Situationen im Umfeld aus und schätzt ab, was am vorteilhaftesten ist. Er kümmert sich um das Ich und versucht, den Körper zu bewahren und zu erhalten. Das Ego lässt uns wissen, wann potenziell Gefahr in Verzug ist, und drängt uns dazu, auf diese Gegebenheiten und Umstände zu reagieren. Wenn Sie beispielsweise die Straße entlanggehen und sehen, dass die entgegenkommenden Autos zu nahe an Ihnen vorbeifahren, wechseln Sie womöglich die Straßenseite, um sich zu schützen – Ihr Ego gibt Ihnen diese Anweisung.

Doch wenn das Ego vor lauter Stresshormonen aus dem Gleichgewicht geraten ist, schaltet der analytische Geist auf Hochtouren und wird überstimuliert. Dann arbeitet er nicht mehr für, sondern gegen uns. Wir werden überanalytisch. Das Ego wird dann sehr eigennützig und stellt sicher, dass wir an erster Stelle kommen, denn das ist seine Aufgabe. Es denkt und fühlt, als ob es zum Schutz der Identität die Kontrolle haben müsste. Es versucht, die Ergebnisse zu beeinflussen; es berechnet voraus, was es zu tun hat, um ganz bestimmt eine sichere Situation zu schaffen; es klammert sich an Vertrautes und will nicht loslassen – und so hält es auch an Grollgefühlen und Opferrollen fest, spürt Schmerzen und leidet. Es wird Unbekanntes immer vermeiden und es als eine potenzielle Gefahr betrachten, denn für das Ego ist das Unbekannte nicht vertrauenswürdig.

Das Ego wird alles tun, um sich für den Andrang süchtig machender Emotionen starkzumachen. Es will nun einmal, was es will, und wird alles Nötige unternehmen, um zuerst zur Stelle zu sein und sich zur vordersten Front durchzukämpfen. Das Ego kann schlau, durchtrieben, manipulativ, rivalisierend und sogar betrügerisch agieren, um sich zu schützen.

Je stressiger also die jeweilige Situation ist, desto mehr wird der analytische Geist dazu getrieben, das Leben in der gerade erlebten Emotion zum jeweiligen Zeitpunkt zu analysieren. Wenn das geschieht, entfernen wir uns mit unserem Bewusstsein vom Betriebssystem des unterbewussten Geistes, wo echter Wandel stattfinden kann. Dann analysieren wir unser Leben aus unserer emotionalen Vergangenheit heraus, obwohl unsere Probleme nichts mit diesen Emotionen zu tun haben, die uns dazu bringen, noch mehr im Rahmen eines begrenzten, vertrauten chemischen Zustands zu denken. Wir denken in Schubladen.

Diese bereits erwähnten Denk- und Gefühlsschleifen erzeugen immer wieder dieselben Emotionen und bringen Gehirn und Körper immer mehr in Unordnung. Doch die Antworten und Lösungen sind leichter erkennbar, wenn wir diese Stress-Emotionen hinter uns lassen und das Leben aus einer anderen geistigen Haltung heraus betrachten.

Wird der analytische Geist gestärkt, sinkt die Empfänglichkeit für neue Ergebnisse. Warum? Weil eine drohende Gefahrensituation nicht der richtige Zeitpunkt für Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Möglichkeiten und Potenzialen ist. Es ist nicht die richtige Zeit, an neue Vorstellungen zu glauben und sich offen darauf einzulassen. Es ist nicht der rechte Zeitpunkt für Vertrauen; stattdessen ist das der Zeitpunkt, das Selbst zu schützen und das Bekannte gegen das Unbekannte abzuwägen, um die besten Überlebenschancen zu identifizieren. Es ist der Zeitpunkt, das Unbekannte zu meiden. Während der analytische Geist also von den Stresshormonen unterstützt und bestätigt wird, hegen wir engstirnige Gedanken und können dem Neuen nicht vertrauen oder daran glauben, sind weniger empfänglich für den Glauben an die Macht der Gedanken und nicht so geneigt, uns mit unbekannten Gedanken vertraut zu machen. Das bedeutet, wir können den analytischen Geist bzw. das Ego für uns oder gegen uns arbeiten lassen.

Das innere Wirken des Geistes

Wir können uns den analytischen Geist als einen separaten Teil des bewussten Geistes vorstellen, durch den Letzterer vom unterbewussten Geist getrennt wird. Da das Placebo nur funktioniert, solange der analytische Geist zum Schweigen gebracht wird, damit unsere Bewusstheit stattdessen mit dem Unterbewussten interagieren kann – dem Bereich, in dem wahrer Wandel stattfindet –, ist eine Placebo-Reaktion nur möglich, wenn wir unser Ich hinter uns lassen und dadurch mit dem autonomen Nervensystem den bewussten Geist in den Hintergrund drängen.

Abbildung 6.4 stellt dies in vereinfachter Form dar. Der Kreis steht für die Gesamtheit des Geistes. Der bewusste Geist macht lediglich 5 Prozent davon aus. Er besteht aus Logik und Vernunft, aber auch unseren kreativen Fähigkeiten. Diese Aspekte lassen den freien Willen entstehen. Die restlichen 95 Prozent sind unterbewusster Geist, das Betriebssystem, in dem alle automatischen Fähigkeiten, Gewohnheiten, emotionalen Reaktionen, festen Verhaltensweisen, konditionierten Reaktionen, assoziativen Erinnerungen, Routinegedanken und Gefühle unsere Einstellungen, Überzeugungen und Wahrnehmungen erzeugen.

Im bewussten Geist speichern wir unsere expliziten bzw. deklarativen Erinnerungen. Solche Erinnerungen sind eindeutig, und wir können sie klar äußern. Sie umfassen das angelernte Wissen (sogenannte semantische Erinnerungen) und Erfahrungen aus diesem Leben (episodische Erinnerungen) – vielleicht erinnern Sie sich, in Tennessee aufgewachsen zu sein, wie Sie als Kind geritten sind, bis Sie einmal vom Pferd fielen und sich den Arm brachen; wie Sie als Zehnjährige eine Tarantel als Haustier hatten, die eines Tages aus ihrem Käfig entfloh, woraufhin die ganze Familie zwei Tage lang im Hotel übernachten musste; wie Sie als 14-Jährige den bundesstaatlichen Rechtschreibwettbewerb gewannen und jetzt nie auch nur ein Wort falsch schreiben; wie Sie am College in Nebraska Buchhaltung studierten und dass Sie jetzt in Atlanta leben, damit Sie in der Nähe Ihrer Schwester sein können (die für einen Großkonzern arbeitet), während Sie nebenher online Ihren Master-Abschluss im Finanzwesen machen. Das autobiografische Selbst besteht aus deklarativen Erinnerungen.

Abb. 6.4. Überblick über den bewussten Geist, den analytischen Geist und den unterbewussten Geist

Dann gibt es noch die impliziten bzw. nichtdeklarativen oder prozeduralen Erinnerungen, die jene Dinge betreffen, die wir so oft gemacht haben, dass wir nicht mehr bewusst wahrnehmen, wie wir es machen. Durch die unzähligen Wiederholungen weiß es der Körper ebenso wie das Gehirn – beispielsweise Fahrrad fahren, kuppeln, Schuhe zubinden, eine Telefonnummer oder eine PIN eingeben, aber auch lesen oder sprechen. Das sind die automatisch ablaufenden Programme, von denen schon die Rede war. Man könnte auch sagen, wir müssen die entsprechenden Fähigkeiten oder Gewohnheiten, die wir inzwischen beherrschen, nicht mehr analysieren oder bewusst darüber nachdenken, weil sie jetzt unterbewusst ablaufen. Das ist das programmierte Betriebssystem, wie in Abbildung 6.5 zu sehen.

Abb. 6.5. Das Gedächtnis ist in zwei Kategorien eingeteilt: deklarative (explizite) und nichtdeklarative (implizite) Erinnerungen

Wenn wir etwas so gut beherrschen, dass es im Geist fest vernetzt und im Körper emotional konditioniert ist, wissen der Körper und auch der bewusste Geist, wie es zu tun ist. Wir haben uns eine neurochemische Ordnung ins Gedächtnis eingeprägt, die uns nun von Natur aus innewohnt. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Wiederholte Erfahrung stärkt die neuronalen Netze im Gehirn und trainiert emotional den Körper; damit ist das Ganze dann eine beschlossene Sache. Sobald das entsprechende Ereignis neurochemisch oft genug durch Erfahrung verkörpert ist, können wir einfach auf einen vertrauten unterbewussten Gedanken bzw. ein unterbewusstes, bekanntes Gefühl zugreifen und so den Körper und das dazugehörige automatische Programm einschalten – dann gehen wir augenblicklich in einen bestimmten Seinszustand, der das automatische Verhalten ausführt.

Implizite Erinnerungen entwickeln sich aus den Emotionen der Erfahrung; dafür sind zwei mögliche Szenarien vorstellbar.

Erstens: Ein emotional stark aufgeladenes Ereignis kann sofort gekennzeichnet und im Unterbewusstsein abgespeichert werden (z.B. die Erinnerung, als Kind in einem großen Kaufhaus von der Mutter getrennt worden zu sein).

Oder zweitens: Wiederholte Emotionen aus konsistenten Erfahrungen werden dort immer wieder protokolliert.

Implizite Erinnerungen sind Teil des unterbewussten Gedächtnisses, wohin sie entweder durch wiederholtes Erleben oder Ereignisse mit einer hohen emotionalen Ladung gelangen. So wird durch das Empfinden einer beliebigen Emotion bzw. eines beliebigen Gefühls die Tür zum Unterbewussten geöffnet. Da Gedanken die Sprache des Gehirns und Gefühle die Sprache des Körpers sind, wird in dem Moment, wo wir ein Gefühl verspüren, der Körper-Geist eingeschaltet (denn der Körper ist zum unterbewussten Geist geworden). In diesem Moment haben wir Zugang zum Betriebssystem.

Stellen Sie es sich so vor: Wenn Sie ein bestimmtes, vertrautes Gefühl empfinden, greifen Sie unterbewusst auf Gedanken zu, die aus diesem Gefühl abgeleitet werden. Sie hegen tagtäglich autosuggestive Gedanken, die zu Ihren Gefühlen passen. Es sind Gedanken, die Sie akzeptieren, glauben und auf die Sie sich einlassen, als ob sie wahr wären. Deshalb ist die Empfänglichkeit nur für Gedanken höher, die genau zu diesem Gefühl passen.

Umgekehrt könnte man sagen, Sie sind viel weniger empfänglich für Gedanken, die nicht den erinnerten Gefühlen entsprechen. Jeglicher Gedanke, der mit einer unbekannten Möglichkeit zu tun hat, würde sich einfach nicht richtig anfühlen. Ihr »Selbst-Gespräch« (die Gedanken, denen Sie täglich lauschen) schlüpft von einem Moment zum nächsten an Ihrem bewussten Gewahrsein vorbei, stimuliert das autonome Nervensystem und den Fluss biologischer Prozesse und verstärkt das einprogrammierte Gefühl des Ichs, das Sie zu sein meinen. Denken Sie an die Studie aus Kapitel 2, in der Optimisten positiver auf positive Suggestionen reagierten und Pessimisten negativer auf negative Suggestionen.

Könnte man nun durch verändertes Fühlen ebenso für einen neuen Gedankenstrom empfänglicher werden? Natürlich! Durch das Fühlen einer höheren Emotion und das Zulassen neuer Gedanken auf Basis dieses neuen Gefühls würde der Grad der Suggestibilität steigen, um dem Gefühl bzw. den Gedanken zu entsprechen. Dann wäre ein neuer Seinszustand erreicht, und die neuen Gedanken würden als Autosuggestionen dem Gefühl entsprechen. Die neuen Emotionen aktivieren ganz natürlich das implizite Gedächtnis und das autonome Nervensystem. Dann können wir das autonome Nervensystem einfach das tun lassen, was es am besten kann: das Gleichgewicht, die Gesundheit und die Ordnung wiederherstellen.

Ist das nicht genau das, was viele der Placebo-Probanden getan haben? Konnten nicht auch sie eine höhere Emotion wie Hoffnung oder Inspiration oder die Freude am Gesundsein wecken? Und als sie die neue Möglichkeit erst einmal erkannt hatten, ohne sie zu analysieren, wurde ihr Grad der Suggestibilität von diesen Gefühlen beeinflusst, nicht wahr? Und als sie die dazugehörigen Emotionen verspürten: Haben sie dann nicht auf das Betriebssystem zugegriffen und ihr autonomes Nervensystem mit neuen Befehlen umprogrammiert – allein durch Gedankenkraft, durch Autosuggestionen, die zu diesen Emotionen passten?

Die Tür zum Unterbewussten öffnen

Unterschiedliche Grade der Suggestibilität können optisch durch eine unterschiedliche Stärke des analytischen Geistes dargestellt werden. Je dicker die Barriere zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein ist, desto schwieriger ist es, Zugang zum Betriebssystem zu gewinnen.

In den Abbildungen 6.6 und 6.7 werden zwei Personen mit unterschiedlichem Geist dargestellt.

Abb. 6.6. Ein weniger analytisch ausgeprägter Geist (dargestellt durch die dünnere Schicht) ist empfänglicher für Suggestionen.

Bei der Person in Abbildung 6.6 ist der Schleier zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein sehr dünn, deshalb ist sie sehr empfänglich für Suggestionen (wie Ivan Santiago, von dem zu Beginn dieses Kapitels die Rede war). Diese Person kann ein Resultat ganz natürlich annehmen, daran glauben und sich darauf einlassen, denn sie analysiert und intellektualisiert wenig. Solche Menschen sind von Natur aus eher bereit zu akzeptieren, dass ein Gedanke eine potenzielle Erfahrung ist, und können diese Erfahrung emotional annehmen, wodurch das Paket dem autonomen System eingeprägt wird und dort als Realität ausgeführt und umgesetzt werden kann. Sie sind weniger damit beschäftigt, aus ihrem Leben klug zu werden und über alles nachzudenken. Die Leute, die bei Hypnose-Vorführungen irgendwann vorne stehen und sich hypnotisieren lassen, fallen meist in diese Kategorie.

Abb. 6.7. Ein stärker entwickelter analytischer Geist (dargestellt durch die dickere Schicht) ist weniger suggestibel.

Dem steht Abbildung 6.7 gegenüber. Der analytische Geist, der den bewussten vom unterbewussten Geist trennt, ist hier dicker, und es ist leicht einzusehen, dass diese Person Suggestionen nicht so schnell für bare Münze nimmt, ohne mit ihrem Intellekt alles zu bewerten, zu verarbeiten, zu planen und zu überprüfen. Solche Menschen sind sehr kritisch eingestellt und vergewissern sich, ob sie wirklich alles analysiert haben, bevor sie sich einlassen und Vertrauen entwickeln.

Hinzu kommt, dass bei manchen Menschen der analytische Geist stärker entwickelt ist, auch wenn sie nicht ständig von Stresshormonen gesteuert werden. Sie haben vielleicht auf dem College entsprechende Fächer studiert, wurden als Kinder von ihren Eltern in ihrem rationalen Denken bestärkt oder sind von Natur aus einfach so veranlagt. (Allerdings kann man auch als ein ziemlich analytischer Mensch lernen, darüber hinauszuwachsen; ich habe das bestimmt getan, es gibt also Hoffnung.)

Wie bereits gesagt, ist das eine nicht besser als das andere. Meiner Meinung nach funktioniert ein gesundes Gleichgewicht zwischen beiden sehr gut. Menschen, die sehr analytisch sind, können nicht so leicht vertrauen und ihr Leben im Fluss leben. Wer wiederum extrem suggestibel ist, ist unter Umständen zu leichtgläubig und »funktioniert« nicht so gut.

Worum es mir hier geht: Sollten Sie ständig Ihr Leben analysieren, sich beurteilen und mit allem und jedem in Ihrer Realität obsessiv beschäftigt sein, werden Sie nie Zugang zu dem Betriebssystem haben, in dem diese alten Programmierungen sitzen, um sie umzuprogrammieren. Nur wer eine Suggestion wirklich akzeptiert, daran glaubt und sich darauf einlässt, öffnet die Tür zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein. Diese Informationen senden dem autonomen Nervensystem entsprechende Signale – und schon übernimmt es die Führung. Der Pfeil in Abbildung 6.8 (siehe Seite 184) steht für die Bewegung des Bewusstseins vom bewussten Geist hin zum unterbewussten Geist, wo die Suggestion biologisch »einprogrammiert« wird.

Es gibt ein paar weitere Elemente, durch die der analytische Geist zum Schweigen gebracht und die Tür zum Unterbewussten geöffnet werden kann, um die Suggestibilität zu erhöhen. Beispielsweise steigt der Grad der Suggestibilität durch körperliche oder geistige Erschöpfung.

Wie Studien aufgezeigt haben, kann bei Menschen, die sozialen, physischen und äußeren Faktoren durch Entzug von sensorischen Reizen nicht mehr so stark ausgesetzt sind, die Empfänglichkeit steigen. Auch extremer Hunger, emotionaler Schock und Trauma schwächen die analytischen Fähigkeiten und machen uns für Informationen empfänglicher.

Abb. 6.8. Beziehung zwischen Gehirnwellenzuständen und der Verschiebung des Gewahrseins aus dem bewussten in den unterbewussten Geist während der Meditation, vorbei am analytischen Geist

Meditation entmystifiziert

Ähnlich wie mit Hypnose können wir den kritischen Geist auch mit Meditation umgehen und so zu den unterbewussten Programmen gelangen. Der ganze Sinn und Zweck der Meditation besteht darin, mit der Bewusstheit über den analytischen Geist hinauszugehen – die Aufmerksamkeit weg von der Außenwelt, dem Körper und der Zeit zu lenken und auf die Innenwelt der Gedanken und Gefühle zu achten.

Das Wort Meditation ist mit vielen Makeln und Vorurteilen behaftet. Den meisten Leuten kommen dabei Bilder von bärtigen Gurus auf einer Bergspitze in den Sinn, denen die Elemente nichts anhaben können und die in perfekter Stille dasitzen; oder von einem einfach gewandeten Mönch mit einem strahlenden, geheimnisvollen Lächeln; oder auch von einer jungen, wunderschönen Frau mit makelloser Haut auf dem Titelblatt eines Hochglanzmagazins in modischer Yoga-Kleidung, gelassen und frei von all den Anforderungen des Alltags.

Angesichts solcher Bilder kommt einem die dazu nötige Disziplin vielleicht gar zu unmöglich, zu weit weg und für uns nicht machbar vor. Oder wir betrachten Meditation als eine spirituelle Praxis, die nicht zu unseren religiösen Überzeugungen passt. So mancher ist auch schlichtweg von der scheinbar unendlichen Vielfalt an Meditationsarten überfordert und kann sich nicht entscheiden, womit er denn nun anfangen soll. Doch so schwierig muss es nicht sein, auch nicht so »abgehoben« oder verwirrend. In unserem Zusammenhang wollen wir den Sinn und Zweck der Meditation darin sehen, unser Bewusstsein über den analytischen Geist hinaus zu tieferen Bewusstseinsebenen zu führen.

In der Meditation tun wir nicht nur den Schritt weg vom bewussten und hin zum unterbewussten Geist, sondern auch weg von der Eigennützigkeit hin zur Selbstlosigkeit, weg vom Jemand hin zum Niemand, weg vom Materialismus hin zum Immaterialismus, weg von einem Ort hin zum Nirgendwo, weg von der Zeit hin zur Zeitlosigkeit, weg von der Überzeugung, die Außenwelt sei die Realität, und dem Definieren der Realität über die Sinne hin zum Glauben, die Innenwelt sei die Realität. Sind wir dort erst einmal hingelangt, betreten wir die Welt des »Un-Sinns«: die Welt des Denkens über die Sinne hinaus. Meditation bringt uns weg vom Überleben hin zum Schöpfertum, weg vom Getrenntsein hin zur Verbundenheit, weg vom Ungleichgewicht hin zum Gleichgewicht, weg vom Gefahrenmodus hin zu einem Modus von Wachstum und Wiederinstandsetzung und weg von den eingrenzenden Emotionen der Furcht, Wut und Trauer hin zu den expansiven Emotionen der Freude, Freiheit und Liebe. Im Grunde geht es dabei darum, sich nicht mehr an das Bekannte zu klammern und das Unbekannte anzunehmen.

Lassen Sie uns kurz darüber nachdenken. Wenn Ihr Neokortex der Sitz Ihres bewussten Gewahrseins ist und Sie dort Gedanken konstruieren, analytisch argumentieren, Ihren Intellekt einsetzen und rationale Prozesse an den Tag legen, dann müssen Sie Ihr Bewusstsein über den Neokortex hinausbringen, um meditieren zu können. Im Prinzip muss Ihr Gewahrsein dazu aus dem denkenden Gehirn ins limbische System und die unterbewussten Regionen »wandern«. Anders ausgedrückt, müssen Sie, um Ihren Neokortex und seine tagtäglichen Nerventätigkeiten herunterzufahren, aufhören, analytisch zu denken, und die Fähigkeiten der Vernunft, der Logik, des Intellektualisierens, des Vorwegnehmens, Voraussagens und Rationalisierens aufgeben – zumindest vorübergehend. Das ist mit dem Ausdruck »den Geist ruhigstellen« gemeint. (Schauen Sie sich ggf. noch einmal Abbildung 6.1 auf Seite 169 an.)

Um Ihren Geist ruhigzustellen, müssen Sie entsprechend dem bereits dargelegten neurowissenschaftlichen Modell allen automatischen neuronalen Netzen im denkenden Gehirn, die aus Gewohnheit ständig »abgefeuert« werden, eine »Waffenruhe« erklären, also sich nicht mehr ständig daran erinnern, wer Sie zu sein meinen, wodurch Sie immer wieder dieselbe Geisteshaltung reproduzieren.

Ich weiß, das hört sich nach einer riesengroßen Aufgabe an, die Sie womöglich überfordert; doch wie sich zeigt, gibt es erprobte, wissenschaftlich belegte Möglichkeiten, das zu erreichen und zu einer Fertigkeit zu entwickeln. In meinen Workshops auf der ganzen Welt gelingt dies vielen Teilnehmern ganz gut – obwohl sie vielleicht niemals zuvor meditiert haben –, wenn sie erst einmal gelernt haben, wie es geht. Auch Sie können diese Methoden in den nachfolgenden Kapiteln erlernen, aber zunächst einmal wollen wir Ihre innere Ausrichtung stärken, damit Sie noch mehr davon profitieren können, wenn Sie zum praktischen Teil kommen (so, wie die Aerobic-Teilnehmer in Quebec aus Kapitel 2, denen man sagte, sie würden sich durch den Sport besser fühlen, ihrem Training eine Bedeutung zumaßen – und daraufhin bessere Ergebnisse erzielten).

Warum Meditation eine so große Herausforderung sein kann

Der analytische Neokortex nutzt alle fünf Sinne, um die Realität zu bestimmen. Er ist sehr darum besorgt, seine ganze Bewusstheit auf den Körper, die Umwelt und die Zeit zu richten. Beim kleinsten bisschen Stress wird die Aufmerksamkeit auf diese drei Elemente fokussiert und verstärkt deren Bedeutung damit noch mehr. Wenn wir im Kampf-oder-Flucht-Gefahrenmodus sind und unser Adrenalin aktiviert ist, richten wir wie jedes Tier in der Wildnis unsere gesamte Aufmerksamkeit darauf, uns um unseren Körper zu kümmern, in der Umwelt Fluchtwege zu finden und uns auszurechnen, wie viel Zeit uns noch bleibt, um uns in Sicherheit zu bringen. Wir fokussieren uns stark auf irgendwelche Probleme, beschäftigen uns obsessiv mit unserem Aussehen, verharren in Schmerzen, denken darüber nach, wie wenig Zeit uns für die Dinge bleibt, die abgearbeitet werden müssen, und sind bei der Erledigung von anstehenden Aufgaben gehetzt. Klingt das für Sie vertraut?

Weil wir uns im Überlebensmodus gar so sehr auf das äußere Umfeld und unsere damit zusammenhängenden Probleme konzentrieren, meinen wir schnell, das Sichtbare und das gegenwärtige Erleben sei alles und ohne die Außenwelt seien wir ein körperloser Niemand, ein Nichts im Nirgendwo – ganz schön beängstigend für ein Ego, das versucht, seine ganze Realität zu kontrollieren, indem es ständig eine Identität bestärkt!

Vielleicht wird es für Sie einfacher, wenn Sie sich in Erinnerung rufen, dass im Überlebensmodus die bewusste Wahrnehmung nur die Spitze des Eisbergs erfasst, nur eine begrenzte Reihe an Zutaten, aus denen sich Ihr äußeres Umfeld zusammensetzt. Sie identifizieren sich mit den vielen Variationen und Kombinationen in der Außenwelt, die Ihnen zurückspiegeln, wer sie nach Ihrer Meinung wirklich sind – was aber nicht heißt, es gäbe darüber hinaus nichts. Sooft Sie etwas Neues lernen, verändern Sie Ihre Sicht der Welt. Nicht die Welt hat sich verändert, sondern lediglich Ihre Wahrnehmung davon (mehr über Wahrnehmung im nächsten Kapitel).

Im Moment reicht es, sich noch einmal klarzumachen: Wenn Sie Wandel bewirken wollen, es aber bislang mit Ihren äußeren Ressourcen nicht geklappt hat, müssen Sie offensichtlich über die Grenzen dessen, was Sie sehen, spüren und erleben, hinausschauen, um Antworten zu finden. Sie müssen andere, Ihnen bislang noch nicht bekannte Quellen anzapfen: das Unbekannte. So gesehen ist das Unbekannte Ihr Freund, nicht Ihr Feind, und der Ort, wo die Antworten zu finden sind.

Es ist auch deshalb so schwierig, die Aufmerksamkeit von all den äußeren Gegebenheiten abzuziehen und auf die Innenwelt zu richten, weil so viele Menschen süchtig nach Stresshormonen sind: nach dem Rausch der chemischen Substanzen, die aufgrund bewusster oder unbewusster Reaktionen produziert werden. Diese Sucht verstärkt die Überzeugung, die Außenwelt sei realer als die Innenwelt. Unsere Physiologie ist darauf konditioniert, diese Haltung zu unterstützen, schließlich existieren ja echte Bedrohungen, Probleme und Sorgen, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten müssen. So werden wir von unserem derzeitigen äußeren Umfeld abhängig. Durch assoziative Erinnerungen bestätigen wir anhand unserer Probleme und Umstände diese emotionale Abhängigkeit von dem, was wir zu sein meinen.

Wir können es auch anders formulieren: Die Stresshormone, die wir im Überlebensmodus erleben, versorgen den Körper mit einer hohen Dosis an Energie und schärfen die fünf Sinne, die uns in die äußere Realität »einklinken«. Wenn wir ständig unter Stress stehen, definieren wir also die Realität über die Sinne; wir werden zu Materialisten. Beim Versuch, sich nach innen zu wenden und sich mit der Welt des »Un-Sinnigen« und mit dem Immateriellen zu verbinden, bereitet es dann Mühe, die konditionierte Gewohnheit und die Sucht nach dem chemischen Rausch zu durchbrechen, den uns die äußere Realität beschert.

Wie sollen wir so glauben können, Gedanken seien mächtiger als die physische, dreidimensionale Realität? Aus dieser Sicht der Dinge wird Veränderung durch Gedankenkraft zu einer großen Herausforderung, denn wir sind zu Sklaven unseres Körpers und unserer Umwelt geworden.

Als Gegenmittel können Sie sich die Geschichten aus Kapitel 1 noch einmal zu Gemüte führen – und die Geschichten aus meinen Workshops in den Kapiteln 9 und 10 lesen. Sich immer wieder neue Informationen vor Augen zu führen, die zeigen, dass das unserer Meinung nach Unmögliche doch möglich ist, hilft uns, uns daran zu erinnern, dass Realität mehr ist als das, was unsere Sinne wahrnehmen. Ob wir uns das nun eingestehen oder nicht: Wir sind das Placebo.

Eine kleine Reise durch die Gehirnwellen

Wenn es beim Meditieren also darum geht, Zugang zum autonomen Nervensystem zu gewinnen, um suggestibler zu werden und die oben erwähnten Herausforderungen zu bewältigen, dann müssen wir wissen, wie wir dorthin kommen. Die kurze Antwort lautet: Mihilfe einer Gehirnwelle. Der Gehirnwellenzustand, in dem wir uns zu einem beliebigen Zeitpunkt befinden, hat einen enormen Einfluss auf den Grad der Suggestibilität in diesem Moment.

Sobald Sie diese unterschiedlichen Zustände erkennen können, wenn Sie sich darin befinden, können Sie trainieren, willentlich von einem Zustand in den anderen zu wechseln, die ganze Skala der Gehirnwellenmuster hinauf und hinunter. Natürlich erfordert das ein wenig Übung, aber es ist möglich. Wir wollen uns diese unterschiedlichen Zustände nun ein wenig genauer anschauen.

Wenn Neuronen gemeinsam feuern und aktiviert werden, tauschen sie geladene Elemente aus, die daraufhin elektromagnetische Felder erzeugen, welche bei einem Gehirn-Scan gemessen werden können (beispielsweise einem EEG).

Der Mensch hat mehrere messbare Gehirnwellenfrequenzen; je niedriger und langsamer die Frequenz ist, desto tiefer gehen wir in die Innenwelt des Unterbewussten. Vom langsamsten zum schnellsten heißen die Gehirnwellenzustände Delta (erholsamer Tiefschlaf – vollkommen unbewusst), Theta (ein Dämmerzustand zwischen Tiefschlaf und Wachsein), Alpha (fantasievoller, einfallsreicher Schöpferzustand), Beta (bewusstes Denken) und Gamma (höhere Bewusstseinszustände).

Beta ist der alltägliche Wachzustand, in dem das denkende Gehirn bzw. der Neokortex alle eintreffenden sensorischen Daten verarbeitet und zwischen Außen- und Innenwelt Bedeutung schafft. Beta ist für das Meditieren nicht optimal, denn im Beta-Zustand scheint die Außenwelt realer als die Innenwelt zu sein. Das Betawellenspektrum umfasst drei Gehirnwellenmuster: niederfrequentes Beta (entspannte, interessierte Aufmerksamkeit, beispielsweise beim Lesen eines Buches), mittelfrequentes Beta (konzentrierte Aufmerksamkeit auf einen beständigen Reiz außerhalb des Körpers wie beim Lernen und darauffolgenden Erinnern) und hochfrequentes Beta (hochkonzentrierte Aufmerksamkeit im Krisenmodus, in dem Stresshormone produziert werden). Je höherfrequenter die Betawellen sind, desto weniger sind wir in der Lage, auf das Betriebssystem zuzugreifen.

Meistens gehen wir vom Beta- in den Alpha-Zustand und wieder zurück. Alpha ist der Entspannungszustand, wo wir der Außenwelt weniger Aufmerksamkeit schenken und sie dafür verstärkt auf die Innenwelt lenken. Im Alpha-Zustand befinden wir uns in leichter Meditation oder, wie man auch sagen könnte, im Zustand der Imagination und des Tagträumens. Dann ist die Innenwelt realer als die Außenwelt, denn dorthin ist unsere Aufmerksamkeit gerichtet.

Beim Wechsel vom hochfrequenten Beta- in den langsameren Alpha-Zustand, wo wir Aufmerksamkeit, Konzentration und Fokus entspannter angehen können, aktivieren wir automatisch den Stirnlappen, der, wie wir ja schon gehört haben, die »Lautstärke« jener Schaltkreise im Gehirn herunterdreht, in denen Zeit und Raum verarbeitet werden. Nun sind wir nicht mehr im Überlebensmodus, sondern in einem Zustand des Schöpfertums, in dem unsere Suggestibilität höher ist als im Beta-Zustand.

Noch tiefer in den Theta-Zustand zu sinken, ist noch schwerer zu erlernen. Theta ist so eine Art Dämmerzustand, in dem wir halb wach und halb im Schlaf sind (oder, wie das oft beschrieben wird, »der Geist wach ist und der Körper schläft«). Auf diesen Zustand zielen wir in der Meditation ab, denn in diesem Gehirnwellenmuster ist die Suggestibilität am höchsten. Im Theta-Zustand gelangen wir ins Unterbewusstsein, weil der analytische Geist nicht »im Dienst« ist – wir befinden uns hauptsächlich in der Innenwelt. Wir können uns Theta als den Schlüssel zum Königreich unseres Unterbewusstseins vorstellen. Abbildung 6.9 veranschaulicht die unterschiedlichen Gehirnwellenfrequenzen.

Abb. 6.9. Unterschiedliche Gehirnwellenzustände während eines Intervalls von einer Sekunde, darunter auch Gamma-Gehirnwellen, die Ausdruck einer Art »Superbewusstheit« sind – was einen höheren Bewusstseinszustand widerspiegelt.

Diese kurze Reise durch die Gehirnwellenmuster ist für die Meditationspraxis in nachfolgenden Kapiteln hilfreich. Erwarten Sie nicht, gleich direkt auf Befehl in den Theta-Zustand zu sinken; doch es hilft zu wissen, welche unterschiedlichen Gehirnzustände es gibt und wie sie sich auf Ihre Bemühungen auswirken.

Anatomie eines »Attentats«

Jetzt kommen wir zurück zur Geschichte von Ivan Santiago und den anderen Hypnose-Probanden zu Beginn dieses Kapitels. Offensichtlich ist es diesen Leuten leichter als den meisten anderen Menschen gefallen, über ihren analytischen Geist hinauszugehen. Sie verfügten anscheinend sowohl über Neuroplastizität als auch emotionale Plastizität, wodurch sie ihre Innenwelt realer machen konnten als die Außenwelt. Im normalen Wachzustand befanden sie sich wahrscheinlich mehr im Alpha- als im Beta-Zustand, es zirkulierten also auch nicht so viele Stresshormone im Körper, die sie aus der Homöostase bringen konnten. Durch ihre hohe Suggestibilität konnte ihr bewusster Geist die autonomen Funktionen ihres unterbewussten Geistes besser steuern.

Doch sie waren nicht alle gleich; im Rahmen der Studie wurden unterschiedliche Grade der Suggestibilität aufgezeigt. Die 16 Testpersonen, die die Erstevaluierung bestanden, waren bestimmt suggestibel, aber nicht so suggestibel wie diejenigen, die auch die nächste Testphase bestanden, indem sie nach einer entsprechenden posthypnotischen Suggestion in der Öffentlichkeit die Kleider ablegten und damit gegen tief verwurzelte soziale Normen verstießen. Die vier Probanden, die diesen Test bestanden, waren ganz bestimmt hoch suggestibel und in der Lage, über ihr soziales Umfeld hinauszuwachsen. Doch als es dann darum ging, in eiskaltes Wasser zu steigen, schafften das drei der vier Testpersonen nicht; es gelang ihnen nicht, über ihr physisches Umfeld hinauszuwachsen. Nur Santiago, der auch unter extremen Umständen über längere Zeit von seiner physischen Umgebung unabhängig blieb und die Herrschaft über seinen Körper behielt, zeigte den höchsten Grad an Suggestibilität. Er konnte nicht nur dem Bad im eiskalten Wasser trotzen, sondern auch über sein moralisches Umfeld hinauswachsen und der posthypnotischen Suggestion folgen, die ihm befahl, den »ausländischen Würdenträger« zu erschießen, obwohl seine bewusste Persönlichkeit wohl kaum die eines kaltblütigen Killers war.

Beim Placebo-Effekt ist ein ähnlich hoher Suggestibilitätsgrad erforderlich, um sich über längere Zeit vom Körper und von der Umwelt unabhängig zu machen – also zu akzeptieren, zu glauben und sich auf die Vorstellung einzulassen, die Innenwelt sei realer als die Außenwelt.

Schon bald werden auch Sie lernen, wie Sie nicht nur Ihre Überzeugungen verändern und Ihre Suggestibilität steigern können, sondern auch, wie Sie in diesem Zustand Ihr Unterbewusstsein programmieren können – vielleicht nicht darauf, einen Stuntman mit einer Requisitenpistole zu erschießen, sondern eher auf den Triumph über Ihre gesundheitlichen Beschwerden, emotionalen Traumata und Ihre anderen persönlichen Probleme.

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1 Discovery Channel, »Brainwashed«, 2. Staffel, Folge 4 der Serie »Curiosity«, ausgestrahlt am 28. Oktober 2012.

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