Farben war Hitler und Hitler war Farben. (Senator Homer T. Bone an das Senatskomitee zu militärischen Angelegenheiten. 4. Juni 1943)361
An deutschen Lehranstalten und in der deutschen Presse spielt die Unterstützung Hitlers durch deutsche Industrielle selbstverständlich eine große Rolle. Als Beispiel wird gern das Industriekonglomerat I.G. Farben angeführt, das als »Interessengemeinschaft«, also Kartell, der größten Chemieunternehmen Deutschlands (u. a. Bayer, BASF und Hoechst) 1925 gegründet wurde. Zum Leidwesen der offiziellen Geschichtsschreiber ist aber genau dieses Kartell ein sehr guter Beleg für die Verantwortung internationaler Banker für den Aufstieg Hitlers. Antony Sutton hat die Beteiligung der Finanzindustrie an Hitlers Aufstieg und der bolschewistischen Revolution in den Büchern Wall Street and the Rise of Hitler und Wall Street and the Boshewik Revolution bereits in den Siebzigerjahren nachgewiesen. Der Stanford-Professor beleuchtet auch ausführlich die Rolle von Skull & Bones, der Trilateralen Kommission und dem Council on Foreign Relations.362 Eine zentrale Rolle bei der Unterstützung der Nazis spielte dabei die Finanzierung der I.G. Farben.
Im Aufsichtsrat der I.G. Farben saß der Hamburger Banker Max Warburg. Dessen Bruder Paul Warburg war Direktor der American IG, der hundertprozentigen amerikanischen Tochter. Er war zudem Mitbegründer des Council on Foreign Relations und einer der entscheidenden Figuren bei der Etablierung der amerikanischen Notenbank Federal Reserve.363 Er war einer derjenigen, der – neben den Vertretern der Rockefellers (Nelson Aldrich) und der Morgans – am 22. November 1910 beim Geheimtreffen auf Jekyll Island als Vertreter von Kuhn, Loeb & Co. teilnahmen.364 Dort wurde der Plan ausgeheckt, wie man der amerikanischen Bevölkerung ein drittes Mal ein ungedecktes Papiergeldsystem aufs Auge drücken konnte, obwohl die US-Verfassung in Artikel 1 (!) eindeutig vorsieht, dass nichts anderes als Gold oder Silber zum gesetzlichen Zahlungsmittel (zur Tilgung von Schulden) erklärt werden dürfe.365 James Paul Warburg wiederum sagte 1950 vor dem US-Senat:366
Wir werden eine Weltregierung bekommen, ob wir es mögen oder nicht. Die Frage ist nur, ob die Weltregierung durch Zustimmung oder Eroberung erreicht wird.
Antony Sutton belegt die Beteiligung der Wall-Street-Banken bis ins kleinste Detail mit Dokumenten und es lohnt sich, sein Buch, das auch auf Deutsch erschienen ist, ganz zu lesen. Ich fasse die Erkenntnisse hier nur kurz zusammen.367
Sutton ist als Libertärer einer der wenigen, die durchschaut haben, worum es geht, wie folgendes Zitat belegt:368
Ob man das kollektivistische System nun als sowjetischen Sozialismus, als New-Deal-Sozialismus, korporativen Sozialismus oder Nationalsozialismus bezeichnet, es ist immer der Durchschnittsbürger, der Mann auf der Straße, der ein Verlierer ist gegenüber den Jungs, die in den oberen Etagen den Betrieb leiten. Jedes System ist auf seine eigene Weise ein System des Plünderns, eine organisatorische Vorrichtung, die versucht, jeden dazu zu bringen, auf Kosten eines anderen zu leben, während die Führerelite, die Herrschenden und die Politiker den Rahm an der Spitze abschöpfen.
Sutton beschreibt nun, wie diese Führerelite vorging, um Hitler den Weg zu ebnen. Damit Hitler überhaupt Krieg führen konnte, übergab Rockefellers Standard Oil die Patente und Technologien zur Kohlehydrierung an I.G. Farben. Da Deutschland über keine Erdölvorkommen verfügte und sich einem Lieferembargo gegenübersah, war Kohlehydrierung der einzige Weg, die gigantische Kriegsmaschinerie überhaupt am Laufen zu halten.
Eine wichtige Rolle, um Deutschland wiederzubewaffnen und gleichzeitig in die Abhängigkeit von der Finanzindustrie zu bringen, spielte der Dawes-Plan vom 16. August 1924, der die Reparationszahlungen Deutschlands nach dem Erstten Weltkrieg regelte.369 Laut Prof. Caroll Quigley370 war der Dawes-Plan »zum großen Teil ein J.P. Morgan-Produkt«.371 Teil des Planes waren eine 800-Millionen-Dollar-Anleihe und Kredite der internationalen Banken, um die Reparationen bezahlen zu können. Sutton schreibt:
Diese Darlehen sind für unsere Geschichte von Bedeutung, da die Summen, die zum größten Teil von Dollarinvestoren aufgebracht wurden, Mitte der Zwanzigerjahre dafür verwendet wurden, die gigantischen Chemie- und Stahlkombinate der I.G. Farben beziehungsweise der Vereinigten Stahlwerke zu schaffen und zu konsolidieren. Diese Kartelle verhalfen nicht nur Hitler 1933 an die Macht, sondern produzierten auch den Großteil der deutschen Schlüsselkriegsmaterialien, die im Zweiten Weltkrieg Verwendung fanden.
Dawes bekam für seine »Bemühungen« 1925 den Friedensnobelpreis und wurde im selben Jahr Vizepräsident der USA. Quigley, als Mitglied von Rockefellers Council on Foreign Relations ein Insider, schreibt dazu lakonisch:372
Erwähnenswert ist, dass dieses System von den internationalen Bankiers eingerichtet wurde und dass das folgende Leihen des Geldes anderer Leute an Deutschland sehr ertragreich für diese Bankiers war.
Dawes selbst war nämlich Bankier und von 1932 bis zu seinem Tod 1951 Präsident der City National Bank and Trust Co. Er heckte den Plan zusammen mit Owen Young aus, laut Sutton ein Vertreter J.P. Morgans und Präsident der General Electric Company, die später ebenfalls fleißig Geschäfte mit den Nazis (und vorher mit den Kommunisten in Russland) machte. Dawes und Young waren in exakt den Komitees, welche die Reparationszahlungen aushandelten und so »saßen die internationalen Bankiers im Himmel und wurden mit Gebühren und Aufträgen überschüttet«, wie es Quigley ausdrückte.373 Von deutscher Seite saß der uns schon bekannte Hjalmar Schacht in den Kommissionen. Schacht war nicht nur Bankier, sondern hatte auch noch exzellente Kontakte in die Ölindustrie. Hitler sagte im Januar 1942 bei den Tischgesprächen im Führerhauptquartier: Hinter Schacht stand Deterding, ich möchte nicht wissen, wer da alles bestochen war.374 Gemeint war Henri Deterding, der niederländische Industrielle, Gründer und Hauptaktionär des Shell-Konzerns, einer der reichsten Männer seiner Zeit. Er hat der NSDAP Millionensummen gespendet, die genaue Summe ist unbekannt.375
Außerdem in der deutschen Delegation bei den Reparationsverhandlungen: Albert Vögler, Generaldirektor der Vereinigten Stahlwerke, damals zweitgrößter Stahlkonzern der Welt und ebenfalls fleißiger NSDAP-Spender.376
Den richtigen Durchbruch für Hitler brachte aber erst der Plan von Owen Young. Das Bankenkonsortium, das den Plan finanzierte, wurde von J.P. Morgan koordiniert.377 Mit am Verhandlungstisch für den Young-Plan, der Anfang 1930 beschlossen wurde, saßen wieder Schacht und Vögler, die sich allerdings bessere Konditionen erhofft hatten.378 Der neue Plan verlangte nämlich zwingend Geldzahlungen, während Deutschland nach dem Dawes-Plan auch Güter liefern konnte. Diese neuen Bedingungen waren nach Ansicht mancher Historiker für die deutschen Industriellen so schlecht, dass sie quasi Hitler in die Arme getrieben wurden. Fritz Thyssens Aussage scheint dies zu bestätigen. Er schrieb in seinem 1941, zwei Jahre nach seiner Emigration, erschienenen Buch I Paid Hitler:379
Ich wandte mich der Nationalsozialistischen Partei erst zu, nachdem ich überzeugt war, dass der Kampf gegen den Young-Plan unvermeidbar war, wenn der völlige Zusammenbruch Deutschlands verhindert werden sollte.
Schacht blies ins selbe Horn und gab Young die Schuld am Aufstieg Hitlers, obwohl Young zumindest zum Teil die Vorschläge Schachts umsetzte.380 Da dürfte natürlich jede Menge persönliche Geschichtsklitterung im Spiel sein. Sicherlich lief auch nicht alles nach Plan, schließlich saßen viele verschiedene Interessen am Verhandlungstisch. Im Rückblick sieht es aber so aus, als ob der teuflisch geniale381 Schacht im Rahmen der Reparationsverhandlungen seinen größten Sieg errungen hat. Er schlug nämlich zur Abwicklung der Reparationszahlungen (!) die Gründung der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) vor, die auch tatsächlich am 17. Mai 1930 gegründet wurde (siehe nächstes Kapitel) und heute die »Zentralbank aller Zentralbanken« ist!382
Unabhängig davon, wie nachteilig der Young-Plan für Deutschland gewesen sein mag, wurden die Gelder dazu verwendet, die deutsche Kriegsindustrie aufzubauen. Die National City Bank finanzierte die AEG, die elektrische Komponenten für Kriegsgerät herstellte. Dillon, Read & Co. finanzierte die Vereinigten Stahlwerke. Insgesamt kamen drei Viertel aller US-Gelder für deutsche Industrieanleihen von nur drei Banken: Dillon, Read & Co., Harris, Forbes & Co. und National City.383
Am wichtigsten war es, den Chemieriesen I.G. Farben aufzubauen. Dazu muss man wissen, dass ohne Chemie gar nichts geht. Chemische Stoffe sind die Grundsubstanz jeder Energie- und Industrieproduktion. 100 Prozent des deutschen synthetischen Methanols kam 1937 von I.G. Farben. I.G. Farben und die Vereinigten Stahlwerke produzierten zusammen Steinkohleteer und chemischen Stickstoff, die für die Herstellung von Sprengstoff benötigt wurden. Das Kartell aus diesen beiden Firmen produzierte 95 Prozent der deutschen Sprengstoffe in den Jahren 1937/38. Die Zusammenarbeit von Standard Oil und I.G. Farben sorgte für das synthetische Öl als Treibstoff für das Kriegsgerät. Die Produktionsstätten wurden durch amerikanische Anleihen finanziert.384
Die zwei größten Panzerhersteller waren Opel, schon damals eine hundertprozentige Tochter von General Motors, die wiederum von JP Morgan kontrolliert wurde, und die Ford Motor Company in Detroit. Weitere Konzerne, die mit den Nazis zusammenarbeiteten, waren Alcoa (heute wieder mit einem deutschen Chef: Klaus Kleinfeld, Mitglied im exklusiven Steering Committee der Bilderberger), Dow Chemical, DuPont, IBM, ITT und General Electric. Sutton fasst zusammen:385
Bei der Entwicklung der Geschichte ist es wichtig, festzuhalten, dass General Motors, Ford, General Electric, DuPont und die Handvoll amerikanischer Firmen, die eng in die Entwicklung des nationalsozialistischen Deutschland involviert waren – mit Ausnahme des Ford-Konzerns386 – von der Wall Street-Elite kontrolliert wurden – J.P. Morgan, der Chase Bank der Rockefellers (gehört inzwischen zu J.P. Morgan; Anm. OJ) und in geringerem Ausmaß der Manhattan Bank der Warburgs.
Bei den Kriegsverbrecherprozessen wurde jedoch kein einziger Ausländer verurteilt, was durchaus normal ist – die Geschichte schreibt immer der Sieger. Aber wenn man dann sieht, dass diejenigen, die verantwortlich dafür waren, dass niemand verurteilt wurde, nicht nur aus dem Land der Sieger kamen, sondern selbst in die Strukturen eingebunden waren, die Hitler ermöglichten, dann ist das durchaus bedenklich. Hochkommissar und CFR-Ehrenvorsitzender John McCloy, der mit Eric Warburg das American Council on Germany und die Atlantik-Brücke gründete und selbst Rechtsberater von I.G. Farben war, ist da nur ein Beispiel von vielen.
Hier nur einige Direktoren der amerikanischen Tochter von I.G. Farben: Charles Mitchell (Vorsitzender National City Bank, Vorsitzender der Federal Reserve in New York, CFR), Walter Teagle (Direktor von Rockefellers Standard Oil, Direktor der Federal Reserve Bank), Paul Warburg (erstes Mitglied der Federal Reserve Bank New York, Vorsitzender Bank of Manhattan, Mitgründer CFR), Henry A. Metz (Bank of Manhattan, Mitgründer CFR).
Alleine drei Vorstände der amerikanischen I.G. Farben waren also Direktoren beziehungsweise in hoher Position bei der Federal Reserve! Mehrere waren Mitglieder in Rockefellers Council on Foreign Relations. Tatsächlich wurden auch drei Direktoren der American IG in Nürnberg verurteilt. Aber das waren die deutschen Direktoren!387
Im Alliierten Kontrollrat, der nach dem Krieg als höchste Regierungsgewalt in Deutschland eingesetzt wurde, war Louis Douglas der persönliche Berater in Wirtschafts-, Finanz und Regierungsangelegenheiten von General Lucius Clay, dem amerikanischen Direktor des Rats. Douglas war Präsident der Mutual Life Insurance Company und Direktor von J.P. Morgans General Motors Company. William Draper, der Direktor der Wirtschaftsabteilung, war ein Partner der Bank Dillon, Read & Co. Alle drei waren Mitglied in Rockefellers Council on Foreign Relations. Also diejenigen, die nach dem Krieg Deutschland regierten, waren Vertreter genau jener Bankenkreise, die Hitler finanzierten.388
Die von der Wall Street aufgebaute I.G. Farben hatte sogar einen eigenen Nachrichtendienst namens VOWI, der im Berliner Büro der I.G. Farben in Berlin angesiedelt war. Einer der prominentesten Agenten des I.G.-Farben-Geheimdienstes war Prinz Bernhard der Niederlande, der später die Thyssen-Papiere zur Rotterdamer Bank schaffen ließ und Gründer sowie erster Präsident (Chairman of the Steering Committee) der Bilderberg-Konferenz wurde.389 Vier Jahre nach Bernhards Rücktritt 1976 übernahm NSDAP-Mitglied Walter Scheel, der von 1974 bis 1979 Bundespräsident war, die Präsidentschaft der Bilderberg-Konferenz.390
Es wurden aber längst nicht alle Deutschen verurteilt, die bei der I.G. Farben in verantwortlicher Position saßen. Beispielsweise war Hermann Josef Abs ab 1937 Aufsichtsratsmitglied. Er war außerdem Partner bei Delbrück, Schickler & Co., der Bankendynastie, aus der auch Bilderberger Peer Steinbrück stammt. Er wurde später Sprecher der Deutschen Bank, verhandelte für Adenauer die Reparationszahlungen für den Zweiten Weltkrieg und verteilte die amerikanischen Gelder aus dem Marshall-Plan.391 Er war ein prominentes Mitglied der Bilderberger und einer der wichtigsten Figuren beim Aufbau der Europäischen Union.
Ein wichtiger Aspekt, der noch heute eine Rolle spielt, ist, wie I.G. Farben überhaupt eine solche Macht aufbauen konnte. Da war zum einen natürlich die Finanzierung durch anglo-amerikanische Banken, zum anderen aber – fast noch wichtiger – die Erteilung von Patenten. Dadurch war die Finanzierung der Banken auch abgesichert. Dazu muss man wissen: In einer libertären Welt gäbe es keine Patente. Patente sind eine staatliche Einrichtung, um Unternehmen ein Monopol auf Zeit zu sichern. Wenn es ein Unternehmen geschickt anstellt, genügt die Patentlaufzeit, um sich seine Marktposition auf Dauer zu sichern. Vermutlich ist das auch einer der Hauptgründe, warum große Konzerne an einem möglichst starken Staat interessiert sind. Mit seinem Gewaltmonopol und zahlreichen Regulierungen, wodurch für neue Wettbewerber Markteintrittsbarrieren errichtet werden, schützt er die Position dieser Unternehmen. Die Patente wiederum generieren so viele Einnahmen, dass damit die Politik »beeinflusst« werden kann. Die I.G. Farben und ihre Nachfolger haben das System perfektioniert. Aus diesem Teufelskreis kommt man nur und ausschließlich durch die Etablierung einer Privatrechtsgesellschaft heraus.
Um den Rechtsrahmen zu schaffen, finanzierte die I.G. Farben das Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Chemie in Berlin-Dahlem.392 Das Forschungsinstitut gehörte zur Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (KWG), deren Präsident von 1937 bis 1940 Carl Bosch war. Bosch war zudem bis 1935 Vorstandsvorsitzender und dann bis zu seinem Tod 1940 Aufsichtsratsvorsitzender der I.G. Farben. Sein Nachfolger als Präsident der KWG wurde Albert Vögler, der Generaldirektor der Vereinigten Stahlwerke und Verhandlungspartner bei den Reparationszahlungen (Dawes- und Young-Plan). Am KWI für Chemie wurde durch Otto Hahn und Fritz Straßmann die Kernspaltung entdeckt. Weitere Betätigungsfelder, die in Instituten der Forschungsgesellschaft beackert wurden, waren die NS-Rassenkunde und die Entwicklung von Giftgas. Auch die unvermeidliche Rockefeller-Stifung war an Bord. In Zusammenarbeit mit Otto Warburg gründete sie 1930 das KWI für Zellphysiologie in Berlin-Dahlem.393 Die meisten Institute gingen später in die neu gegründete Max-Planck-Gesellschaft über, welche die Dokumente aus der Nazizeit im Max-Planck-Archiv zur Verfügung stellt.394 Zur ambivalenten Rolle des KWI im Nationalsozialismus gibt es inzwischen einen siebzehnbändigen Forschungsbericht im Auftrag des Max-Planck-Institutes.395
Was jedoch häufig übersehen wird, ist, dass es auch ein KWI für ausländisches und internationales Privatrecht gab. Dort war zwischen 1927 und 1929 Walter Hallstein als Referent tätig. Hallstein war Mitglied des NS-Rechtswahrerbundes, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, des NS-Luftschutzbundes und des NS-Dozentenbundes. 1948 erhielt er eine Gastprofessur an der von Jesuiten geleiteten Georgetown-Universität (Washington, D.C.), an der auch Prof. Quigley unter anderem seinen späteren Schützling Bill Clinton unterrichtete. 1950 wurde Hallstein von Bundeskanzler Adenauer zum Leiter der bundesdeutschen Delegation bei der Pariser Konferenz für die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) berufen. Ende 1957 trat der EWG-Vertrag in Kraft, den er maßgeblich mit entwarf. 1958 wurde er zum ersten Präsidenten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), der Vorgängerin der Europäischen Union gewählt, wo er fast zehn Jahre lang herrschte.396
So weit, so nachlesbar. Weniger bekannt ist, dass er den Rechtsrahmen für die EWG, der später zur Grundlage des Lissabonvertrages wurde, schon während der Nazizeit entwickelt hatte, und zwar im völligen Einklang mit deren Zielen für ein gemeinsames Europa. Ein wichtiger Punkt waren dabei die Patente und die Rechtsetzung einer zentralen Stelle (später EU-Kommission), die, wie heute jeder deutlich erkennen kann, nichts anderes als ein verlängerter Arm der Lobbyisten ist, allen voran der Pharma-, Öl- und Chemieindustrie, die aus der I.G. Farben hervorging, und selbstverständlich der Finanzindustrie.
Am 25. März 1957 unterzeichnete Hallstein in Rom die Römischen Verträge über die Gründung der EWG, die bereits eine gemeinsame parlamentarische Versammlung (später EU-Parlament), einen gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialausschuss (heute die EU-Kommission) und – ganz wichtig – einen gemeinsamen Gerichtshof vorsahen.397
Vor allem aber war Hallstein maßgeblich daran beteiligt, dass nur die EU-Kommission – unterstützt durch ein Heer an juristischen Bürokraten – selbst Gesetze vorschlagen kann. In seinem Buch Die europäische Gemeinschaft benutzt er sogar freudig das Wort »Monopol«, um die Stellung der Kommission zu beschreiben. Dabei war ihm klar, dass es nicht nur um Recht ging, sondern um Politik, und zwar Politik im Interesse der Konzerne, deren Recht gewahrt bleiben soll:398
Aber das (die Durchführung politischer Programme, in diesem Fall Arbeitsprogramme; Anm. OJ) geschieht immer mit Einverständnis der Kommission. Jedenfalls ist es unwahr, dass die Aufgabe der Kommission unpolitisch sei. Sie hat, wie wir sahen, das Monopol der Initiative in Gemeinschaftssachen.
Die EU-Kommission muss laut Hallstein das Wichtige vom Unwichtigen und das Dringliche vom weniger Dringlichen trennen.399 Dringlich sind die Interessen der Konzerne, weniger dringlich die der Bevölkerung. Ein weiteres wichtiges Element ist für Hallstein der Schutz von geistigem Eigentum, der in allen europäischen Verträgen verankert ist. Das klingt zunächst gut, festigt aber, wie gesagt, die Position der Konzerne, zumal der Anmeldeprozess kompliziert und teuer ist, wie ich aus eigener Erfahrung weiß.400 Der Lissabonvertrag, über den selbstverständlich die meisten Bürger nicht abstimmen durften, hat in Artikel 118 den Politikbereich und damit die Kompetenz der EU ausdrücklich um das Aufgabengebiet »geistiges Eigentum« erweitert.401
Inzwischen hat man gnädigerweise auch dem EU-Parlament Vorschlagsrechte eingeräumt, welche die Kommission aber jederzeit ablehnen kann. Ohnehin ist es für zig unterschiedliche Parteien und Fraktionen unmöglich, zu irgendeinem Konsens zu kommen. Ausarbeiten müssen die Gesetze ohnehin die Lobbyisten beziehungsweise die Bürokraten. Wir leben längst in einer Diktatur der Bürokraten und Lobbyisten – und genau das war das Ziel. In einem freien Markt könnte jeder Bürger selbst entscheiden, wer seine Bedürfnisse am besten befriedigt. Heute entscheiden die nicht gewählte EU-Kommission und die ebenfalls in Hinterzimmern ausgekungelten Richter des Europäischen Gerichtshofs.402 Diese bekommen fürstliche Gehälter – schlappe 15.000 Euro netto im Monat403 – und entscheiden niemals gegen die Interessen derer, die sie eingesetzt haben.
Ein interessantes Dokument, das auch Teil des Kriegsverbrechertribunals war, ist ein 19-seitiger Brief, den die I.G. Farben am 20. Juli 1940 an die Nazi-Regierung übersandte. Es schlägt unter anderem die Übertragung des deutschen Patentrechtes auf den gesamten europäischen Raum vor.404
Kapitel II heißt: Die Stellung des Deutschen Reichspatents in einem europäischen unter deutscher Führung stehenden Wirtschaftsraum. Auf Seite 13 kann man lesen, wie man bei I.G. Farben sich das vorgestellt hat.405
Die weitgehende und als ideal zu bezeichnende Lösung bestünde darin, für den ganzen unter deutschen Führung stehenden europäischen Raum ein einheitliches Patent dadurch zu schaffen, dass das formelle und das materielle Patentrecht durch ein einziges Gesetz, dessen Fortentwicklung dem deutschen Gesetzgeber vorzubehalten wäre, geregelt würde und dass als einzige Patentbehörde das Reichspatentamt bestehen bliebe.
Listig setzen die Autoren hinzu, dass man den Anschein erwecken solle, die anderen Staaten hätten auch etwas zu sagen:
Es würde dann unter einer gewissen Mitwirkung der anderen Staaten ein neues einheitliches Gesetz entstehen, dessen Einführung in den einzelnen zu unserem Großraum gehörenden Staaten psychologisch leichter zu erreichen sein wird als die Übernahme einfach des deutschen Gesetzes.
Tatsächlich wirkten auch Juristen anderer Länder am Entwurf des EWG-Vertrages mit, aber die Führung behielt Hallstein, was auch in seiner Ernennung zum Präsidenten zum Ausdruck kommt. Man kann sich ohnehin gut vorstellen, wie das gelaufen ist: »Ach, lass den Bürokratiekram mal den Deutschen machen.« Dabei ist die Rechtsordnung neben dem Geldwesen natürlich der wichtigste Faktor überhaupt. Angesichts der Tatsache, dass die Deutschen in Europa nicht (erneut nicht mehr) sonderlich beliebt sind, ist es schon erstaunlich, dass zwei so wichtige Institutionen wie das Patentamt und die EZB in Deutschland angesiedelt wurden.
Natürlich ist grundsätzlich nichts dagegen zu sagen, dass, wenn man schon ein Patentwesen hat, alles seine Ordnung hat. Die Deutschen sind ja Meister der Ordnung. Aber es ist eben keine natürliche, sondern eine aufgezwungene Ordnung, die nur Konzerninteressen dient und nicht deren Kunden, wie es sein sollte. Ironischerweise sind es gerade die Deutschen, die am wenigsten Angst vor einer Privatrechtsgesellschaft, wie sie etwa Hoppe vertritt, haben müssten. Wenn es ein Land gibt, in der so eine Gesellschaft schnell die richtige, natürliche Ordnung findet, dann ist es Deutschland. Vermutlich werden viele Unternehmen einfach in ihre AGBs schreiben: Es gilt das Bürgerliche Gesetzbuch. Das BGB hat sich seit über hundert Jahren bewährt und dürfte zum Exportschlager werden. Auch Juristen und Beamte müssen sich keine Sorgen machen. In einer Privatrechtsgesellschaft werden eher mehr als weniger Rechtsexperten gebraucht. Nur würden sie nach Leistung bezahlt und damit effizienter arbeiten, was im Schnitt die Kosten für Recht und Sicherheit senkt und die Qualität erhöht.
Die I.G. Farben-Autoren sehen übrigens auch voraus, dass406
die Vereinheitlichung des Wirtschaftsraums wahrscheinlich weitergehende Einengungen der Souveränität der Einzelstaaten nach sich ziehen wird …
Zwei Monate nach diesem Brief hält Joseph Goebbels am 11. September 1940 eine Rede vor tschechischen Journalisten und Intellektuellen über »Das kommende Europa«. Darin erklärt er:407
In dem Augenblick, in dem die englische Macht zu Boden stürzt, ist uns die Möglichkeit gegeben, Europa neu zu organisieren, und zwar nach Gesichtspunkten, die den sozialen, wirtschaftlichen und technischen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts entsprechen. Unser deutsches Reich hat vor etwa 100 Jahren einen ähnlichen Prozess durchgemacht. Es ist damals genauso in viele Teile, größere und kleinere, zerspalten gewesen, wie das heute mit Europa der Fall ist. Diese Kleinstaaterei war so lange erträglich, als die technischen Hilfsmittel, vor allem die Verkehrsmittel, noch nicht so weit ausgebaut waren, dass der Übertritt von einem kleinen Land ins andere eine zu kurze Zeit beansprucht hätte … Ich bin überzeugt, in 50 Jahren wird man nicht mehr nur in Ländern denken – viele unserer heutigen Probleme sind dann vollkommen verblasst und es wird nicht mehr viel von ihnen übrig sein; man wird dann auch in Kontinenten denken und ganz andere, vielleicht viel größere Probleme werden auch das europäische Denken erfüllen und bewegen. Na, wie klingt das? Den Verweis auf die ach so furchtbare Kleinstaaterei finden Sie in jeder Sonntagsrede der EU-Fanatiker. In Wirklichkeit war diese Zeit die beste in Deutschland. Die Steuern waren niedrig – deutlich unter 10 Prozent – und Kultur sowie Wirtschaft blühten.408 Auch heute sind es die kleinen Länder, wie die Schweiz, Liechtenstein, Singapur oder Monaco, in denen es den Menschen am besten geht – weil dort die Staatseingriffe gering und die Steuern niedrig sind. Entscheidend ist natürlich der Wohlstand pro Kopf und nicht die absolute Summe, die Größenwahnsinnige wie Goebbels und seine geistigen Nachfahren im Sinn haben.
Die Blaupause für die Konstruktion der EU-Kommission lieferte wahrscheinlich Arno Sölter. Er war Leiter des nationalsozialistischen »Zentralforschungsinstitutes für nationale Wirtschaftsordnung und Großraumwirtschaft«. In seinem Buch Das Großraumkartell. Ein Instrument der industriellen Marktordnung im neuen Europa von 1941 beschreibt er praktisch die Grundlagen der EU.409 Das »Großraumkartell« weist hinsichtlich seiner Struktur auffällige Ähnlichkeit mit der EU-Kommission auf. Das »zentrale Kartellbüro« hat unter anderen folgende Aufgaben:
Das Aufrechterhalten engen Kontaktes mit den höchsten Körperschaften, zum Beispiel für Wirtschafts- und Handelspolitik, Preispolitik, Verbrauchsgüterpolitik etc. und für die Koordination mit diesen Körperschaften, deren sachbezogenen Entscheidungen und deren fundamentale Anweisungen an untergeordnete Institutionen.
Grundsätzliche Marktregulierungsprinzipien für den europäischen Großraum müssten aufgezeigt werden. In Bezug auf Markt- und Kartellregulierung müssen ähnliche Regeln festgelegt werden, so wie die Beschlüsse, die durch das Ministerium für Wirtschaftsangelegenheiten bereits für das Buchhaltungssystem erarbeitet wurden oder in Arbeit sind.
Auch in der Wirtschaftsökonomie muss es Kooperationen mit nicht deutschen Ländern geben, um in der Lage zu sein, feste Marktregulierungen (einschließlich zwischenbetrieblicher Vergleiche) vorzubereiten.
Ein Modellplan der Organisation eines »Großraumkartells« müsste entworfen werden, zusammen mit einem klaren und einfachen Modell eines Gesellschaftsvertrages.
Das Zentralkartellbüro müsste die Veröffentlichung eines Journals mit dem Titel »Das Großraumkartell« einrichten, welches alle Entscheidungen der höchsten Behörde bzgl. aller fundamentaler Fragen der europäischen Marktregulierung, Direktiven und vergleichbarer Sachverhalte publizieren würde.
Das Wort »Kartell« hat heute einen negativen Beigeschmack und wurde einfach durch das schickere Wort »Kommission« ersetzt. Sölter war allerdings nicht direkt in den Gesetzgebungsprozess involviert. Er war aber später als Experte innerhalb der EWG gefragt. Unter dem Titel »Vertriebsbindungen im gemeinsamen Markt unter wirtschaftlichen und EWG-kartellrechtlichen Aspekten« publizierte Sölter in Ausgabe 4/1962 der regelmäßig erscheinenden Kartellrundschau des Carl Heymann Verlags seine alten und neuen Kartellkonzepte.