Von der »Milch der Götter« zum Paria der Nutzpflanzen

Wie die Menschen der Jungsteinzeit auf den Hanf kamen, kann nur vermutet werden. Vielleicht hatte jemand die überaus stabilen Fasern eines verrottenden Hanfstammes entdeckt und sie als Seil benutzt; oder die prächtigen, fetten Samen – die eigentlichen Früchte des Hanfs und das Lieblingsfutter aller Vögel – wurden als Nahrung ausprobiert und für gut befunden. Vielleicht aß aber auch einer unserer hungrigen Urahnen einfach von den sattgrünen Blättern der Pflanze, – um sich wenig später in euphorisierter Stimmung wiederzufinden. Fest steht jedenfalls, daß der Hanf zu den ältesten Kulturpflanzen überhaupt zählt. Wo immer sich Menschen ansiedeln und Ackerbau betreiben, da findet sich bald auch Cannabis sativa. »Wir haben Grund zur Annahme«, so der Botaniker William A. Emboden, »daß Hanf die Milch der Götter an der Wiege der Zivilisation war – Nahrung, Medizin und prophetische Pflanze; eine Pflanze, die sowohl Fasern für Stoffe und Papier liefert wie auch den Zauberstab für schamanistische Heilungen und Harz zum Verschließen der Wunden, die Kummer dauerhaft vertreibt, Asthmakrämpfe lindert und als Beruhigungsmittel dient. Lassen sich ähnliche Eigenschaften auch in einer anderen Pflanze finden? Ich bin sicher, daß dies nicht der Fall ist.«1

Wie diese »Milch der Götter« in unserem Jahrhundert als »Mörder der Jugend« in Verruf kam und wie das universale Überlebensmittel der Menschheit zum Paria der Nutzpflanzen wurde, davon berichtet dieses Buch. Es berichtet aus dem Blickwinkel der USA, doch ist diese Perspektive nahezu zwangsläufig auch die unsere: zum einen, weil angesichts des Treibhauseffekts und der ökologischen Krise alle Industrienationen gleich sind, zum anderen, weil im internationalen »War on drugs«, in dessen Rahmen der Hanf weltweit geächtet ist, die USA nach wie vor den Ton angeben. Und es ist immer noch jener Ton, den sich die Behörden beim Hearing zum »Marijuana Tax Act« 1937 herausnahmen, als sie das mexikanische Slangwort »Marihuana« in die Amtssprache übernahmen – gegen den Einspruch des ärztlichen Sachverständigen, der erfolglos auf dem korrekten medizinischen Terminus »Cannabis« bestand (vgl. Seite 391 ff.). Es war die Sprache der Denunziation und der Antiaufklärung, – und sie hält sich bis auf den heutigen Tag.

Würde in Hollywood auch ein Propaganda-Oscar für ausgefuchste Drehbücher von politischen Medienkampagnen ausgelobt, der geniale Bürokrat Harry J. Anslinger (siehe Seite 57 ff.) hätte zweifellos mehr als einen eingeheimst. Er ist einer der großen Propagandastrategen des Jahrhunderts. Der von ihm initiierte fundamentalistische Krieg gegen Cannabis tobt seit nunmehr über 50 Jahren, und die Zahl seiner Opfer geht in die Millionen: Über 50 000 Cannabisprozesse führt allein die bundesdeutsche Justiz jedes Jahr, meist gegen junge Menschen und in der weit überwiegenden Zahl wegen geringer bis verschwindend geringer Hanfmengen.2 Daß der Schaden, der durch diese Verfolgung entsteht, ungleich größer ist als ein möglicher gesundheitlicher Schaden durch den Konsum der Pflanze selbst, diese Einsicht gewinnt zwar auch in Kreisen der Polizei und Justiz zunehmend an Gewicht3. Einer Reform der Cannabisgesetze aber steht nach wie vor die Propagandahetze vom »Mörderkraut« aus den 30er Jahren entgegen. Zu ihren modernen Interpreten zählen bei uns Politiker vom Zuschnitt eines Edmund Stoiber, der, wenn es sein muß – etwa als 1992 das Landgericht Lübeck eine Verurteilung wegen 1,2 Gramm Cannabis ablehnte und die Frage nach einem »Recht auf Rausch« an das Verfassungsgericht überwies4 –, einen Harry macht wie der alte Anslinger: Wer den unbestraften Genuß von Cannabis befürworte, warf Stoiber den Lübecker Richtern vor, nehme »in verantwortungsloser Weise den Tod von Tausenden junger Menschen in Kauf«.5

Nun weist die gesamte medizinische Literatur keinen einzigen Cannabistoten auf, eine tödliche Hanfdosis ist in der Pharmakologie nicht bekannt. Andererseits wurden die Blätter und das Harz der Pflanze seit Urzeiten als schmerzlindernde, krampflösende Medizin sowie als entspannendes, »bewußtseinserweiterndes« Genußmittel verwendet. Der früheste archäologische Fund von Cannabissamen wird auf 5500 vor Christus datiert und stammt aus einer Grabung bei Eisenberg in Thüringen, einer Gegend, in der noch bis Mitte dieses Jahrhunderts Hanf angebaut wurde.6 In diesen 7500 Jahren war die psychoaktive Wirkung des Cannabis sehr wohl bekannt. Schon seine erste schriftliche Erwähnung, in dem auf das dritte Jahrtausend vor Christus zurückgehenden chinesischen Arzneibuch Pen Tsao, betont, daß Hanf »den Körper leicht macht«. In diesen Jahrtausenden menschlichen Hanfgebrauchs hat es zu keiner Zeit ein nennenswertes »Drogenproblem« gegeben. Noch im Jahre 1908 schätzt Meyers Konversationslexikon, daß »gegenwärtig 200 Millionen den Hanf als Berauschungsmittel anwenden«, und fährt vergleichsweise gelassen fort: »Haschisch in Maßen und in guter Qualität genossen, schadet kaum; übermäßiger, anhaltender Gebrauch von schlechtem Haschisch, namentlich bei dürftiger Ernährung, wirkt zerrüttend. (...) Man glaubt, daß sein Genuß zu harter anhaltender Arbeit befähige, Schmerz tilge und den üblen Wirkungen des Klimawechsels vorbeuge. Man schreibt ihm die Erzeugung eines heiteren, angenehmen Rausches zu.« Wenige Jahre zuvor war die britische »Hanfdrogen-Kommission« nach einer großen Untersuchung in Indien zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen und sah wenig Anlaß, das traditionelle Rauschmittel der Kolonie zu verbieten. Vielmehr äußerte sie den Verdacht, »daß der Angriff auf die Hanfdrogen nur gestartet wurde, um an ihrer Stelle europäischen Schnaps zu verkaufen«.7

Was die Mumien angeht, wurde de Candolle 1992 bestätigt: Deutsche Ägyptologen entdeckten Cannabisspuren in den Körpern ihrer Museumsstücke – und wunderten sich (taz, 8.10.92).

Da Cannabis das Aspirin der Antike war, ist dieser Fund freilich keine Überraschung. Was allerdings die Nichterwähnung des Hanfs bei den Hebräern angeht, liegt de Candolle falsch: s. folgende Seite

Daß der Hanf 1925 dennoch auf die Verbotsliste der Zweiten Internationalen Opiumkonferenz geriet, war denn auch weniger medizinischen als rassepolitischen Gründen geschuldet: Das Burenregime Südafrikas wollte seiner kiffenden schwarzen Bevölkerung Herr werden, indem es ihr »Kraut« international ächtete. In Afrika, Asien und Amerika wurden Hanfblätter von jeher als billiger Tabakersatz geraucht, und auch der deutsche Bauer stopfte sich ganz selbstverständlich sein Pfeifchen mit »Knaster«, so genannt, weil die Hanfsamen darin »knasternd« explodierten. Hätte jemand unseren ländlichen Vorfahren vor hundert Jahren erzählt, sie hätten ihre Pfeifen mit einem mörderischen »Rauschgift« gestopft, sie hätten wahrscheinlich schallend gelacht: Es war doch nur der gute alte Hanf, mit dem sich schon der Großvater abends ein bißchen entspannte und der ihm im Unterschied zum Schnaps sehr gut bekam – so wie dem feinen Herrn im 18. Jahrhundert seine hanfhaltigen Orient-Zigaretten, die in Deutschland noch Anfang dieses Jahrhunderts verkauft wurden. Daß Sorten wie »Nil« (8 Prozent Cannabisgehalt), »Harem« (7 Prozent) etc. um 1910 vom Markt verschwanden, hatte allerdings weniger mit Drogenpolitik als mit einem frühen Trend zum »Leichtrauchen« zu tun; der »starke Tobak« war nicht mehr so gefragt.

Die Bedeutung, die Hanf als Genußmittel und Medizinalpflanze noch vor einem Jahrhundert in Deutschland hatte, mögen die Mengen an Hanfdrogen belegen, die im Hamburger Hafen monatlich gelöscht wurden: Im September 1885 waren es 3,5 Tonnen Ganja (indisches Marihuana), 12 Tonnen Bhang (marihuanahaltiges Getränk) und 3 000 Doppelzentner Charas (d. h. 300 Tonnen Haschisch).

Die Volksrepublik China zählt nach wie vor zu den drei größten Hanfproduzenten. 1991 wurden 60 000 Hektar angebaut, in Indien waren es 77 000 Hektar, in der ehemaligen Sowjetunion 58 000 Hektar.

Zum Vergleich: 1910 wurden allein in Rußland noch 653 000 Hektar Hanf angebaut.

Die 200 Tonnen Cannabisdrogen, die laut BKA derzeit pro Jahr in der Bundesrepublik konsumiert werden, wären mit einer einzigen damaligen Monatsration mehr als gedeckt. Ein Cannabisproblem aber oder gar Meldungen über den »Tod von Tausenden jungen Menschen« tauchen in den Veröffentlichungen dieser Zeit nirgendwo auf. Entsprechend zeigte der Vertreter des Deutschen Reichs bei der Opiumkonferenz wenig Interesse, dem von Südafrika geforderten und von der Türkei und Ägypten unterstützten Cannabisverbot zuzustimmen. Den Deutschen ging es bei dieser Konferenz vor allem darum, Schaden von zwei in Verruf geratenen internationalen Verkaufsrennern des pharmazeutischen Außenhandels abzuwenden: dem »Heroin« der Firma Bayer und dem »Kokain« der Firma Merck. Als sich bei einer Kampfabstimmung über Cannabis ein Patt abzeichnete, sicherte der Vertreter Ägyptens den Deutschen zu, keine Importbeschränkungen für Heroin zu erlassen. Deutschland stimmte daraufhin dem Verbot zu.8 Bis zur Unterzeichnung eines nationalen Opiumgesetzes gingen allerdings noch vier Jahre ins Land; so ohne weiteres wollte die Pharmalobby ein Verbot ihrer lukrativen Wundermittel »Heroin« und »Kokain« nicht hinnehmen.

Am Ende aber fiel die uralte Pflanzendroge Hanf (zusammen mit dem Mohn) unter dieselbe Klasse der »unbedingten Verbote« wie die beiden »Turbo-Drogen« des pharmazeutisch-technischen Fortschritts. Von 1929 an waren Handel und Konsum von »Indischem Hanf und namentlich seinem Harz« in Deutschland strafbar. Allerdings spielte Cannabiskonsum vor Mitte der 60er Jahre als Delikt keine Rolle9, abgesehen von einigen GIs, die nach 1945 nicht nur Kaugummi und Coca-Cola, sondern auch Marihuana importierten – jenes Kraut, das europäische Siedler einst aus der Alten Welt nach Amerika gebracht hatten. Und just zu jenem Zeitpunkt kam es als nunmehr illegales Rauschgift nach Deutschland zurück, als sein Anbau als universelle Nutzpflanze endgültig unterdrückt wurde. Seine Eigenschaft als »kriegswichtiger nationaler Rohstoff« hatte dem Hanf in der Maschinerie der Weltkriege noch einmal eine letzte Blüte beschert. Mitte der 50er Jahre wurde der Anbau in der Bundesrepublik eingestellt. 1971 wurden die Cannabisbestimmungen des Opiumgesetzes in das neue Betäubungsmittelgesetz übernommen; aber mittlerweile hatte eine neue Generation Cannabis als »Protestdroge« entdeckt – und Harry J. Anslinger auch schon eine neue Hanftheorie entwickelt. Während er als Leiter der amerikanischen Drogenbehörde 1937 noch bezeugt hatte, daß Marihuana »gefährlicher als Heroin und Kokain« sei, so behauptete er in den 50er Jahren, zum Leiter des UN-Drogenreferats befördert, daß es unweigerlich zum Heroin führen müsse.10 Damit war die Theorie der »Einstiegsdroge« Cannabis geboren, deren inhärente Absurdität – die erste »Einstiegsdroge« ist Muttermilch, die zweite zuckersüßer Babytee usw. usw. –, für ihre weltweite Verbreitung genausowenig ein Hindernis darstellte wie ihre dutzendfache medizinische Widerlegung: Bis heute gehört sie, in immer neuen Varianten und Metaphern11, zum festen Inventar der Cannabisprohibition. Bei der Entstehung des Betäubungsmittelgesetzes 1971 spielte die Theorie der »Einstiegsdroge« ebenso die entscheidende Rolle wie bei seiner verschärften Neufassung 1981, nach der nicht nur die Blätter und das Harz, sondern auch die Wurzeln, Stiele und Stengel des Hanfs unter das Betäubungsmittelgesetz fallen: Seit dem 1. Januar 1982 ist in Deutschland die gesamte Pflanze verboten und jeder Anbau von Cannabis sativa unter Strafe gestellt. Hanf, die »Milch der Götter«, die den Menschen seit Jahrtausenden Nahrung, Kleidung und Medizin gespendet hatte, wurde zum Paria unter den Nutzpflanzen.12

Hanfpapier – die Hardware der Gutenberg-Revolution

Die Spezies heißt Cannabis sativa L., wobei sativa für »angebaut, kultiviert« steht und L. für Linnäus, den schwedischen Begründer der modernen Botanik, der vom angebauten Hanf noch eine zweite Art, Cannabis indica, unterschied. Über 200 Jahre lang meinte man deshalb, es gäbe zwei Arten von Hanf, und nur der »Indische Hanf« habe eine geistige Wirkung. Erst in neuerer Zeit geht die Wissenschaft von einer Spezies aus, deren unterschiedliche Varietäten – die wildwachsende Cannabis ruderalis und die harzreiche Cannabis indica – klima- und züchtungsbedingt sind.13 Vom archaischen China aus, wo die Existenz von Hanftextilien spätestens seit der Yang-Shao-Kultur (4200 vor Christus) belegt ist und Hanfsamen zu den wichtigsten Nahrungsmitteln zählten, brachten Mongolen, Skythen und Arier die Kunde der Hanfnutzung nach Indien und in den Mittelmeerraum. Wie in den Veden, dem indischen Schöpfungsmythos, wo Gott Shiva »den Menschen zur Freude und zur Erleuchtung« den Hanf vom Himalaja bringt, wurde die Pflanze in zahlreichen frühen Kulturen als »göttliches Kraut« verehrt. Im ersten vorchristlichen Jahrtausend finden sich Spuren des Hanfgebrauchs überall in Europa. So berichtet der griechische Schriftsteller Herodot (um 450 vor Christus) außer von der Hanfdampfberauschung der Skythen auch von den Hanfkleidern der Thrakier (im heutigen Bulgarien), »welche ganz genauso aussehen wie leinene, so daß Leute, die sich nicht darauf verstehen, sie nicht voneinander unterscheiden können«. Die etwa aus derselben Zeit stammenden, im Grabhügel eines keltischen Fürsten von Hochdorf bei Stuttgart gefundenen Hanfstoffe sind hingegen noch nicht aus der aufbereiteten, reinen Faser, sondern aus schmalen, von der Stengelrinde abgezogenen Baststreifen hergestellt. Die Aufbereitung der Faser durch Rösten (Verrotten), Brechen und Hecheln, wie sie vom Flachs bekannt war, wurde offenbar von den Kelten für den Hanf nicht angewendet; auch später zeigen sich häufig geographische Unterschiede in der Nutzung und Verarbeitung des Hanfs: Wo er als einzige Faserpflanze angebaut wird, werden auch feine Leinengewebe, die andernorts eher aus Flachs gemacht werden, aus Hanf hergestellt. In anderen Ländern wiederum, wie in Ägypten, wurde Hanf weder als Faser noch als Ölfrucht, sondern ausschließlich zur Haschischgewinnung angebaut. Der griechische Arzt Galen berichtet um 200 nach Christus von dem weitverbreiteten Gebrauch von cannabishaltigem Gebäck, das bei Feierlichkeiten »Ausgelassenheit und Vergnügen« hervorrufe.

Der früheste europäische Fund eines voll aufbereiteten Hanfgewebes stammt aus dem Grab der Merowinger-Königin Adelgunde, die um 565 in Paris bestattet wurde. Für die Menschen des frühen Mittelalters wurden neben den nahrhaften Samen die textilen Qualitäten des Hanfs immer wichtiger. Vor allem bei den seefahrenden Völkern erfreute er sich größter Wertschätzung. Nicht von ungefähr statteten die Wikinger die Schiffsgräber ihrer Könige mit Hanftextilien aus und gaben ihnen Hanfsamen mit auf die letzte Reise; und erst die salzwasserfesten Taue und Segel aus Hanffasern ermöglichten ihren Schiffen, die Meere zu befahren.14

Das erste Cannabisgesetz in Europa wurde um das Jahr 800 erlassen. Karl der Große ordnete in seinem »Capitulare« den Anbau des Hanfs an. Dieses Dokument gilt als ältester schriftlicher Beleg für Hanf als Nutzpflanze. Erste Nachrichten über den Drogengebrauch der Pflanze bringt Ende des 13. Jahrhunderts der Reisende Marco Polo nach Europa. Er berichtet von den exotischen und barbarischen Praktiken der Assassinen, einer radikalen muslimischen Sekte, die von ihrem Kriegsherrn, dem »Alten vom Berge«, mit Haschisch betäubt und zu Raserei und Mordtaten getrieben würden. Daß Marco Polo den Einflußbereich des »Alten«, nämlich die persische Provinz Mazadaran, nie erreicht hat, tat dem durchschlagenden Erfolg dieser Geschichte ebensowenig Abbruch wie seine äußerst suspekten pharmakologischen Angaben. Zwar existierten die Assassinen wirklich und waren als terroristische Fanatiker seit dem 12. Jahrhundert gefürchtet; auch daß ihr Name sich von dem arabischen Wort hashshashin («Krautesser«) herleitet, ist etymologisch sicher. Aber dennoch ist es äußerst unwahrscheinlich, daß Hanfdrogen bei ihnen eine derartige Rolle spielten. Keiner der zeitgenössischen islamischen Berichte über die Assassinen jedenfalls erwähnt ein Wort davon. Allen Ungereimtheiten zum Trotz sorgte Marco Polos Reisebericht dafür, daß Haschisch nunmehr ein Begriff in Europa war und das Wort »assasin« in die Wörterbücher aufgenommen wurde, mit der Bedeutung »Mörder, fanatischer Gewaltverbrecher«.15

Der technologische Quantensprung der Renaissance: Hanfsegel ermöglichten die Entdeckungen des Kolumbus, Hanfpapier die Gutenberg-Revolution

Angesichts dieser früh in die Sprache und das Bewußtsein der Europäer eingegangenen Konnotation von »Haschisch« und »Mord« kann das Negativimage der Hanfdrogen nicht verwundern. Zwar spielten sie im neuzeitlichen Europa als Genußmittel erst eine Rolle, als Napoleons Soldaten Haschisch auf ihren Feldzügen in Nordafrika schätzengelernt hatten und es importierten; am Anfang aber steht die fantasievolle Denunziation des Marco Polo, und sie hat sich dank der Anslingers und Stoibers bis auf den heutigen Tag gehalten. Obwohl der Gebrauch des Hanfs als Genußmittel in Mitteleuropa erst relativ spät einsetzte, war seine psychoaktive Wirkung sehr wohl bekannt.

Als ältestes erhaltenes Zeugnis gelten die Schriften der Heilerin Hildegard von Bingen aus dem frühen 12. Jahrhundert. Bei den Ärzten des Mittelalters finden sich zahlreiche Anwendungen und Arzneien, die auf die antiken Mediziner Galen und Dioscorides zurückgehen, und auch für den Medizinreformer Paracelsus, der die klassische »Säftelehre« Galens scharf bekämpft, gilt Hanf wegen seiner psychoaktiven Wirkungen als eines der wichtigsten Heilmittel. Er gibt ihm als »leichtem opio« bei all jenen alltäglichen Beschwerden den Vorzug, bei denen der Einsatz seines geheimsten »Arcanums« (Heilmittels), des Opiums, nicht angezeigt war. Vom 16. Jahrhundert an finden sich dann genaue Beschreibungen des Hanfs in fast allen Kräuterbüchern. Von einer Verwendung als Rausch- und Genußmittel allerdings ist, wenn überhaupt, nur am Rande und unter Verweis auf »die Perser«, d. h. Marco Polos Mordgeschichten, die Rede.

Vieles ist über den Ausgang des »finsteren« Mittelalters und den innovativen Quantensprung der Renaissance gesagt und geschrieben worden, über die neuen Werkzeuge, die Fernrohre, Schiffe und Buchdruckpressen, denen sich die Geburt neuer Weltbilder verdankte. Die Kulturpflanze aber, die diesen Innovationsschub erst ermöglichte, findet in der Geschichte der kulturellen Evolution selten Erwähnung: Es war der Hanf. Für das Zeitalter der Entdeckungen – die Seefahrten des Kolumbus und der ihm nachfolgenden Konquistadoren – war das hanfene Segel- und Tauwerk der Schiffe eine ebenso unverzichtbare Technologie wie das Hanfpapier für Gutenbergs geniale Erfindung, die der Welt die allgemeine Entdeckung der geistigen Kontinente ermöglichte. Ohne Hanfpapier hätte sich der Buchdruck, das erste Medium der Massenkommunikation, gar nicht derart ausbreiten können. Doch im Jahr 1390 hatte der Handelsherr Ulman Stromer in Nürnberg die erste Papiermühle eröffnet. 1500 Jahre nach der Entdeckung in China war damit die Technik der Papierherstellung aus Hanffasern in Deutschland angekommen, und sie breitete sich nach der Erfindung des Buchdrucks rasch aus.

Basis und wichtigster Rohstoff der aus dem Osten importierten High-Tech-Revolution des Mittelalters waren Lumpen (»Hadern«), und diese bestanden damals nahezu ausschließlich aus Hanf und Flachs. Die Hanfhadern, die sich wegen der Robustheit ihrer Fasern bei den Papiermachern besonderer Beliebtheit erfreuten, wurden in wassergetriebenen Stampfwerken zu einem Brei zerkleinert und in die Bütte abgefüllt. Mit einem Sieb wurden die einzelnen Bögen daraus geschöpft, wobei durch geschicktes Schütteln die Fasern auf dem Sieb verfilzten und das Wasser abfloß. Bis auf die weitere Mechanisierung des anschließenden Pressens und Glättens der Bögen änderte sich bis zum 18. Jahrhundert an dieser Technik der Papierherstellung wenig.

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Hanfpapier-Herstellung im alten China

Die Papiermacher hatten sich für die Beschaffung ihres Rohstoffs mit feudalen Privilegien ausstatten lassen; Lumpen durften nur von autorisierten »Hadernsammlern« gehandelt werden, ein Monopol, das sich mit steigender Produktion als Hemmnis herausstellte. Trotz strenger königlicher Lumpenausfuhrverbote blühte der Lumpenschmuggel ins Ausland, da die aus dem Monopol resultierenden niedrigen Aufkaufpreise dort überboten wurden. Dies führte in den deutschen Papiermühlen zu ständigem Rohstoffmangel und zur Verschlechterung der Papierqualität sowie zu verstärkten Überlegungen, die Lumpen aus Hanf- und Flachsleinen durch andere Materialien zu ersetzen. So veröffentlichte J. C. Schäfer aus Regensburg zwischen 1765 und 1771 seine »Versuche und Muster ohne alle Lumpen oder doch mit nur einem geringen Zusatz derselben Papier zu machen«. Experimentiert wurde mit den verschiedensten Materialien; Rotkohl, Weinreben, Tannenzapfen und Tulpenblätter wurden als Papierbestandteile getestet sowie ein für die Zukunft äußerst bedeutsamer Rohstoff: die »Spreu vom Hanfe«. Die von Dewey Anfang dieses Jahrhunderts durchgeführten und im »Bulletin 404« des US-Landwirtschaftsministeriums (siehe Seite 377 ff.) veröffentlichten Versuche, aus dem Abfall des Hanfs Papier zu gewinnen, haben in Schäfers Experimenten ihren ersten Vorläufer. Die zeitgenössischen Papierhersteller reagierten auf diese Entdeckung so wenig begeistert wie 250 Jahre später der Wald- und Papierfabrikbesitzer Randolph Hearst. So sah sich der Erbpächter der Papiermühle Cröllwitz, Christoph Keferstein, 1766 genötigt, folgende »Gedanken von den neuen Papierproben des Herrn Schäfers zu Regensburg« zu veröffentlichen: »Was gewinnt nun die Welt, wenn sie weiß, daß sich auch dürre Blätter zermalmen und in eine Art untaugliche Maculatur verwandeln lassen? Nichts. Aber daß die Spreu vom Hanfe fein Holländisch Postpapier geben sollte, das ist wider alle Vernunft: So wenig die Schweden aus Haber Weizen und ein Adept aus Eisen Gold machen kann, eben so wenig ist auch dieß möglich!« Daß Schäfers Bemühungen zu keinerlei gewerblichen Anwendungen führte, lag freilich nicht nur am Widerstand der etablierten Papiermonopolisten. Mit der allmählichen Auflösung der feudalen Handelsstrukturen sorgte ein freier Lumpenhandel bald auch wieder für ausreichende Rohstoffversorgung, und bis Mitte des 19. Jahrhunderts bleiben Hadern, und damit der Hanf, der Basisrohstoff der Papierherstellung.16

Der Lumpenmangel des 18. Jahrhunderts hatte eine weitere zukunftsträchtige Entdeckung zur Folge: Justus Clapproth, hauptberuflich Professor der Rechtswissenschaft in Göttingen, kam auf den Gedanken, Altpapier als Rohstoff wiederzuverwenden. Seine 1774 veröffentlichte »Erfindung, aus gedrucktem Papier wiederum neues zu machen ...,« legte den Grundstock zum modernen Papier-Recycling. Mit der Erfindung des Buchdrucks und dem steigenden Papierbedarf wird die ohnehin schon bedeutende Stellung des Hanfs als Nutzpflanze überragend. Nicht nur für den allgemeinen Bedarf an robusten Textilien und Seilerwaren und für den speziellen Bedarf der Seefahrt und Fischerei stellt er den Rohstoff Nummer eins dar, sondern auch für das neu entstehende Kommunikationswesen: Cannabis sativa war die Hardware der Gutenberg-Revolution.

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Mit dem Ausgang des Mittelalters geht die Bearbeitung des Hanfs von den Frauen auf fahrende Seiler über

Die Konkurrenten: Baumwolle, Jute und Holz

Dem Wortlaut unserer Bibelübersetzung zufolge war Jesus Surrealist: »Wahrlich ich sage Euch: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel« – eine bizarre Metapher, wie sie eher auf einem modernen Bild von Dalí als aus dem Munde des Herrn zu erwarten wäre. Aber tatsächlich hat Jesus das nie so gesagt, noch haben die nach dem Hörensagen schreibenden Evangelisten das hinzugedichtet. Mit kamelos, wie es in der griechischen Vorlage von Luthers Übersetzung lautet, waren nicht Tiere, sondern die Taue aus Cannabis gemeint, an denen die Anker der griechischen Flotte hingen: »Eher geht ein Hanfseil durch ein Nadelöhr«. Das Bibelwort greift nicht zu einem surrealen Bild, sondern zu einem alltäglichen Vergleich. Ein harmloser Übersetzungsfehler, der typisch ist für die verborgene Geschichte des Hanfs, auch wenn die hier unterschlagenen Hanfseile das einzige Produkt sind, an das man heute noch denkt, wenn der Name der Pflanze genannt wird.

Alle anderen Verwendungsmöglichkeiten dieser Naturfaser sind nahezu vergessen. Bei der Blue-Jeans-Generation unserer Tage stößt es auf ungläubiges Staunen, daß der Stoff der ersten Levi’s nichts anderes gewesen ist als Cannabis. Keine andere Faser, schon gar nicht die inzwischen verwendete Baumwolle, hätte die auf dem Warenzeichen der Firma dargestellte Zerreißprobe – eine Hose wird von zwei Pferden auseinandergezogen – heil überstanden; nur Segeltuch aus Hanf, wie es der aus Bayern nach San Francisco zugereiste Schneider Levi Strauss mitgebracht und mit nietenverstärkten Nähten versehen hatte, war dazu in der Lage. Als Strauss 1873 ein Patent auf seine neuartige Arbeitshose bekam, hatte die Hanfnutzung allerdings ihren Zenit bereits überschritten. Für Seilerwaren und Fischernetze, für Segel, Seesäcke und Zeltplanen war Hanf zwar weiterhin unverzichtbar. Im Bereich der Kleidung und Alltagstextilien allerdings hatte er Konkurrenz bekommen.

Ende des 18. Jahrhunderts war die »Cotton-Gin«, die Baumwollmaschine, erfunden worden, die die Verarbeitung der Baumwollfasern wesentlich erleichterte. Während die Fasergewinnung aus Flachs und Hanf arbeitsaufwendig blieb, weil die Faser in einem seit der Antike nicht veränderten Prozeß vom Stengel getrennt werden mußte, ließ sich die Baumwollernte nun sehr viel schneller verarbeiten und zu Garn verspinnen. Da gleichzeitig durch die ebenfalls zu dieser Zeit entwickelten mechanischen Spinn- und Webstühle die Nachfrage nach Textilrohstoffen stark anstieg, setzte die Baumwolle zu einem beispiellosen Siegeszug an. Noch Ende des 18. Jahrhunderts als Faserpflanze außer in Ägypten nur in einigen tropischen Ländern von Bedeutung, ist sie bereits Ende des 19. Jahrhunderts der dominierende Textilrohstoff in Europa. Zwischen 1836 und 1841 werden nach Deutschland 8 917 Tonnen Baumwolle importiert, fünfzig Jahre später (1886/1890) sind es bereits 201 046 Tonnen, 1912 in einem Jahr 501 660 Tonnen; der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch an Baumwolle steigt in dieser Zeit von 340 Gramm auf 7,5 Kilogramm.

Was sind das für Textilien, die aus der billigen und massenhaft importierten Baumwolle hergestellt werden? Das sind all jene, die bis dahin aus Hanf- und Flachsleinen gemacht wurden: Hemden und Jacken, Hosen und Schürzen, Tisch- und Bettücher. Der Anbau der heimischen Textilroh-stoffe Hanf und Flachs schrumpfte ebenso schlagartig, wie der Import von Baumwolle stieg. Wurden im 18. Jahrhundert noch etwa 200 000 Hektar Hanf angebaut, waren es 1878 nur noch 21 000, 1913 dann noch 100 Hektar. Beim Flachs sah es kaum besser aus, von einst 250 000 Hektar Leinfeldern waren zu Beginn des Ersten Weltkriegs noch 7 000 Hektar übrig. Während der für feinere Gewebe verwendete Flachs allein durch Importbaumwolle ersetzt wurde, bekam der Hanf noch eine weitere Konkurrenz. Napoleons Seeblockade, die England 1810 von der lebenswichtigen Zufuhr russischen Hanfs abschnitt (siehe Seite 132 f.), hatte zur Folge, daß sich die Briten nach einer Alternative umsehen mußten, und in der indischen Kolonie wurden sie fündig: Sie entdeckten die Jute. Die vornehmlich im Mündungsgebiet des Ganges angebaute Jute hatte bis dahin kaum wirtschaftliche Bedeutung, nun aber forcierten die Briten den Anbau. Bis 1907 stieg die Anbaufläche in Indien auf 1,6 Millionen Hektar, und die Pflanze, die bis dahin nur von lokaler Bedeutung gewesen war, avancierte zum nach der Baumwolle zweitwichtigsten Faserrohstoff auf dem Weltmarkt.

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Kupferstich, um 1750

Die ersten Jutefasern, knapp 400 Tonnen, wurden 1861 nach Deutschland importiert. Zur Jahrhundertwende beliefen sich die Juteimporte bereits auf über 20 000 Tonnen pro Jahr, 1913 waren es 154 000 Tonnen. Verarbeitet wurden die Jutefasern vor allem zu Säcken, Planen, Gurten und Verpackungsmaterial – Produkte, die bis dahin eine Domäne des Hanfs gewesen waren. Doch mit dem neuen Billigimport konnte er nicht mehr konkurrieren. Zwar waren Anbau- und Verarbeitungsaufwand der Jute keineswegs geringer als beim Hanf, aber wegen der Hungerlöhne in Indien war Jute trotz der Transportkosten billiger als Hanf: Ein Doppelzentner indische Jutefaser war 1904 für 38 Mark zu haben, während die gleiche Menge europäischen Hanfs 59 Mark kostete. Ähnlich lagen die Preisverhältnisse bei den anderen neuen Pflanzenfasern, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts aus den sogenannten Schutzgebieten der Großmächte nach Deutschland gelangten: Sisalhanf, Manilahanf und neuseeländischer Hanf. Daß diese Fasern »Hanf« genannt wurden, hatte nichts mit ihrer botanischen Herkunft oder irgendeiner Verwandtschaft mit Cannabis sativa zu tun, sondern nur mit ihrer Verwendung. Sie dienten als Ersatzstoffe für den echten Hanf. Am Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Hanfplanze, die seit der Steinzeit Kleidung, Nahrung und Medizin geliefert hatte, von den deutschen Äckern nahezu verschwunden. Die maschinen-kompatible Baumwolle auf der einen und der vom Kolonialismus erzwungene Niedrigpreis der Jute auf der anderen Seite haben ihren Anbau unrentabel gemacht. Was noch gebraucht wird an echtem Hanf, 1913 immerhin noch 55 000 Tonnen, wird aus Italien, vom Balkan oder aus Ungarn importiert.17

Ätzend: Mit dem Verschwinden des Hanfs aus dem Papier hält die Chemie Einzug

Neben den Konkurrenzfasern aus den Kolonien und der Erfindung der Baumwollmaschine beschleunigt ein drittes Ereignis des 19. Jahrhunderts den Niedergang der Hanfkultur in Deutschland: die Erfindung der Papiermaschine. 1799 hatte der Franzose Louis Robert ein Patent auf eine »Papierschüttelmaschine« erhalten, die »Papier ohne Ende« fertigen konnte. Während bisher ein Bogen nach dem anderen, Stück für Stück, mit einem Sieb und von Hand geschöpft wurde, machte man jetzt Papier auf einem endlos umlaufenden Siebtuch. Die erste deutsche »Patentpapier«- Fabrik nahm 1819 in Berlin den Betrieb auf, und um 1840 war die maschinelle Papierherstellung in ganz Deutschland verbreitet. Die »weiße Kunst«, das Handwerk des Papiermachens, neigte sich ihrem Ende zu und mit ihr die Zeit des Flachs und Hanfs als Papierrohstoff. Die mit der Maschinisierung einhergehende Produktivitätssteigerung machte einen neuen Rohstoff unabdingbar, und mit der 1844 entwickelten Methode des Naßschleifens von Holz schien er gefunden. Aus dem geschliffenen Holz allein allerdings ließ sich kein brauchbares Papier machen, es taugte nur als Beimischung zu den traditionellen Textilfasern. Erst der chemische Aufschluß des Holzes in Zellstoff machte die Hadern vollständig überflüssig. Mit dem Verschwinden von Hanf- und Flachsfasern aus dem Papier hielt etwas Einzug, dessen Fluch sich erst über 100 Jahre später herausstellen sollte: die Chemie. Um aus Holz Papier zu machen, brauchte man neue Leimungsverfahren. Das 1805 entdeckte Alaun, ein in einem Baumharz enthaltenes Mineralsalz, schien hierzu geeignet und wurde ab 1850 allgemein eingesetzt. Erst mit dieser Leimungsmethode waren die neuen Papiermaschinen und der neue Rohstoff Holz voll einsetzbar, allerdings mit einem entscheidenden Nachteil: Das »chemische Milieu« des Papiers war nicht mehr neutral, sondern sauer. Und dieser Säurefraß ist die Ursache dafür, daß Holzpapier langsam aber sicher zerfällt. So kommt es, daß den Bibliothekaren unserer Tage die nach 1850 entstandenen Bücher unter den Händen zerbröseln, während sich Werke aus dem 15. Jahrhundert blättern lassen wie am ersten Tag.

Als Gutenberg den ersten Bestseller der Geschichte, die lateinische Bibel, druckte, stand ihm außer dem teuren Pergament aus Tierhaut nur das damals übliche Schreibpapier aus Hanf zur Verfügung. Es war nachträglich mit Knochenmehl geleimt, um ein Auslaufen der Tinte zu verhindern. Im Verlauf des 16. Jahrhunderts konnte wegen des Einsatzes fetthaltiger Farben beim Buchdruck auch auf diese Leimung verzichtet werden. Die Farben verliefen nicht, und das Papier blieb auch ohne Leim stabil. Daß der starke Hanf dennoch aus seiner Rolle als Papierrohstoff verdrängt wurde, war ebenfalls einer Konkurrenzpflanze geschuldet: Was bei den Textilien der Baumwolle und der Jute zufiel, erledigte beim Papier das Holz. Die 1867 auf der Weltausstellung vorgestellte »Woodpulp-Machine« des Heidenheimer Fabrikanten Heinrich Voelter automatisierte den Holzschliff und machte der Papierindustrie damit einen Rohstoff zugänglich, der nicht nur in Massen, sondern in vielen Weltgegenden auch scheinbar völlig kostenlos vorhanden war: Wald.18

Maschinenbaumwolle, Jute aus den Kolonien und Holzpapier: Diese drei Neuerungen der industriellen Revolution machen dem Hanf nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa den Garaus. Zwischen 1850 und 1913 geht der Hanfanbau in Frankreich von über 100 000 auf 13 000 Hektar zurück, in Italien von 150 000 auf 87 000 Hektar, in Ungarn und auf dem Balkan liegen die Verhältnisse ähnlich; nur in Rußland, seit dem Mittelalter der führende Hanfproduzent der Welt, wird Cannabis weiterhin großflächig angebaut, zur Jahrhundertwende sind es etwa 800 000 Hektar. Hanf ist einer der wichtigsten Exportartikel des zaristischen Rußland und trägt wegen seines niedrigen Preises mit dazu bei, daß der Hanfanbau in Westeuropa unrentabel wird.

Erster Weltkrieg: Hanf statt Baumwolle

Nach den Schüssen von Sarajewo im Jahr 1914 sieht sich das kriegführende Deutschland isoliert und von den Weltmärkten abgeschnitten. Nicht nur die amerikanische Baumwolle und die britisch-indische Jute bleiben plötzlich aus, auch die Zufuhr von Sisal aus den Kolonien ist unterbrochen. Abgesehen von etwas Flachs und ein wenig Wolle steht die deutsche Textilindustrie völlig ohne Faserstoffe da. Das Allernotwendigste muß für das Drei- bis Vierfache der Vorkriegspreise im Ausland eingekauft werden. Die Preise für Hanfprodukte steigen in schwindelerregende Höhen: Ein Meter Bindfaden wird für 10 Pfennig verkauft und Säcke, früher für 60 bis 80 Pfennig das Stück zu haben, nicht unter 10 Mark. In dieser Situation wird Cannabis plötzlich wieder interessant. Doch das Wissen und die Techniken des Anbaus und der Verarbeitung sind auf dem Stand des 18. Jahrhunderts.

Das wiedervereinigte Deutschland verfügt laut Statistischem Jahrbuch 1992 über 145 000 Hektar Moorland. Zum Anbau nachwachsender Rohstoffe stehen in der Europäischen Gemeinschaft etwa 30 Millionen Hektar Brach- und Stillegungsflächen zur Verfügung.

Hanf ist die in Deutschland aussichtsreichste Textilpflanze, wegen ihres Massenertrags und der Unverwüstlichkeit ihrer Faser

In Deutschland war er meist in kleinbäuerlichen Betrieben angebaut worden. Zur Arbeit der Bauern gehörte selbst noch die Fasergewinnung. Nach der Ernte ließ man die Pflanzen auf dem Feld einige Wochen verrotten, um dann in aufwendiger Handarbeit die Faser vom Stengel zu lösen. Mit diesen archaischen Methoden freilich war an eine Wiederbelebung des Rohstoffs Hanf nicht zu denken. Und so wurde 1916 in Landsberg (Warthe) die »Deutsche Hanfbau-Gesellschaft« gegründet. Neben der allgemeinen Förderung des Hanfanbaus oblag dieser Gesellschaft vor allem die Errichtung fünf sogenannter »Hanffabriken«, die in Pommern (Lauenburg und Löcknitz), in Posen (Schneidemühl), in der Mark (Berger-Damm) und in Bayern (Moosburg) entstanden. Jede dieser Anlagen umfaßte vier oder acht Rösteeinheiten, in denen die frischen Stengel gewässert und getrocknet wurden, und eine Anzahl von Knickmaschinen, mit denen die Fasern von den Schäben (dem Stengelholz) getrennt und in der Hechelmaschine ausgekämmt wurden. »Der Vorzug des neuen Verfahrens«, so der Geschäftsführer der Hanfbaugesellschaft, Benno Marquart, »besteht darin, daß die ganze Arbeit zu jeder Jahreszeit vorgenommen werden kann, der Prozeß ein sauberer ist und an Menschenkräften gespart wird. Die Faserausbeute ist eine höhere, besonders werden die wertvollen Produkte, also der Langhanf, in größerer Menge gewonnen. Während man bei dem alten Verfahren aus 100 kg Rohstengel etwa 2,8 Kilo Langhanf erhält, lassen sich bei dem neuen Verfahren 3,5 Kilo herstellen. Die weniger edlen und reinen Produkte des neuen Verfahrens, besonders das Rohknickwerg und das Abfallwerg, werden neuerdings zur Herstellung von Hanfwolle genutzt. Durch ein besonderes biologisches oder chemisches Verfahren ist es nämlich möglich, die Hanffaser in ihre einzelnen Zellen zu zerlegen, und es hat sich herausgestellt, daß die Hanfzelle (...) ein Gespinst ergibt, welches sich nur mikroskopisch von Baumwolle unterscheidet und ihr in Haltbarkeit und Möglichkeit der Verwendung mindestens ebenbürtig ist. (...) Soweit die Arbeiten auf diesem Gebiet sich bis jetzt übersehen lassen, liefern 1000 kg Hanffaser etwa 720 kg aufgeschlossene Hanfwolle. Das würde die Ernte von etwa 1 Hektar bei gutem Bestande sein. In Amerika erntet man nur 180 kg Baumwolle vom Hektar, also den vierten Teil.«19

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» Kriegs-Hanf-Anbau 4 Meter hoch« Mark Brandenburg, 1916

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Hanfbauernbub mit männlicher und weiblicher Pflanze, um 1910

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Hanfanbaugebiete im Deutschen Reich, aus: Mißbach 1938

Erstmals seit über hundert Jahren hatte man dem Stiefkind Hanf wieder ein wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Und kaum hatte man ihn als Zeitgenossen ernstgenommen und ihm modernere industrielle Verarbeitungstechniken angedeihen lassen, zeigte er schon ungeahnte neue Seiten und Qualitäten: Der Faserabfall ließ sich als Baumwollersatz verwerten, und die Holzreste gaben, wie Dewey 1916 gezeigt hatte, einen ausgezeichneten Papierrohstoff ab. Was bis dahin als Abfall unverwertet geblieben oder verbrannt worden war, ließ sich nun zu hochwertigen Gütern verarbeiten. »Hanf«, resümiert Marquart die Aussichten für die Zukunft, »ist die in Deutschland aussichtsreichste Textilpflanze: wegen ihres Massenertrags und der Unverwüstlichkeit ihrer Faser.«

Dennoch war der Aufschwung nicht von langer Dauer. Bis 1918 stieg die Hanfanbaufläche zwar auf 3 650 Hektar, schon 1920 aber war mit 5 350 Hektar der Höhepunkt erreicht. Der wieder zugängliche Weltmarkt hatte nicht nur die Konkurrenten Jute und Baumwolle zurückgebracht, eine allgemeine Lebensmittelknappheit sorgte auch dafür, daß der Anbau von Nahrungsmitteln Priorität genoß und für die Landwirtschaft lukrativer war. Hanf wurde allenfalls als Lückenbüßer angepflanzt, doch auch seine allseits gelobten, geradezu idealen Eigenschaften als Zwischenfrucht konnten den Niedergang nicht aufhalten. Ende der 20er Jahre liegt die Anbaufläche schon wieder niedriger als vor Beginn des Ersten Weltkriegs, – nicht einmal zehn Jahre hatte die Renaissance des Hanfs gedauert. Mit dem Wahlsieg der NSDAP im Januar 1933 änderte sich die Situation.

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Hanfdorf in Oberbayern, 1916

Die »deutsche Erzeugungsschlacht« wurde ausgerufen, und Hanf stand als »nationaler Rohstoff« plötzlich wieder oben auf der Prioritätsliste: »Ja, man kann sagen, daß Flachs und Hanf als das Kernstück des deutschen Befreiungsplans im Hinblick auf die naturgewachsenen Spinnstoffe zu gelten haben; sie sind dabei keine Konkurrenten, sondern ergänzen sich in den verschiedensten Punkten aufs Trefflichste. (...) Hanf stellt nämlich ganz andere Ansprüche an den Boden als Flachs; er ist vor allem genügsamer und eignet sich darüber hinaus vorzüglich als sogenannte Vorfrucht zum Kultivieren von Ödland.«20 Der »Reichsnährstand«21 startete einen Werbefeldzug »zur Wiedereinbürgerung der Hanfpflanze« und errichtete vier neue Hanfrösten. In einem Bericht des Landwirtschaftsministeriums von 1936 heißt es: »In der Hanfpflanze liegen, unmittelbar und mittelbar, so viele Werte vereinigt, daß man an ihr nicht vorübergehen kann. Grundsätzlich ist zunächst wichtig, daß unsere Hanfpflanze als Haupterzeugnisse drei ganz verschiedene Stoffgruppen liefern kann, welche drei großen Wirtschaftsgebieten zugute kommen: Fasern für die Textilindustrie, Öl für die Fettwirtschaft und Hanfkuchen für die Futtermittelwirtschaft. Hanf ist (abgesehen vom Flachs) hier die einzige wirklich ernsthaft in Deutschland in Betracht kommende anbauwürdige Kulturpflanze, die gleichzeitig alle drei genannten Wirtschaftszweige beliefern kann.«22 Die Landwirtschaft, durch Festpreise und Abnahmegarantie animiert, zog mit bei der Hanferzeugungsschlacht: Nach 3 600 Hektar Hanf im Jahr 1935 stieg die Anbaufläche bis 1939 auf 16 000 Hektar; am Vorabend des Zweiten Weltkriegs wurde eine Rohhanfernte von 128 000 Tonnen eingefahren.

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Hanfernte mit dem Grasmäher, 20er Jahre

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So wurde der Hanf getrocknet. Zwei Mieten mit je 100 t Hanfstengeln

Zweiter Weltkrieg: Hanf für den (End-) Sieg

Mit den Birnen des Herrn von Ribbeck auf Ribbeck wird im Havelland in Zukunft keine Agrar-Mark zu machen sein. Sehr wohl aber mit »Ernst Zureks einhäusigem Hanf«, der bis zur Reform des Betäubungsmittelgesetzes 1981 in der Bundesrepublik zugelassen war. Ernst Zureks einhäusigen Hanf charakterisiert W. Hofmann als »mittelspät, ebenfalls ein hochwüchsiger Langfasertyp; er kann auf allen tiefgründigen Mineral- und Moorböden angebaut werden«.

Hanf war schon immer ein kriegswichtiger Rohstoff gewesen. So notwendig seine vielfältigen Produkte zum Überleben in Friedenszeiten waren, so unverzichtbar waren die starken Seile und die unverwüstlichen Segel und Hanftextilien im Krieg. Von den Phöniziern über die griechische Antike bis zum Zeitalter der Eroberungen: Die Reiche der Großmächte wurden von Hanfseilen zusammengehalten. Über Sieg oder Niederlage entschied nicht selten die jeweilige Hanftechnologie. Als 1982 das 1545 gesunkene Flaggschiff »Mary Rose« des berühmten Königs Henry VIII. geborgen wurde, wurden zum Beispiel über 100 Langbögen der englischen Bogenschützenarmee entdeckt. Ihre Rekonstruktion ergab, daß sie über ein erstaunliches Zuggewicht von bis zu 80 Kilogramm verfügten und die Pfeile auf 200 km/h beschleunigten – eine für das Mittelalter geradezu unglaubliche Hochgeschwindigkeitswaffe. Damit ließ sich eine Frage beantworten, an der die Geschichtswissenschaft lange herumgerätselt hatte: Warum es im Jahre 1415 den 6 000 Fußsoldaten Heinrichs V. in der Schlacht bei Agincourt gelungen war, 15000 berittene Franzosen zu besiegen. Das tödliche Geheimnis bestand in einer neuartigen Distanzwaffe: Langbögen aus »Eibenholz, gespannt mit Leinen«,23 – und wir können sicher sein, daß dieses Leinen nicht aus Flachs, sondern aus dem Hanf gesponnen war, der spätestens seit Norman dem Eroberer (1066) auf den Britischen Inseln angebaut wurde.

Ein kriegswichtiger Rohstoff. Drillich und Uniformen, Tornister und Zelte, Lkw-Planen und Zugseile und das, was all dem voranflatterte – die Fahnen –, waren aus Hanf

Auch nach der Entdeckung der Dampfschiffe, des Maschinengewehrs und des Dynamits blieb Hanf ein kriegswichtiger Rohstoff: Drillich und Uniformen, Tornister und Zelte, Lkw-Planen und Zugseile und das, was all dem militaristischen Wahnsinn voranflatterte – die Fahne –, waren aus Hanf gemacht. Und so wundert es nicht, daß es ausgerechnet die Nazis waren, die seinen Anbau mit allen Mitteln förderten. Er war nicht nur der am vielseitigsten nutzbare nachwachsende Rohstoff aus heimischer »Scholle«, der der deutschen Wirtschaft ein Stück Autarkie sichern sollte. Er lieferte auch das Tuch, mit dem die deutschen Landser eingekleidet wurden. Der mörderische Stiefel, den das deutsche Militär im September 1939 auf Europa setzte, war hanfgeschnürt.

Der steile Aufschwung, den der Hanfanbau bis dahin genommen hatte, reichte für die »allgemeine Mobilmachung« nicht aus. Bis zum Kriegsende wuchs die Anbaufläche – nicht zuletzt und gegen Ende nahezu ausschließlich durch den Einsatz von Zwangsarbeitern – noch einmal um mehr als das Doppelte auf etwa 40 000 Hektar im Jahr 1945. Der Hanfbedarf konnte damit bei weitem nicht gedeckt werden. 80 Prozent dessen, was deutsche Hanfspinnereien verarbeiteten, mußte auch während des Kriegs importiert werden, – das meiste davon aus dem faschistischen Bruderland Italien. Der größte Teil der heimischen Ernte wurde nicht der klassischen Faseraufbereitung unterzogen, sondern als »Grünwerg« mechanisch entholzt und zu sogenanntem Flockenhanf verarbeitet, der auf Baumwollmaschinen zu Feingewebe versponnen werden konnte. Was sich der Direktor der Hanfbaugesellschaft 1919 von der eben entdeckten »Kotonisierung« des Hanfs erhofft hatte, daß Cannabiswolle die bessere, billigere Baumwolle abgeben könnte, wurde während der Kriegsjahre erstmals realisiert.24 Nun ist zu Kriegszeiten schon immer mit allen möglichen und unmöglichen Bio-Rohstoffen experimentiert worden, und das »3. Reich« war bei dieser Substitutionswirtschaft derart erfolgreich, daß das deutsche Wort Ersatz als Fremdwort in allen Sprachen der alliierten Siegermächte Eingang gefunden hat. Was aber den Hanf angeht, der Baumwollersatz aus Cannabis war besser als das Original: genauso fein, aber sehr viel haltbarer. »Da konnte es nicht länger ausbleiben«, heißt es in einer zeitgenössischen Schrift, »daß der Hanf auch auf modischem Gebiet einen wahren Siegeszug antrat. Vielfarbige Decken mit Stickereien und Applikationen haben schon in verhältnismäßig kurzer Zeit gezeigt, daß man heute mit Hanf ein Maximum an Schönheit und gutem Geschmack erreichen kann.«

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Das Wissen um den Hanf war verlorengegangen

Während beim Flachs die Werbefeldzüge des »Reichsnährstands« erfolgreich waren und 1941 nur noch 20 Prozent des verarbeiteten Flachses importiert werden mußten, tat sich die Hanfpropaganda schwerer: »Fast war es so«, vermerkt ein Bericht 1938, »als müßte man den Anbau einer völlig neuen Pflanze propagieren, denn das Wissen um den Hanf war verlorengegangen.«25

Diesem schnellen Vergessen entgegenzuwirken und der Kriegswirtschaft die dringend benötigten Rohstoffe zuzuführen, dienten die im folgenden Abschnitt präsentierten Hanfdokumente aus dem Jahr 1942: das Transkript des vom amerikanischen Landwirtschaftsministerium produzierten Films »Hemp for Victory« sowie die vom deutschen Reichsnährstand herausgegebene »Lustige Hanffibel«. Während in Amerika jeder Farmer diesen Film sehen und den Empfang einer eher trockenen schriftlichen Anleitung zum Hanfanbau quittieren mußte, mutet die von der »Deutschen Landwerbung« unters Volk gebrachte Hanffibel erstaunlich locker und amerikanisch an. Mit Zeichnungen, die die Tradition eines Wilhelm Busch schon in Richtung Walt Disney verlassen haben, und mit einem Text, der sich großer theatralischer Propagandatöne nahezu völlig enthält und bei der Sache bleibt: »Zweifelsfragen des Anbaus zu lösen und eine alte Kultur des Niederungsmooranbaus zu neuer Blüte zu bringen«, wie es im Geleitwort heißt.26

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Hanfverarbeitung in der Hanfwerke AG Füssen, 40er Jahre

Bevor wir nun den staatlichen Laudatores von Cannabis sativa das Wort geben, sei daran erinnert, daß beide Staaten die Pflanze kurz zuvor für ungesetzlich erklärt hatten. Gleich nach der Machtübernahme, im Mai 1933, und noch einmal im Januar 1934, wurde das Opiumgesetz überarbeitet und »Indischer Hanf« ausdrücklich als verboten spezifiziert – in einer Klasse mit den Opiaten und Kokain. Am 1. September 1937 war in den USA der »Marijuana Tax Act« in Kraft getreten. Doch als ob sie sich rächen wollte für diese Verleumdung als »Mörderin der Jugend«, kehrte Cannabis sativa in einer triumphalen Kampagne als Retter der Nation zurück: »Baut Hanf!« – »Hemp for Victory!«

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Hanfpropaganda in den USA und Nazideutschland: Dokumente

Hanf für den Sieg!

Textbuch des Hanfpropagandafilms »Hemp for Victory!« von 1942 Aus: High Times, Oktober 1989

Lange bevor im antiken Griechenland die ersten Tempel errichtet wurden, war Hanf der Menschheit als Nutzpflanze bekannt. Seit Tausenden von Jahren wurde in China und anderen Ländern des Ostens Hanf angebaut, um Fasern zur Herstellung von Seilen und Kleidern zu gewinnen. Jahrhundertelang – bis etwa 1850 – wurden alle Schiffe, die auf den westlichen Meeren segelten, mit aus Hanf gedrehten Seilen und aus Hanf gewobenen Segeln aufgetakelt. Ohne Hanf hätten weder Matrosen noch Henker arbeiten können.

1942 brachte das amerikanische Landwirtschaftsministerium den Propagandafilm »Hemp for Victory« heraus. Jeder Farmer mußte quittieren, daß er diesen Film gesehen hatte.

In den 80er Jahren leugneten offizielle Stellen die Existenz eines solchen Films.

Erst Jack Herers hartnäckige Recherchen brachten dieses Dokument wieder ans Licht der Öffentlichkeit.

60 Tonnen Hanf für die Takelung und das Ankerseil von 63 cm Umfang benötigte ein Schiff wie die berühmte 44-Kanonen-Fregatte »Old Ironsides«. Die Präriewagen der Pioniertage waren mit Planen aus Hanf bespannt. Das englische Wort für Segeltuch canvas ist sogar vom arabischen Wort für Hanf [quinnab – Anm. d. Übers.] abgeleitet. In Kentucky und Missouri war Hanf eine bedeutende Nutzpflanze, bis mit billigen Importen anderer Fasern wie Jute, Sisal und Manilahanf der Niedergang des Hanfanbaus in Amerika begann.

Heute jedoch, wo sich die Anbaugebiete auf den Philippinen und in Ostindien in den Händen der Japaner befinden und die Jutetransporte aus Indien eingeschränkt sind, muß der Bedarf unserer Armee und Marine durch amerikanischen Hanf gedeckt werden. Auf 36 000 Morgen Land wurde im Jahr 1942 von patriotischen Farmern Hanf an gebaut, das bedeutet einen Zuwachs von einigen tausend Prozent gegenüber den Vorjahren. Ziel für das Jahr 1943 ist die Ausdehnung des Hanfanbaus auf 50 000 Morgen.

In Kentucky wird Hanf hauptsächlich in Flußtälern angebaut. Einige dieser Felder sind nur mit dem Boot erreichbar. Im Rahmen des Kriegsprogrammes ist eine enorme Steigerung der Produktion von Hanf und seiner industriellen Verarbeitung geplant. Dieser Film soll den Farmern zeigen, wie man mit dieser alten, aber heute außerhalb von Kentucky und Wisconsin nur noch wenig bekannten Pflanze umgehen muß.

Dies ist Hanfsamen, achten Sie darauf, wie man ihn behandeln muß. Um Hanf legal anbauen zu dürfen, müssen Sie dies bei Ihrem Bundesstaat anmelden und eine Steuermarke besorgen, dies ist in Ihrem Vertrag bereits vorgesehen. Vergessen Sie nicht, Ihren Bezirksvertreter danach zu fragen.

Hanf braucht fruchtbaren, gut entwässerten Boden wie hier in der »Blue Grass« Region Kentuckys oder in Zentral-Wisconsin. Er sollte locker und humusreich sein, magere Böden sind nicht geeignet. Auf Boden, der gutes Getreide erzeugt, gedeiht gewöhnlich auch Hanf.

Hanf laugt den Boden nicht aus. In Kentucky wurde mehrere Jahre hintereinander auf dem gleichen Boden Hanf gezogen, empfohlen wird dies jedoch nicht. Als dichtwachsende Pflanze unterdrückt Hanf alles Unkraut. Hier sieht man eine abgestorbene kanadische Distel, die der Konkurrenz nicht gewachsen war. Hanf hinterläßt einen guten Boden für nachfolgende Pflanzen.

Zur Fasergewinnung sollte Hanf sehr dicht gesät werden, je enger die Reihen verlaufen, desto besser. Bei den hier gezeigten Reihen beträgt der Abstand etwa 10 cm. Hanf kann auch als Streusaat ausgebracht werden. Auf jeden Fall sollte so dicht gesät werden, daß sich ein schlanker Stengel bildet. So sieht ideal gewachsener Hanf aus: genau die richtige Höhe für eine leichte Ernte, dichter Stand mit schlanken Stengeln, die gut verarbeitet werden können.

Stengel wie die hier links gezeigten liefern die meisten und besten Fasern, rechts sind sie zu grob und holzig. Zur Gewinnung von Saatgut wird Hanf – manchmal von Hand – auch in Streusaat gesät. Hanf ist eine zweihäusige Pflanze. Die männliche Blüte ist im Gegensatz zur unscheinbaren weiblichen leicht gefleckt. Zur Saatgewinnung werden die männlichen Pflanzen entfernt, hier sieht man die Samen einer weiblichen Pflanze.

Hanf, aus dem Fasern gewonnen werden sollen, ist erntereif, wenn sich der Samen aussät und die Blätter fallen. In Kentucky geschieht dies im August. Hier eine alte Mähmaschine, die schon seit mehr als einer Generation benutzt wird.

In Kentucky wächst der Hanf so üppig, daß er manchmal schwer zu ernten ist, wahrscheinlich ist deshalb dieser automatische Rechen hier mit seinem seitlichen Hub so populär. Auf normalen Feldern läßt sich auch mit einem modifizierten Reisbinder gut arbeiten. Vor kurzem wurde diese verbesserte, in Wisconsin seit vielen Jahren benutzte Mähmaschine in Kentucky eingeführt, die den geernteten Hanf in gleichmäßigen Reihen ablegt. Es ist eine große Erleichterung, mit so einer modernen Maschine zu ernten, die auch mit dem schwierigsten Hanf fertig wird.

In Kentucky wird teilweise erst ein Stück von Hand gemäht, um die Felder für die maschinelle Ernte zugänglich zu machen. Der Hanf wird hier so bald wie möglich, also direkt nach der Ernte, geschält, und erst später im Herbst zum Rösten ausgelegt.

In Wisconsin wird im September geerntet. Die Mähmaschine mit automatischem Verteiler ist hier Standard. Achten Sie bitte darauf, wie vorsichtig die rotierenden Rechen den Hanf in Reihen zum Rösten auslegen! Hier ist es üblich, um die Hanffelder herum schmale Landstreifen freizulassen und mit niedrigem Getreide zu bepflanzen, damit die Mähmaschine Platz hat, ihre erste Runde zu fahren, ohne daß vorher von Hand gemäht werden muß. Die Maschine fährt dann über ein Stoppelfeld. Wenn der Messerbalken der Maschine kürzer ist als der Hanf hoch steht, kommen die Stengel übereinander zu liegen, was sich auf den späteren Rösteprozeß ungünstig auswirkt. Die Schnitthöhe liegt üblicherweise bei 2,40 m bis 2,70 m.

Wie lange der Hanf rösten muß, hängt vom Wetter ab. Um ein gleichmäßiges Ergebnis zu erzielen, müssen die Reihen gewendet werden. Wenn der hölzerne Kern sich – wie hier – leicht brechen läßt, kann man den Hanf sammeln und bündeln. Gut gerösteter Hanf ist hell- bis dunkelgrau. Die Faser löst sich leicht vom Stengel. Sind bereits einzelne Stengel in diesem Stadium, ist der Rösteprozeß in vollem Gange. Wenn der Hanf zu kurz ist, sich verheddert hat oder der Boden zu naß ist, muß er von Hand gebündelt werden. Dazu nimmt man einen hölzernen Kübel. Es kann mit Schnur gebunden werden, aber auch Hanf selbst eignet sich gut dafür.

Unter günstigen Bedingungen wird normalerweise ein Selbstsammler- und binder benutzt. Hierfür müssen die Reihen glatt und gerade sein und die Stengel parallel liegen. Bei verheddertem Hanf funktionieren die Sammler nicht gut. Nach dem Binden muß der Hanf so schnell wie möglich geschält werden, sonst geht die Röste weiter. 1942 wurden in den USA 14 000 Morgen Hanf geerntet. Die Pflanze, seit Urzeiten für alle Arten von Tauwerk genutzt, feiert ihr großes Comeback.

Hier sieht man, wie Hanf aus Kentucky in den Trockner der Mühle von Versailles geschoben wird. Früher wurde der Hanf von Hand gebrochen, das war eine der härtesten Arbeiten, die es gab. Heute erledigen Maschinen diese Aufgabe und das viel schneller.

In dieser Wassermühle am Kentucky in Frankfort, einer alten Anlage aus Pioniertagen, wird amerikanischer Hanf zu Seilen und Garn versponnen. All diese Betriebe werden in Zukunft Produkte aus amerikanischem Hanf erzeugen: verschiedene Arten von Garn zum Binden und Polstern, Seile und Taue für die Seefahrt, für Heuwender, Krane und Schwerlastaufzüge, Gewebe für leichte Feuerwehrschläuche, Schnürsenkel für Millionen Paar amerikanischer Soldatenstiefel und Fallschirmstoff für unsere Fallschirmspringer. Jedes Schiff der US-Marine benötigt 10 360 Meter Tau. Hier in der Bostoner Marinewerft, wo schon seit langem Tauwerk für Fregatten hergestellt wird, arbeitet die Belegschaft Tag und Nacht an der Produktion von Tauwerk für die Flotte. In alten Zeiten wurde das Garn von Hand gesponnen, hier läuft es durch Löcher in einer Eisenplatte. Dies ist Manilahanf aus den rapide schrumpfenden Reservebeständen der Marine. Wenn er verbraucht ist, muß amerikanischer Hanf an seine Stelle treten: Hanf für Schiffstau, für Takelage und für Maschinen, Hanf für tausenderlei Zwecke der Marine, auf See und an Land – wie in jenen Tagen, als die »Old Ironsides« mit ihren Segeln und Wanten aus Hanf die Weltmeere befuhr. Hanf für den Sieg!

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Die lustige Hanffibel

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Einleitung

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Erzeugnisse des Hanfbaues

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Ausdehnung des Hanfbaues

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Boden und Standort

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Fruchtfolge und Vorfruchtwert

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Bodenbearbeitung

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Die Düngung

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Sorte und Saat

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Die Pflege

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Die Ernte

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Lagerung und Drusch

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Ablieferung und Preis

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Die neuen Konkurrenten aus der Chemie: Perlon, Nylon und Konsorten

Wenn die Gürtel enger geschnallt werden und der Staat Ressourcen mobilisiert, greift er auf den Hanf zurück: Das war so in Deutschland im Ersten Weltkrieg und in der Wirtschaftskrise der 30er Jahre, aber auch in den USA, als sie 1942 in den Krieg eintraten.

Von den knapp 40 000 Hektar Hanffeldern 1945 waren 10 Jahre später weniger als ein Viertel übrig, 2 000 Hektar in der Bundesrepublik und 7 500 Hektar in der DDR. Eine Differenz, die zeigt, daß die Not im Ostteil Deutschlands noch nicht ganz zu Ende war; die Hilfe des Hanfs wurde noch gebraucht. Im Westen Europas wird der Anbau Mitte der 50er Jahre nahezu völlig eingestellt, nur in Italien wird noch eine nennenswerte Menge Hanffasern produziert. Einmal mehr in diesem Jahrhundert scheint die Spezies Cannabis zu den aussterbenden Arten zu gehören.27

Wie es kam, daß der Hanf nach dem Zweiten Weltkrieg so schnell verschwand wie nach dem Ersten, ist wieder die gleiche Geschichte: Jute aus Indien, Manila-Hanf von den Philippinen, Sisal aus Afrika und Baumwolle aus den USA waren wieder da. Zwar schnitt Hanf dank des Technologieschubs in der Verarbeitung jetzt im Vergleich mit den importierten Pflanzenfasern viel besser ab als 1918, doch in der Zwischenzeit war in den Labors der I. G. Farben in Deutschland und der Du Pont Company in Amerika eine neue Konkurrenz erwachsen: die Chemiefaser. Das meiste, was wir heute an synthetischem Material und Kunststoffen benutzen, wurde in den 20er und 30er Jahren von diesen beiden Konzernen entwickelt und kam als »Nylon«, »Rayon«, »Perlon« auf den Markt. Basis der neuen Fasern war Erdöl, und seit Du Pont – dank der Hilfe des Bankers, Ölmagnaten und Anslinger-Schwiegeronkels Andrew Mellon (siehe Seite 57 ff.) – in den 20ern General Motors übernommen hatte, war klar, welchem Gundstoff sich die Auto-industrie verschreiben würde: dem Öl.

Da mochte Henry Ford auf seiner Versuchsfarm in Michigan noch soviel mit Hanf als Biomasse und dem »Auto, das vom Acker wächst«, experimentieren (siehe Seite 113). Schon einmal, 1919, hatte er versucht, Bioalkohol als Alternativkraftstoff auf dem Markt zu etablieren, doch die Alkoholprohibition machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Diesmal sollte es die Hanfprohibition sein, die seine neuen Ideen am Durchbruch hinderten. Denn Du Pont hatte nicht nur Sulfitprozesse für die Papierherstellung aus Holz, sondern auch neue Additive für Ölkraftstoffe entwikkelt und wollte sich dieses Geschäft nicht verderben lassen. Zwar beklagt der »Annual Report« der Company 1937 noch eine »von Unsicherheiten bewölkte Zukunft«, doch eine Lösung ist offenbar in Sicht: »Steuererhebungen der Regierung könnten in ein Instrument verwandelt werden, die Akzeptanz neuer Ideen des industriellen und sozialen Wiederaufbaus zu beschleunigen.«28 Die neuen Ideen, das waren Fasern wie »Nylon«, chemische Prozesse zur Papierherstellung aus Holz oder zur Aufbereitung von Benzin, – und die ins Auge gefaßten »Steuererhebungen« traten noch am 1. September des Jahres in Kraft: Es war der »Marijuana Tax Act« (siehe Seite 410 ff.). Nun haben diese von September 1937 an erhobenen 100 Dollar Transfersteuern für Hanf nie wirklich Geld in die Staatskassen gespült; sie sorgen aber dafür, daß der Anbau in den USA schlagartig zum Erliegen kommt und die »Akzeptanz« der neuen Du Pont-Ideen beschleunigt wird.

Ulbricht, Erich und Konsorten haben wie so vieles auch diese Dissertation nicht zur Kenntnis genommen: Die Hanfanbaufläche in der DDR ging von 7 833 Hektar 1956 auf 4 781 Hektar 1962 zurück. 1971 wurde der Hanfanbau eingestellt.

1939 hat der Präsident der Firma, Lammont Du Pont, bereits allen Grund zum Jubel: »Synthetische Kunststoffe finden Anwendung bei der Herstellung einer Vielzahl von Artikeln, von denen viele früher aus natürlichen Stoffen hergestellt wurden.« Mit »synthetisch« meinte er Produkte, die auf Erdöl oder Kohle basierten und ihn von einer Welt ohne Natur träumen ließen: »Der Chemiker trägt dazu bei, natürliche Ressourcen zu erhalten, indem er synthetische Produkte entwickelt, die die Produkte der Natur ergänzen oder völlig ersetzen können.«29 Die Patente, mit denen Du Pont bei der Schaffung dieser Ersatznatur arbeitete, stammten, sofern sie nicht selbst entwickelt worden waren, von der deutschen I.G. Farben. Wie Du Pont über ihren Bankier Mellon mit Gulf Oil, so war auch die I.G. fest mit der Ölindustrie liiert, u. a. über eine Beteiligung an Standard Oil, und darüber hinaus über diverse Auslandstöchter mit Du Pont verbunden.30

Bei der Betrachtung des Tüftlers Henry Ford mit seinem »Pflanzenauto« im Jahr 1941 kann einen Wehmut überkommen. Wie würde die Welt, wie der Verkehr, heute aussehen, wenn sich statt der »fleischfressenden« Öldinosaurier diese vegetabilen Fortbewegungsmittel durchgesetzt hätten? Wie wären der Wald und die Atmosphäre beschaffen, wenn diese Weichenstellung für die technologische Zukunft nicht durch die »dirty tricks« der Petrochemie manipuliert worden wäre? In einem Punkt können wir sicher sein: Ein Grüngürtel von Hanf würde die Erde überziehen, und auf diesen Feldern würden nicht nur Autos und ihr Treibstoff wachsen, sondern auch 50 000 andere Produkte – von Zellophan und Papier über das biologisch abbaubare Plastik unserer Computerkisten bis hin zum Baumaterial unserer Häuser. In der Notzeit der Wirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs waren alle diese Verwendungen angedacht und auch schon ansatzweise realisiert worden; nicht zufällig steht der »Holzteil dieser starken Pflanze« in der »Hanffibel« des »Reichsnährstands« ganz am Anfang der Verwertungsmöglichkeiten. Die neuartige Gewinnung von »Holzzucker und Holzgas« (Zellulose und Kraftstoff) aus Hanf machte ihn nicht mehr nur als Faser- und Öllieferant attraktiv, sondern auch als Energiepflanze.

Keine andere Pflanze, so hatte Dewey bei seinen Experimenten für das US-Landwirtschaftsministerium herausgefunden, bringt in gemäßigten Klimazonen bei gleichen Kosten höhere Erträge als Hanf: 10 Tonnen getrocknete Biomasse pro Hektar, 80 Prozent davon sind Holz, das zwischen 77 und 85 Prozent Zellulose enthält. Damit ist Hanf nicht nur die preiswerteste Möglichkeit zur Zellulosegewinnung – Wald wächst langsamer, und sein Holz enthält nur 65 Prozent Zellulose –, sondern auch der beste Lieferant von nachwachsender Energie.31 Hanf war somit ein klarer Konkurrent für den Stoff, auf den die petrochemische Industrie setzte: Erdöl.

Der Technologievorsprung der Baumwolle, der kolonialistisch erzwungene Preisvorsprung der Importfasern und die chemische Aufbereitung von Holz als Papierrohstoff hatten Hanf seit Mitte des 19. Jahrhunderts überflüssig werden lassen. Der Ausnahmezustand der Weltkriege sorgte jedoch dafür, daß man sich seiner universellen Qualitäten wieder erinnerte und diese mit neuen Verarbeitungsmethoden weiter steigern konnte. Statt des aufwendigen Verrottungsprozesses konnten nun mit neuen Maschinen die Fasern direkt vom Stengel gelöst werden und der Abfall von einst – die hölzernen Schäben – stellte einen hervorragenden und nahezu kostenlosen Industrierohstoff dar. Auf diesem Hintergrund wird es verständlich, warum eine Seilschaft von Industriebaronen – die Herren Hearst (Zeitungs-, Holz- und Papierindustrie), Mellon (Ölindustrie, Banken) und Du Pont (chemische Verfahren für die Papier- und Ölindustrie) – begann, einen neuen Begriff in der Öffentlichkeit zu etablieren: Statt von Hanf (»Hemp«) war in den Medien plötzlich dauernd von »Marihuana« die Rede. Die Sensationspresse des Randolph Hearst machte damit in den 20er Jahren den Anfang, und den Rest erledigte in den 30ern Mellons Schwiegerneffe Anslinger mit seiner Mörderkrautkampagne im eigens dafür gegründeten »Bureau of Narcotics«. Es war nicht die verschwindende Minderheit von 60 000 damals geschätzten Marihuanarauchern, die diese Staatsaktion notwendig machte. Sicher, der mit dem Ende der Alkoholprohibition arbeitslose Polizei- und Verwaltungsapparat mußte weiterbeschäftigt werden, doch daß er sich ausgerechnet dem Hanf zuwandte, war weniger den Interessen der Gesundheit und des Jugendschutzes geschuldet als denen des ehemaligen US-Finanzministers und Ölmilliardärs Andrew Mellon und seiner Partner. An säure- und chlorfreiem Papier aus Hanfschäben, an schwefel-und bleifreiem Cannabiskraftstoff, an biologisch abbaubarem Plastik aus Hanfzellulose, an organischem Asbestersatz aus Hanffasern: An all diesen Produkten aus der ertragreichsten und pflegeleichtesten Pflanze des Planeten konnte den Herren Du Pont und Mellon nicht gelegen sein. Und so schalteten sie die Konkurrenz aus – mit einer Rufmordkampagne, die in der modernen Industriegeschichte ihresgleichen sucht.

In Deutschland hatte dies nach 1945 zur Folge, daß statt feinen Geweben aus »kotonisiertem« Hanf, wie sie seit den 30ern produziert werden konnten, nun Textilien aus »Nyltest«, »Dralon«, »Trevira« auf den Markt kamen, und auch die hanfenen Schwergewebe, wie Planen für Lkws, Kirmeszelte und dergleichen, wurden nun aus petrochemischen Fasern gemacht. Das Perlonseil, ebenso reißfest, aber wesentlich leichter als Hanfseile, verdrängte die Seilerwaren aus Cannabis. Der Stolz der Hausfrauen der 50er Jahre, die »modernen« Hemden, Socken und Hosen aus Kunstfasern, flatterten bügelfrei an Plastikwäscheleinen. Die ersten mechanischen Hanfspinnereien in Deutschland – 1860 in Füssen und Immenstadt gegründet – stellten Mitte der 50er Jahre ihre Maschinen um, die »Hanfwerke AG« verspannen, außer einem Anteil Flachsfasern, fortan nur noch Chemie.

Hier, auf dem Höhepunkt des öl- und kohlebefeuerten Wirtschaftswunders der 50er Jahre, hätte die Geschichte der Nutzpflanze Hanf in der westlichen Welt zu Ende sein können; gebraucht wird Hanf nur noch dort, wo auch millionenteure Forschung keinen besseren synthetischen Ersatz zustande bringt, etwa als Dichtungsmaterial. Bis heute werden die Gewinde unserer Wasserleitungen gehanft, es gibt keine andere Faser, die so viel Wasser aufnehmen und so lange im Feuchten bleiben kann, ohne zu faulen. Doch einmal mehr will sich der »schlaue Hanf«, wie Cannabis in einer französischen Redewendung heißt, mit seinem Niedergang nicht abfinden; auf billiges Klempnermaterial reduziert zu werden, ist für die Königin der Nutzpflanzen unter aller Würde. Und es mutet wie Ironie an, was just in dem Augenblick, wo mit Hanf nur noch Wasserhähne und Klospülungen gedichtet werden, geschieht: Eine neue Generation in den USA entdeckt ihn zum Dichten von Lyrik und Romanen. Mit den »Beat-Autoren« (Kerouac, Burroughs, Ginsberg) geht das Rauchen von Cannabis »on the road«; in den 20er und 30er Jahren im wesentlichen auf Künstlerkreise von Schwarzen und Latinos beschränkt, wird es nun von der weißen Mittelschicht entdeckt. Und zehn Jahre später – der Hanfanbau wird in der gesamten westlichen Welt gerade endgültig eingestellt – ist die Pflanze weltweit zum Symbol der Gegenkultur avanciert: Das Signet der Hippiekultur ist das Hanfblatt, die Power-Blume der Flower-Power-Bewegung nichts anderes als Cannabis sativa.

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Verbandssignet und Sortiment aus den 40er Jahren

Konkurrenz für das Heilmittel: Aspirin und Heroin

Es ist hier nicht der Ort, die Geschichte des Cannabis als Treibstoff der Gegenkultur zu erzählen. Alle Interessierten seien auf Hans-Georg Behrs hervorragendes Buch Von Hanf ist die Rede verwiesen. Es schließt mit dem Satz von Nowliss »Die Geschichte des Hanfs ist noch nicht geschrieben«, und ist das deutschsprachige enzyklopädische Werk zur Geschichte und Kultur der Hanfdrogen. Sein Titel macht klar, worum es geht: nicht um »Hasch« oder »Marihuana«, sondern um Hanf, nicht um »kulturfremdes«, exotisches Rauschgift, sondern um eine heimische und uralte Pflanze. In einer frühgermanischen Graburne in Wilmersdorf (Brandenburg) aus dem 5. Jahrhundert vor Christus wurden Samen von Cannabis sativa gefunden. Max Höfler stellt in der »Volksmedizinischen Botanik der Germanen« (1908, Repr. 1990) die Vermutung an, daß die medizinische Wirkung von Hanfräucherungen wie bei den Skythen auch schon in der germanischen Nomadenperiode bekannt war, weil in Zelten Hanfgras zur Feuerung benutzt wurde.32 Hanf war die heilige Pflanze der Liebesgöttin Freya, das Symbol der Fruchtbarkeit und wurde als solches rituell verwendet. Nur Frauen durften Hanf aussäen, pflegen und ernten, und sie dürften auch die ersten gewesen sein, die Erfahrungen mit seiner narkotischen Wirkung machten, von der, so Friedrich Tobler 1938, »man auch in deutschen Hanffeldern durchaus eine Vorstellung bekommen (konnte)«. Daß es Frauen waren, die das Wissen um die geistigen Wirkungen des Hanfs hüteten, entspricht durchaus der Rolle, die ihnen damals zukam: »Sie glauben«, schrieb der römische Geschichtsschreiber Tacitus im 1. Jahrhundert über die Germanen, »den Frauen eigne sogar etwas Heiliges und Seherisches; ihre Ratschläge mißachten sie daher nicht, noch mißachten sie ihre Bescheide.« Diese besondere Rolle der Frau bei den Germanen hielt sich bis ins späte Mittelalter, und ihre »heidnische« Verwurzelung – das Wissen um die Kräuter und die »Pflanzen der Götter« – brachte sie an der Wende zur Neuzeit als Hexe auf den Scheiterhaufen.33

Das erste schriftliche Zeugnis über die bewußtseinsbewegenden Eigenschaften des Hanfkrauts stammt von einer Frau, Hildegard von Bingen (1098-1179), die heute gern als »erste deutsche Seherin« dargestellt wird. Die Vorläuferinnen der katholischen Mysterikerin und Ärztin indessen waren jene altgermanischen Frauen, deren Erfahrung mit den heilenden und prophetischen Kräften der Kräuter sie als Heilerinnen prädestinierte. »Wer ein leeres Gehirn hat und Hanf ißt, dem bereitet er etwas Schmerz im Kopf. Aber dem gesunden Kopf und dem vollen Gehirn schadet er nicht«, heißt es in den medizinischen Schriften Hildegards über die geistigen Wirkungen des »Cannabus«. Ihre ungewöhnlichen Zusatzbemerkungen über die Wachstumsbedingungen der Pflanze haben der Hildegard-Forschung zu der Vermutung Anlaß gegeben, daß die rheinische Klosterärztin auch Hanfpflanzen beobachtet habe, »die gelegentlich in kleinen Mengen Haschisch produzierten«. Daß Hildegard ihre Visionen durch die »grüne Kraft« verstärkte, muß allerdings Spekulation bleiben.34 Dennoch wird der Hanf in den meisten Büchern, die im Zuge der jüngsten Renaissance der Hildegardschen Klostermedizin erscheinen, »aus medizin-politischen Gründen totgeschwiegen« (Christian Rätsch).

Wegen seiner krampflösenden, schmerzstillenden und antibakteriellen Wirkung war Hanf eines der wichtigsten Heilmittel der Menschheit: das Aspirin der Antike

Damit sind wir bei einem weiteren Kapitel der Geschichte des Hanfniedergangs angelangt, dem allmählichen Verschwinden der Cannabismedizin, das wie die Verdrängung der Faser- und Nährpflanze Hanf in die Zeit der Industrialisierung fällt. Vom archaischen China über die klassische Antike bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts war Cannabis wegen seiner schmerzstillenden, krampflösenden und antibakteriellen Eigenschaften eine der wichtigsten Heilpflanzen der Menschheit – das Aspirin der Antike. Die Bedeutung des Hanfs als Medizin war mindestens ebenso wichtig wie sein Status als Lieferant von Fasern und Öl. Noch in Zedlers Universallexikon von 1735 sind von vier langen Spalten über den »Hanff« mehr als zwei Drittel den medizinischen Verwendungen gewidmet. Auch in der Encyklopädie der gesammelten Volksmedizin von Georg Friedrich Most – unter dem Titel »Der Hausarzt« eines der populärsten Bücher des 19. Jahrhunderts – nehmen die Anwendungen des Hanfs einen breiten Raum ein, darunter auch präzise Anweisungen, wie die Pflanze als Rauschmittel und Aphrodisiakum benutzt wird.35

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Doch nicht nur in der Volksmedizin und der Selbstmedikamentierung der Bevölkerung spielte Cannabis im 19. Jahrhundert eine Rolle, auch die offizielle Medizin verordnete Haschisch »als leichtere Arznei (...) in Fällen, wo Opium nicht bekömmlich sein sollte«. Allgemein wurden jedoch Probleme bei der Dosierung beklagt, die sich allerdings durch die Arbeit des schottischen Arzts William O’Shaugnessy erledigten, der für die britische »East India Company« 1839 Cannabistinktur hergestellt und erforscht hatte. Als neues Wundermittel trat der alte Hanf nun zu einem Siegeszug in den europäischen Apotheken an, und die gerade erwachende pharmazeutische Industrie mixte »Indisch-Hanf-Tinktur« in unzählige ihrer Präparate. Der Technologievorsprung, der im Bereich der Faserwirtschaft zur selben Zeit die Baumwolle nach vorn brachte, machte den Hanf, dank O’Shaugnessys potenter Tinktur, nun zu einer der einträglichsten Medizinalpflanzen.36 Doch dieser »Erfolg« der Pflanze vermochte gegen das drohende Vergessenwerden nichts auszurichten. Etwa zur selben Zeit, als mit der Erfindung der Papier- und der Baumwollmaschine Hanf als Nutzpflanze ins Hintertreffen gerät, bahnt sich auch das Ende der Medizinalpflanze Hanf an.

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Anzeigen, um 1900

1803 hatte der junge Apotheker Friedrich Wilhelm Sertürner den aktiven Wirkstoff des Opiums, Morphin, isoliert und damit den Grundstein zur Industrialisierung des Arneimittelwesens gelegt. Waren bis dahin die Heilmittel auf Anweisung des Arztes in den Apotheken zusammengestellt worden, so wurde für die Herstellung von Pflanzen-alkaloiden nun die fabrikmäßige Herstellung notwendig. Kleine Färbereibetriebe und Apotheken stiegen innerhalb weniger Jahrzehnte zu mächtigen Pharmaunternehmen auf. Die 1827 gegründete Firma Merck & Co. in Darmstadt nahm 1828 die Produktion von Morphin auf, ab 1862 wurde der neu entdeckte Wirkstoff der Cocapflanze, Kokain, kommerziell produziert und ab 1880 auch eine hochpotente Cannabistinktur vertrieben.37 Das simple und wenig profitable Pflanzenkonzentrat wurde freilich erst ins Programm genommen, als der Pharmazeut Louis Lewin 1879 endgültig nachgewiesen hatte, daß der Merck-Verkaufsrenner Morphin suchtbildend war. Doch die Rolle des Cannabis als milder und nicht suchtbildender Ersatzstoff für das starke Betäubungsmittel Morphin währte nicht allzulange. Einmal mehr nimmt die Geschichte des Hanfs eine ironische Wendung, denn das neue Mittel, durch welches er um die Jahrhundertwende aus seiner Rolle als Universalmedizin verdrängt wird, ist nichts anderes als der Stoff, zu dem zwangsläufig zu führen dem Hanf später vorgeworfen wird: Heroin.

Ein »vorzügl. Beruhigungsmittel von spezifisch hustenstillender Wirkung«: das Heroin der Firma Bayer

1898 erklärte der Chefpharmakologe der Firma Bayer auf einem Ärztekongreß, das von seiner Firma neu entwikkelte Medikament sei als Hustenmedizin zehnmal wirksamer als Kodein, das stärkste bis dahin in Hustensäften verwendete Opiat, sei aber zehnmal weniger toxisch. Heroin, so der Bayer-Mann, sei vor allem die Lösung für das wachsende Problem der Morphinabhängigkeit; es sei ungefährlich, erzeuge keinerlei Abhängigkeit und sei bei einer Vielzahl von Krankheitsbildern, einschließlich Darmkoliken von Säuglingen, ausgesprochen wirksam. Die Firma verschickte Tausende von Gratisproben an Ärzte. »Die Nachbestellungen übertrafen alle Erwartungen.«38 1900 startete Bayer eine in der Geschichte der Pharmazie bis dahin beispiellose Werbekampagne, in zwölf Sprachen wurde Heroin rund um die Welt als »Vorzügl. Beruhigungsmittel von spezifisch hustenstillender Wirkung« gepriesen. Der phänomenale Erfolg dieser Kampagne pflasterte den Aufstieg der kleinen Elberfelder Farbenfabrik zum Weltkonzern, zusammen mit einem zweiten Wundermittel, das zwei Jahre später auf den Markt gebracht wurde: Aspirin. So verschieden diese beiden Präparate in ihrer Wirkung auch waren, beide waren sie eine Novität im sich entwickelnden Geschäft mit der Gesundheit. Sie sind die ersten Medikamente der Arzneigeschichte, die nicht mehr nach der pflanzlichen Substanz oder der chemischen Zusammensetzung bezeichnet wurden, sondern einen Markennamen bekamen. Gemeinsam ist ihnen aber auch, daß ihre so lautstark beschworenen Indikationen – bei Heroin über 40 und bei Aspirin kaum weniger – bis dahin zu den angestammten Domänen der Cannabismedizin zählten.

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Heroin-Reklame der Firma Bayer

Der Traum der Pharmakonzerne: eine synthetische Arzneimittelwelt ohne Heilpflanzen

Pharmakologisch betrachtet ist das Hanfkraut ein merkwürdiger Zwitter: Es hat sedative und stimulierende Wirkung. Und deshalb wurde es sowohl als krampflösendes Husten- und Beruhigungsmittel wie auch als anregende und schmerzstillende »Kopfwehtablette« verwandt. Sir John Russel Reynold, Leibarzt von Queen Victoria, verordnete Cannabistinktur u.a. gegen Husten, asthmatische Zustände, Migräne, Neuralgie, »Krämpfe aller Art« und Schlafstörungen bei älteren Menschen. Charles Dodgson (Lewis Carroll), Mathematiklehrer und Autor von Alice im Wunderland, wurden 1855 von seinem Hausarzt »zur Hebung des allgemeinen Befindens« täglich drei Teelöfel »Indian Soothing Syrup« verschrieben; und bis zu seinem Lebensende 1898 verbrauchte er von der 12prozentigen Hanftinktur regelmäßig ein Fläschchen pro Woche.39 Hätte der Vater des weißen Kaninchens noch ein paar Jahre länger gelebt, der pharmazeutische Fortschritt hätte ihn wahrscheinlich noch zum Junkie gemacht, denn mit der Jahrhundertwende sind auch die Tage des Hanfs als Universalmedizin und sanftem Morphinersatz gezählt; als solcher fungiert ab 1900 allenthalben der neue, garantiert nicht süchtig machende Bayer-Stoff Heroin.40

»Wir haben Drogenprobleme«, so der Pharmakologe Ronald Siegel, »weil wir mit Mutter Natur herumspielen, wir nehmen relativ sichere Medizin, relativ milde Rauschmittel und verwandeln sie in Gifte.« Der Übergang vom Hanf- zum Heroinhustensaft um die Jahrhundertwende ist ein Beispiel für eine solche Verwandlung. Das Herumspielen an der Mohnpflanze hatte aus dem relativ milden Opium das starke Morphin herausgezogen, das Herumspielen am Morphin bescherte das wiederum vielfach stärkere Heroin. Doch je tiefer die pharmazeutische Forschung in die Details vorstieß, desto heftiger wurde sie zurückgeworfen: Die Morphinsucht war schlimmer als die Opiumabhängigkeit, von der sie heilen sollte, und die »Therapie« Heroin gefährlicher als die Krankheit Morphinismus. Den Profiten der Pharmaindustrie tat diese Beelzebub-Strategie der Teufelsaustreibung genauso wenig Abbruch wie dem naiven Glauben der Wissenschaft, einfach nur immer winzigere Details der Pflanze in ihrer Wirkung künstlich aufzublasen, um so alle Nebenwirkungen auszuschalten. Den Vollzug des vorläufig letzten Schritts konnte die I.G. Farben 1941 dem Führer melden: Das Methadon war erfunden worden, ein völlig synthetisches Opiat, unabhängig von ausländischen Pflanzenrohstoffen herzustellen, billig, achtmal so stark wie Morphin und – logisch – nicht süchtig machend.41 Im selben Jahr verschwindet die »Indisch-Hanf-Tinktur« aus dem deutschen Arzneibuch, und in Amerika beeidet einer von Anslingers Medizinern, daß Cannabis »keinerlei therapeutischen Wert« habe. Wie Lammont Du Pont im Bereich der Fasern eine schöne neue petrochemische Plastikwelt ohne Natur halluzinierte, so können die Chemiekonzerne jetzt auch im Pharmabereich von einer synthetischen Arzneimittelwelt ohne Heilpflanzen träumen.

Vom Paria der Nutzpflanzen zum Schwarzmarktkönig des Drogenhandels

Die Segnungen der pharmazeutischen Industrie in Form von Heroin und Aspirin verdrängten den Hanf mit Beginn des 20. Jahrhunderts von seinem Spitzenplatz als Universalmedizin; dennoch war seine Bedeutung als Heilmittel nach wie vor unbestritten. Seine berauschende Wirkung war zwar allgemein bekannt und spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Creme der französischen Intellektuellen im Club des Haschischins davon geschwärmt hatte, durchaus berüchtigt – ein »Drogenproblem« freilich gab es damit nicht. Die Nutzung des Hanfs als Genußmittel, das als »starker Tobak« oder »Orient« in die Pfeife kam, war vielmehr schon um 1800 in Deutschland eingebürgert. »Rauch nit zuviel Orient, weil dich sonst der Schädel brennt« oder »Misch’ nicht Orient und Bier, sonst werden deine Träume wirr« lauten zwei Sprichworte, die Hans-Georg Behr auf Tabakdöschen dieser Zeit entdeckte. Derartige Konsumregeln und »Rauchsprüche« belegen in ihrer Selbstverständlichkeit, in welchem Maß Cannabis – im Zuge der Prohibition heutzutage als »kulturfremd« deklariert – in die Genußkultur der Deutschen eingebettet war.42 Derartige Genüsse waren wohlweislich den Erwachsenen vorbehalten. Wilhelm Busch hat dazu eine Schmunzelbildergeschichte gemacht. Anlaß zur Panik, das zeigt aber »die Moral von der Geschicht«, gibt selbst der Haschischmißbrauch nicht: Mit einer Tasse Kaffee sind die bösen Geister schnell vertrieben.

Wilhelm Busch Krischan mit der Piepe (1864)

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De Vader segt: Ick mot nu gahn!

Krischan! Lat de Piepen stahn!

Kum awer geiht he ut der Doer,

Krigt Krischan all de Piepen her.

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Min Krischan steckt ok gar nich fuul

De Smoekepiepen in dat Muul.

He smoekt! – Wat, Deuker, is denn dat?!

Mi dücht, dar achter rögt sick wat.

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De Stock is mit den Schirm in Gange,
De Aben danzet mit der Tange.

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De Slaprock danzt mit den Stohl, juhe!

Un de Disch mit den olen Kanapee.

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Up eenmal – puff! – do werd et dunkel:

Dat is de ole Runkelmunkel?

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Un – puff! – kummt no’n Keerel an:

Dat is de swarte Morian.

Als Heilpflanze blieb Cannabis für die Apotheken trotz Heroin auch nach 1900 unverzichtbar. Die Versorgung oblag der »Deutschen Hanfbau-Gesellschaft«, die sich nicht nur um die Verbreitung des Faserhanfanbaus, sondern auch um die Sicherstellung der Lieferungen von Medizinalhanf an die Apotheken zu kümmern hatte. Um für die mit dem Ausbruch des Weltkriegs abgeschnittene Versorgung mit Ganja aus Britsch-Indien Ersatz zu schaffen, wurden ab 1917 in der »Versuchsstation für technischen und offizinellen Pflanzenbau GmbH« in Happing bei Rosenheim (Oberbayern) Zuchtversuche mit indischen Drogensorten durchgeführt. Bei dieser Studie ging es um die Frage, ob die harzreichen asiatischen Züchtungen, wie allgemein angenommen, bei dauerhaftem Anbau unter hiesigem Klima ihre Wirkung verlieren. Nach sieben Jahren stellten die Hanfforscher das Gegenteil fest: Die Wirkstoffe der indischen Pflanzen waren steil angestiegen und hatten sich auf hohem Niveau stabilisiert. Nach ihren Ausführungen wurde »die Hanfdroge aus eigener Züchtung für noch besser gehalten als die >Sansibar-Ware<, so daß man sich mit ihr als Ersatz für die >echte Droge< indischer Herkunft damals voll begnügen konnte«. Als in den 30er Jahren wieder einmal die Entdeckung des Rohstoffs Hanf anstand, gab es auch Untersuchungen zur heimischen Haschischherstellung; auch diese Studie kam damals zu dem Schluß, daß die selbstgezüchteten Hanfprodukte den im Handel befindlichen »zum mindesten gleich oder sogar überlegen« waren: »Die deutschen Forscher bemerkten übereinstimmend, daß sich indische Drogensorten und europäischer Hanf in ihren Merkmalen, insbesondere morphologischen, kaum unterscheiden.«43 Damit war einmal mehr und auch für die Heilpflanze bewiesen, was die wissenschaftliche Literatur für die Faserpflanze Cannabis schon länger staunend konstatierte: die bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit des Hanfs an die verschiedensten Klima- und Selektionsbedingungen. Auch im gemäßigten Klima ließ sich die Pflanze erfolgreich auf Harzreichtum züchten, ebenso wie sie im tropischen Klima als harzarmer, langstieliger Faserproduzent wuchs. Damit war zwar die in der Hanfliteratur immer wieder mit unterschwelligem Rassismus vertretene These vom »nordischen« Hanf als bravem Faserproduzenten und dem südlichen, »orientalischen«, als böser »Rauschgift«-Pflanze widerlegt, doch die Arbeiten von Sabalitschka und Hitzemann wurden nirgends zitiert und erst 1985 durch den Schweizer Hanfforscher Thomas Kessler wieder ausgegraben.

Mit der Herstellung synthetischer Schmerz- und Beruhigungsmittel wie Methadon im Jahre 1941 waren pflanzliche Stoffe überflüssig geworden, auch das im selben Jahr bekannt gewordene »deutsche« Haschisch, das Hitzemann gewonnen hatte. Die Züchtungsforschungen zum Drogenhanf werden nach dem Zweiten Weltkrieg außer in einigen osteuropäischen Ländern weltweit eingestellt. Und auch für den Anbau der Faser- und Ölpflanze interessiert sich wissenschaftlich bald niemand mehr. Die letzte Monographie in deutscher Sprache, Der Flachs- und Hanfanbau von Professor W. Hoffmann, erscheint 1957 im Deutschen Bauernverlag der DDR.

Was »Polamidon«, »Valoron«, »Valium«, »Librium« und Konsorten auf dem Schmerz- und Beruhigungsmittelmarkt erledigen, dafür sorgen »Nylon«, »Perlon«, »Dralon« und Co. auf dem Faser- und Textilmarkt. Mitte der 50er Jahre ist Cannabis als Nutzpflanze und Heilmittel in Deutschland ausgestorben. Doch einmal mehr läßt sich die Pflanze nicht unterkriegen; am 3. März 1954 zählte Die Welt genau nach und titelte: »17 340 rauchen Marihuana.« Unter dieser Überschrift hieß es dann: »Neben der Marihuanazigarette ist vor allem das Kokain in Westdeutschland verbreitet. Endstation solcher Spaziergänge in ein künstlich erzeugtes >Paradies< sind fast immer das Zuchthaus, die Irrenanstalt oder der Friedhof.« Fünfzehn Jahre vor der »Haschwelle« der 60er Jahre wird hier schon die Stoßrichtung festgeklopft, in der sich die Drogendiskussion bis heute bewegt. Die Pflanzendroge Hanf wird mit ungleich stärkeren Chemieprodukten in einen Topf geworfen und seine BenutzerInnen als Kriminelle und Verrückte denunziert. Anslingers Mörderkrautmärchen hatten in der Bundesrepublik Fuß gefaßt.44 Und die Prohibition sorgte dafür, daß in Deutschland das gleiche geschah wie in den USA.

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Se danzet un springet un dreihet sick,
Den Krischan werd so wunderlick.

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Se danzet, dildi, se trampelt, schrum, schrum!

Wupp! dreiht sick de ganze Stube um!

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Jüst tret de Moder in de Doer,

De Krischan ligt ganz krumm un quer.

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He ligt to Bed; de Keerels winkt,
Als Moder swarten Kaffee bringt.

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He drinkt den swarten Kaffee ut,
Dat deiht min lewen Krischan gut;

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Un Vader sitt dabi un lacht

Un segt:» Dat heb ick lange dacht!

Jaja, min Jung! so mot et gahn!

Krischan lat de Piepe stahn!!«

Die profitabelste Nutzpflanze der USA

Als universeller Rohstoff Nummer eins wurde der Hanf nachhaltig unterdrückt, als illegale Droge aber nahm er einen phänomenalen Aufschwung. Aus den 17 000, die 1954 kifften, waren 15 Jahre später 1,7 Millionen geworden; bis heute hat sich die Zahl nochmals verdoppelt, auf 3,5 Millionen, wie das BKA schätzt. Ihr geschätzter Jahresverbrauch von 150-200 Tonnen ergibt bei einem Kleinverkaufspreis von 10 bis 15 Mark pro Gramm einen Schwarzmarktumsatz von über 2 Milliarden Mark pro Jahr. Hanf ist damit das einträglichste Agrarprodukt hierzulande. In den USA wurde er 1985 sogar schon wieder zur profitabelsten einheimischen Nutzpflanze gekürt: Mit einem geschätzten Jahresumsatz von 18,5 Milliarden Dollar lag illegal angebautes Marihuana vor dem legal angebauten Mais.45

Daß sich der Paria der Nutzpflanzen zum Schwarzmarktkönig der Agrarprodukte entwickeln konnte, verdankte er vor allem der »Protestgeneration« der 60er, jenem »Haufen verlotterter, schmuddeliger Gestalten, die sich gewöhnlich nur durch das bessere Milieu, aus dem sie kommen, vom Landstreicher unterscheiden und die vor allem eines miteinander verbindet: daß sie nichts mehr hassen als Arbeit. Daß sich die Zeitungen und Illustrierten dieser Gammler- und Hippiefiguren liebevoll annehmen und jede ihrer – diffizilen – Seelenregungen mit epischer Breite aufzeichnen, ändert nichts an der Tatsache, daß es diese Typen zu allen Zeiten und bei allen Völkern gegeben hat, ohne daß man es jemals für notwendig hielt, ihnen Beachtung zu schenken. Trotzdem verdienen sie unsere Aufmerksamkeit, aber lediglich als mögliche Infektionsherde für andere Jugendliche. (...) Wesentlich ist, daß auch die Justiz in einem Gammler, der 10 g Haschisch veräußert, einen gefährlichen Rechtsbrecher sieht (...).«

Soweit ein Porträt dieser Generation aus der Feder des BKA-Direktors Günter Labitzke; der Text wurde für die Entwicklung des Betäubungsmittelgesetzes 1971 als »essentielles Gutachten« und für die Neufassung 1981 »als immer noch richtungweisend« bezeichnet.46 Die verlotterten Hippies und Studenten brachen nicht nur bei der Wahl ihrer Rauschmittel mit den Konventionen der Zeit, auch politisch und sozial entdeckten sie neue Werte – und setzten eine Kulturrevolution in Gang. Ein neuer Lebensstil entwickelte sich, neue Musik, ein neues Bild der Frau, der Partnerschaft, der (Groß-)Familie, eine neue Wahrnehmung der Natur, – und Cannabis, anfangs noch Mythos und Geheimtip für Eingeweihte, wird als Rauschmittel zur Alltagsdroge dieser Kultur. »Die Drogen langweilen uns mit ihrem Paradies. Lieber sollen sie uns ein wenig Wissen hergeben. Wir leben in keinem Jahrhundert für Paradiese. Die Beziehungen zum Unterbewußten vermehren, darauf kommt es an«, hatte der Schriftsteller Henri Michaux geschrieben, und eben wegen dieser Eigenschaften – Selbsterkenntnis, Sensibilität und Wahrnehmungsfähigkeit, Bewußtseinserweiterung – sprachen die Hippies dem Hanf zu. Er galt als »entkonditionierende« Droge, die die Überwindung überkommener Denkschablonen und der vom »System« manipulierten Alltagserfahrungen und Gewohnheiten erleichterte. In ihrer Grundhaltung entsprach diese Generation ziemlich genau dem, was Baudelaire hundert Jahre zuvor vom Haschisch behauptet hatte, daß es »weder Krieger noch Bürger« produziere, – Gewaltlosigkeit und Befreiung vom Spießertum lauteten die Essentials der neuen Bewegung. Und Hanfdampf war in allen Gassen.47

So wie der Kaffee bei seiner Einführung in Europa im 18. Jahrhundert vom Feudalsystem als »Getränk der Demokratie« verfolgt worden war – der Fürst von Waldeck setzte 1775 für die Denunziation von Kaffeetrinkern einen durchschnittlichen Monatslohn als Belohnung aus –, geriet der Hanf nun als radikaldemokratischer Aufruhr- und Unruhestifter ins staatliche Visier. Und wie seinerzeit im »Kampf gegen den Kaffee« erscheint eine Flut medizinischer und politischer Propagandaschriften, die vor der neuen Droge warnen. Während in den Bibliotheken unter dem Stichwort »Hanf« seit den 30er Jahren kaum Neuerwerbungen zu verzeichnen waren, füllt die Hanfliteratur von 1965 an mit atemberaubender Geschwindigkeit ganze Regale; eine inzwischen längst überholte Bibliographie aus den 80er Jahren verzeichnet 16 000 Arbeiten über Cannabis, auch dies wahrscheinlich ein Rekord im Pflanzenreich. Keine einzige dieser Studien ist indessen der Nutzpflanze Hanf gewidmet, sie alle beziehen sich einzig und allein auf die Droge Marihuana, und die überwiegende Mehrzahl hat nur eines im Sinn: die Gefährlichkeit des Hanfs ins rechte Licht zu rücken. Hans-Georg Behr, der sechs laufende Meter Druckwerke und 32 Kilo Fotokopien wissenschaftlicher Hanfliteratur durchforstet hat, kam zu dem deprimierenden Schluß, daß wissenschaftliche Objektivität wohl »nicht immer möglich« gewesen sei, weil die Wissenschaft als Kostgänger politischer Instanzen lebt und »die meisten Publikationen von Stellen gefördert werden, die mittelbar oder unmittelbar gegen Cannabis tätig sind«.48 Daß es der gute alte Hanf war, um den es in diesem Wust zweifelhafter Literatur und einer noch zweifelhafteren Hysterie in den Medien ging, war im Wirbel der ersten »Rauschgift«-Debatte Ende der 60er Jahre schon in Vergessenheit geraten. Selbst seine Verteidiger – die Jugend der Woodstock- und APO-Generation – wußten nicht, was sie auf den »Legalize it!«-Fahnen vor sich hertrugen; es war nicht nur »ihre« sanfte und inspirierende Droge, es war viel viel mehr: die nützlichste Pflanze der Welt.

Der Rohstoff der Zukunft

Seit ich Jack Herers Buch zum ersten Mal las, suche ich den Haken an dieser Hanfgeschichte, irgendeinen Punkt, der die herausragenden universellen Qualitäten der Pflanze relativiert. So, wie die Geschichte da stand, schien sie mir einfach unglaublich. Bei der Suche nach Spuren der Hanfgeschichte in Deutschland allerdings wurde sie noch unglaublicher; statt eines Hakens fand ich Bestätigung über Bestätigung. Deshalb ist es an der Zeit, die Hanfpflanze völlig neu zu bewerten – in jeder Hinsicht und mit allen ihren Eigenschaften.

Daß der Hanf angesichts unserer heutigen ökologischen Krise wieder ins Spiel kommt, ist nicht erstaunlich. Das war in historischen Situationen, in denen man sich gezwungen sah, auf letzte Reserven zurückzugreifen, schon wiederholt der Fall gewesen. Vor zwei Generationen haben die Nazis eine »Erzeugungsschlacht« für nachwachsende Rohstoffe proklamiert, um abgeschnitten vom Weltmarkt und so autark wie möglich den Krieg (weiter-)führen zu können. Plötzlich gab es wieder Hanf auf den Feldern. Wenn die Pflanze nun heute abermals vor einer Neuentdeckung steht, dann entspringt dies zwar ebenfalls einer äußerst kritischen Notlage, hat aber ganz andere Gründe: Im Hanf haben wir einen der Rettungsanker, um die Biosphäre zu erhalten und zu schützen. Der Grund, weshalb mit den Ressourcen besser und strenger hausgehalten werden muß, ist diesmal ein ganz und gar friedlicher. Es geht gerade nicht um irgend einen militärischen Durchhaltewillen, alles für den Sieg oder gar für einen »Endsieg« zu mobilisieren. Der Hanf kommt am Ende des Jahrhunderts deshalb wieder, weil die wachsende ökologische Krise uns immer gebieterischer nötigt, endlich jenen alten Krieg abzubrechen, den wir seit zehn oder 15 Generationen immer gnadenloser und bornierter führen: den Krieg gegen die Natur.

30 Millionen Hektar Anbaufläche stehen nach Angaben der EG im europäischen Raum auf stillgelegten Äckern für nachwachsende Rohstoffe zur Verfügung. Würden nur 6 Millionen Hektar, das wäre gerade ein Fünftel dieser nicht mehr genutzten Fläche, im nächsten Jahr mit Hanf bestellt, könnten nach hundert Tagen von diesen Feldern geerntet werden:

– 24 Millionen Tonnen Öl. Das wäre eine Energie, die denselben Brennwert hat wie Heizöl oder Diesel, aber im Unterschied zu den fossilen Brennstoffen die CO2-Bilanz nicht belastet. Der ganze Dieselverbrauch der BRD (1989 waren es 17 Millionen Tonnen) wäre mit dieser Ernte zu decken. Der derzeit bei uns als Öllieferant favorisierte Raps bringt nicht nur weniger als die Hälfte der Hanferträge, er ist darüber hinaus im Anbau arbeitsintensiver, braucht große Mengen Pflanzenschutzmittel und laugt die Böden aus. Außerdem ist Raps nach der Ölgewinnung nur noch zum Verbrennen geeignet. Hanf hingegen bringt nicht nur die doppelte Menge Öl, sondern nach der Ölgewinnung fielen weiterhin:

36 Millionen Tonnen »Hanfkuchen« an. Diese bei der Öl-Pressung zurückbleibenden Samenreste sind ein protein- und eiweißhaltiges Nahrungsmittel. In der angefallenen Form kann es direkt als hochwertiges Viehfutter verfüttert oder in der Lebensmittelproduktion weiterverarbeitet werden. Übrigens läßt sich aus den Samenkapseln auch noch ein natürliches Antibiotikum gewinnen. Nach alledem, der Energie, den Eiweißen und dem »Penicillin«, liefern die übriggebliebenen Hanfstengel:

4,8 Millionen Tonnen Fasern, die auch bei den besonderen Anbauformen zur Samen- und Ölgewinnung als Nebenprodukt anfallen. Da der Samenhanf in größerem Abstand gepflanzt wird, liegt die Faserausbeute zwar niedriger. Aber auch dieser »Abfall« liefert die stabilste Textilfaser, die in unseren Breiten wächst. Außer den Fasern liefern die Hanfstengel

6 Millionen Tonnen Hanfschäben. Schäben sind der verholzte Anteil der Stengel und mit ihrem hohen Zellulosereichtum ein optimaler Grundstoff für die Papierherstellung. Dieses Papier und die vielen anderen Stoffe, die aus der Zellulose hergestellt werden können, zeichnen sich allesamt durch eines aus: Sie sind umweltfreundlich herzustellen und biologisch abbaubar.

Dies alles, wie gesagt, auf einem Fünftel der in der EG brachliegenden Fläche, und von einer Pflanze, die zu einem Bruchteil der Kosten – für Arbeitsaufwand, Pflege, Schädlingsbekämpfung, Auszehrung der Böden – angebaut werden kann, die bei Raps, Mais, Zuckerrüben und den anderen derzeit als nachwachsende Rohstoffe angebauten Pflanzen anfallen. Dies gilt unter anderem auch für das neuerdings von Franz Alt propagierte China-Schilfgras.49 Schilf wächst zwar noch schneller als Hanf und ist von Natur aus ebenso schädlingsresistent, in größerem Stil aber ist sein Anbau nur mit aufwendigen Bewässerungssystemen möglich. Zudem handelt es sich um eine exotische Pflanze, die als Lieferant von Bioenergie im Großanbau erst noch erprobt werden müßte. Hanf hingegen ist in Europa seit Jahrtausenden heimisch und gedeiht von Finnland bis Sizilien auf jedem Acker. Zudem ist er eine denkbar gute Zwischenfrucht, da er den Boden verbessert. Auch wenn er wieder in größerem Stil eingebürgert würde, müßte dies also nicht um den Preis geschehen, daß neue Monokulturen entstehen, die unweigerlich zu den bekannten ökologischen Verheerungen führen.

In den italienischen Hanfgebieten beispielsweise galt die Regel, daß Weizen in Fruchtfolge auf Hanf 10-20 Prozent höhere Ernten ergibt. Wenn nun bereits ein Fünftel der in der EG stillgelegten Fläche den gesamten bundesdeutschen Bedarf an Dieselöl, den gesamten Viehfutterbedarf sowie die Grundversorgung mit Textilfasern sicherstellen würde, welche Energie- und Rohstoffmengen könnten erst erzeugt werden, wenn Hanf europaweit wieder eine gängige Zwischenfrucht werden würde! Jedes Hektar Faserhanf kann 2,5 Tonnen beste dioxinfreie Textilfasern liefern und nebenbei noch fünf bis sechs Tonnen zellulosereichen Bio-»Abfall« für die Papierherstellung. Aus einem Hanffeld läßt sich nicht nur die vierfache Menge Papier gewinnen wie aus einer gleichgroßen Waldfläche (das hat Dewey schon 1914 berechnet), sondern nach neuesten ungarischen Studien auf einen Zeitraum von 15 Jahren mehr als die 50fache Menge (siehe Seite 325). Unter diesen Umständen den Papierhunger der Welt weiter mit Bäumen zu stillen, ist nicht nur ökologischer Wahnsinn, sondern auch ökonomisch unsinnig.

»Hanf bleicht weißer als Flachs oder Baumwolle und ergibt die feinsten Stoffe ... und das weit billiger als alles andere.«

Weltweit werden 93 Prozent des erzeugten Papiers aus Holzpulpe hergestellt; im Jahr 1988 wurden dafür Bäume mit einem Gewicht von 225 Millionen Tonnen gefällt. Nordamerika, von wo auch die deutsche Papierindustrie beliefert wird, hat seit der Hanfprohibition in den 30er Jahren 70 Prozent seiner Wälder abgeholzt. Mittlerweile werden auch zur Gewinnung von Papierrohstoff zunehmend tropische Regenwälder angegangen, trotz der zentralen Rolle, die diese Wälder für das Weltklima spielen. Für jede Tonne Papier, die künftig aus dem einjährigen Hanf hergestellt wird, können zwölf ehrwürdige ausgewachsene Bäume stehen bleiben.50 Zudem brauchen die heftig reagierenden Chemikalien auf Schwefelbasis erst gar nicht hergestellt zu werden, die man benötigt, um den organischen Leim, das Lignin, in der Holzpulpe aufzubrechen. Hanf enthält nur einen Bruchteil des Lignins von Holz und kann mit einem umweltfreundlichen Sodaprozeß aufbereitet werden. Um die Hanfpulpe zu bleichen, reicht das ungiftige Wasserstoffperoxid, während für Holzpulpe Chlorbleichmittel eingesetzt werden.51 Dasselbe gilt für die Bleichung der Textilfasern. »Hanf«, heißt es in einem Buch über die »Hemp Industry in Kentucky«, »bleicht weißer als Flachs oder Baumwolle und ergibt die feinsten Stoffe, von Spitzen und Feingewebe bis hin zu gutem Hemdenstoff, und das weit billiger als alles andere.«52

Die Aussage stammt aus dem Jahr 1905 und ist noch heute so wahr wie damals. Historisch war ein Großteil aller »Leinen« genannten Stoffe nicht aus Flachs, sondern aus Hanf, und auch in Deutschland wurden feine Tischdecken und Bettlaken aus Hanf gewebt. Die Fasern von Flachs und Hanf lassen sich nur mikroskopisch voneinander unterscheiden, auch der Verarbeitungsprozeß ist bei beiden Pflanzen ähnlich. Hanf ist freilich sehr viel einfacher anzubauen53 und bringt etwa die dreifache Menge an Fasern. Außerdem ist Hanf mit sich selbst verträglich und kann ohne Schaden für den Boden sogar in dauernder Fruchtfolge angebaut werden, beim Flachs dagegen muß man nach einer alten Bauernregel mindestens sieben Jahre warten, bevor auf dem Feld wieder Flachs angebaut werden darf.54

Noch offensichtlicher werden die Vorzüge des Hanfs, wenn wir uns derjenigen Textilpflanze zuwenden, die ihm (wie auch dem Flachs) im vorigen Jahrhundert den Garaus machte: der Baumwolle. Muß der Flachs verglichen mit Cannabis schon als empfindliches Pflänzchen gelten, so ist die Baumwolle geradezu eine Mimose: 50 Prozent aller Schädlingsbekämpfungsmittel in den USA werden allein für Baumwollfelder eingesetzt (siehe Seite 32 f.), und wer die Nachrichten über den völlig verseuchten Aralsee vernommen hat, ahnt, wie es beim Baumwollanbau in der ehemaligen Sowjetunion zugehen mag. Trotz dieser gigantischen Gifteinsätze (in den USA liefert das meiste davon die Firma Du Pont) gehen durch Schädlinge, Krankheiten und Unkrautkonkurrenz jährlich 50 Prozent der Baumwollwelternte verloren.55 Durch die schon in den 20er und 30er Jahren praktizierten Kotonisierungsverfahren, die mittlerweile völlig ohne toxische Stoffe durchzuführen sind,56 kann Hanfwolle eine hochwertige Alternative zur Baumwolle sein – nicht nur weil aus einem Hanfacker die nahezu dreifache Menge T-Shirts, Unterhosen oder Babystrampler gewonnen werden kann wie von einem gleich großen Baumwollfeld, sondern vor allem weil diese Textilien Pestizid- und dioxinfrei auf die Haut kommen. Weder während des Wachstums noch bei der Verarbeitung sind sie auf die Schützenhilfe der Chemieindustrie angewiesen.

Hanf wurde nicht trotz, sondern wegen seiner vorzüglichen Eigenschaften verboten

Nicht erst an dieser Stelle taucht die Frage auf, wie es denn möglich sein kann, daß der Hanf trotz seiner vorzüglichen Eigenschaften verdrängt, vergessen und verboten wurde. Die Antwort liegt auf der Hand. Er wurde nicht trotz, sondern wegen seiner vorzüglichen Eigenschaften verboten. Die Schwierigkeiten, die mächtigen Hanfbäume zu ernten, die Probleme, die langen Stengel zu bearbeiten und die Fasern zu gewinnen: all dies war durch neue Maschinen und technischen Fortschritt in den 20er und 30er Jahren beseitigt. Damit stand der Pflanze, die vom Beginn des 19. Jahrhunderts an immer mehr zurückgedrängt worden war, eine Renaissance bevor, und zwar in zentralen Bereichen der Weltökonomie: den Energie-, den Papier-, den Kunststoff- und den Textilmärkten, Bereiche, die allesamt fest im Griff der petrochemischen Industrie und in den USA namentlich der Firma Du Pont waren. Du Pont, bis heute der größte Chemiekonzern der Welt, lieferte die Bleiadditive für das Benzin, die Sulfite und Sulfate für die Holzpapierherstellung, die auf Öl basierenden Kunststoffe, die chemischen Textilfasern sowie die Pestizide und Herbizide für die Baumwollfelder. In allen diesen Bereichen war Hanf die grüne Alternative. Und daß sich maßgebliche Leute – vom US-Landwirtschaftsministerium bis zu Henry Ford – für diese Alternative stark machten, mußte den Chemieherren in der Tat als Bedrohung erscheinen. So inszenierten ihre Lobbyisten diese beispiellose Kampagne, die unter dem Schlachtruf »Marihuana!« den Rohstoffkonkurrenten »Hanf« ausschaltete. Daß dieser petrochemische Coup so problemlos über die Bühne ging, hatte nicht nur mit dem nach der Alkoholfreigabe nach einem neuen Feind Ausschau haltenden staatlichen Prohibitionsapparat zu tun, sondern mit einem allgemeinen Wachstums- und Profitwahn, dem Fragen der Ökologie, der Umweltschonung und des sanften Wirtschaftens nachgerade lächerlich erscheinen mußten.

»What hempen home-spuns have swaggering here?« Shakespeare, A Midsummer Night’s Dream, III, 1

Heute hat sich diese Situation vollkommen umgedreht. Einer überwiegenden Mehrheit ist klar, daß nicht die grünen Alternativen lächerlich sind, sondern das bornierte, immer noch auf Öl, Kohle und Atom setzende Denken der Industriedinosaurier. Und wenn sie, wie unlängst der Siemens-Chef in der »Tagesschau«, eine »Pause im Umweltschutz« fordern, wird deutlich, daß diese Herren nicht nur einfach lächerlich sind, sondern auf gemeingefährliche Weise selbstmörderisch. Als der Einschlag eines gewaltigen Himmelskörpers vor 220 Millionen Jahren unseren Planeten traf, hatten die damaligen Herren der Erde keine Chance, sich auf das von der Katastrophe völlig veränderte Klima umzustellen: Die Saurier starben aus. Heute, wo wir es mit einer vom Menschen verursachten Klimaveränderung zu tun haben, gibt es eine Chance, die Katastrophe abzuwenden. Die Wege dazu sind bekannt: nachwachsende Rohstoffe, sanfte Energie, Kreislaufwirtschaft. Und die Pflanze, die zur Realisierung einer solchen Wende in der Weltökonomie geeigneter scheint als alle anderen, taucht nach über 50 Jahren Verbannung wieder auf: Es ist die archaische »Pflanze der Götter«, die schon den Babyloniern als »Lebensbaum« galt, Hanf.

Die Königin der Nutzpflanzen: Bodyguard für deutsche Rüben

In einer alten arabischen Fabel kommen die Herren Opium, Haschisch und Wein zu einer Stadt, deren Tore verschlossen sind. Der Alkohol beginnt zu schreien und gegen das Tor zu poltern, das Opium sagt: »Ach, laß uns doch hier unter dem Baum schlafen bis morgen früh«, worauf Herr Hanf meint: »Was regt ihr euch auf, wir gehen einfach durch’s Schlüsselloch!« Die kurze Geschichte sagt alles über die Wirkung dieser drei Hauptdrogen der menschlichen Zivilisation. Der unerschütterliche Humor, den der Hanf hier an den Tag legt, hat ihn bis heute nicht verlassen. Die Geschichte seiner Aufstiege und Niedergänge ist voller Witz, und der tollste wird seit 1981 in der Bundesrepublik Deutschland inszeniert: Die gesamte Pflanze ist diskriminiert, ihr Anbau gesetzlich verboten, mit einer einzigen Ausnahme: »Wenn sie als Schutzstreifen bei der Rübenzüchtung gepflanzt und vor der Blüte vernichtet wird« (Betäubungsmittelgesetz, BtmG, Anlage I). Ein paradoxer Witz ist das nicht deswegen, weil es zum Schutz der Rübenfelder vor Pollenflug und Schädlingen eben noch keine billige Chemie gibt und immer noch eine klassische Landwirtschaftsmethode, eben der Hanf, dafür eingesetzt werden muß, sondern deshalb, weil die Königin der Nutzpflanzen auf deutschem Boden ausschließlich als Bodyguard für niedere Untergebene mißbraucht wird. Damit soll nichts gegen köstliche Rüben gesagt sein, aber was das Input/Output-Verhältnis angeht, wirken sie im Vergleich zum Hanf nachgerade erbärmlich. Daß Hanf, über die Anlage des Betäubungsmittelgesetzes hinaus, neuerdings auch als Schutzzaun für gentechnisch manipulierte Aussaaten genehmigt wird, gibt diesem paradoxen Witz mittlerweile etwas Makabres,57 vor allem angesichts der Tatsache, daß wir mit dem Hanf eine von Natur aus mit genetischen Eigenschaften geradezu perfekt und universell ausgestattete Pflanze bereits besitzen. Eine Pflanze, die Medizin und Genußmittel ebenso reichlich liefert wie Nahrung und Textilien, Papier und Energie – der perfekte Rohstoff schlechthin. Es gibt nichts zu verbessern an diesem wunderbaren Gewächs, allenfalls seine Spezialeigenschaften für die jeweiligen Verwendungsgebiete können gefördert werden.

Von der Vielzahl dieser Verwendungen konnten wir hier nur einiges andeuten, jeder einzelne Aspekt verdiente eine ausführliche Untersuchung, so auch die beiden Bereiche, die durch neue Forschungen in jüngster Zeit aktuell geworden sind: die Rolle des Hanfsamens als Lieferant hochwertiger, proteinreicher Nahrung, die ein Gutachten der Universität von Kalifornien herausgestellt hat (siehe Seite 429 f.), sowie die Neubewertung und Ent-Diskriminierung der Cannabismedizin, die der Harvard-Professor Lester Grinspoon fordert.58 Auch hier, wie in den anderen Bereichen der Hanfökonomie, ist Big Business im Spiel, die Nahrungsmittel- und die Pharmaindustrie, und auch hier steht eine ökologische Wende an, sowohl was den in diesem Jahrhundert krankhaft gestiegenen Fleischkonsum als auch was den milliardenschweren Suchtmarkt der Tranquilizer und Psychopharmaka angeht. Daß Hanf in der Lage ist, eine grüne Alternative zu bieten, hat er seit Jahrhunderten bewiesen. Von Aristokraten als Fraß der Armen verachtet, lieferte Hanfsuppe in vielen Ländern der Welt die Basisernährung mit Proteinen und Fettsäuren, und als Kraut der Armen war Hanf bis zur Erfindung des Heroins das weitverbreitetste Entkrampfungs- und Beruhigungsmittel überhaupt. Sein Nachteil, aus der Sicht der Pharmaindustrie, bestand nur darin, daß es sich nicht in ein lukratives Patent verwandeln ließ. Seine vielfältigen Wirkstoffe blieben der Forschung bis 1964 verborgen.

Erst in diesem Jahr gelang es, den Hauptwirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC) zu isolieren, der sich kurz darauf als eine ganze Gruppe von Stoffen entpuppte. Verschiedene synthetische THC-Varianten, die seitdem entwickelt wurden, waren dem simplen Kraut nur in einer Hinsicht überlegen: Sie waren sehr viel teurer. Raphael Mechoulam von der Universität Jerusalem, der das THC 1964 entdeckt hat und seitdem erforscht, meint dazu: »Vielleicht haben wir zu lange nach einem Wirkstoff gesucht und vielleicht gar in eine falsche Richtung. Möglicherweise besteht die zu untersuchende Wirkung auf einem Zusammenspiel verschiedener Substanzen, von der Natur so raffiniert ausbalanciert, daß wir ihr immer noch nicht auf die Schliche kommen. Aber dann müßten wir ja viele klassische Begriffe der Wissenschaft völlig neu überdenken.«59

Der Zwang zum Neu-Überdenken besteht nicht nur für eine ausschließlich detaillistisch vorgehende Pharmazie. Als ganze Pflanze fordert der Hanf nahezu alle Bereiche der Wissenschaft heraus, zuallererst aber die Politik, den Gesetzgeber und alle Vertreter der Hanfprohibition. Wer die in diesem Buch dargelegten, über ein halbes Jahrhundert vergessenen Fakten über Cannabis sativa zur Kenntnis genommen hat, kann an einer Verbotspolitik nicht mehr festhalten – jedenfalls nicht aus Vernunftgründen. Und selbst das letzte Gefechtsargument des Drogenkriegs, daß eine Freigabe von Cannabis einer »Kapitulation vor der Kriminalität« (Stoiber) gleichkäme, zieht nicht mehr: Daß Hanf, seit Jahrtausenden in Bayern einheimisch, ein Krimineller gewesen sein soll, muß vielmehr ab sofort als größter Justizirrtum der Naturgeschichte gelten. Und wie das so ist, wenn große Irrtümer endlich eingesehen werden: Die Aufräum- und Umlenkungsarbeiten sind gewaltig. Die nach Ende des kalten Krieges notwendig gewordenen Anstrengungen zur Verwandlung der Rüstungsproduktion in Zivilgüterproduktion sind ein Beispiel dafür. Auch ein Ende des Hanfkriegs müßte eine solche Konversion zur Folge haben: Eine milliardenschwere Hanfverfolgungsindustrie, die Truppe des internationalen Drogenkriegs, muß in die milliardenschwere Hanfindustrie der Zukunft verwandelt werden – Drogen-Schwerter zu Hanf-Pflugscharen!

Die Welt braucht Hanf

Seit fast 40 Jahren ist in Deutschland kein Buch über Hanf als Nutzpflanze erschienen.60 Zwei Dissertationen in der DDR beschäftigten sich Anfang der 60er Jahre noch einmal mit besonderen Aspekten des Hanfanbaus, seitdem muß Cannabis sativa als »flora non grata« in den landwirtschaftlichen Bibliographien gelten. Ein Aufsatz aus dem Jahr 1986, der der Frage nachgeht, ob Hanf eine agrarpolitische Alternative darstellen könnte, bezieht sich ausschließlich auf Literatur aus den 20er und 30er Jahren.61 Statt Landwirten, Agrarplanern und Ökologen interessieren sich in Deutschland nur noch Staatsanwälte, Polizisten und Drogenbeauftragte für Cannabis. Diese Interessenkoalition muß gewendet werden, und wir hoffen, daß der Wendepunkt mit diesem Buch markiert ist.

Ohne Hanf aber wird eine naturgemäße Kreislaufwirtschaft nicht zu haben sein.

Der vorliegende Überblick über die erstaunliche Geschichte dieser Pflanze kann – sowohl was Jack Herers umfassende Recherche als auch was diese Skizze der Geschichte des Hanfs in Deutschland angeht – nur ein erster Schritt sein. Die Felder, auf denen die Wiederentdeckung des Hanfs auf der Tagesordnung steht, sind abgesteckt. Zu bestellen und zur Blüte zu bringen sind sie aber nur unter einer Voraussetzung: Die gesetzliche Diskriminierung der Hanfpflanze muß aufgehoben werden. Ohne eine Reform des Betäubungsmittelgesetzes ist an eine Wiedereinbürgerung und Nutzung des Hanfs nicht zu denken; weder Forschung noch Industrie oder Landwirtschaft werden das Risiko eingehen, sich ernsthaft einer Pflanze zuzuwenden, die nur mit Ausnahmegenehmigung oder hinter Stacheldraht angebaut werden darf. Was ansteht, ist eine internationale Rehabilitierung der Hanfpflanze und das Ende der von Geschäftsinteressen manipulierten »Rauschgift«-Hysterie in Sachen Cannabis. Hanf ist so viel oder so wenig ein »Rauschgift« wie Wein, Tabak oder Kaffee und seine Prohibition so absurd wie die Vorstellung eines Anbauverbots für Weintrauben. Nicht auszumalen, was geschehen wäre, wenn sich am Ende der amerikanischen Alkoholprohibition herausgestellt hätte, daß sich Weinstöcke optimal zur Papier-, Plastik- und Energiegewinnung eignen und Du Pont & Co. sich diese Pflanze als »Mörder der Jugend« vorgeknöpft hätten. Wahrscheinlich würde uns dann heute pures Glykol als ungiftiger Ersatzstoff für das natürliche Teufelszeug verkauft, und auf den sonnigen Hängen am Oberrhein und im Badischen würde, wer weiß, vielleicht Hanf wachsen. Mit der Ernte auf ein- bis zweihundert Hektar »Staatshanfgütern« wäre der Bedarf an hochwertigem Hanfkraut für die Bundesrepublik gedeckt,62 – und Probleme mit der Mafia gäbe es nur, weil sie die absolut einzige Quelle für illegalen Frascati und Chianti darstellte. Die Polizei indessen hätte alle Hände voll zu tun, professionelles und privates Winzertum zu unterbinden und einzelne Rebstöckchen aus Vorgärten und Balkontöpfen zu beschlagnahmen. 50 000 schmachteten neben den Brüdern Pieroth in den Gefängnissen, und wer ein gutes Wort für sie und ihre verketzerte Weinpflanze einlegt, muß sich vom Innenminister »menschenverachtend und zynisch« schimpfen lassen.63 Eine irrsinnige Vorstellung, – doch sie entspricht exakt dem Irrsinn der Hanfprohibiton. Wäre schon allein dies Grund genug, ein sofortiges Ende der Verbotspolitik zu fordern, so wird mit den in diesem Buch erstmals dargelegten Fakten zu seinem überragenden Wert als Nutzpflanze eine Rehabilitierung des Hanfs unausweichlich. Eine Fortsetzung der Prohibition produziert nicht nur weitere Opfer in einem längst verlorenen Drogenkrieg, sie behindert auch die Forschung, Lehre und vor allem die Nutzung der universellsten Pflanze dieses Planeten – und damit jede Wende in eine ökologische Zukunft. Ohne Hanf aber, wagen wir zu behaupten, wird eine naturgemäße Kreislaufwirtschaft des 21. Jahrhunderts nicht zu haben sein.

Ist dieser wahre Segen des Cannabis nur mit dem gleichzeitigen Fluch des Marihuana zu haben? Die Antwort lautet »Ja – aber«. Eine Hanfpflanze, die auf ihren Blättern kein THC-haltiges Harz absondert, ist so wenig vorstellbar wie ein Mensch, der nicht schwitzt. Je mehr Blätter die Pflanze produziert und je heftiger die Sonne scheint, desto mehr Harz sondert sie ab. Wird Hanf jedoch zur Fasergewinnung angebaut, ist das leidige THC-Problem schon entscheidend reduziert: Die dicht stehenden Pflanzen wachsen als nackte Stengel in die Höhe und produzieren sehr wenig Blätter, nur etwa 10 Prozent des Gesamtgewichts. Zudem sind seit den 60er Jahren speziell THC-arme Sorten gezüchtet worden, die selbst in heißen Sommern kaum nennenswerte Mengen Harz abgeben: »Davon müßten Sie schon einen halben Sack rauchen, bevor es ein bißchen kitzelt«, erläuterte mir ein Botaniker am Telefon. Doch nicht einmal der Anbau solcher Cannabissorten wird hierzulande vom Bundesgesundheitsamt genehmigt, obwohl ihre Rauschwirkung gleich null ist. Was diese Hanfhysterie angeht, ist die Bundesrepublik einzig unter den europäischen Staaten.64 Die Niederlande, die Anfang der 80er Jahre den Anbau auch zum privaten Konsum sowie den Besitz von bis zu 30 g Hanf straffrei stellten, sind seitdem das einzige Land in Europa, das einen deutlich gesunkenen Konsum an Hanfdrogen verzeichnet. Der Hanf, aus dem dieses Buch hergestellt ist, wuchs in Spanien, das Cannabiszellstoff unter anderem für die Herstellung von Zigarettenpapier nach Westeuropa und in die USA exportiert. In Frankreich, wo seit 1990 wieder verstärkt Hanf angebaut wird (auf derzeit etwa 4 000 Hektar) und bestimmte Fasersorten zugelassen sind, hatte dieser Nutzpflanzenanbau keine Auswirkungen auf den nach wie vor verbotenen Konsum von Hanfdrogen.

Es gibt viel zu tun. Pflanzen wir’s an.

Statt dessen entwickelten französische Architekten aus Hanfschäben und Kalk einen Baustoff, der baubiologisch besser (und preiswerter) ist als alle bisher üblichen Naturbaustoffe. In England wurde nach über 20 Jahren Totalprohibition im Februar 1993 die erste Lizenz zum kommerziellen Anbau einer THC-armen Hanfsorte erteilt: Seitdem produziert eine Farm in Essex auf 400 Hektar Cannabis zur Papierherstellung, und »Hemp UK« baut auf seiner Farm bei Oxford den Bedarf für sein »tree free paper« an. Und in den Vereinigten Staaten, dem Ursprungsort der Hanfdiskriminierung, ist ein regelrechter Importboom zu verzeichnen – nicht von Marihuana, das wie immer megatonnenweise aus Mexiko hereingeschmuggelt wird, sondern von Hanftextilien aus China. Hosen, Hemden oder Baseballmützen aus 100 Prozent Cannabis sind nicht nur in San Francisco und Venice ein Renner. Jack Herer, um aktuelle Auskunft über das Ausmaß des Booms befragt, schätzte: »Vor zwei Jahren gab es einen Laden in Kalifornien, der Hanfkleidung verkaufte, heute gibt es in den ganzen Staaten bestimmt einhundert.« Keine Frage: Einmal mehr in seiner Geschichte ist der Hanf wieder da, – auf dem Gipfel des Drogenkriegs bringt er sich plötzlich, unerwartet und witzig wie immer, als neue Ökofaser und alte Universalpflanze ins Spiel. Dieses Mal spricht alles dafür, daß er lange bleiben wird. Wir haben für das 3. Jahrtausend gar keine andere Chance: Grün werden oder sterben.

Dies ist die Geschichte einer sehr merkwürdigen Symbiose, derjenigen von Homo sapiens und Cannabis sativa. Merkwürdig und anders als bei allen anderen Verbindungen des Menschen mit seinen Nutzpflanzen ist dabei die Tatsache, daß nicht nur Magen und Darm auf den »Empfang« dieser Pflanze eingestellt sind, sondern auch das menschliche Gehirn.65 Cannabis ist offenbar nicht nur ein materieller, sondern auch ein geistiger Rohstoff des Menschen, und nach der Entdeckung eines einzig auf den Hanfwirkstoff THC reagierenden, neuronalen Rezeptors fahnden die Forscher jetzt nach körpereigenem Marihuana. Die irgendwo in unübersichtlichen Hirnwindungen versteckte Guerillapflanzung wurde allerdings bis dato noch nicht aufgespürt.

Aber auch so scheint die Symbiose der Spezies Homo sapiens und Cannabis sativa eng genug, eine seit Steinzeiten erprobte Seilschaft – und das Rettungsseil für die Zukunft. Daß es stark ist und zugkräftig – und keineswegs nur ein aus zuviel Hanfdampf gesponnener »Fimmel« –, zeigt die folgende Studie, die das Umweltforschungsinstitut Katalyse für dieses Buch erarbeitet hat. Die Zahlen und Daten über die Cannabiserträge, der Überblick über den aktuellen Stand der Hanfforschung sowie die Perspektiven, die sich daraus ergeben, sprechen für sich. Es gilt, einer Pflanze ihre Unschuld wiederzugeben. Es gibt viel zu tun. Pflanzen wir’s an.

Ich danke allen, die mir mit Rat, Tat und Informationen weitergeholfen haben, besonders: Hans-Georg Behr, Eva Hodge, Michael Karus, Roger Liggerstorfer, Herrn Müller von der Füssener Textil AG, Werner Pieper und Thomas Schenkelberg. Der größte Verdienst gebührt meiner Frau Rita und unseren Kindern Hannah und Boris, die meinen Hanf-Fimmel in den letzten Monaten so selbstverständlich ertragen haben.

Mathias Bröckers, 30. Juni 1993