Die Hefe des Denkens.
Cannabisrezeptor im Gehirn entdeckt
MATERIALIEN 3
Hirnforschung
Die menschlichen Gehirnzellen verfügen über spezielle Cannabisrezeptoren, Andockstellen, auf die einzig der Hanfwirkstoff THC paßt. Diese Entdeckung versetzte die Hirnforscher 1990 in Aufregung. Sollte die Natur etwa das Gehirn mit diesem Rezeptor ausgestattet haben, nur um es zum Hanfgenuß zu verlocken? Drei Jahre später wurde des Rätsels Lösung entdeckt: Das Gehirn selbst ist offenbar in der Lage, einen cannabisähnlichen Neurotransmitter herzustellen. Diese sensationelle Entdeckung wurde im Juli 1993 (nach Redaktionsschluß dieses Buches) veröffentlicht. Zwei Artikel aus der taz geben einen ersten Überblick.
Rolf Achteck, »Die Hefe des Denkens«, aus: tageszeitung vom 25.9.1990; ders.: »Neuronen produzieren legales Marihuana.
Das beste High seit Jahren«, aus: tageszeitung, 6.8.93
Berlin (taz). Das menschliche Gehirn verfügt über einen speziellen Cannabisrezeptor. Cannabidiole – die psychoaktiven Wirkstoffe des Hanfs – werden von diesem Rezeptor gebunden, der dann die biochemischen Vorgänge auslöst, die zu den charakteristischen Wirkungen der Pflanze führen. Lisa Matsuda, Molekularbiologin am National Institute of Health (NIH) in Washington, hat den Rezeptor entdeckt und konnte zeigen, daß er in den Membranen der Gehirnzellen lokalisiert ist. In der jüngsten Ausgabe von Nature (Nr. 346, 1990, S. 561 ff) sind die Forschungsergebnisse veröffentlicht, denen, so Lisa Matsuda, »noch viel Arbeit« folgen muß. Was die Forscher in dem von Tom Bonner geleiteten Labor vor allem verdutzt, ist die Tatsache, daß die Natur den Menschen mit einem speziellen Rezeptor ausgestattet haben soll, nur um ihn zum Rauchen von Marihuana zu verlocken. Zwar zählt der ursprünglich in Zentralasien beheimatete Hanf (Cannabis sativa) zu den ältesten Kulturpflanzen der Menschheit, das Gen allerdings, das für die Ausbildung des Cannabisrezeptors zuständig ist, scheint sehr viel älter zu sein. Tom Bonner hat Anzeichen dafür entdeckt, daß es sogar schon in evolutionären Frühformen des Lebens wie der Fruchtfliege Drosophila existiert: »Wenn dieses Gen durch die gesamte Evolution konserviert wurde, dann muß sein Produkt (der Rezeptor) eine wichtige Funktion haben.« Die fundamentale biologische Funktion des neuronalen Hanfempfängers vermuten die Forscher in der Eigenschaft des Gehirns, den öffentlichen Drogenkrieg höchst eigenmächtig zu sabotieren: »Der am meisten einleuchtende Grund für die Existenz eines Cannabisrezeptors«, faßt der New Scientist (11.8.90) die Ergebnisse zusammen, »ist, daß das Gehirn einfach eine cannabisähnliche Chemikalie herstellt, die als Botenstoff zwischen den Zellen agiert, indem sie den Rezeptor aktiviert. Dies würde bedeuten, daß der Rezeptor unter bestimmten Umständen einige der Effekte hervorruft, die Marihuanaraucher schätzen.«
Als Mitte der 80er Jahre der Nestor der bundesdeutschen Cannabis-Selbsterforschung, Wolfgang Neuss, in einem seiner taz-Beiträge Cannabis als »Die Hefe des Denkens« definierte, mochte das die Mehrheit der LeserInnen noch als feuilletonistischen Gag abtun. Nach den experimentell bestätigten Ergebnissen des Washingtoner NIH allerdings scheint Meister Neuss der harten Wissenschaft wieder mal um einige Jahre vorausgewesen zu sein. »Die Funktion dieses Systems«, schreibt die Entdeckerin Lisa Matsuda, »könnte darin bestehen, daß es den Input dämpft und dem Gehirn so erlaubt, bestimmte Erinnerungsprozesse in Gang zu setzen.« Cannabis also als eine Art »expanded memory« des menschlichen Bio-Computers? Auch wenn die Molekularbiologin mit Schlußfolgerungen »vorsichtig« bleiben will, ein Blick in die (vergessene) Geschichte des Hanfs spricht für sich. Im ältesten Arzneibuch, dem chinesischen Pen Tsao, wird Hanf, wie auch bei den Babyloniern, Indern und vielen anderen Völkern, nicht nur als Heilmittel für zahlreiche Krankheiten empfohlen, sondern auch als »göttliches Kraut«, das »den Geist für eine Zeit reisen läßt«: »Nimmt man sie (die Blüten der Pflanze) über längere Zeit hinweg, wird man befähigt, mit den Geistern zu sprechen, und der Körper wird leicht.« Es scheint, als hätten die Ärzte vor 5000 Jahren schon gewußt, was die Neuro-Wissenschaftler unserer Tage jetzt wieder entdeckt haben: daß Hanf »den Input dämpft und dem Gehirn erlaubt, bestimmte Erinnerungsprozesse in Gang zu setzen«.
Neuronen produzieren legales Marihuana: Das beste High seit Jahren
Das menschliche Gehirn produziert eine Substanz, die genauso wirkt wie Marihuana – diese Entdeckung, so das englische Wissenschaftsmagazin New Scientist (Nr. 1884, 31.7.93), hat der Gehirnforschung das »beste High« seit Jahren beschert. Schon nach der Entdeckung eines einzigen auf den Hanfwirkstoff THC (Tetrahydrocannabinol) reagierenden Rezeptors im Nervensystem 1990 hatten die Forscher vermutet, daß eine cannabisähnliche Chemikalie vom Gehirn selbst produziert wird; jetzt wurde sie gefunden. Von Raphael Mechoulam an der Universität Jerusalem, eben jenem Forscher, der 1964 erstmals den Hanfwirkstoff THC isolierte hatte. Das neu entdeckte, körpereigene Marihuana nennt Mechoulam »Anandamide« nach ananda, dem Sanskritwort für »Glückseligkeit«.
»Der Fund bedeutet neue Hoffnung für Therapien aus der langen Liste des überlieferten medizinischen Gebrauchs der Pflanze: als Schmerzkiller, Appetitanreger und Übelkeitsunterdrücker, um nur einige zu nennen. Darüber hinaus eröffnet er einen neuen Blick auf die mysteriöse Arbeitsweise unserer Gehirne.« Weiter heißt es im New Scientist: »Die Forschung in Sachen Marihuana, oder Cannabis sativa, war aufgrund offiziellen Mißbehagens über das Kraut und seinen Gebrauch lange unterdrückt. Es wurde sogar als Droge ohne medizinische Bedeutung eingestuft und sein Gebrauch als Genußmittel überall verfolgt. Aber das war nicht immer so. Uber Tausende von Jahren wurde die Pflanze in Indien wegen ihrer Wirkung auf das Bewußtsein geschätzt. (...) Auch der Westen benutzte Marihuana: Der Arzt von Queen Victoria verschrieb es gegen die Menstruationsbeschwerden Ihrer Majestät; George Washington und Thomas Jefferson pflanzten es auf ihren Landgütern als Faserpflanze für Textilien und Seile. (Historisch nicht überliefert ist, ob diese beiden Präsidenten ihre Ernte auch geraucht, und wenn ja, ob sie auch inhaliert haben.)«
Der Fund eines Cannabisrezeptors bedeutet, daß THC, anders als Alkohol, »nach einem genauen ›Modus operandi‹ in spezifische Hirnfunktionen eingreift«. Welche genaue Rolle die vom Gehirn produzierten, THC-ähnlichen Anandamide für die verschiedenen Hirntätigkeiten spielen, ist derzeit noch nicht erforscht, die Wirkung von Cannabis deutet die Richtung an: Beeinflussung der Stimmung, des Gedächtnisses und der Schmerzempfindung zum Beispiel. »Als was auch immer sich Anandamide herausstellen werden«, resümiert der New Scientist, »sie liefern den Pharmakologen neue Strategien auf ihrer Jagd nach cannabisähnlichen Arzneien. Solche Drogen könnten wertvoll sein, um die Übelkeit bei der Krebs-Chemotherapie zu unterdrükken; den Appetit von Aidspatienten anzuregen; Krämpfe bei neurologischen Krankheiten zu mildern; den Augendruck bei Glaukompatienten zu senken und Schmerzen zu lindern, wo andere Schmerzmittel versagen.« All dies könne zwar auch das einfache Hanfkraut leisten, aber, so das Blatt, »mit einem kleinen Nebeneffekt: Es macht den Rezipienten high. Der heilige Gral der Cannabistherapie war es, die Wirkung des High durch chemische Veränderung des THC oder seiner Ableitungen von den anderen Effekten zu trennen. (...) Verschiedene US-Pharmafirmen verbrachten einige Jahre mit dieser Arbeit – ohne Erfolg. Ebenfalls nicht erreicht wurde ein anderes Forschungsziel: einen Antagonisten zu finden, der die Effekte von THC im Gehirn blockiert. Solange die Marihuanaforschung in dieser Richtung nicht weiterkommt, ist es unwahrscheinlich, daß die Pharmakonzerne sich sonderlich engagieren werden.«
Dennoch ist die große Bedeutung der Entdeckung unzweifelhaft: »Wir haben es nicht mehr einfach mit der Pharmakologie eines Genußmittels zu tun«, so Roger Perwett von der Universität Aberdeen, »sondern mit der Physiologie eines neu entdeckten Systems im Gehirn.«