Otto Skorzeny leitete nicht nur mehrere Kommandounternehmen während des Krieges, sondern war nach dessen Ende ein führender Kopf der Nazi-Untergrundorganisation Odessa.257 Interessant ist der Umgang der Mainstream-Medien und deren Internetarm Wikipedia (wo nur Mainstream-Medien als Quelle zählen) mit dem Thema Nachkriegs-NS-Untergrundverbindungen im Allgemeinen und Odessa im Besonderen. Die geheimnisumwitterte Organisation hat es zu einer gewissen Berühmtheit gebracht, weil sie in Romanen und Filmen auftaucht, wie beispielsweise in Frederick Forsyths Politthriller Die Akte Odessa, der mit Jon Voight und Maximilian Schell in den Hauptrollen verfilmt wurde. In dem betreffenden Wikipedia-Artikel heißt es beispielsweise: »Beweise für eine derartige Dachorganisation gibt es anscheinend nicht.«258 Gleichzeitig wird auf einen US-Geheimdienstbericht von 1947 verwiesen, dem zufolge es eine entsprechend »gut organisierte, schlagkräftige« Verbindung gegeben habe; als Quelle dafür wird auf ein Buch zur Geschichte der SS des Mainstream-Historikers Guido Knopp verwiesen.259 Auf dasselbe Buch wird für folgenden Abschnitt Bezug genommen:
Am 12. April 1972 wurde die damalige Wohnung des ehemaligen SS-Sturmbannführer Friedrich Schwend in Lima durchsucht. Bei dieser Hausdurchsuchung entdeckten die Ermittler der Guardia Civil eine riesige Sammlung von Akten im versteckten Keller. Unter diesen Papieren befand sich auch ein Protokoll einer Sitzung: die Akte Odessa. In dieser Akte geht es um ein Geheimtreffen von ca. 100 Mann in Marbella im Juli Anfang der Sechzigerjahre. Laut Protokoll waren unter den Anwesenden auch sechs Ex-Offiziere der SS, die mittlerweile in Israel lebten und von denen es zwei geschafft hatten, den israelischen Geheimdienst zu infiltrieren. Dem Protokoll zufolge sollen sie alle eine Einladung der Organisation OdeSSA bekommen haben. Ein Begleitschreiben zu dem Protokoll belegt, dass es Schwend auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin von einem der Teilnehmer der Versammlung übersandt worden war. Aber ob dieses Treffen tatsächlich jemals stattgefunden hat, ist niemals aktenkundig geworden.
Aha, man findet also Akten über das Treffen, die eindeutiger nicht sein könnten, aber ob das Treffen »tatsächlich jemals stattgefunden hat, ist niemals aktenkundig geworden«. Was will uns der Autor damit sagen? Will er einen YouTube-Film von dem Treffen? Tatsächlich gibt es erstklassige Quellen zu Odessa.
So taucht Odessa in einem Report von Prof. Richard Breitmann auf, der auf der Regierungswebseite der amerikanischen Nationalarchive veröffentlicht wurde und auf der Auswertung von CIA-Akten beruht. Dort geht es um gefälschte Dollarnoten, die in Peru zirkulierten:
Eine Reihe von früheren Nazi-Offiziellen waren mutmaßlich involviert, inklusive einiger, die in Südamerika für eine Organisation früherer SS-Offiziere (ODESSA) arbeiteten.
Der Name Odessa ist auch im Originalreport eingeklammert hinzugefügt. In demselben Artikel heißt es:
Neun von vierzehn Personen aus der zweiten Gruppe (»second tier«, laut Breitmann eine zweite Gruppe Nazis hinter den Top-Leuten Adolf Hitler, Klaus Barbie, der für den CIC, dem früheren Geheimdienst der US-Armee arbeitete260, Adolf Eichmann, Josef Mengele, Gestapo-Chef Heinrich Müller; Anm. OJ) hatten einige Kontakte zur westdeutschen Geheimdienstorganisation, die von General Reinhard Gehlen gegründet wurde, welche ursprünglich unter der Kontrolle der US-Armee war und 1949 von der CIA übernommen wurde. Später wurde Gehlens Organisation der Bundesnachrichtendienst BND, Westdeutschlands Auslands-Nachrichtendienst.
Stuart Christie, ein schottischer Anarchist, der in den Sechzigern von London nach Madrid gezogen war, um Franco umzubringen, bringt in seinem Buch General Franco made me a »Terrorist« Odessa und den BND in einen Zusammenhang. Christie wurde 1964 von dem von der Gestapo trainierten spanischen Geheimdienst geschnappt, bevor er den Anschlag auf Franco durchführen konnte. Er wurde zu 20 Jahre Gefängnis verurteilt, kam aber auf internationalen Druck nach drei Jahren frei.261 Christie schreibt:262
Skorzeny, Mussolinis Befreier, war der spanische Koordinator von Odessa (Organisation der SS-Angehörigen), dem Nachkriegs-Fluchtnetzwerk, das neue Identitäten und Schutz für gesuchte Kriegsverbrecher und Kollaborateure bereitstellte und ihre Flucht in den Mittleren Osten, nach Lateinamerika oder Südafrika organisierte.
Christie beschreibt, wie Skorzenys Freundeskreis dabei half, eine der einflussreichsten Neo-Nazi-Magazine Europas zu finanzieren: CEDADE263 (Círculo Español de Amigos de Europa; Spanischer Kreis der Freunde Europas):264
Zusätzlich zu der Funktion, als Public-Relations-Arm des Dritten Reichs zu fungieren und das internationale Neo-Nazi-Netzwerk zu motivieren und finanzieren, lieferte CEDADE Augen, Ohren und bei Gelegenheit Muskeln für den Bundesnachrichtendienst (BND), Westdeutschlands Auslandsgeheimdienst unter Hitlers früherem Geheimdienstchef Reinhard Gehlen, und die CIA. Abgesehen von der Organisation Odessa hat Skorzeny ein Netzwerk ausländischer Agenten zusammengestellt, die als Nachrichtendienst und Terroristengruppen organisiert waren, die hinter den Linien der Alliierten operieren konnten.
Die Existenz von Odessa wird auch von dem tschechischen Journalisten Joseph Wechsberg, einem weiteren Mitglied der US-Kriegsverbrecherkommission, bestätigt. In seinem Buch The Murderers Among Us: The Simon Wiesenthal Memoirs von 1967 bestätigt er mit eigenen Recherchen Wiesenthals Aussage, dass dieses Netzwerk existierte. Die norwegischstämmige amerikanische Journalistin Sigrid Schultz, die noch in den ersten Kriegsjahren in Berlin lebte, beschreibt in ihrem 1944 veröffentlichten Buch Germany Will Try It Again erste Planungen von hochrangigen Nazis zur Gründung von Untergrundorganisationen für die Zeit nach dem Krieg. Glenn Infield, Bomberpilot im Zweiten Weltkrieg, schildert detailliert die Aktivitäten der Naziuntergrundnetzwerke in seinem Buch The Secrets of the SS von 1981 aufgrund der Aussagen von SS-Offizieren, die er nach dem Zweiten Weltkrieg traf.265
Infield schreibt ausführlich über eine Organisation namens »Die Spinne«, die vermutlich deckungsgleich mit Odessa war.266 Möglicherweise unterscheiden sich Odessa und die Spinne auch in der Organisationsform. Jedenfalls nahm Skorzeny, so die Berichte, sowohl bei der »Spinne« als auch bei Odessa eine führende Funktion ein. Letzlich ist also irrelevant, ob es sich um ein und dieselbe Organisation handelte. Die New York Times berichtete am 8. Juli 1975, dass Skorzeny »Die Spinne« von einem Badeort (seaside resort) in Spanien aus leitete.267
Laut Newsweek vom 21. Juli 1975 wurde »Die Spinne« von Skorzeny und dem späteren BND-Präsidenten Reinhard Gehlen geleitet. Der Militärhistoriker John S. Craig schreibt in seinem 2005 erschienenen Buch Peculiar Liaisons in War, Espionage, And Terrorism in the Twentieth Century:268
Skorzenys Odessa wurde mutmaßlich vom britischen und amerikanischen Geheimdienst unterstützt in der Hoffnung, die Nazis könnten im Kampf gegen die Sowjets helfen. General Reinhard Gehlen, der Chef des Nazi-Geheimdienstes im Osten und verbunden mit Skorzenys Odessa, hat überall (throughout) in den österreichischen Alpen Mikrofilme von Archiven der Nazi-Geheimdienste versteckt.
Auch hier sehen wir wieder die Strategie der Nazis bestätigt, den Alliierten vorzuspielen, sie würden im Kampf gegen den Osten gebraucht. Für diesen Zusammenhang gibt Craig einen weiteren interessanten Hinweis:269
Kauder arbeitete für Canaris270 und wurde von den Nazis als wertvollster deutscher Agent gegen die Sowjets gepriesen. General Guderian und Gehlen bestätigten diese Behauptung, genauso wie Walter Schellenberg.
Mit Kauder ist der Ungar Richard Kauder gemeint, der in Wien lebte und vor dem Krieg das geheime Netzwerk »Max« aufbaute.271 Laut freigegebenen US-Geheimdienstberichten war Kauder ein Doppelagent, der unter dem Decknamen Klatt für den russischen Geheimdienst und die deutsche Abwehr arbeitete. Der auf den Webseiten der CIA veröffentlichte Report rätselt ausführlich darüber, für wen Kauder denn nun tatsächlich tätig war.272 Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es der Plan der Nazis war, mit den Sowjets zusammenzuarbeiten und den Amerikanern das Gegenteil zu erzählen, stellt sich die Frage allerdings nicht.
Kauder/Klatt wurde in Camp King, einem Stützpunkt der US Army bei Oberursel (in der Nähe von Frankfurt) befragt. Dort wurden die ersten Kontakte zu den Nazi-Agenten angebahnt, die später in den US-Dienst übernommen wurden. Reinhard Gehlen flog von hier aus im Sommer 1946 nach Washington. Dort konnte Gehlen die Amerikaner offensichtlich davon »überzeugen«, dass seine Mitarbeit im Kampf gegen die Sowjets äußerst hilfreich wäre. Daraufhin wurde seine Gruppe nach München gebracht, wo er in Pullach die nach ihm benannte Organisation aufbaute, aus der 1956 der Bundesnachrichtendienst hervorging.273
Die Existenz des geheimen Untergrundnetzwerkes ist nun hinreichend bewiesen. Sehen wir uns nun noch an, wie die deutsche Presse mit diesen Informationen umging.
Im Spiegel vom 14. November 1966 erschien ein Artikel mit dem Titel »Half die Spinne bei der Flucht?«274 Der Autor gibt sich alle Mühe, das Netzwerk zu verharmlosen. So heißt es:
Tatsächlich sind die Anhaltspunkte dafür, dass die »Spinne« eine Einrichtung eines westlichen Geheimdienstes war, viel glaubhafter als die vielen reißerischen Gruselgeschichten über ihre Wirksamkeit als NS-Nachfolgeorganisation.
Na, das ist ja schon einmal beruhigend, dass die »Spinne« eine Organisation eines westlichen Geheimdienstes war! Es wird noch besser:
Der amerikanische Journalist Curt Riess machte sich zum Handlanger eines ausgemachten Nachrichtenschwindels, als er im Jahre 1949 in einer »Enthüllungsserie« angebliche Hintergründe der »Spinne« aufdeckte und den inzwischen verstorbenen Prof. Johannes von Leers zu einem ihrer führenden Mitglieder machte.
Sicher ist Leers, der in Goebbels’ Propagandaministerium beschäftigt und ein übler Antisemit war, auch nach dem Kriege ein überzeugter Nationalsozialist geblieben: Ein Draufgänger war er jedenfalls nicht. Er passte schon von seinem Zuschnitt nicht in die Garde der anderen von Riess als Mitglieder der »Spinne« genannten Größen wie Otto Skorzeny, Dr. Ante Pavelić, Eberhard Fritsch, Erich Kernmayer und Martin Bormann, die niemals eine gemeinsame Gruppe gebildet haben. Aber das hätte man wissen müssen, bevor die Öffentlichkeit hinters Licht geführt wurde. Doch nun war einmal die »Spinne« in der Welt und es wurde niemals ganz ruhig um sie.
Der Autor macht den deutschen Schriftsteller Riess mal eben zu einem »amerikanischen Journalisten«. Wohl um zu suggerieren: Ja ja, die Amerikaner, weit weg und von nichts eine Ahnung. Nur ein Dreivierteljahr später, am 4. September 1967, wird Riess in einem Artikel zur Flucht von Stalins Tochter Swetlana Allilujewa vom Spiegel zum »Tatsachenberichter« befördert.275 Anlässlich seines Todes schrieb das Nachrichtenmagazin am 24. Mai 1993:276
»Sie müssen mich öfter besuchen« – nur wenigen Fremden ist die Ehre einer solchen Aufforderung des griesgrämigen Winston Churchill zuteil geworden. Aber der Journalist und Schriftsteller Curt Riess konnte halt gut mit Menschen, gerade mit den schwierigen … Marlene Dietrich, Josefine (richtig: Josephine; Anm. OJ) Baker, Franklin D. Roosevelt, Bertolt Brecht und Max Schmeling – sie und noch viel mehr hat der geschichtensüchtige Riess gekannt und beschrieben, in Dutzenden von Büchern, Aufsätzen und Artikeln. Dass er nebenbei noch wie besessen Drehbücher, Romane und anderes verfasste, tat seinen Werken nicht immer gut; aber eine beeindruckende Leistung blieb es allemal.
Jetzt lieferte der »Journalist und Schriftsteller« auf einmal eine beeindruckende Leistung und wird sogar von Winston Churchill geschätzt. Seine wichtigsten Bücher über das Untergrundnetzwerk der Nazis sind aber keine Zeile wert. Warum, erfahren Sie in Kapitel 3.4. über die Nazi-Vergangenheit des Spiegel.
Doch zurück zum Spiegel-Artikel über die »Spinne«: Als Gegenargument muss also herhalten, dass Johannes von Leers (der im Übrigen bei Riess und den anderen Autoren überhaupt keine wichtige Rolle spielt) kein »Draufgänger« war. Klarer Gegenbeweis! Dann nennt der Autor einige internationale Presseberichte (die amerikanische Zeitschrift Aufbau vom 1.5.1964, die Londoner Sonntagszeitung The News of the World, in Abdruck bei der deutschen Rhein-Zeitung am 11.5.1964 veröffentlicht, die New York Herald Tribune vom 8.2.1965) über die »Spinne« und wischt sie mit folgendem Argument beiseite:
Keine der bisherigen Behauptungen über NS-Fluchthilfeorganisationen hat den eingehenden Ermittlungen des deutschen Generalbundesanwalts und der Sicherheitsbehörden standgehalten. Aber in der Weltöffentlichkeit haben diese unqualifizierten, nur aus Sensationslust oder Übelwollen zu erklärenden Berichte dem Ansehen Deutschlands geschadet …
Ja, wenn ein deutscher Generalbundesanwalt das so sagt, wird es schon stimmen. Es wurden ja schließlich keine Nazis in deutsche Behörden übernommen. Fast 50 Jahre später schreibt ausgerechnet der Spiegel, dass laut der von FDP-Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger beauftragten Historikerkommission noch 1966 60 Prozent der Abteilungsleiter und 66 Prozent der Unterabteilungsleiter des Justizministeriums ehemalige Mitglieder der NSDAP waren.277
Aber der Knaller kommt zum Schluss. Raten Sie mal, wer diesen Artikel verfasst hat? Der Text wurde auszugsweise einem Buch von Werner Smoydzin entnommen mit dem Titel Hitler lebt!. Smoydzin war seit 1956 Mitarbeiter des Verfassungsschutzes und von 1970 bis 1972 dessen Vizepräsident.278 Präsident des Verfassungsschutzes war von 1955 bis 1972 der Nazi-Jurist Hubert Schrübbers.279 Werner Smoydzin wiederum war Soldat der Wehrmacht und schrieb in seinen Erinnerungen über das Jahr 1943:280
Schon vier Tage später fuhr ich nach Königsberg, meine Mutter und Schwestern begleiteten mich sorgenvoll zum Bahnhof. Ich war guter Dinge, denn endlich bestand Aussicht, an die Front zu kommen, ich glaubte ja noch an den Endsieg.
Halleluja!