Hanf trumpft auf: |
Der Anbau von Hanf und seine Weiterverarbeitung zu Textilien, Papier, Segeltuch, Tauen, Lampenöl, Nahrungsmitteln usw. bildeten um das Jahr 1839 in den USA und der gesamten westlichen Welt einen der bedeutendsten landwirtschaftlichen und gewerblichen Faktoren. Die vielen medizinischen Anwendungsmöglichkeiten hingegen, dem Orient und dem Mittleren Osten seit Jahrtausenden geläufig, hatten im Mittelalter zu dem von der Kirche unterdrückten Wissen gehört und waren über lange Zeit nahezu unbekannt geblieben. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts änderte sich das schlagartig: Der medizinische Nutzen von Cannabis wurde wiederentdeckt, Cannabiselexiere und patentierte Cannabispräparate erfreuten sich in den USA wachsender Beliebtheit, luxuriöse türkische Rauchsalons wurden eingerichtet, selbst die Literatur erfuhr vom Cannabis bedeutende Anregungen.
Cannabisheilmittel im Amerika des 19. Jahrhunderts
Zwischen 1850 und 1937 empfahlen amerikanische Arzneimittelbücher die Verwendung von Cannabis als wesentliches Medikament bei mehr als 100 verschiedenen Krankheiten.
Gleichwohl tappte die Wissenschaft im dunkeln: Bis in die 40er Jahre unseres Jahrhunderts waren den Ärzten und Arzneimittelherstellern (Lilly, Parke-Davis, Squibb u.a.) die in Cannabis enthaltenen Wirkstoffe unbekannt.
Das änderte jedoch nichts daran, daß Marihuanaextrakte, die unter der Bezeichnung Cannabis Indica oder Indischer Hanf vertrieben wurden, zwischen 1842 und 1890 unter den patentgeschützten Medikamenten und den ärztlich verschriebenen Rezepturen nach Alkohol und Opium den dritten Platz einnahmen; in der Regel wurden sie in sehr hohen Dosen oral verabreicht.1
Der Alkoholkonsum wurde allerdings schon damals mit Gewalttätigkeit gleichgesetzt; für die Opiumsucht gab es die geläufige Bezeichnung »Soldatenkrankheit«. Cannabis wurde in dieser Zeit zunehmend beliebter und sogar zur Unterstützung des Entzuges alkohol- und opiumsüchtiger Menschen eingesetzt. Die meisten therapeutischen Anwendungsmöglichkeiten von Cannabis allerdings waren in der westlichen Welt seit den Tagen der Inquisition in Vergessenheit geraten.
Das änderte sich erst mit dem Auftreten von W. B. O’Shaugnessy. Als 30jähriger kam er mit der britischen Armee als Militärarzt nach Bengalen2 und hatte dort beobachten können, wie indische Heiler mit verschiedenen Hanfextrakten auch Krankheiten und Seuchen, beispielsweise den Wundstarrkrampf, erfolgreich bekämpften; in der westlichen Welt galten derartige Krankheiten zu dieser Zeit noch als unheilbar.
1839. – Die erste westliche Studie
Daraufhin führte er eine umfangreiche Studie durch, die erste der westlichen Welt, und veröffentlichte im Jahre 1839 eine 40seitige Abhandlung über die medizinische Verwendung von Cannabis.3 Ein französischer Arzt namens Roche stellte zur gleichen Zeit im Mittleren Osten ähnliche Beobachtungen zur dortigen Heilkunde an.
O’Shaugnessys Abhandlung und seine (Wieder-)Entdek-kung der Hanfextrakte versetzten die medizinische Welt des Westens in Erstaunen und verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Nach nur drei Jahren war Marihuana der absolute Superstar unter den Medikamenten.
Die Aufzeichnungen der amerikanischen Cannabisnovizen – der Menschen, die zum ersten Mal in ihrem Leben Cannabis zu sich nahmen – sowie der Ärzte, die es selbst konsumierten, damit experimentierten und es therapeutisch einsetzten, berichten übereinstimmend von folgenden Effekten: Für gewöhnlich wirkt Cannabis stimmungsaufhellend (gelegentlich allerdings auch stimmungsdämpfend); seine bewußtseins- und zeiterweiternden Eigenschaften zeigen sich bei Erwachsenen wie auch bei Kindern. Das gleiche gilt für die Fröhlichkeit und den gesteigerten Appetit, die vornehmlich bei den ersten Einnahmen auftreten.
Merkwürdigerweise ist es den Herstellern von Cannabispräparaten bis in die 30er Jahre unseres Jahrhunderts nicht gelungen, wirksame Methoden zur Verlängerung der Lagerfähigkeit dieser Präparate zu entwickeln; außerdem fiel es ihnen äußerst schwer, standardisierte Dosierungen herauszufinden.
Ein Beispiel für die hohe Beliebtheit, derer sich Cannabisheilmittel im vergangenen Jahrhundert in den USA (sogar bei einigen protestantischen Theologen) erfreuten, ist bereits in einem anderen Zusammenhang erwähnt worden: Im Jahr 1860 kam das Komitee für Indischen Hanf der medizinischen Gesellschaft von Ohio zu dem Schluß, »bedeutende Kommentatoren der Bibel« seien der Ansicht, »bei dem mit Essig und Galle (oder auch mit Myrrhe versetzten) Wein, der unserem Heiland vor der Kreuzigung gereicht wurde«, habe es sich »aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Zubereitung aus Indischem Hanf gehandelt.« Und weiter heißt es in dem Bericht des Komitees: »In den zitierten Bibelkommentaren wird auch die Verwendung von Indischem Hanf bei der Geburtshilfe erwähnt.«4
Daß Cannabispräparate in den USA allmählich wieder von anderen Medikamenten verdrängt wurden, dürfte zum Teil daran liegen, daß es recht schwer war, sie genau zu dosieren. Eine weitere Ursache ist darin begründet, daß die Ärzte im ausgehenden 19. Jahrhundert keine wirksamen Cannabisextrakte finden konnten, die sich mit den damals brandneuen Injektionsbestecken unter die Haut spritzen ließen; derartige Extrakte sind übrigens bis auf den heutigen Tag nicht entwickelt worden.
Einige Temperenzlergruppen sehen in Haschisch sogar einen Ersatz für den »Dämon Alkohol«.
Einige der in den USA am weitesten verbreiteten Ehehandbücher empfahlen um 1890 Cannabis sogar als außergewöhnlich wirksames Aphrodisiakum. Niemand jedenfalls wäre in diesen Tagen auch nur auf die Idee gekommen, den Hanf verbieten zu wollen. Und während allgemein über eine Alkoholprohibition nachgedacht wurde, empfahlen einige weibliche Temperenzlergruppen Cannabis sogar als Ersatz für den »Dämon Alkohol«, von dem sie sagten, er führe immer wieder zu Mißhandlungen der Frauen.
Eine Inspiration für die Literatur des 19. Jahrhunderts
Nicht wenige der bedeutendsten revolutionär-romantischen Schriftsteller befürworteten seit dem frühen 19. Jahrhundert den Genuß von Cannabis. Ihre Werke, in denen sie die Freiheit des Individuums und die Würde des Menschen feierten, gelten heute als »Klassiker« und stehen auf den Lehrplänen unserer Schulen:
Victor Hugo: Les Misérables (Die Elenden, 1862), Notre Dame de Paris (Der Glöckner von Notre Dame, 1831).
Alexandre Dumas: Der Graf von Monte Christo (1844), Die drei Musketiere (1845/1846).
Um diese Reihe nur halbwegs zu vervollständigen, sollen hier noch Coleridge, Gautier, De Quincey, Balzac, Baudelaire und Rimbaud erwähnt werden.
Von Cannabis und halluzinogenen Pilzen inspirierte Bilderwelten beeinflußten Lewis Carrolls Alice im Wunderland (1865) und Alice hinter den Spiegeln (1872).
Hugh Ludlow, mit nicht einmal 30 Jahren schon Bestsellerautor, in den 60er Jahren ein enger Freund und Förderer Mark Twains, hatte sich 1857 mit The Hashish Eater (Der Haschischesser) als Cannabisbefürworter hervorgetan.
Ludlow empfahl das Haschischessen als wunderbares Bewußtseinsabenteuer, warnte aber ausdrücklich vor einem übermäßigen Konsum von Haschisch und anderen Drogen. Von einer ähnlichen Grundhaltung war auch Baudelaire geprägt; seine Künstlichen Paradiese (1860) sind lange Prosagedichte, die um das Thema Haschisch kreisen.
In den Werken dieser Autoren stechen einige Züge besonders hervor: die unbändige Freiheitsliebe; der Respekt vor der Würde des Individuums und seiner Suche nach einem unabhängigen Bewußtsein; Spott und Verachtung für die herrschenden Klassen und Meinungen, die Bürokratie und die Ungerechtigkeiten der Zeit (am deutlichsten vielleicht in Victor Hugos Les Misérables).
Um 1845 begründete der französische Arzt J. J. Moreau die wissenschaftliche Pharmakologie; Cannabis wurde zum ersten Medikament, das bei der Behandlung geisteskranker und depressiver Menschen angewandt wurde. Moreau war eng mit Dumas, Hugo und Gautier befreundet; gemeinsam mit ihnen rief er im gleichen Jahr die erste Cannabisgesellschaft der westlichen Welt ins Leben, den Club des Haschischins.
Ahornsirup-Haschisch-Konfekt
Seit etwa 1860 stellte die »Ganjah Wallah Hasheesh Candy Company« ein Ahornsirup-Haschisch-Konfekt her, das bald zu den beliebtesten Süßigkeiten Amerikas zählte. Es wurde ganz legal im Laden verkauft und in den Zeitungen angepriesen; einige Warenkataloge führten es 40 Jahre lang als vollkommen harmloses Naschwerk.
Türkische Rauchsalons
Zwischen 1860 und den ersten Jahren des folgenden Jahrhunderts wurden auf Weltausstellungen und internationalen Messen immer wieder türkische Haschischpavillons gezeigt. Haschisch zu rauchen war in den USA bis dahin unbekannt gewesen; die berauschende Wirkung stellt sich dabei zwar wesentlich schneller ein, ist dafür aber um etwa zwei Drittel schwächer und hält weniger lang an als bei oral verabreichten Cannabisextrakten, die beispielsweise amerikanischen Kindern regelmäßig verschrieben wurden.
Im Jahr 1876 fand anläßlich der Hundertjahrfeier der Vereinigten Staaten von Amerika in Philadelphia eine gigantische Jubiläumsausstellung statt. Eine Stippvisite im türkischen Rauchsalon erfreute sich bei Ausstellungsbesucherinnen und -besuchern bald großer Beliebtheit; wenn sie vor ihrem Rundgang ein wenig Haschisch rauchten, so wurde ihnen versprochen, könnten sie den Ausstellungsrummel mit »gesteigerter Freude« genießen.
» Nicht weit von ihr wuchs ein großer Pilz, ungefähr so groß wie sie selbst [...]. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte über den Rand, und alsbald traf ihr Blick den einer großen blauen Raupe, die mit verschränkten Armen dort oben saß und ruhig aus einer langen Wasserpfeife schmauchte, ohne von ihr oder von irgend etwas anderem auch nur die geringste Notiz zu nehmen.«
Illustration von Lewis Carroll zu »Alice im Wunderland«
Um 1883 öffneten vergleichbare Rauchsalons in allen größeren Städten der USA ihre Pforten: in New York, Boston, Philadelphia, Chicago, St. Louis, New Orleans und an vielen anderen Orten. Polizeiberichten zufolge soll es während der 80er Jahre allein in New York City mehr als 500 dieser Haschischsalons gegeben haben; bis in die 20er Jahre unseres Jahrhunderts dürften noch einmal weitere 500 hinzugekommen sein. Es ist anzunehmen, daß die Anzahl der Haschischsalons in jenen Tagen die Anzahl der »Speakeasys« – der Kneipen, in denen während der Alkoholprohibition der 20er Jahre illegal Schnaps ausgeschenkt wurde – bei weitem übertroffen hat.
So amerikanisch wie Apple-Pie
Es hat nur vier Generationen gebraucht, bis der Cannabiskonsum dann am Anfang dieses Jahrhunderts in den USA heimisch geworden war.
Buchstäblich jeder Mensch in diesem Land hatte von Kindheit an Erfahrungen damit, wenn er nach Einnahme von Cannabisextrakten high wurde. Aber niemand kam auf die Idee, Cannabis als suchtbildend, gesellschaftszersetzend und gewaltfördernd darzustellen.
Wir stehen also vor einer wichtigen Frage: Wenn es nicht die Furcht vor gesundheitlichen oder gesellschaftlichen Folgeschäden gewesen ist, die in den USA zum späteren Verbot des Cannabiskonsums (das anschließend auch der übrigen Welt aufgezwungen wurde) führte, was hat dann dazu geführt?
Die Schmutzkampagne
Welche gesellschaftliche oder politische Macht könnte stark genug sein, die Bürgerinnen und Bürger der USA gegen eine unschuldige Pflanze aufzubringen? Eine Pflanze obendrein, an der sie ein so großes Interesse haben, da sie ihnen in ihrem Leben bei so vielerlei Dingen half.
Weiter oben habe ich schon berichtet, auf welcher Grundlage die ersten Gesetze gegen Marihuana in den USA zustande gekommen sind: Zuerst waren da die Lügen von Randolph Hearst und der Regenbogenpresse, die rassistischen Zeitungsartikel und die irrsinnigen Gerüchte, die dann anschließend von Harry Anslinger vor dem Kongreß als »Fakten« angeführt wurden.
Warum verfiel nun Hearst aber ausgerechnet auf das Cannabis und die rassistischen Horrorstories? Aus welchem Scharfsinn (wir können auch fragen: aus welcher Dummheit) wurden die Gesetze geboren, mit denen wir in den USA in den vergangenen 50 Jahren Gefängnisstrafen von insgesamt 12 Millionen Jahren verhängt haben? Allein 1990 wurden 390 000 Menschen wegen des Besitzes von Marihuana festgenommen!
Nun, der erste Schritt war, die Angst vor dem Unbekannten anzustacheln, indem man ein neues, bislang nie gehörtes Wort für den Hanf gebrauchte: Man kämpfte gegen »Marihuana«.
Der nächste Schritt bestand darin, alle Vorbereitungen unter Umgehung der Ärzteschaft und der Hanfindustrie zu treffen, die sicherlich Sturm dagegen gelaufen wären, und die meisten Anhörungen über das Marihuanaverbot unter Ausschluß der Öffentlichkeit durchzuführen.
Schließlich blieb dann nur noch eines zu tun: niedrige Instinkte zu mobilisieren. Dabei griff man auf etwas zurück, das ohnehin schon in der Gesellschaft gärte und sie mit Haß vergiftete: den Rassismus.