7.1 Die Wissenschaft des Bösen

Es gibt einen Aspekt, der in praktisch allen politischen Analysen vernachlässigt wird, nämlich die schlichte Tatsache, dass es Psychopathen gibt. Je nach Schätzung sind etwa 5 Prozent85 der Bevölkerung psychopathisch veranlagt. Die genaue Zahl spielt aber eine untergeordnete Rolle. Entscheidend sind die Charaktereigenschaften dieser Spezies und ihr Einfluss auf die Gesellschaft.

Ein Psychopath zeichnet sich durch folgende Eigenschaften aus.

Psychopathen sind soziale Raubtiere, die sich mit Charme und Manipulation skrupellos ihren Weg durchs Leben pflügen und eine breite Schneise gebrochener Herzen, enttäuschter Erwartungen und geplünderter Brieftaschen hinter sich lassen. Ein Gewissen und Mitgefühl für andere Menschen fehlt ihnen völlig und so nehmen sie sich selbstsüchtig, was sie begehren, und machen, was sie wollen. Dabei missachten sie gesellschaftliche Normen und Erwartungen ohne jegliches Schuldbewusstsein oder Reuegefühl. Ihre fassungslosen Opfer fragen sich verzweifelt: »Wer sind diese Menschen?«, »Was hat sie zu dem gemacht, was sie sind?« und »Wie können wir uns schützen?«.

So beschreibt der Psychologe Prof. Robert Hare in seinem Buch Gewissenlos den Psychopathen.86 Es liegt inzwischen eine Menge fundierter Literatur zu Psychopathen vor.87 Die Autoren vertreten zwar unterschiedliche Meinungen darüber, wie viele Psychopathen es gibt (die Zahlen schwanken zwischen 1 und 6 Prozent) und wie sehr genetische oder Umwelteinflüsse (Erziehung, traumatische Erlebnisse) eine Rolle spielen, doch hinsichtlich der oben beschriebenen Eigenschaften sind sie sich im Wesentlichen einig.

An dieser Stelle sollen uns nur zwei Tatsachen interessieren: Es gibt Psychopathen und aufgrund ihrer Eigenschaften haben sie ihren Mitmenschen gegenüber einen Vorteil. Gerade wegen ihres Charmes, Ihrer Fähigkeit zur Manipulation88 und ihrer Skrupellosigkeit fällt es ihnen leichter, in hierarchisch geprägten Strukturen aufzusteigen. Ein Beispiel mag das verdeutlichen.

Nehmen wir eine Organisation mit 10.000 Mitgliedern. Aus diesen werden 1000 Führungskräfte ausgewählt, die jeweils zehn Leute anleiten. Gehen wir davon aus, es gibt 5 Prozent Psychopathen in der Bevölkerung. Aufgrund ihrer Eigenschaften ist ihre Chance aufzusteigen doppelt so hoch wie des Restes. Dann wäre zu erwarten, dass sich zunächst 500 Psychopathen auf der untersten Ebene befinden. Auf der nächsten Ebene wäre es 100 von 1000. Werden daraus wieder 100 Führungskräfte ausgewählt, wären schon 20 davon Psychopathen. Auf der nächsten Ebene, der letzten vor der absoluten Spitze, einem Vorstands- oder Parteichef, befänden sich unter zehn Führungskräften schon vier, also 40 Prozent, Psychopathen.

Das Modell ist mathematisch nicht exakt, denn sonst würden wir bei zwei weiteren Ebenen schon auf über 100 Prozent kommen. Zum Beispiel sind die Variablen nicht voneinander unabhängig, weil sich die Psychopathen irgendwann gegenseitig bekämpfen und ausschalten. Eine exakte Rechnung ist aber nicht nötig, da wir ohnehin nicht genau sagen können, um wie viel höher die Wahrscheinlichkeit eines Psychopathen für den Aufstieg ist. Es geht hier nur um die Tendenz.

Entscheidend: Je mehr Hierarchiestufen es gibt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich an der Spitze einer Organisation Psychopathen befinden. Im obigen Beispiel wäre der Chef einer Organisation schon ab vier Hierarchiestufen von 80 Prozent Psychopathen umgeben und mit hoher Wahrscheinlich selber einer. Es sei denn, er ist der Gründer der Organisation und musste keine Hierarchiestufen überwinden. Untersuchungen zeigen zum Beispiel, dass eigentümergeführte Unternehmen auf lange Sicht erfolgreicher sind.89 Natürlich hat das auch damit zu tun, dass ein Eigentümer langfristiger denkt und seine Interessen mit denen der Aktionäre weitgehend identisch sind. Aber es ist durchaus zu beobachten, dass angeheuerte Manager eher kurzfristig denken und häufiger skrupellos vorgehen, was zum einen mit dem Boni-Belohnungssystem zu tun hat, aber auch ein Kennzeichen von Psychopathen ist.

Es geht mir hier nicht um eine exakte Begriffsdefinition90 oder darum, die verschiedenen Ausprägungen, etwa den Soziopathen, und Zwischenstufen unter die Lupe zu nehmen. Vielmehr will ich das schädliche Wirken von Menschen aufzeigen, die skrupelloser sind als der Rest der Bevölkerung. Wie viele es davon gibt und welchen Grad an Skrupellosigkeit sie aufweisen, spielt für die grundsätzliche Betrachtung keine große Rolle. Dass sich aber in höheren Hierarchiestufen ein größerer Anteil an skrupellosen Menschen tummelt, sagt einem nicht nur der gesunde Menschenverstand, sondern lässt sich auch empirisch belegen.

Eine Untersuchung (von Hare usw.) ergab, dass unter Top-Managern der Anteil von Psychopathen fünfmal so groß ist wie im Rest der Bevölkerung.91 Hare verwendet eine sehr enge Definition, nach der nur 1 Prozent der Bevölkerung klinisch gesehen Psychopathen sind. Unter Top-Managern sind es demnach 5 Prozent. Würde man aber eine weitere (und damit ungenauere Definition) verwenden, käme man auf entsprechend höhere Zahlen. Laut einer Schweizer Studie sind 20 Prozent der Manager Psychopathen. »Ganz unten bei den Gewaltverbrechern und ganz oben bei den Managern, seien Psychopathen mit 20 Prozent überdurchschnittlich häufig vertreten«, zitiert Focus den österreichischen Neurobiologen Niels Birbaumer.92

Selbstverständlich sind die Gefängnisse mit einem überhohen Anteil an Psychopathen gefüllt. 50 bis 80 Prozent der Häftlinge weisen nach einer australischen Studie eine antisoziale Persönlichkeitsstörung auf; 15 Prozent davon sind Psychopathen.93 Doch die im Gefängnis sitzen, sind nur die erfolglosen Psychopathen, diejenigen mit einer unterdurchschnittlichen Intelligenz. Niels Birbaumer erklärt dazu im Deutschlandradio:94

Die meisten der Soziopathen sitzen in erfolgreichen Positionen, an den höchsten Stellen, vor allem wenn sie intelligent sind und aus einem entsprechenden Hintergrund kommen. Also, Psychopath sein heißt nicht, dass man Verbrecher wird, im Gegenteil. Die Erfolglosen landen eben dann im Gefängnis.

Doch jetzt kommt die entscheidende Erkenntnis, die den meisten Autoren, vor allem den Psychologen natürlich – weil es nicht deren Feld ist –, entgeht:

Gesamtgesellschaftlich gefährlich werden Psychopathen nur über den Hebel des Gewaltmonopols. Die Mechanismen dazu sind vielfältig.