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Der britisch-amerikanische
Krieg oder: als Napoleon
in Rußland einfiel

Dieses Kapitel ist eine Zusammenfassung der Ihnen vielleicht unbekannten Hintergründe des britisch-amerikanischen Krieges. Worum ging es damals? Sie erfahren im folgenden, welche Ereignisse – ganze zwei Wochen nach dem offiziellen Friedensschluß – zur Schlacht von New Orleans geführt haben.

18. und frühes 19. Jahrhundert

Hanf ist seit Jahrtausenden eine wichtige Handelsware und die Grundlage bedeutender Gewerbezweige. Seine Fasern (vgl. Kapitel 2) bewegen im buchstäblichen Sinne den Welthandel, und die Weltwirtschaft ist auf Hanfprodukte angewiesen.

Nach 1740

Das zaristische Rußland deckt mit seinem auf Leibeigenschaft basierenden Wirtschaftssystem 80 Prozent des europäischen Bedarfs an Roh- und Fertigprodukten aus Cannabis.1 Russischer Hanf wird in aller Welt wegen seiner hervorragenden Eignung zur Herstellung von Segeln, Tauen, Takelwerk und Netzen geschätzt.

Hanf ist für Rußland die bedeutendste Handelsware – wichtiger noch als Pelze, Holz und Eisenerz.

1740–1807

Großbritannien bezieht mehr als 90 Prozent des für seine Flotte benötigten Hanfs aus Rußland; die britische Kriegsmarine und der weltweite britische Seehandel sind ohne russischen Hanf nicht vorstellbar: Jedes britische Schiff verbraucht alle ein bis zwei Jahre zwischen 50 und 100 Tonnen Hanf.

Und es gibt keine Ersatzstoffe; aus Flachs gewebtes Segeltuch ist beispielsweise weniger dauerhaft als das aus Hanf hergestellte Material; wenn es der Salzluft und dem Meerwasser ausgesetzt ist, beginnt es bereits nach drei Monaten zu verrotten.

1793–1799

Der britische Adel ist der neuen französischen Regierung feindlich gesonnen. Man befürchtet, die Französische Revolution könne auf die Insel überspringen oder es könne zu einer französischen Invasion Englands kommen, in deren Gefolge der Adel nicht nur die Herrschaft über das Empire, sondern auch seine Köpfe verlieren würde.

1803–1814

Großbritannien beginnt mit seiner Seeblockade gegen Frankreich und dessen Verbündeten auf dem europäischen Kontinent. Die französischen Häfen am Ärmelkanal und an der Biskaya werden von britischen Schiffen abgeriegelt; außerdem kann Großbritannien von seiner Kolonie Gibraltar aus den Schiffsverkehr zwischen Atlantik und Mittelmeer kontrollieren.

1789–1812

Die erstarkenden Vereinigten Staaten von Amerika verhalten sich in dem britisch-französischen Krieg offiziell neutral. Sie beginnen allerdings damit, ihre äußeren Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen: Zwischen 1801 und 1805 entsenden sie einige Kriegsschiffe ins Mittelmeer, um die von Tripolis aus operierenden Piraten daran zu hindern, von Schiffen der amerikanischen Handelsmarine Tributzahlungen zu erpressen. »Millionen für die Verteidigung, keinen Penny als Tribut«, lautete der amerikanische Kriegsgesang, und die Hymne der Kriegsmarine fügte als zweiten Vers hinzu: »... an die Küste von Tripolis.«

1803

Napoleon braucht dringend Geld, um den Krieg gegen Großbritannien zu führen und um seinen Einfluß über Kontinentaleuropa zu stabilisieren. Er verkauft den USA das Territorium Louisiana für den unglaublich günstigen Preis von 15 Millionen Dollar –, das sind umgerechnet sechseinhalb Cent pro Hektar.

Dieses Gebiet ist ungefähr ein Drittel der heutigen kontinentalen Fläche der USA (ohne Alaska).

Der Erwerb Louisianas erweckt bei einigen Siedlern im Westen den Wunsch, daß die Vereinigten Staaten sich vom Norden Kanadas bis zum Süden Mexikos und vom Atlantik bis an den Pazifik ausdehnen sollen.

1803–1807

Großbritannien treibt mit Rußland weiter Handel und bezieht von dort 90 Prozent seines Bedarfs an Hanf.

1807

Nach dem siegreichen Feldzug gegen Rußland und Preußen vereinbart Napoleon mit Zar Alexander im Frieden von Tilsit, daß Rußland der Kontinentalsperre beitritt, also sämtliche Handelsbeziehungen zu Großbritannien, dessen Verbündeten sowie zu allen neutralen Staaten, die weiterhin mit England Handel treiben, abbricht.

Im gleichen Vertrag wird das formell autonome, praktisch aber von Frankreich abhängige Großherzogtum Warschau als neutrales Gebiet zwischen den mit Napoleon verbündeten Mächten und Rußland gegründet.

Napoleons Strategie – und sein Hauptziel beim Frieden von Tilsit – ist, Großbritannien vom russischen Hanf abzuschneiden. Ohne diesen wäre die britische Marine dazu gezwungen, zur Deckung ihres Bedarfs an Segeln, Tauen und Takelwerk andere Schiffe auszuschlachten; auf diese Weise würde sie sich selbst mit der Zeit so schwächen, daß sie die Seeblockade nicht mehr aufrechterhalten könnte.

1807–1809

Napoleon betrachtet die Vereinigten Staaten als neutral, solange sie weder mit noch für Großbritannien Handel treiben. Auch die USA verstehen sich im britisch-französischen Krieg als neutrale Macht.

1806 erläßt der Kongreß ein Gesetz, das die Einfuhr solcher britischen Waren verbietet, die sich auch in den USA herstellen lassen. 1807 wird die Embargo-Akte verabschiedet, die den Handel mit Europa vollkommen unterbindet.

Im Gegensatz zur europäischen Wirtschaft fügen diese Gesetze der amerikanischen beträchtlichen Schaden zu; sie werden allerdings von vielen amerikanischen Kaufleuten nicht sonderlich genau beachtet.

1807–1814

Nachdem Großbritannien durch den Frieden von Tilsit vom Rußlandhandel abgeschnitten ist, erkennt es keine neutralen Staaten oder Schiffahrtsstraßen mehr an.

Alle Schiffe, die mit Frankreich oder seinen kontinentalen Verbündeten Handel treiben, gelten jetzt als feindlich und werden der Seeblockade unterworfen.

In dieser Situation geht Großbritannien dazu über, amerikanische Schiffe aufzubringen, deren Ladungen zu beschlagnahmen und die Besatzungen auf Kosten der Schiffseigner in die USA zurückzuschicken.

Dabei werden einige amerikanische Seeleute auch zum Dienst in der britischen Marine gezwungen. England behauptet aber, es handele sich ausschließlich um britische Staatsangehörige, deren amerikanische Arbeitgeber die Kostenübernahme für die Rückkehr in die USA verweigert hätten. [Viele Matrosen der britischen Marine sollen in der Tat wegen schlechter Heuer und Behandlung auf amerikanische Handelsschiffe desertiert sein; Anm. d. Ü.]

1807–1810

Insgeheim, sozusagen »unter dem Tisch«, macht Großbritannien den festgehaltenen amerikanischen Händlern aber ein Angebot für den Fall, daß sie sich bereit erklären, ein amerikanisches Schiff »zu übernehmen« und damit einen britischen Hafen anzulaufen.

Das Angebot sieht folgendermaßen aus: Entweder sie würden ihr Schiff samt Ladung unwiderruflich verlieren oder sie würden nach Rußland fahren und dort heimlich Hanf für England kaufen. Dafür würde man ihnen einen Vorschuß in Gold bezahlen; und nach der Ablieferung des Hanfs würden sie nochmals Gold erhalten.

Ferner würde es ihnen gestattet sein, ihre in den USA an Bord genommene Ladung (Rum, Zucker, Gewürze, Baumwolle, Kaffee, Tabak) zu behalten und in Rußland gegen Hanf einzutauschen – ein doppelter Profit für die Amerikaner.

1808–1810

Sie haben die Wahl: Entweder sie laufen Gefahr, der Seeblockade zum Opfer zu fallen und dabei den Verlust von Schiff, Ladung und Mannschaft zu riskieren oder sie arbeiten als geheime und illegale Handelsagenten für Großbritannien, stehen unter dem Schutz der britischen Marine und streichen dabei garantierte Gewinne ein. Natürlich entscheiden die gerissenen Yankee-Kaufleute sich für letzteres.

Der spätere amerikanische Präsident John Quincy Adams notiert im Jahre 1809 als amerikanischer Konsul in St. Petersburg:

»Innerhalb von zwei Wochen liefen 600 Klipper unter amerikanischer Flagge Kronstadt an.« Dort, im Hafen von St. Petersburg, nehmen sie für England und Amerika bestimmten Hanf an Bord, denn auch in den USA herrscht Mangel an qualitativ hochwertigem Hanf.2

1809 verabschieden die USA ein Gesetz, das die Bestimmungen von 1807 wesentlich entschärft: Der Handel mit allen europäischen Staaten – mit Ausnahme Englands und Frankreichs – wird wieder zugelassen. Wenig später wird dieses Gesetz durch die Macon-Bill, in der sämtliche Handelsbeziehungen für rechtmäßig erklärt werden, ersetzt.

1808–1810

Als England die amerikanischen Kaufleute zwingt, russischen Hanf illegal nach Großbritannien zu transportieren, verlangt Napoleon, daß Alexander sämtliche Handelsbeziehungen mit den USA abbricht.

Er fordert die Zulassung französischer Handelsagenten und die Stationierung französischer Truppen in Kronstadt, um sicherzustellen, daß der Zar und dessen Hafenbehörden die Vereinbarungen des Friedensvertrages auch wirklich einhalten.

1808–1810

Trotz seiner vertraglichen Bindungen lehnt Alexander ab. Was die illegalen Geschäfte amerikanischer Kaufleute betrifft, drückt er ein Auge zu; offensichtlich will er nicht auf die beliebten und gewinnbringenden Handelswaren verzichten, die er und der russische Adel aus den USA beziehen – und natürlich auch nicht auf das britische Gold, das ihm aus dem illegalen amerikanischen Hanfhandel zufließt.

1809

Die Verbündeten Napoleons besetzen das Großherzogtum Warschau.

1810

Napoleon befiehlt dem Zar erneut, die Handelsbeziehungen mit den USA abzubrechen. Alexander reagiert diesmal, indem er diejenigen Passagen des Friedensvertrags von Tilsit widerruft, die das Handelsverbot mit unabhängigen amerikanischen Kaufleuten regeln.

1810–1812

Da der Zar nichts unternimmt und auch die britische Marine nicht von der lebensnotwendigen Versorgung mit russischem Hanf abschneidet, stellt Napoleon eine Armee auf und fällt, um den Englandhandel endgültig zu unterbinden, in Rußland ein.

1811–1812

Großbritannien ist inzwischen mit Rußland verbündet und hat die Handelsbeziehungen wieder in vollem Umfang aufgenommen. Die britische Marine hindert mit der Seeblokkade weiterhin amerikanische Schiffe am Handel mit dem übrigen Europa.

Aufgrund der veränderten Lage verwehrt England den US-Schiffen die für den Rußlandhandel unabdingbare Passage zur Ostsee und fordert nun von den amerikanischen Kaufleuten, in geheimer Mission andere strategisch wichtige Güter aufzukaufen. Diese Geschäfte sollen in erster Linie mit Frankreich und seinen Verbündeten am Mittelmeer betrieben werden, die sich zu dieser Zeit glücklich schätzen, überhaupt etwas verkaufen und ihre wirtschaftliche Lage stabilisieren zu können.

1812

Die Vereinigten Staaten, die inzwischen auf 80 Prozent ihrer russischen Hanflieferungen verzichten müssen, beraten im Kongreß über einen Krieg.3

Ironischerweise stimmen ausgerechnet die Repräsentanten der Weststaaten für den Krieg und berufen sich in ihrer Begründung auf die zum Dienst in der britischen Marine »gepreßten« amerikanischen Seeleute. Die Repräsentanten der östlichen Küstenstaaten fürchten, daß der Handel zurückgeht, und lehnen, obwohl gerade ihre Schiffsfrachten und -besatzungen am stärksten von der britischen Seeblokkade betroffen sind, den Krieg ab.

Nicht ein Senator dieser Küstenstaaten stimmt für den Krieg mit Großbritannien, während die Senatoren der Weststaaten praktisch geschlossen ihr Votum dafür abgeben. In dem irrigen Glauben, England sei zu sehr von den europäischen Kriegen gegen Napoleon eingenommen, um Kanada verteidigen zu können, hoffen sie, ihre Träume von Großamerika realisieren und Kanada den USA einverleiben zu können.

Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß sich Kentucky als besonderer Kriegstreiber hervortut, denn der Handel mit Hanf würde ja zunächst vollständig zusammenbrechen. Und genau zu diesem Zeitpunkt ist man in Kentucky dabei, mit großem Eifer eine eigene Hanfindustrie aufzubauen.

Die Ursachen liegen auf der Hand: Der Transport von russischem Hanf auf dem Seeweg nimmt um das Jahr 1812 nur ein Drittel der Zeit in Anspruch, die man bräuchte, um Kentucky-Hanf auf dem Landweg nach Osten zu bringen. Das ändert sich erst 1825 mit der Eröffnung des Eriekanals.

Die Weststaaten gewinnen im Kongreß die Oberhand, und am 18. Juni 1812 erklären die USA Großbritannien den Krieg.

Amerika tritt an der Seite Napoleons in den Krieg, der im Juni des gleichen Jahres zum Rußlandfeldzug aufbricht.

Bald darauf erleidet Napoleon in Rußland eine katastrophale Niederlage. Der harte Winter, die russische Taktik der verbrannten Erde und die Unmöglichkeit, über mehr als 3 000 Kilometer lange Nachschubwege in Sumpf und Schnee aufrecht zu erhalten, tragen genauso zu der Niederlage bei wie Napoleons starres Festhalten an dem ursprünglichen Plan, kein Winterlager aufzuschlagen und die Armee vor dem endgültigen Angriff auf Moskau nicht zu reorganisieren.

Von den 450 000 bis 600 000 Soldaten, mit denen Napoleon nach Moskau aufbrach, kehren nur 180 000 zurück.

1812–1814

Nach anfänglichen Erfolgen im Krieg gegen die USA (darunter die Brandschatzung Washingtons als Vergeltung für die vorausgegangene Brandschatzung Torontos) lassen die Finanzkraft und die militärische Stärke Englands allmählich nach. Die Blockade, der Krieg in Spanien gegen Frankreich und das beherzte Auftreten der neuen Seemacht Amerika erschöpfen die britischen Ressourcen.

Im Dezember des Jahres 1814 unterzeichnet Großbritannien den Friedensvertrag mit den USA unter Bedingungen, die für beide Mächte leicht annehmbar sind.

Großbritannien willigt ein, den amerikanischen Handel nie wieder zu behindern. Und im Gegenzug verzichten die USA auf alle künftigen Ansprüche auf Kanada. (Woran sie sich bis auf den heutigen Tag gehalten haben.)

1813–1814

England zwingt die französischen Truppen 1813 zum endgültigen Rückzug aus Spanien. Eine aus nahezu allen europäischen Mächten bestehende Koalition besiegt Napoleon 1814 in der Völkerschlacht bei Leipzig. Napoleon wird auf die Insel Elba verbannt.

1815

Napoleon kann am 1. März 1815 von Elba nach Frankreich entkommen, aber nur hundert Tage später wird er in der Schlacht von Waterloo endgültig geschlagen.

Januar 1815

Weil die Nachrichten von dem am 24. Dezember 1814 in Genf geschlossenen britisch-amerikanischen Friedensvertrag auf der anderen Seite des Atlantiks erst später bekannt werden, kommt es zu einem für die britische Armee tragischen Zwischenfall: Noch am 8. Januar 1815 greift eine starke britische Streitmacht bei New Orleans amerikanische Truppen an, die unter der Führung von Andrew Jackson den Engländern eine empfindliche Niederlage bereiten.

20. Jahrhundert

In den USA, in England, Frankreich, Kanada und Rußland lernen die Schulkinder im Geschichtsunterricht vollkommen unterschiedliche Versionen über den Ablauf dieser historischen Ereignisse. Die amerikanischen Fassungen zeichnen sich dadurch aus, daß die Bedeutung des Hanfs in diesem Krieg (und auch in allen anderen Epochen der Geschichte) vollkommen verschwiegen wird.

Nachbemerkung. Der Autor möchte alle ExpertInnen für Geschichte um Nachsicht bitten, wenn er bei der Auflistung dieser wenigen Eckdaten des britisch-amerikanischen Krieges von 1812 bis 1814 wichtige Einzelheiten beiseite ließ – die Rolle der Rothschilds etwa, die Machinationen der Illuminaten oder die Manipulationen der Warenbörse. Aber schließlich ging es hier nicht darum, einen Roman über diesen Krieg und Frieden zu schreiben. Das hat Tolstoi schon erledigt. Mit meiner Zusammenfassung hatte ich lediglich die Absicht, ein Korrektiv zu den noch heute in den Schulen üblichen Verzeichnungen und Verwässerungen zu liefern.