3.3 Wie Heinrich Himmler ein selbstständig funktionierendes Untergrundnetzwerk aufbaute

Vermutlich schwirrt Ihnen jetzt schon ein wenig der Kopf angesichts der unterschiedlichen Aussagen zum Untergrundnetzwerk der Nazis. Dabei bin ich nicht einmal annähernd auf alle Indizien eingegangen. Ich will deshalb an dieser Stelle erläutern, wie Untergrundnetzwerke aufgebaut sind. Daraus erklären sich sofort einige Widersprüchlichkeiten.

Wenn Sie beispielsweise die Mainstream-Presse zu diesem Thema konsultieren, finden Sie praktisch immer den Hinweis, dass diese Netzwerke, die beispielsweise die Flucht der Nazis organisierten, völlig unabhängig voneinander waren und nicht Teil einer einzigen Organisation.281 Diese Aussagen basieren auf dem völligen Unverständnis geheimer Organisationen und der Prinzipal-Agenten-Beziehung, die ich im ersten Teil des Buches beschrieben habe.

Anhand der Erläuterung von Curt Riess, wie Heinrich Himmler dieses Netzwerk aufgebaut hat, wird Ihnen schlagartig klar, worum es eigentlich geht. Riess bezieht einen Großteil seiner Informationen vom Widerstand innerhalb des Nazi-Apparates. Diese Nachrichten konnten herausgeschmuggelt werden, einerseits weil die Zensoren nicht mehr nachkamen, andererseits weil es unter den Zensoren immer mehr Leute gab, die von der Entwicklung desillusioniert waren. Hierbei ist zu bedenken, dass er das Buch The Nazis go Underground bereits 1944 schrieb (das Vorwort ist auf den 1. Mai 1944 datiert). Er konnte also nicht ahnen, dass seine Erkenntnisse später alle durch andere Quellen bestätigt werden würden. Das Buch beginnt mit dem schlichten Satz:

Die Nazis gingen am 16. Mai 1943 in den Untergrund.

Was Riess beschreibt, sind also ganz frische Erkenntnisse und durch keine Erinnerungslücken getrübt. Im Vorwort erklärt er, was Sie selbst gleich erkennen werden:282

Wen unter den Deutschen meinen wir, wenn wir den Ausdruck »Nazis« verwenden? Sicherlich müssen wir in Betracht ziehen, dass eine überwältigende Mehrheit der Deutschen in diese Kategorie fällt (siehe hierzu meine Ausführungen über die Auswirkung der Herrschaft von Psychopathen; Anm. OJ). Aber selbst wenn wir annehmen, dass nur 20 oder 30 Prozent der Bevölkerung echte Nazis sind, liegt es nahe, dass nicht zehn oder zwanzig Millionen Männer und Frauen in den Untergrund gehen können. Nicht einmal der Apparat der Nazi-Partei, geschweige denn der enorme Apparat des Nazi-Staates könnte erfolgreich so einen Versuch unternehmen. Folglich kann der kommende Nazi-Untergrund kaum mehr als einen geringen Prozentsatz der gesamten Nazi-Gang beinhalten. Die Nazi-Regierung kann niemals in den Untergrund gehen. Aber Kader können es. Die Partei wird ausgemerzt werden. Aber die Bewegung
wird überleben – im Untergrund. Es kann getan werden; und so unglaublich es klingt, es ist für Nazis logisch und einsichtig, es zu tun. Denn sobald die militärische Niederlage da ist, können sie gar nicht hoffen, anders zu überleben.

Hinzu kommt: Wenn man einen neuen Staat aufbaut, ist es kaum zu vermeiden, dass auch Mitglieder der ehemals herrschenden Partei übernommen werden, da sie in den jeweiligen Berufen ausgebildet wurden und nach einem Krieg mit vielen Toten ohnehin Arbeitskräfte fehlen. Ähnliches galt – auch ohne Krieg – für den Zusammenbruch der DDR, wozu wir in Teil III des Buches kommen. Das aber öffnet automatisch die Tür für jene, die ihre Gesinnung trotz anderslautender Bekenntnisse behalten haben und in Wirklichkeit Teil eines geheimen Netzwerks sind. Das liegt ganz einfach in der Natur der Sache. Im Folgenden referiere ich in aller Kürze, was Riess anhand der Dokumente herausgefunden hat.

Heinrich Himmler, zu diesem Zeitpunkt Reichsführer SS, Chef der Deutschen Polizei und ab August 1943 Reichsinnenminister, teilte am 16. Mai 1943 den Sicherheitsdienst (SD)283 in zwei gleich große Teile auf: einen »offiziellen«, der im Prinz-Albrecht-Palais in der Wilhelmstrasse weitermachte wie bisher, und einen »inoffiziellen«, der in der Königsallee unter den hochrangigen SS-Führern August Heissmeyer und Ernst Kaltenbrunner an einer anderen Agenda arbeitete. Ab diesem Zeitpunkt kamen von der Königsallee seltsame Befehle, die sich meist den Befehlsempfängern nicht erschlossen. Abteilungen wurden aufgelöst und daraus kleinere Einheiten geschaffen oder anderen Abteilungen zugeschlagen. In der Königsallee wurde fieberhaft gearbeitet. Riess schreibt:

Sie hatten bessere Mittel, sich darauf vorzubereiten, in den Untergrund zu gehen, als jede andere potenzielle Untergrundbewegung in der Weltgeschichte.

Das ist der entscheidende Punkt. Normalerweise haben Untergrundbewegungen keinen Staat im Rücken, sie entstehen ja gegen die bestehenden staatliche Strukturen. Den Nazis standen aber die irrwitzigen Summen aus gestohlenem Vermögen und außerdem der gesamte Staatsapparat zur Verfügung. Wohlgemerkt, Riess schreibt das vor dem Mai 1944! Wenn ihm klar war, dass der Krieg verloren war und er die Ereignisse von außen richtig interpretieren konnte, wusste Himmler erst recht, was er tun musste, damit die Nazi-Bewegung überlebt.

Himmler hatte intensiv die Geschichte von Untergrundbewegungen studiert. Mehr noch, sie war sein Steckenpferd. Die Bibliothek des Reichsführers SS war auf Untergrundbewegungen spezialisiert. Es enthielt unter anderem Werke über die Intrigen der Bourbonen seit 1789, über die Bewegung von Bonaparte nach 1815, Kotzebues Arbeiten über deutsche Orden, die von Dserschinski, dem ersten effizienten Organisator der bolschewestischen Geheimpolizei, Bücher über den Ku-Klux-Klan, die irische Revolutionsbewegung, die deutschen Freikorps und »Feme-Organisationen« der frühen Zwanzigerjahre und die Schriften von Lenin und Trotzki über die Organisation von Untergrundbewegungen.

Doch Himmler befasste sich nicht nur theoretisch mit dem Thema. Als Chef der SS war es seine Aufgabe, Untergrundbewegungen zu bekämpfen. Er konnte deren Taktiken also aus nächster Nähe studieren.

Laut Riess führte das 1784 erfolgte Verbot284 der berühmt-berüchtigten Illuminaten, der unter anderem Goethe und Knigge angehörten, dazu, dass Geheimgesellschaften in der Folge nur so wie Pilze aus dem Boden schossen, dabei aber ihre Taktik änderten.285 Als Beispiel nennt Riess die Carbonari (»Köhler«), deren Vorgehensweise Himmler übernommen hätte. Die Carbonari bekämpften die tyrannischen Regime in Italien und Österreich. Mitglied der Carbonari war unter anderem Charles Louis Napoléon Bonaparte, der später französischer Staatspräsident wurde und sich dann als Napoleon III. zum Kaiser der Franzosen machte. Riess schreibt:

Die Carbonari waren vermutlich die Erfinder des wichtigsten Bestandteils moderner Untergrundbewegungen: die Zelle. Ihre Organisation wurde unterteilt in eine Anzahl von »Baraccas« (Hütten), von denen keine mehr als zwanzig Mitglieder – gute Cousins, wie sie sich selbst nannten – haben durfte.

Während der napoleonischen Dominanz über Preußen hat laut Riess Kriegsminister Scharnhorst zwischen 1806 bis 1812 mithilfe von Clausewitz mit ähnlichen Methoden eine Untergrundbewegung aufgebaut, die später zum Vorbild für die Nazis wurde.286 Man bedenke, dass Riess das schrieb, bevor Hitler und seine Anhänger in Madrid sich auf Clausewitz bezogen. Der heimliche Aufbau der Armee trug entscheidend zum Sieg über die Franzosen in der Völkerschlacht von Leipzig 1813 und zu Napoleons endgültiger Niederlage in Waterloo 1815 bei. Die Kinder an den preußischen Schulen wurden durch Agenten schon auf den Krieg vorbereitet, indem sie vorselektiert wurden und Patriotismus sowie Fertigkeiten vermittelt bekamen, die später im Krieg nützlich waren.

Ein besonderes Interesse zeigten die Nazis an den Methoden von Leo Trotzki, dem Gründer und Organisator der Roten Armee. Riess schreibt, dass Hitler Ende der Zwanzigerjahre seine Leute nach Trotzki gefragt habe. Als sie sich abfällig über den Kommunisten äußerten, herrschte Hitler sie an: Sie sollten seine Bücher lesen. Wir können viel von ihm lernen.287 Himmler nahm sich Trotzki zum Vorbild. Da Rudolf Heß und Männer seiner Organisation des Öfteren mit Trotzki zusammentrafen, konnten sie seine Methoden aus nächster Nähe studieren. Besonders fasziniert waren sie davon, wie Trotzki es schaffte, immer noch großen Einfluss zu haben, nachdem er von Stalin aus der Sowjetführung entfernt worden war. Das lag einfach daran, dass er überall noch seine Leute hatte. Flog einer einmal auf, musste er nichts anderes tun, als Trotzkis Ideen abzuschwören, ähnlich wie es viele Nazis nach dem Krieg taten. Die Männer blieben Trotzki aber treu. Da Stalin, Molotow und Kaganowitsch die Methoden aus ihrer eigenen Untergrunderfahrung kannten, flog der Plan jedoch auf. Die deutschen Politiker in der Nachkriegszeit waren offensichtlich erheblich naiver.

Himmlers Plan

Der entscheidende Mann, um Himmlers Plan umzusetzen, war Martin Bormann. Mit ihm traf sich der Reichsführer SS am 9. November 1942 in seinem privaten Büro im »Braunen Haus« in München. Bormann hatte 1941 die Stelle von Rudolf Heß als Hitlers Stellvertreter nach dessen Englandflug eingenommen.288 Hitler ernannte Bormann zum Verwalter seines Vermögens, in seinem politischen Testament zum Parteiminister und in seinem persönlichen Testament zum Testamentsvollstrecker.289 Trotzdem spielt er in der offiziellen Geschichtsschreibung eine eher untergeordnete Rolle.

Am 9. November 1942 gab Himmler Anweisung, dass ihn niemand bei seiner Besprechung mit Bormann stören dürfe, keiner seiner Vertrauten durfte dabei sein.290 Nachdem Himmler laut Riess den inoffiziellen Teil des Sicherheitsdienstes im Mai 1943 abgespalten hatte, teilte Bormann seine Zeit zwischen seinem Hauptquartier im Kanzleramt, Himmlers Büro und der Königsallee auf. Mit ihm arbeitete Konstantin Hierl an der neuen Struktur. Von 1943 bis 1945 war Hierl Reichsminister ohne (offiziellen) Geschäftsbereich.291 1923 hatte er ein Buch über die Kriegsführung mit improvisierten Heeren geschrieben. Als Leiter des Reichsarbeitsdienstes kontrollierte er mehr als zwei Millionen Männer und drei Millionen Frauen. Im Juli 1943 macht er eine interessante Aussage gegenüber seinen vertrautesten Leutnants des Reichsarbeitsdienstes:292

Die Partei erreichte während ihrer legalen Phase ihre höchste Macht und ihren größten Einfluss, als sie zentral gesteuert wurde. Niemals war eine Partei besser organisiert als unsere. Das Prinzip für die illegale Phase, welche nach dem Krieg kommen muss, wird jedoch größtmögliche Dezentralisierung sein. Tatsächlich müssen wir zu solch einem Grad dezentralisiert sein, dass es so scheinen wird, als wären wir verschwunden. Die hundert Mann, die früher durch die Straßen marschierten oder an einem Treffen teilnahmen, werden in hundert verschiedenen Fabriken oder Büros in hundert verschiedenen Städten zu finden sein. Nur so können wir überleben.

Das ist genau die Zellenstruktur jeder erfolgreichen Untergrundorganisation. Eine ähnliche Organisation baute er bereits 1931/32 auf, doch damals musste man nicht in den Untergrund gehen, weil 1933 die Machtergreifung gelang.293 Dieses Mal wurde die Dezentralisierung noch konsequenter betrieben:

Es wird keine Verbindung zwischen den Zellen geben, keine Verbindungsmänner, für viele Jahre nach denen die Partei untergetaucht ist. Das Wichtigste für die Mitglieder dieser Zellen, so Hierl, ist es, am Leben zu bleiben, sich dort aufzuhalten, wo sie sind, und geduldig zu warten. Die Mitglieder einer Zelle werden nichts über die Mitglieder einer anderen Zelle wissen, noch nicht einmal, ob eine andere Zelle existiert. Nur ein paar Führer, die nicht in Deutschland sein werden, werden ein vollständiges Wissen darüber haben, wie viele Männer zur Verfügung stehen und wo sie sind. Zellen werden aus nicht mehr als sechs Leuten bestehen. Nur in sehr seltenen Ausnahmefällen werden zehn Männer erlaubt sein, aber dann nur später. Am Anfang, so Hierl, werden keine Ausnahmen zugelassen, keine unnötigen Risiken werden eingegangen. Himmler und Hierl hoffen, dass sich auf diese Weise zwischen zweihundert- und dreihunderttausend Männer in deutschen Betrieben, Fabriken und Behörden tarnen.

Das ist nichts anderes als die Schläferzellenstruktur, wie man sie uns heute als neue Erfindung der Terrorgruppe al-Qaida verkauft, die vom CIA aufgebaut wurde, wie kürzlich sogar Hillary Clinton in einer Anhörung zugegeben hat.294 Um die Behörden zu infiltrieren, war es nötig, jede Abteilung zu duplizieren. Die Nazis sahen voraus, dass es eine Entnazifizierung (auch wenn dieser Ausdruck nicht fällt) geben würde. Sie prognostizierten ebenfalls, dass bestimmte Ministerien wie das Propagandaministerium aufgelöst werden würden, und verteilten einige Leute – die mit möglichst unverdächtigen Lebenslauf – auf die harmloseren Ministerien wie das Post- oder Kultusministerium. Es gab jeweils einen »A-Mann«, der Kontakt zu den offiziellen Stellen hielt, und einen »B-Mann« für den Kontakt zum Untergrund. Jede dieser Stellen wurde wiederum doppelt besetzt, sodass jeder Mann zu jeder Zeit ausgetauscht werden konnte, wenn nötig. Noch einmal zur Erinnerung: Das schreibt Riess 1944. Selbst wenn er sich das alles ausgedacht haben sollte: Wenn Riess auf diese Idee kommen konnte, konnte es Himmler, dessen Spezialgebiet die Geschichte der Untergrundbewegungen war, erst recht. Und die Nazis hatten bis zum Ende des Krieges zwei Jahre Zeit.

Wenn die Nazis alles so genau planten, stellt sich natürlich die Frage, wieso Himmler, Hitler, Bormann und andere das Ganze nicht überlebten. Zwar wollte ich eigentlich nicht auf konkrete Fälle eingehen, aber ein Beispiel will ich doch näher beleuchten. Dafür nehme ich den allerschwierigsten Fall: Martin Bormann. Es ist nicht meine Absicht, nachzuweisen, dass er überlebt hat. Ich will Ihnen nur eine Idee geben, wie schwierig es ist, die Wahrheit herauszufinden. Außerdem enthält die Story einen überraschenden Twist, der durchaus für das, was nach dem Kriege geschah, eine Rolle spielt. Ich lasse Sie in der Reihenfolge an meinen Überlegungen teilnehmen, wie ich sie selber angestellt habe.

Um Martin Bormann ranken sich viele Mythen und Legenden. Er soll beispielsweise in Südamerika untergetaucht sein.295 An vielen anderen Stellen wurde er ebenfalls gesichtet und im Netz kursieren sogar etliche Fotos von ihm nach dem Krieg (die Ähnlichkeit lässt allerdings durchaus zu wünschen übrig). An sich ist der Fall eindeutig. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt am 12. April 1973:

»Martin Bormann ist in der Nacht zum 2. Mai 1945 zwischen ein und drei Uhr auf der Eisenbahnbrücke der Invalidenstraße in Berlin gestorben.« Mit dieser Erklärung hat der hessische Generalstaatsanwalt Dr. Horst Gauf am 11. April 1973 auf einer Pressekonferenz in Frankfurt am Main das Ergebnis zwölfjähriger Ermittlungen der von ihm geleiteten Behörde über das Schicksal des wegen millionenfachen Mordes gesuchten früheren NS-Reichsleiters bekannt gegeben. Die Ermittlungsakte »Bormann«, AZ: O JS 11/61, ist geschlossen.

Bormann starb demnach am 2. Mai 1945 in Berlin. Seine Leiche wurde 1972 zufällig bei Erdkabelarbeiten der Post entdeckt und anhand einer Zahnanalyse identifiziert. Mehr noch: Im Jahre 1998 wurde die Leiche exhumiert und einem DNA-Test unterzogen. Die Ergebnisse der LMU-München sind sogar auf Wikipedia verlinkt.296 Es besteht kein Zweifel, die DNA des Skeletts stimmt mit der DNA seiner Cousine überein. Was will man mehr?

Sehen wir einmal genauer hin:

Hitler bringt sich am 30. April um. Ein Eintrag in Bormanns Tagebuch vom 1. Mai lautet »Ausbruchsversuch«. Nachdem die Alliierten die Kontrolle über Berlin erlangt haben, suchen sie nach Bormann, aber er ist spurlos verschwunden. Im Oktober 1945 lässt der britische Major Richard Hortin 200.000 Flugblätter mit Bormanns Konterfei und Steckbrief drucken – vergeblich. 297 Im Dezember 1945 wird Reichsjugendführer Artur Axmann verhaftet. Der sagt aus, er habe die Leichen von Martin Bormann und Hitlers Leibarzt Ludwig Stumpfegger auf der über die Ferngleise des Lehrter Bahnhofes führenden Brücke der Invalidenstraße gesehen.298 Axmann war nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs zunächst für tot erklärt worden und lebte bis zu seiner Festnahme unter dem Decknamen Erich Siewert in Mecklenburg-Vorpommern. Laut britischen Geheimdienstunterlagen hatte Axmann nach dem Krieg Kontakte zu einer Untergrundorganisation aus ehemaligen NS-Funktionären mit dem Namen »Die Bruderschaft«.299 Als Axmann 1958 wegen »Verhetzung der Jugend« verurteilt wird, verkauft er zur Begleichung der Geldstrafe mehrere (!) Grundstücke in Berlin. Das Gelände wurde nach den exakten Ortsangaben Axmanns gründlich durchsucht – ohne Ergebnis. Bormann wird in Abwesenheit zum Tode verurteilt und 1954 für tot erklärt.

In der Zwischenzeit wird Bormann an allen Ecken der Welt gesichtet. Ab 1961 kümmert sich die Staatsanwaltschaft Frankfurt um den Fall und lässt erneut das infrage kommende Gelände untersuchen. Im Februar 1964 schreibt der Spiegel, man habe inzwischen die Leiche von Stumpfegger gefunden, von Bormann aber, der neben ihm hätte liegen müssen, fehlt weiterhin jede Spur.300 Stumpfegger scheint zwischenzeitlich aber eine recht lebendige Leiche gewesen zu sein, denn bei den erwähnten Erdkabelarbeiten der Post am 7./8. Dezember 1972 in der Nähe des Lehrter Bahnhofes lag Stumpfeggers Skelett wieder einträchtig neben dem Bormanns. Stumpfegger wird anhand von Röntgenaufnahmen identifiziert, Bormanns Gebiss mangels Aufnahmen anhand einer Zeichnung, die Prof. Blaschke in amerikanischer Gefangenschaft aus dem Gedächtnis anfertigte. Sein Zahntechniker Echtmann will die Brücke als seine Arbeit wiedererkannt haben. Zudem fand man Spuren eines Schlüsselbeinbruches, den er sich 1939 bei einem Reitunfall zugezogen hatte. Im Gebiss steckten Splitter einer Zyankalikapsel.301

Doch »langsam reichte es Bormanns Nachfahren«, schreibt Spiegel Online in seiner zeitgeschichtlichen Rubrik »einestages«, und die Verwandten überzeugten den Frankfurter Generalstaatsanwalt, die Leiche schlappe 26 Jahre später zu exhumieren und einem DNA-Vergleich mit einer Cousine zu unterziehen, der eindeutig positiv ausfiel.302 Im selben Artikel macht sich der Autor in gewohnter Spiegel-Manier über die Produzenten »stets neuer Verschwörungstheorien« lustig, darunter »der britische Ex-Agent Christopher Creighton«, der 1996 in seinem Buch Operation James Bond behauptete, Bormann im Auftrag von Englands Premier Winston Churchill aus dem eingekesselten Berlin geschleust zu haben.

Eine kurze Recherche ergab, dass der reißerische Titel nicht als verkaufsfördernde allgemeine Anspielung auf die Kunstfigur Bond gedacht war. Creighton erklärt in seinem Buch nicht weniger, als dass Ian Fleming die Rettungsmission leitete und erst später seinen Romanhelden nach dieser Aktion benannte. Dieses Detail vergisst der Spiegel, auch in einem früheren Artikel, zu erwähnen.303 An dieser Stelle dachte ich mir, das Buch muss ich haben. Erstens ist es immer besser, die Originalquelle zu besitzen, und zweitens ist die Story selbst dann spannend, wenn sie nichts Erhellendes enthält. Doch ich sollte beides bekommen.

Jetzt lehnen Sie sich erst einmal zurück und sortieren die Fakten. Was würden Sie an dieser Stelle denken?

Also ich dachte an dieser Stelle: Die Aussagen von Axmann sind nichts wert. Er ist genau nach Schema F untergetaucht. Angeblich tot, mit falschen Papieren und zumindest später Teil der geheimen Untergrundorganisation. Alle anderen Zeugenaussagen widersprachen sich. 1972 wäre Bormann 72 Jahre alt gewesen. Zu diesem Zeitpunkt hätte er also auch tot sein können, wenn er den Krieg überlebt hätte. Wenn er für einen Geheimdienst arbeitete, hätte dieser ihn also nach seinem Tod leicht am »zufälligen« Fundort platzieren können, zumal mehrere Versuche, ihn zu finden, vor dieser Zeit erfolglos waren. Am DNA-Test fiel mir auf, dass dort nicht untersucht wurde, wann er starb. Doch mit dieser Story hätte ich Ihnen vermutlich nicht kommen brauchen. Wir haben einen DNA-Test, was will man mehr!

Jetzt wenden wir uns einmal der Geschichte von Christopher Creighton zu. Er behauptet, unter Leitung von Ian Fleming (Deckname: »Winnie the Pooh«) an der Befreiungsaktion »James Bond« beteiligt gewesen zu sein. Das ist seine sehr detailreich erzählte Story: Der britische Geheimdienst hat sich einen Doppelgänger gesucht, der Bormann ersetzen sollte. Dabei darf man sich nicht vorstellen, dass er dem echten Bormann wie ein Ei dem anderen glich. Er sah ihm ähnlich – die gleicher Statur, ähnliche Gesichtszüge – und wurde durch kosmetische Operation auf Bormann getrimmt, sodass er einer flüchtigen Betrachtung im Kriegsgewirr standhielt. Bormann überließ den Briten seine medizinischen Unterlagen inklusive der Röntgenbilder, die später fehlten. Sie fügten dem Doppelgänger die Narben und die Reitverletzung zu und setzten ihm die gleichen Brücken ein. Andere unverwechselbare Merkmale des falschen Bormann wurden den echten Unterlagen zugefügt und Bormann zurückgegeben.

Dem Doppelgänger wurde erzählt, die kosmetischen Operationen gehörten zu seiner Tarnung. Er wusste nicht, dass er sterben würde. Creighton fiel die Aufgabe zu, ihn zu töten, was ihm nach seiner Aussage Bauchschmerzen bereitete. Auf dem Weg aus ihrem Versteck in Richtung Norden in die Friedrichstraße, etwa 200 Meter vor der Brücke (Creighton schreibt nicht, welche, aber laut Stadtplan könnte es die Invalidenstraße-Brücke gewesen sein), war es so weit. Er musste ihn töten. Just als er von hinten seine Waffe auf den Doppelgänger ansetzte, erhielt ein deutscher Panzer einen Volltreffer und explodierte. Die ihm am nächsten standen, der Doppelgänger und Stumpfegger, erwischte die Explosion mit voller Wucht und tötete sie. Bormann, der mit Creighton etwas zurückgeblieben war, lief hin, schob seinem Doppelgänger etwas in den Mund (Creighton konnte nicht sehen, was) und sagte: »Tot.«304

Bormann entkam nach England, wo er die meiste Zeit unter Obhut des britischen Geheimdienstes lebte. Da ihm alle möglichen ausländischen Dienste auf den Fersen waren, schickten die Briten verschiedene Doppelgänger auf Reisen, um zu vertuschen, dass er die meiste Zeit in der Nähe von London lebte. Mit dem persönlichen Testament Hitlers in der Hand schleuste er – im Austausch gegen sein Leben – die Gelder, die Hitler versteckt hatte, nach England. 1956 wurde Bormann zunächst nach Argentinien geflogen und fand in Paraguay Zuflucht, wo er schließlich 1959 nach einer Krankheit verstarb und begraben wurde. Später wurde er aufgrund einer Geheimabsprache zwischen der CIA, der paraguayischen sowie der deutschen Regierung exhumiert und nach Berlin gebracht. Seine Überreste wurden im Sandboden unter dem ULAP-Ausstellungspark305 eingegraben, wo sie 1972 »passenderweise« – wie Creigton schreibt – wiederentdeckt wurden.

So weit, so stimmig. Diese Story würde alles erklären: Warum so viele Bormanns gesichtet wurden, warum er so spät auftauchte, wieso eine Zyankalikapsel im Gebiss gefunden wurde (die Theorie, dass Bormann mitten auf der Flucht Selbstmord begangen habe, ist ohnehin hanebüchen), wieso ihn manche Zeugen bei der Explosion gesehen haben und warum der Zahnvergleich einigermaßen und die DNA komplett passte. Der von den Zeugenaussagen abweichende Ausgrabungsort ergibt nun auch Sinn, denn schließlich musste eine Stelle gefunden werden, wo man jetzt noch graben konnte, und das war im Sand am Rande des Ausstellungsparks. Die 1972er Leiche könnte theoretisch auch noch die des Doppelgängers gewesen sein, die nur anhand der Zähne und der Verletzungen identifiziert wurde. Danach waren noch 26 Jahre Zeit, sie auszutauschen. Andererseits könnte sich Creighton das Ganze aufgrund der bekannten Fakten auch ausgedacht haben (angeblich durfte er es erst nach Churchills und Flemings Tod und weiteren Bedingungen ausplaudern). Aber zwei starke Indizien sprechen für Creightons Version. Als die Engländer Bormann durchsuchten, kam das zum Vorschein:306

Fleming öffnete den Kalender und schlug den heutigen Tag auf, Dienstag, der 1. Mai. Der Eintrag bestand aus einem einzigen Wort: Ausbruchsversuch. In dem Briefumschlag steckte ein Stapel maschinengeschriebener Seiten. Fleming blätterte sie kurz durch, reichte sie dann wortlos an Brabenov weiter – und zum ersten Mal, seit wir sie kannten, verlor unser Yankee Doodle Girl ihre Beherrschung. »Jesus!«, schrie sie. »Wisst ihr, was das ist? Es ist Hitlers persönliches Testament. Soweit ich sehen kann, ernennt Hitler darin Martin Bormann zu seinem einzigen Testamentsvollstrecker.« Sie fragte Bormann, ob das stimme, und er nickte. Wir hatten einen ungemein wichtigen Fund gemacht.

Die Briten hatten Bormann genau zu diesem Zweck herausgeholt. Um Besitzansprüche auf Nazi-Guthaben in der Schweiz und andernorts geltend zu machen. An dieser Stelle stellt sich die Frage, wie die Briten in den Besitz des Testaments gelangen konnten, wenn Bormann doch erst 1972 gefunden wurde. Dass Bormann auf sein Tagebuch verzichtete, wäre noch denkbar. Aber niemals hätte er das Testament zurückgelassen. Erstens war er Hitler treu ergeben und würde seinen letzen Willen erfüllen und zweitens war das seine Lebensversicherung. Damit konnte er sich freikaufen, egal, auf wen er traf.

Die offizielle Geschichte lautet, dass Herman Rothman beide Testamente, das politische und das private, fand. Rothman war 1939 aus Deutschland nach England geflohen und kämpfte auf alliierter Seite gegen die Nazis. Die Testamente waren eingenäht in die Innenjacke eines Gefangenen, den er verhörte, Heinz Lorenz, Hitlers Pressesekretär. Es soll jeweils drei Exemplare gegeben haben: Ein Original und zwei Kopien. Die von Rothman gefundenen Exemplare sollen aber die Originale gewesen sein.307 Wenn Sie der Testamentsvollstrecker Hitlers gewesen wären, hätten Sie dann einem unwichtigen Sekretär die Originale übergeben?

Laut neueren Forschungen sollen kurz nach dem Krieg sogar alle drei Exemplare – zwei lagerten bei den Briten, eines bei den Amerikanern – aufgefunden worden sein. Dass Bormann kein einziges Exemplar dabeihatte, ist noch schwerer vorstellbar.308

Das nächste Indiz betrifft zwar nicht direkt die Zeit damals, unterstreicht aber Creightons Glaubwürdigkeit. Er schreibt am Schluss des Buches, er sei Anfang 1996 nach Freising zur Familie Bormann gereist und habe seine Geschichte erzählt. Die Familie war naturgemäß skeptisch, weil sie schon so viele Storys gehört hatte. Creighton berichtete aber von einem persönlichen Detail aus Bormanns Leben, das man nur wissen konnte, wenn man ihn kannte.309 Das brachte die Familie ins Grübeln, woraufhin der Anwalt der Familie, Florian Besold, einen Gentest vorschlug.310

Tatsächlich fand der Gentest 1998 statt. Warum sollte die Familie plötzlich nach 26 Jahren einen DNA-Test verlangen? Aber wichtiger: Creighton veröffentlichte sein Buch im selben Jahr seines Freisinger Besuchs. Woher hätte er wissen sollen, dass die Familie tatsächlich den Test durchführen lassen würde? Laut Spiegel vom 4. Mai 1998 »bat der Münchner Familienanwalt Florian Besold vor knapp zwei Jahren eindringlich den Frankfurter Generalstaatsanwalt Hans Christoph Schaefer, mithilfe der DNS-Analyse endgültig den Skelettfund von 1972 bestimmen zu lassen«.311 Also kurz nach Creightons Besuch bittet exakt der Anwalt Florian Besold, den Creighton in seinem Buch 1996 namentlich nennt, eindringlich um einen DNA-Test! Wieder einmal erweist sich, dass es auf die Details ankommt und dass das Konsultieren der Originalquelle unverzichtbar ist, liebe Wikipedianer! Diese Details finden Sie nirgends im Netz.

Und jetzt der krönende Abschluss:

1999 wurden die Überreste verbrannt und die Asche in der Ostsee verstreut! Na, das erinnert uns doch an einen gewissen Herrn bin Laden, den anderen Agenten eines westlichen Geheimdienstes.312 Und die Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft nennt exakt dieselbe Begründung wie bei Osama bin Laden:

Wir wollten auf jeden Fall verhindern, dass irgendwo eine Gedenkstätte entsteht.313

Schon bei Osama bin Laden war die Begründung absurd, man hätte ihn ja an einer unbekannten Stelle aufbewahren können. Bei Bormann ist sie geradezu aberwitzig. Schließlich lag Bormann schon 27 Jahre im Grab, ohne dass davon die Welt untergegangen wäre. Das Resultat ist in beiden Fällen dasselbe: Die offizielle Story kann nun nicht mehr widerlegt werden. Niemand kann mehr mit moderneren Verfahren überprüfen, wann Bormann denn nun wirklich gestorben ist. Dabei gilt die kriminalistische Grundregel: Wer Beweise vernichtet, hat offensichtlich etwas zu verbergen. Letztendlich steht Aussage gegen Aussage und die eine Seite vernichtet die Beweise. Wem glauben Sie? Der Familie kann es egal sein, sie kennt die Wahrheit ja jetzt – zumindest einen Teil davon.314

Erzählt wurde Creighton übrigens die Geschichte, wie es Bormann nach der Befreiung erging, von einem der »Girls«, die bei der Befreiungsaktion dabei waren. Sie wurde später Chefin der Abteilung, die diese Aktion durchgeführt hat. Die Abteilung hieß: M. Jahre nach Creightons Buch übernahm eine Frau die Rolle der M in den James-Bond-Filmen. Für den, der sich auskennt, sind die Filme voller Anspielungen auf wahre Begebenheiten. Ian Fleming war auch nach offizieller Lesart tatsächlich Geheimagent des britischen Marine-Nachrichtendienstes.315 Er schickte William Donovan, dem späteren Chef des Office of Strategic Services (Vorgänger der CIA) sogar Vorschläge, wie man den OSS aufbauen sollte.316

Möglicherweise geht Ihnen jetzt auch ein Licht auf, warum die Chefs der geheimen Untergrundorganisationen, welche die Welt beherrschen wollen, in den Bond-Filmen so oft von Deutschen gespielt werden. Am 1. Mai 1945 um 21:50 Uhr wurde »Winnie the Pooh« laut Creighton von der Operation »James Bond« zu einem wichtigeren Fall abgezogen. Was für ein Fall das war, darüber schweigt er sich aus. Manche Geheimnisse behält man auch nach vielen Jahren lieber für sich.

An dieser Stelle brennt Ihnen vermutlich eine Frage auf den Nägeln. Wenn möglicherweise Bormann aus Berlin fliehen konnte, wie steht es dann mit seinem Chef? Zu dieser Frage kann ich glücklicherweise auf die 1998 veröffentlichten FBI-Akten verweisen.317