5. Die Psychologie der Masse

Warum die große Zahl der Ausgebeuteten nicht aufbegehrt, lässt sich auch aus der Massenpsychologie erklären. Sie kennen sicher die Ansicht: Die Masse der Menschen ist dumm. Das stimmt so aber nicht. Richtiger wäre: Der Mensch ist als Masse dumm.

Dieses Licht der Erkenntnis ging mir erst so richtig auf, als ich Psychologie der Massen von Gustave Le Bon gelesen habe. Die dort beschriebenen Erkenntnisse werden von der Herrscherklasse heute eingesetzt. Ähnlich wie Hegels Dialektik64 war Le Bons Arbeit aber als Untersuchung und Beschreibung von Massen gedacht, nicht als Betriebsanleitung zur Herrschaft.

Die zwei wichtigsten Erkenntnisse:

  1. Eine Gruppe von Menschen ist unter bestimmten Umständen dümmer als der Durchschnitt ihrer einzelnen Mitglieder.
  2. Das Prinzip gilt bereits bei sehr kleinen Gruppen, im Grunde ab drei Leuten.

Die erste Erkenntnis ist nur auf den ersten Blick überraschend. Mit Masse ist nicht die reine Anzahl von Menschen gemeint, sondern die zu einem bestimmten Zweck oder aus einem bestimmten Anlass verbundenen Menschen. Le Bon erklärt:65

Im gewöhnlichen Wortsinne bedeutet Masse eine Vereinigung irgendwelcher Individuen von beliebiger Nationalität, beliebigem Beruf und Geschlecht und beliebigem Anlasse der Vereinigung. Vom psychologischen Gesichtspunkt bedeutet der Ausdruck »Masse« etwas ganz anderes. Unter bestimmten Umständen, und bloß unter diesen, besitzt eine Versammlung von Menschen neue Merkmale, ganz verschieden von denen der diese Gesellschaft bildenden Individuen. Die bewusste Persönlichkeit schwindet, die Gefühle und Gedanken aller Einheiten sind nach derselben Richtung orientiert. Es bildet sich eine Kollektivseele, die wohl transitorischer Art, aber von ganz bestimmtem Charakter ist. Die Gesamtheit ist nun das geworden, was ich mangels eines besseren Ausdrucks als organisierte Masse oder, wenn man lieber will, als psychologische Masse bezeichnen werde. Sie bildet ein einziges Wesen und unterliegt dem Gesetz der seelischen Einheit der Massen.

Zufällig auf einem Marktplatz oder in einer Einkaufspassage verteilte Menschen bilden noch keine psychologische Masse. Besucher eines Fußballspiels jedoch schon. Um eine psychologische Masse zu formen, müssen sie – ebenso wie Anhänger eines bestimmten Vereins – gar nicht zur selben Zeit am selben Ort sein:66

Das Schwinden der bewussten Persönlichkeit und die Orientierung der Gefühle und Gedanken nach einer bestimmten Richtung, das die ersten Merkmale der sich organisierenden Masse bildet, erfordert nicht immer die gleichzeitige Anwesenheit mehrerer Individuen an einem einzigen Orte. Tausende getrennte Individuen können in gewissen Momenten unter dem Einflusse gewisser heftiger Gemütsbewegungen, etwa eines großen nationalen Ereignisses, die Merkmale einer psychologischen Masse gewinnen. Es braucht dann nur ein Zufall, sie zu vereinigen, damit ihre Handlungen sogleich die spezifischen Merkmale der Massenhandlungen annehmen. In gewissen Momenten kann ein halbes Dutzend Menschen eine psychologische Masse konstituieren, während Hunderte zufällig vereinigter Menschen sie nicht konstituieren können. Andererseits kann ein ganzes Volk ohne sichtbare Zusammenscharung unter dem Einfluss gewisser Faktoren zu einer Masse werden.

Das Interessante ist nun, dass diese Eigenschaften des neuen Wesens, der Masse, vollkommen unabhängig von der durchschnittlichen Intelligenz der Mitglieder ist. Eine psychologische Masse aus Ärzten verhält sich nicht anders als eine aus Arbeitern, was sich beispielsweise auch wieder bei Fußballspielen beobachten lässt:67

An einer psychologischen Masse ist das Sonderbarste dies: Welcher Art auch die sie zusammensetzenden Individuen sein mögen, wie ähnlich oder unähnlich ihre Lebensweise, Beschäftigung, ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist, durch den bloßen Umstand ihrer Umformung zur Masse besitzen sie eine Art Kollektivseele, vermöge deren sie in ganz anderer Weise fühlen, denken und handeln, als jedes von ihnen für sich fühlen, denken und handeln würde. Es gibt Ideen und Gefühle, die nur bei den zu Massen verbundenen Individuen auftreten oder sich in Handlungen umsetzen. Die psychologische Masse ist ein provisorisches Wesen, das aus heterogenen Elementen besteht, die für einen Augenblick sich miteinander verbunden haben, genauso wie die Zellen des Organismus durch ihre Vereinigung ein neues Wesen mit ganz anderen Eigenschaften als denen der einzelnen Zellen bilden.

Der Grund dafür, warum Intelligenz kaum eine Rolle spielt, liegt wohl im Wirken des Unterbewusstseins:

Um diese Ursachen wenigstens einigermaßen zu finden, muss man sich zunächst der von der modernen Psychologie gemachten Feststellung erinnern, dass nicht bloß im organischen Leben, sondern auch in den intellektuellen Funktionen die unbewussten Phänomene eine überwiegende Rolle spielen. Das bewusste Geistesleben stellt nur einen recht geringen Teil neben dem unbewussten Seelenleben dar. Die feinste Analyse, die schärfste Beobachtung gelangt nur zu einer kleinen Anzahl bewusster Motive des Seelenlebens. … Hinter den eingestandenen Motiven unserer Handlungen gibt es zweifellos die geheimen Gründe, die wir nicht eingestehen, hinter diesen aber liegen noch geheimere, die wir nicht einmal kennen. Die Mehrzahl unserer alltäglichen Handlungen ist nur die Wirkung verborgener Triebkräfte, uns entgehender Motive.

Zu solchen Triebkräften gehört zum Beispiel der Neid. Niemand gibt gern zu, dass er neidisch ist, trotzdem appelliert jede Umverteilungspolitik exakt an dieses Motiv. Gerade solche negativen Gefühle können in der Masse leichter erzeugt werden. Ein normaler Bürger, der auf einen Reichen trifft, käme nie auf die Idee, ihm seine Brieftasche wegzunehmen. In einer anonymen demokratischen Wahl sieht das schon ganz anders aus:

Verschiedene Ursachen haben an dem Auftreten dieser Eigentümlichkeiten der Massen, welche die Individuen nicht besitzen, Anteil. Die erste dieser Ursachen besteht darin, dass das Individuum in der Masse schon durch die Tatsache der Menge ein Gefühl unüberwindlicher Macht erlangt, welches ihm gestattet, Trieben zu frönen, die es für sich allein notwendig gezügelt hatte. Es wird ihnen umso eher nachgeben, als durch die Anonymität und demnach auch die Unverantwortlichkeit der Masse das Verantwortungsgefühl, welches die Individuen stets zurückhält, völlig schwindet.

Als zwei weitere Ursachen nennt Le Bon die Ansteckung (geistige Übertragung) und die Suggestabilität (suggestibilité = Beeinflussbarkeit), die mir aber zwei Seiten derselben Medaille zu sein scheinen. Menschen sind beeinflussbar und das überträgt sich auf andere in der Gruppe. Le Bon vergleicht das mit der Wirkung von Hypnose.

Interessant ist, dass die Prinzipien der Massenpsychologie auch in ganz kleinen Gruppen gelten, zum Beispiel unter Geschworenen, parlamentarischen Gruppen oder Parteigremien:68

So sieht man Geschworene Urteile abgeben, die jeder Geschworene als Einzelner missbilligen würde, Parlamente Gesetze und Maßnahmen annehmen, die jedes Mitglied als Einzelner ablehnen würde. Die Männer des Konvents (während der Französischen Revolution; Anm. OJ) waren jeder für sich aufgeklärte Bürger mit friedlichen Gewohnheiten. Zur Masse vereinigt, zauderten sie nicht, die grausamsten Vorschläge zu billigen, die offenbar unschuldigsten Individuen aufs Schafott zu schicken und, im Gegensatz zu allen ihren Interessen, auf ihre Unverletzlichkeit zu verzichten und sich selbst zu dezimieren.

Die Entscheidungen zu den Eurorettungspaketen wären neben dem schlichten Opportunismus wohl auch ein gutes Beispiel. Jeder Einzelne in einem wirklich privaten Gespräch befragt, hätte womöglich anders entschieden. Le Bon führt in einem Kapitel über Geschworene bei Schwurgerichten Untersuchungen über die Qualität der Urteile an, je nachdem, wie sie zusammengesetzt waren. Die überraschende Erkenntnis: Die Anzahl der Fehlurteile war dieselbe, gleich welchen Bildungsstand die Geschworenen hatten:

Den Beweis dafür liefert mir die von dem eben genannten Autor angeführte Tatsache, dass einer der berühmtesten Anwälte am Schwurgericht, Lachaud, systematisch sich seines Rechtes der Ablehnung aller gebildeten Mitglieder der Jury bediente. Die Erfahrung aber, und nur sie, zeigte ihm schließlich die Zwecklosigkeit dieser Ablehnungen. Zum Beleg dafür dient die Tatsache, dass gegenwärtig das Justizministerium und die Advokaten, in Paris wenigstens, vollständig darauf verzichtet haben; und dennoch haben sich, wie des Glajeux (Bernard des Glajeux, ehemaliger Schwurgerichtspräsident, in seinen »Erinnerungen«) bemerkt, die Verdikte nicht geändert: »Sie sind weder besser noch schlechter.« Wie alle Massen, werden die Geschworenen sehr stark durch Gefühle, nur sehr schwach durch logische Argumente beeinflusst. »Sie widerstehen nicht«, schreibt ein Advokat, »dem Anblick einer stillenden Frau oder einem Aufmarsch von Waisen.« »Eine Frau braucht nur anmutig zu sein,« sagt des Glajeux, »so gewinnt sie das Wohlwollen der Jury.«

Das ist nun nicht unbedingt auf wissenschaftliche Gruppen zu übertragen. Natürlich kann es sinnvoll sein, mit mehreren Experten an einem Problem zu arbeiten, obwohl sich auch hier zeigt, dass überragende Erfindungen eher von Einzelpersonen gemacht werden. Im Wesentlichen versagt die Gruppe aber bei Angelegenheiten, bei denen Gefühle eine Rolle spielen, und das ist unglücklicherweise vor allem in der Politik so:69

In allem, was Gegenstand des Gefühls ist: Religion, Politik, Moral, Sympathien und Antipathien usw., überragen die ausgezeichnetsten Menschen nur sehr selten das Niveau der gewöhnlichsten Individuen. Zwischen einem großen Mathematiker und seinem Schuster kann intellektuell ein Abgrund klaffen, aber hinsichtlich des Charakters ist der Unterschied sehr oft nichtig oder sehr gering.

Das Phänomen trifft aber offensichtlich auch auf vermeintliche »Wissenschaften« wie Ökonomie oder Klimaforschung zu. Zum einen sind die meisten ihrer Vertreter abhängig von Staatsgeldern – diese »Forscher« gehören also zur Ausbeuterklasse –, zum anderen könnte hier auch die Psychologie der Masse eine Rolle spielen. Schließlich können zwar weder die Mainstream-Ökonomen noch die Mainstream-Klimaforscher mit einem wissenschaftlichen Beweis für ihre Thesen aufwarten, doch vermutlich werden nicht alle bewusst lügen.70

Neuere Forschungen in der Gruppendynamik zeigen, dass sich die einzelnen Mitglieder einer Gruppe gegenseitig bestätigen und sich so nichtrationale Entscheidungen durchsetzen. Das ist unter anderem der Fall, wenn ein äußerer Feind wahrgenommen wird. Wenn sich beispielsweise ein Mitglied von der Gruppe trennt, sammeln die Verbliebenen vermeintliche Belege, die bestätigen, dass es richtig war, sich zu trennen. Das hilft, dieses Ereignis zu verarbeiten. Die eigene Wut oder Enttäuschung wird auf das Mitglied der Gruppe projiziert, das sie verlassen hat, ausgestoßen wurde oder als Feind wahrgenommen wird. Da der vermeintliche Feind nicht mehr Teil der Gruppe ist und gegensteuern kann, verfestigt sich das negative Bild.71 Das Ausscheiden von Oskar Lafontaine aus der SPD ist so ein Beispiel. Plötzlich wussten auch solche Parteimitglieder nur noch Schlechtes über Lafontaine zu berichten, die kurz vorher noch zu seinen treuesten Mitstreitern gehört hatten.

Die Masse oder Gruppe ist in diesem Sinne also nicht dumm, sondern leicht zu beeinflussen. Wie das funktioniert, schildert nicht nur Le Bon im weiteren Verlauf seines Buches, sondern auch beispielsweise Edward Bernays in seinem Werk Propaganda (1928).72 Bernays kommt zu dem Schluss:73

Die bewusste und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element in der demokratischen Gesellschaft. Wer die ungesehenen Gesellschaftsmechanismen manipuliert, bildet eine unsichtbare Regierung, welche die wahre Herrschermacht unseres Landes ist. Wir werden regiert, unser Verstand geformt, unsere Geschmäcker gebildet, unsere Ideen größtenteils von Männern suggeriert, von denen wir nie gehört haben. Dies ist ein logisches Ergebnis der Art, wie unsere demokratische Gesellschaft organisiert ist.