Die Chemie
des Marihuanarauschs

MATERIALIEN 2

Hirnforschung

Pflanzliche Mittel zur Therapie psychischer Erkrankungen sind in den Arzneimittelschränken der Ärzte fast völlig von synthetischen Psychopharmaka verdrängt worden.

Cannabistinktur, die früher u.a. als stimmungsaufhellendes Antidepressivum verabreicht wurde, ist, wie es im deutschen Arzneimittelrecht heißt, nicht »verkehrsfähig«.

Damit ist es – anders als zum Beispiel Morphium – noch nicht einmal auf Rezept in Apotheken erhältlich.

Auch wenn es aus der ärztlichen Praxis verbannt ist, mit Hanf werden sich Ärztinnen und Ärzte wieder mehr beschäftigen müssen.

Seit einigen Jahren macht er in der medizinischen Grundlagenforschung Furore. Alles deutet darauf hin, daß Cannabinoide (Wirkstoffe von Cannabis) in der Neurologie des Gehirns elementar wichtige Funktionen zu haben scheinen.

Es macht den Homo sapiens hungrig, geil, schläfrig und glücklich – oder ängstlich. Es dämpft Schmerzen, hemmt Bewegungen, senkt die Körpertemperatur und führt zum Verlust des Zeitgefühls. Es beeinflußt das Gedächtnis und verdreht Denk- und Wahrnehmungsprozesse. Warum?

Über die Frage, wie Menschen durch Marihuana high werden, gab es jahrzehntelang so viele Theorien, wie es Forscher gab, die sich für die 421 Substanzen in den gezackten Marihuanablättern interessierten. Manche Wissenschaftler nahmen an, daß die aktiven Substanzen sich in den Membranen der Gehirnzellen geradezu auflösen. Andere vermuteten, daß die Wirkung über Rezeptoren erfolgt, das sind Bereiche der Zellmembranen, die mit bestimmten Molekülen Verbindungen – wie Schloß und Schlüssel – herstellen. Ein prominenter Neurochemiker bekannte in drei Notizbüchern voller Experimente, daß es ihm nicht gelungen sei, ein Neuronen-»Schloß« für den Schlüssel Cannabis sativa zu finden. Niemand war in der Lage zu klären, wie Marihuana tatsächlich wirkt.

Ende 1988 gab Allyn Howlett, Professorin der Pharmakologie, mit ihrer Arbeitsgruppe an der Medizinischen Hochschule der St. Louis University bekannt, daß sie den Rezeptor für ein bedeutendes Cannabismolekül gefunden habe.

Leah Wallach, »The Chemistry of Refeer Madness«, aus: Omni Magazine, August 1989

Die Geschichte von Howletts Entdeckung begann in den sechziger Jahren, als Raphael Mechoulam von der Hebräischen Universität in Jerusalem feststellte, daß der hauptsächliche psychoaktive Wirkstoff in Marihuanaauszügen eine Substanz namens Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) war. Obwohl nicht besonders stark, stellte THC eine neuartige Substanz dar, die sich in ihrer Struktur von denen anderer psychoaktiver Drogen unterschied. »Wenn Sie sich ältere pharmakologische Texte, etwa aus den zwanziger Jahren betrachten, bevor das Geschäft mit dem Marihuanarausch begann«, so Howlett, »waren Cannabisauszüge die einzigen Mittel, die zur Linderung von Schmerzen und Angstzuständen gegeben werden konnten.« Später begannen Pharmakologen damit, THC-Analoge, genannt Cannabinoide, synthetisch herzustellen, die der natürlichen Substanz in ihrer biochemischen Struktur ähnlich waren, aber eine stärkere Wirkung hatten.

Mitte der siebziger Jahre arbeiteten Ross Johnson und Larry Melvin bei Pfizer, einer pharmazeutischen Firma mit Sitz in Connecticut, mit synthetischen Cannabinoiden. Sie versuchten, ein THC-ähnliches Schmerzmittel zu entwikkeln. Melvin erklärt, daß sie damals das Problem der Trennung von schmerzstillender Wirkung und psychoaktiven Eigenschaften nicht lösen konnten. Sie entwickelten verschiedene Substanzen, die elfmal wirksamer waren als THC, aber immer flippten die Versuchstiere (und einmal auch eine Versuchsperson) aus. Das bedeutete, daß diese Drogen nur in Krankenhäusern verwendet werden konnten, wo Opiate den Schmerzmittelmarkt besetzt hatten. In den frühen achtziger Jahren brach Pfizer das Forschungsprojekt ab. Die akademische Forschung übernahm daraufhin die Untersuchung der Pfizer-Cannabinoide.

Wenn sich eine Substanz in ihren Rezeptor auf der Zellmembran einklinkt, verändert sie die Aktivitäten der Membranstrukturen, die ihrerseits wiederum die Art der Informationsverarbeitung durch die Zelle verändern. Howlett wollte sehen, ob die Pfizer-Cannabinoide wie andere schmerzstillende Substanzen arbeiten. Sie beeinflussen ein Molekül, genannt Cyklo-AMP (cAMP). Cyklo-AMP ist ein »Sekundärbote«, es reguliert die Reaktionen des Zellinneren auf Informationen der Zellmembran.

Howlett fand heraus, daß die Pfizer-Cannabinoide – vor allem das stark wirkende Levonantradol – die Produktion von cAMP bei Mäuseneuronen beeinflussen, indem sie ein Schlüsselenzym hemmen. Je wirksamer diese Substanz das cAMP während des Versuchs unterdrückte, desto stärker war die schmerzstillende Wirkung bei den Tieren. Sie markierte die Substanz radioaktiv und fand durch Verfolgung der radioaktiven Spur heraus, daß sich die Cannabinoid-Moleküle eng mit den Zellmembranen verbanden. Sie sagt: »Das ist genau die Tatsache, die einen Rezeptor definiert.« Sie konnte auch feststellen, und das dürfte Kiffer besonders interessieren, daß die Cannabinoide die Zellen nicht angreifen. Wenn die Zellen der Substanz mehrere Stunden ausgesetzt waren, reagierten sie nicht mehr darauf. Das legt nahe, entgegen der Behauptung vieler Kiffer, daß es steigender Dosierung bedarf, um die gewünschte Wirkung zu erhalten.

Billy Martin, Cannabinoid-Forscher am Medical College in Virginia, testete die Pfizer-Cannabinoide an verschiedenen Tieren, um zu sehen, ob Veränderungen der cAMP-Produktion nur mit der schmerzstillenden Wirkung oder auch mit dem ganzen Spektrum von verhaltensändernden Effekten in Zusammenhang stehen, die den THC-Rausch auslösen. »Es sieht so aus, als ob die Struktur der Substanzen neben der schmerzstillenden Wirkung noch mit anderen verhaltensbeeinflussenden Effekten in Verbindung gebracht werden kann.« Martin drückt sich vorsichtig aus. Mit den Worten anderer Forscher: »Auf Parties sieht man manchmal Leute, die sich verhalten wie diese Tiere: weggetreten.«

Sollte es den Forschern gelingen, die Wirkungen von THC durch Unterbrechung der Zellrezeptoren zu verhindern, würde sich schlüssig beweisen lassen, daß die Bindung der Cannabinoide an die Zellmembranen den Rausch hervorruft. »Wir brauchen einen Antagonisten«, erklärt Martin. (Ein Antagonist ist ein chemischer Schlüssel, der in das gleiche Rezeptor-»Schloß« paßt wie die Droge, aber nicht dieselbe Wirkung, d. h. den Rausch, auslöst.) Antagonisten könnten der Drogenforschung ein wichtiges Instrument liefern: Wenn es gelingt, die Wirkungen von Cannabinoiden selektiv zu blockieren, kann dies den Forschern ermöglichen, die komplexen Aktivitäten von THC voneinander zu trennen.

Antagonisten und Analoge haben möglicherweise auch therapeutischen Wert. Wissenschaftler können modifizierte Versionen der Cannabinoidsubstanzen entwickeln, die bereits zur Behandlung von Glaukom und Übelkeit bei Chemorherapie eingeserzt werden. Die Substanzen könnten auch in der Hirnforschung genutzt werden. »Es wurde an Personen, die Marihuana rauchen, festgestellt, daß sie Dinge, die sie im Rauschzustand gelernt haben, später vergessen haben«, so Howlett. »Etwas Ähnliches kann man bei Altersschwachsinn oder den Frühstadien der Alzheimerschen Krankheit beobachten.« THC-Analoge könnten, so spekuliert sie, als Modelle zur Untersuchung dessen dienen, was bei der Alzheimerschen Krankheit vor sich geht. Ein entsprechender Antagonist könnte dann zur Behandlung eingesetzt werden. »Wir können so auch mehr über Mechanismen und Abläufe lernen. Der Rezeptor läßt vermuten, daß Opiate nicht die einzigen Drogen sind, die die Schmerzreaktion im zentralen Nervensystem regulieren bzw. auslösen.«

Miles Herkenham vom National Institute of Mental Health hat Autoradiographie angewandt – eine Technik, durch die sich die Rezeptorenpunkte präzise lokalisieren lassen – um die Verteilung der Pfizer-Analoge im Gehirn darzustellen. Er vermutet, daß THC-Analoge und Antagonisten auch Symptome von Bewegungsstörungen bei der Parkinsonsehen Krankheit und der Huntingtonsehen Chorea beeinflussen können, da er solche Schaltstellen auch in den für Bewegung zuständigen Bereichen des Gehirns gefunden hat.

Wenn THC-Analoge bzw. Antagonisten sich als therapeutisch verwendbar erweisen, dann deshalb, weil sie die Arbeit natürlicher körpereigener Substanzen, die diese Wege benutzen, blockieren oder nachahmen. Howlett wird in ihrem nächsten Projekt nach der chemischen Substanz im Gehirn forschen, die sich mit dem Cannabinoid-Rezeptor verbindet. Alle bekannten Neurotransmitter hat sie bereits ausgeschlossen. Wissenschaftler vermuten, daß diese Rezeptoren sich nicht erst beim Menschen entwickelt haben, so daß auch Tiere in einen Rauschzustand geraten können. »Es muß einen Art Neuronenweg im Gehirn geben, der sich öffnet, wenn es sich um Cannabispflanzen handelt«, meint sie.

»Wir haben Hormone, Steroide, Glukocorticoide und Peptide untersucht und fanden nichts, das sich an diese Schaltstellen anbinden ließ«, stellt Howlett fest. Sie fand die gleiche Reaktion bei Hühnern, Schildkröten, Fröschen und Forellen. »Die Cannabinoid-Rezeptoren in ihren Gehirnen waren so dicht gedrängt wie bei den später entstandenen Säugetieren. Wir fanden sie auch bei Fruchtfliegen.« Bei Ratten fand Howlett die höchste Dichte von Cannabinoid-Rezeptoren im Cortex und Hippocampus (Zonen des Gehirns, die für Gedächtnis, Wahrnehmung und Erkenntnis zuständig sind), und im Cerebellum und Striatum (beides Bereiche, die Bewegungen steuern).

Miles Herkenham fand heraus, daß das von Howlett bei Ratten ermittelte Muster auch für das menschliche Gehirn kennzeichnend ist. Die Rezeptorenstellen lagen im Hippocampus, Cortex cerebri und in Bereichen des Cerebellum am dichtesten beieinander. »Was mich wirklich überrascht hat, war der Schwerpunkt im vorderen Gehirnbereich.« Herkenham war auch von der riesigen Zahl der Rezeptoren beeindruckt. »Verglichen mit anderen Neurotransmittersystemen sind die Schaltstellen unglaublich zahlreich, das läßt vermuten, daß es sich um Rezeptoren für einen wichtigen, allgegenwärtigen Transmitter handelt.«

Die Lösung des Geheimnisses um diesen allgegenwärtigen Cannabis-Transmitter wird uns helfen zu verstehen, wie Menschen und andere Wirbeltiere den Balanceakt des Lebens organisieren. Die Chemie des Marihuanarauschs wird uns einen Weg weisen, einen Blick in das hungrige, geile, schläfrige, reizbare, glückliche, ängstliche, träumende, kichernde, denkende, nüchterne Gehirn zu werfen.