Die Planungen der Nazis für die Europäische Union begannen schon in den Dreißigerjahren. Am 31. Mai 1940 schrieb Dorothy Thompson193 in der New York Herald Tribune:
Deutschlands Plan ist es, eine Zollunion Europas zu schaffen, mit kompletter finanzieller und wirtschaftlicher Kontrolle durch Berlin. Dies würde sofort das größte Freihandelsgebiet und die größte Planwirtschaft der Welt schaffen. Alleine in Westeuropa … würde es eine wirtschaftliche Einheit von 400 Millionen Personen … geben. … Die Deutschen setzen auf eine politische Macht, die der wirtschaftlichen folgt, nicht umgekehrt. Grenzverschiebungen interessieren sie nicht, denn es wird kein Frankreich oder England geben, außer als Sprachgruppen. … Keine Nation wird die Kontrolle über ihr eigenes finanzielles oder wirtschaftliches System haben oder über ihre Zölle. Die Nazifizierung aller Länder wird durch ökonomischen Druck erreicht werden.194
Thompson führt in ihrem Artikel »The World Germanica« weiter aus, dass die Nazis der Ansicht gewesen seien, ein militärisches Vorgehen gegen die USA wäre unnötig, denn die Amerikaner würden ihre Waren verkaufen wollen und daher aus ökonomischen Interessen heraus mitspielen. Zu diesem Zweck hätten die Nazis internationale Beziehungen zu zahlreichen Industrien aufgebaut:
Die internationale Währung wird eine gemanagte Währung sein, die Deutsche Mark, und jeder externe Handel wird auf Barter (Tauschhandel; Anm. OJ) basieren. Dieser neue weltweite Komplex wird Rohmaterial haben wollen und wird in Industriegütern bezahlen.195
Ähnlich wie heute in der Eurokrise sollte damals also schon der ökonomische Druck für die politische Einigung sorgen. Zu dem Zeitpunkt, als diese Pläne entstanden, war dem Naziregime wohl auch nicht klar, dass der Einmarsch in Polen am 1. September 1939, dem innerhalb weniger Tage die Kriegserklärungen von England, Frankreich, Indien, Australien, Neuseeland, Südafrika und Kanada folgten, mit dem Kriegseintritt der USA 1941 den Zweiten Weltkrieg zur Folge haben würde.196
Die Grundzüge zu einer Europäischen Union wurden bereits vor dem Einmarsch in Polen geplant. Zusammengefasst wurden die Pläne in einer Aufsatzsammlung, die Reichswirtschaftsminister Walther Funk 1942 herausgegeben hat, Titel: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft.197 Dort heißt es:198
Auf dem Europa-Kongress in Rom vom 14. bis 20. November 1932 entwickelte Alfred Rosenberg zum ersten Male vor einem internationalen Forum in einer großartigen Schau die Gedanken, die uns seither bewegen.
In verschiedenen Aufsätzen legten Nazi-Ideologen dar, wie sie sich diese Europäische Wirtschaftsgemeinschaft199 vorstellten: Eine Zollunion, ein gemeinsames Währungssystem (»Währungsblock«), in dem eine Angleichung der Wechselkurse angestrebt wird, also so wie im EWS-System, das dem Euro vorausging,200 und eine gemeinsame Wirtschaftspolitik.201 Der ehemalige Berater von Margaret Thatcher, Christopher Story, fasst die Zielrichtung der Aufsätze in seinem Buch The European Union Collective202 so zusammen:
Die politischen Themen, die in diesem Nazi-Kompendium angesprochen werden, sind zum größten Teil dieselben wie die im Maastricht-Vertrag203 des Europäischen-Unions-Kollektivs und ihrer Nachfolger.
Der Tatsache, dass Colonel Story – intimer Kenner sowohl der nationalsozialistischen als auch der kommunistischen Pläne für die EU – Berater von Thatcher war, könnte auch geschuldet sein, dass im Umfeld der Premierministerin angesichts der Wiedervereinigung von einem »Vierten Reich« die Rede war.204
Die Nazi-Ideologen ließen keinen Zweifel daran, dass ihnen die freie Marktwirtschaft verhasst ist. Bei Walther Funk klingt das beispielsweise so:205
Um einen das Thema zusammenfassenden Satz zu prägen, möchte ich sagen: Das wirtschaftliche Gesicht des neuen Europa, so wie es sich im Feuer dieses Weltkrieges formt, wird zwei wesensbestimmende Züge tragen: Gemeinschaftsarbeit und Wirtschaftsfreiheit, freilich nicht jene Wirtschaftsfreiheit, die im Kapitalismus verkörpert ist und in dem seltsamen Bündnis zwischen Plutokratie und Bolschewismus ihrem Ende entgegengeht. Das Freiheitsideal der liberalistisch-kapitalistischen Wirtschaft ist den Völkern Europas einstmals als große Verheißung aufgegangen. Heute versinkt es in Elend, Blut und Trümmern.
Was versprach nicht alles der liberalistische Freiheitsgedanke? Nach der liberalistischen Wirtschaftstheorie entfaltet sich das Wirtschaftsleben dann am vollkommensten, wenn die einzelnen wirtschaftenden Individuen ihren Eigennutz ungehemmt verfolgen. Der Staat kann die harmonische Entwicklung der Volkswirtschaft dem freien Wettbewerb überlassen, durch den der Eigennutz jedes einzelnen schließlich der Gesamtheit nützen soll … Soweit die Theorie! …
Wenn wir uns allerdings heute rückschauend die wirtschaftlichen Verhältnisse vor Beginn des ersten Weltkrieges vergegenwärtigen, erscheint uns diese vermeintliche Harmonie, im Ganzen genommen, doch als nichts weiter als eine ausreichende Ellenbogenfreiheit derjenigen Kräfte, die ihrer Natur nach gegeneinander gerichtet waren …
Bei allen Völkern, mochten sie zu den Favoriten oder den Stiefkindern der liberalistischen Wirtschaftsordnung gehören, zeigten sich die Auswirkungen des Laisser-faire-Systems und insbesondere des Freihandelsprinzips in schweren innerwirtschaftlichen Schäden. Die Krankheitssymptome waren überall die gleichen.
Eine dünne Oberschicht von Bankiers, Industriellen und Spekulanten konnte einen ungeheuren Reichtum zusammenraffen und sich damit eine gefährliche überstaatliche Macht verschaffen, denn für Geld konnte man alles kaufen, insbesondere auch die öffentliche Meinung.
Das in den Hochkapitalismus hineingewachsene liberalistische System verlor zudem noch durch Kartellierung, Vertrustung, Monopolbildung und steigende fixe Kosten der Industrie die notwendige Elastizität.
In der Sicherung der Nahrungs- und Rohstoffgrundlagen, in der Befreiung der Wirtschaft von internationalen Finanzinteressen und Konjunkturabhängigkeiten sowie in der freiwilligen Unterordnung des Einzelnen unter das Primat der Volksgemeinschaft (heißt heute Primat der Politik; Anm. OJ) erblicken wir heute das neue Ideal einer wahren Wirtschaftsfreiheit.
Die autoritären Regierungen Deutschlands und Italiens gaben als Erste ihren Völkern den Auftrag, alle Kräfte in freiwilliger Zusammenarbeit unter staatlicher Direktive für das Gemeinwohl einzusetzen. Sie schützten ihre Wirtschaft auch als Erste vor der Ausbeutung durch internationale Finanzmächte.
Die letzten Absätze habe ich fett gedruckt, weil sie so fast wörtlich in den Pamphleten heutiger Kapitalismus-Kritiker von Occupy bis Attac oder in Äußerungen von EU-Kommissaren bis hin zum Parteiprogramm der FDP auftauchen. Statt freier Marktwirtschaft schwebt Funk eine gelenkte Planwirtschaft vor. Zwar nicht, wie im Kommunismus, durch vollständige Vergemeinschaftung der Produktionsmittel, sondern ganz so, wie es sich die EU heute vorstellt und nur mit etwas anderen Themen, wie etwa dem Klimaschutz, verkauft:
Der europäische Wirtschaftsraum der Zukunft ist blockadefest. Der Großraumgedanke hat allerdings, kaum, dass er ernsthaft zur Diskussion gestellt war, eine gewisse Diskriminierung erfahren. Trotzdem wird die europäische Wirtschaftseinheit kommen, denn ihre Zeit ist da. Alle Rohstoffe, alle Kräfte und Energien der Wirtschaft müssen in Europa mobilisiert werden. Das ist die Aufgabe der neuen Wirtschaftsordnung, die jetzt heranwächst. Sie kann selbstverständlich nicht von heute auf morgen ihre beste Form finden. Aber im Laufe der Jahre wird es möglich sein, Produktion und Bedarf im gesamten europäischen Raum weitgehend aufeinander abzustimmen, um dann planmäßig die zweckmäßigsten Ergänzungsmöglichkeiten zu verwirklichen … Jene Teile Europas, die bisher noch rückständig sind, müssen zu intensiver Wirtschaft veranlasst werden … Wohl aber wird er als Großraumhandel alle Vorzüge einer staatlichen Marktsteuerung genießen. Das Wort Arbeitslosigkeit wird im europäischen Wirtschaftslexikon nicht mehr zu finden sein.
Jetzt eine meiner Lieblingstellen. Könnte direkt aus dem Mund jedes beliebigen EU-Politikers stammen:206
Wenn staatliche Wirtschaftslenkung und zwischenstaatliche Vereinbarungen dem wirtschaftlichen Verkehr in Europa in Form von Rohstoffbewirtschaftung, Regelung der Produktion, des Absatzes, des Arbeitseinsatzes sowie eines ständig verfeinerten Zahlungs- und Verrechnungssystems gewissermaßen moderne Autobahnen mit allen erdenklichen Sicherungen gegen mögliche Unfälle bauen, so geschieht dies doch nicht etwa, damit auf diesen Straßen lediglich die Karren einer ängstlichen Bürokratie und eines übertriebenen Kollektivismus kutschieren … Der Wille zur europäischen Gemeinschaftsarbeit, so wie er jetzt unter dem harten Druck der Kriegsverhältnisse geprägt wird, muss der Leitgedanke der herrschenden Wirtschaftsgesinnung auch in der Friedenszeit sein … Das bedeutet ein ständiges Bemühen, die großen Zielsetzungen und die kommenden Aufgaben zu verstehen und sich darauf einzustellen. Das bedeutet aber auch die Bereitschaft, die eigenen Interessen im gegebenen Falle denen der europäischen Gemeinschaft unterzuordnen; und das ist das höchste Ziel, das wir von den europäischen Staaten verlangen, das wir erstreben. Das mag im Einzelfalle Opfer bedeuten, im Gesamtergebnis werden aber alle Völker davon Nutzen haben … Eine solche Wirtschaftsgesinnung verlangt ein soziales Gewissen; und soziales Verantwortungsbewusstsein ist es auch, das die Völker Europas in ihren Staatsführungen bei der Verwirklichung der neuen Wirtschaftsordnung verlangen müssen und können. Die neue europäische Wirtschaft wird die Erfüllung ihrer sozialen Verpflichtungen als ihre vornehmste Aufgabe zu betrachten haben.
Glauben Sie jetzt an Wiedergeburt? Zeitreisen leicht gemacht. Aus einem Aktenvermerk der Reichskanzlei für Reichsminister Hans Heinrich Lammers vom 9. Juli 1940, der auf Ausführungen von SS-Oberführer Gustav Schlotterer und Carl-Zeiss-Manager Karl Albrecht basiert, können ebenfalls die Pläne für eine »wirtschaftliche Neuordnung Europas« abgelesen werden. Sogar eine Währungsunion wird dort diskutiert!207
Vielleicht werden Goldwährungen wieder möglich sein, vielleicht aber auch eine Währungsunion nötig sein.
Außerdem wird eine europäische Industriepolitik und ein »Großwirtschaftraum Europa« ohne Zölle vorgeschlagen. Außenminister Joachim von Ribbentrop empfiehlt am 21. März, einen »Europäischen Staatenbund« zu gründen:208
Zunächst kämen als Staaten in Betracht: Deutschland, Italien, Frankreich, Dänemark, Norwegen, Finnland, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Kroatien, Serbien, Griechenland und Spanien (?).
Haben Sie schon ein Déjà-vu? Punkt 7 des Plans führt aus:
Es würde in beiden Ländern (England und USA; Anm. OJ), besonders aber in Amerika, der Propaganda gegen Deutschland die besten Argumente aus der Hand geschlagen. Den Oppositionsgruppen würden Parolen an die Hand gegeben wie: »Was in Nordamerika geschehen ist, nämlich der Zusammenschluss der Vereinigten Staaten von Amerika, kann man Europa nicht verwehren.«
Am 5. April 1943 entwirft Ribbentrop im Führerhauptquartier bereits eine Gründungsurkunde. Auszüge:209
2. Die Glieder des »Europäischen Staatenbundes« sind souveräne Staaten und garantieren sich gegenseitig ihre Freiheit und politische Unabhängigkeit. Die Gestaltung ihrer innerstaatlichen Verhältnisse bleibt ihrer souveränen Entschließung überlassen.
Ribbentrop bleibt in diesem Punkt hinter den aktuellen Plänen unserer Herren Demokraten zurück!
3. Die im »Europäischen Staatenbund« vereinigten Nationen werden die Interessen Europas nach jeder Richtung gemeinsam wahren und den europäischen Kontinent gegen äußere Feinde verteidigen.
5. Die europäische Wirtschaft wird von den Mitgliedern des Staatenbundes nach gemeinsamer und einheitlicher Planung gestaltet. Die Zollschranken zwischen ihnen sollen fortschreitend beseitigt werden.
8. Alle Einzelheiten der Organisierung des »Europäischen Staatenbundes« werden in einer Bundesakte (heißt heute Lissabonvertrag; Anm. OJ) festgelegt werden, zu deren Beratung Bevollmächtigte aller beteiligten Regierungen nach Beendigung des Krieges zusammentreten werden.