Jähes schulisches Finale

Periculum in mora!
(Gefahr ist im Verzuge!)

(Titus Livius1)

Unauslöschlich blieben mir nicht nur die Luftangriffe auf Dresden und die auch für unsere Familie schlimmen Folgen im Gedächtnis erhalten, sondern schon der Nachmittag des 13. Februar 1945, an dem wir letztmalig Schulunterricht in der Elbestadt hatten. Dieser wäre an sich nicht erwähnenswert, doch nahm er einen gänzlich anderen als den erwarteten Verlauf. Die sich rasch zuspitzende militärische Lage hatte ernste Besorgnis unter den Dresdnern ausgelöst. So konnten einschneidende Maßnahmen für das städtische Schulwesen nicht ausbleiben.

Mein jüngerer Bruder und ich waren Schüler der König-Georg-Schule (KGS), im Stadtteil Johannstadt, eines der seit Jahrzehnten renommierten Gymnasien, nach 1933 dann Oberschulen der Elbmetropole. Das stattliche Schulgebäude2 hat die Luftangriffe teilzerstört überstanden (abgedecktes Dach, zerstörte Turnhalle3), umgeben von einem Meer an Häuserruinen. Keine der später noch besuchten Schulen war von solch beeindruckender Solidität und schien dem Fluidum einer höheren Bildungsstätte so angemessen wie dieses prächtige Gemäuer.

Errichtet 1906/07 am Birkenwäldchen, in der Amtszeit des 1904 berufenen Stadtbaurates Hans Erlwein, der „noch einmal eine neue, die letzte geschlossene, sichtbar heraustretenden Bauepoche in Dresden“ einleitete (F. Löffler4), lag es in unmittelbarer Nähe zum Johannstädter Krankenhaus. Ende des Kriegsjahres 1942 wurde die König-Georg-Schule zum Hilfslazarett bestimmt. Den Unterricht erteilte man uns fortan in der am Georgplatz gelegenen, 1864/65 errichteten Kreuzschule.

Doch nach wenigen Monaten wurden in Dresden für die an der Ostfront 1943 rasch zunehmende Zahl von Verwundeten weitere Gebäude als Hilfslazarette benötigt. Und so zwangen die sich auch an der „Heimatfront“ rapid verschärfenden Umstände im Schulwesen manches erneut einzuschränken und umzugestalten. Die damalige „Dietrich-Eckardt-Schule“, Mitte der Marschnerstraße, wurde die neue der KGS zugewiesene Unterrichtsstätte. Sie war von den Stadtteilen Striesen, Blasewitz und Johannstadt, in denen die Schüler wohnten, nicht so weit entfernt wie die in der Stadtmitte gelegene Kreuzschule. So haben wir den langen Schulweg oft zu Fuß zurückgelegt, meist durch die Dürer- und Blasewitzer Straße, bis hin zur Löscherstraße.

Immerhin blieb vielen Dresdner Schülern die Verlegung ihrer Schulen in nahe oder entfernte Landkreise erspart. F. Taylor5 widmete mehrere Abschnitte seines Buches der Problematik, ob Dresdner Schüler in den späteren Kriegsjahren evakuiert worden seien. Gegen Ende 1943 haben die Dresdner Behörden, so teilte er mit, intern Vorbereitungen für die allgemeine Evakuierung der Schüler getroffen. Die Schuldirektoren seien entsprechend unterrichtet worden. Nach dem schweren Luftangriff auf Leipzig am 4. Dezember 1943 habe man sie beauftragt, das jeweilige Lehrerkollegium über die vorgesehenen Maßnahmen zu informieren.

Der Gauleiter, Martin Mutschmann, habe ein Schreiben an die Dresdner Eltern herausgegeben, das den Schulbehörden am 9. Dezember zuging. Am 11. und 12. Dezember seien Versammlungen mit den Eltern veranstaltet worden, um deren freiwillige Zusage für die Evakuierung ihrer Kinder zu erhalten. Doch stimmten die meisten Eltern solchen Plänen nicht zu. Mutschmann habe daraufhin indirekt Druck auf die Eltern ausgeübt. Doch Zusagen blieben angeblich aus. So soll, nach Taylor, im Laufe des Jahres 1944 auch weiterhin versucht worden sein, die Evakuierung der Schüler voranzubringen. Erst seit dem 15. September 1944 sei dann, als Reaktion auf eine Mitteilung aus Berlin, davon angesichts der sich zuspitzenden Lage des „totalen Krieges“ Abstand genommen worden. Amlung6 berichtete, Anfang 1944 seien 2.243 Schulkinder aus den am meisten gefährdeten Stadtteilen Dresdens in sächsische Landstädte umquartiert worden. Zu dieser Zeit wurden schon mehr als 5.700 Schulkinder von den Eltern bei Verwandten oder Bekannten außerhalb Dresdens schulisch betreut.

Taylors und Amlungs Ausführungen habe ich mit regem Interesse, aber auch mit gelindem Zweifel gelesen. Vertrauliche Pläne für die Evakuierung der Schulen werden vorbereitet worden sein. Doch haben wir in unserer Familie, bei Bekannten und Freunden von ihrer beabsichtigten Realisierung damals nichts erfahren. In meiner und meiner Geschwister Erinnerung ist kein Anhaltspunkt für Maßnahmen gegeben, unsere Eltern seien über irgendwelche Vorhaben dieser Art informiert worden. Der Schulalltag nahm 1944, soweit es unsere Schule betraf – von anderen drang nichts Gegenteiliges zu uns –, einen nur in leicht eingeschränkter Weise vor sich gehenden Verlauf, der vor allem durch die Verlegung der Schule in andere Gebäude sowie den „Schichtunterricht“ zu charakterisieren war, weniger durch reduzierten Stundenumfang.

Welche Belastungen hatten dagegen unsere Altersgenossen in west- und süddeutschen Großstädten sowie in Berlin durchzustehen! Die sich dort seit dem Frühjahr 1943 häufenden schweren Luftangriffe zwangen die Behörden, Schulen in Landheime zu evakuieren, zum Teil weitab von heimatlichen Gefilden. Die dabei aufkommenden organisatorischen und sozialen Probleme (unzureichende Anzahl und Ausstattung der Schulräume und Unterkünfte, Trennung von Kindern und Eltern u. A.) überforderten aber sehr bald die eingeleiteten Maßnahmen. Viele Schulen der zunehmend von angloamerikanischen Bombern heimgesuchten Großstädte wurden zerstört oder beschädigt, die noch halbwegs intakten Gebäude – ihre Zahl verringerte sich ständig – benötigte man dringend als Notlazarette für Verwundete der Wehrmacht sowie als Sammelstellen für Ostflüchtlinge und Ausgebombte, eine Umschreibung für Obdachlose.

Solch dramatische Auswirkungen des Luftkrieges hatten wir in Dresden vor dem Winter 1944/45 nur relativ verhalten erlebt, waren aber nun unvermittelt mit den sich überschlagenden Ereignissen konfrontiert. Immerhin war mittlerweile je ein Luftangriff am 7. Oktober 1944 sowie am 16. Januar 1945 auf einige westliche Stadtteile Dresdens geflogen worden. So wies man uns schließlich in die „Horst-Wessel-Schule“, Gerokstraße, ein, da weitere Schulgebäude nun auch als Notunterkünfte für die in Massen aus Schlesien und Ostbrandenburg hereinströmenden Menschen dringend bereitgestellt werden mussten, ehe sie in westlichere deutsche Gebiete weitergeleitet werden konnten.

Der so verhängnisvolle 13. Februar 1945 war ein Dienstag, wolkenverhangen, kalt und unfreundlich. Der Unterricht begann erst am Nachmittag. Wir annähernd Fünfzehnjährigen kamen, ohne es zu ahnen, als Klasse 4a das letzte Mal zusammen, und einige von uns würden die Nacht nicht überleben. Zunächst stand eine Stunde bei unserem Klassenlehrer auf dem Plan.

In den beiden ersten Jahren an der KGS hatte Herr Jacobi diese „Schulfunktion“ für uns ausgeübt. Er gab Deutsch und Englisch, bemühte sich aber auch neben dem Schulischen um das Theaterspiel seiner anvertrauten Schüler. Zudem vermittelte er uns einen umfänglichen Einblick in die griechische Mythologie, für den ich ihm heute noch dankbar bin. In meiner gesamten Schulzeit habe ich nur wenige solch umsichtige Pädagogen wie ihn kennen gelernt.

Seit unserem Übergang in die 3. Klasse war Herr Dr. Wendschuch an seine Stelle getreten. Für ihn hatte sich unter uns Schülern der Spitzname „Fass“ ergeben, doch schien er nicht recht „maßgeschneidert“, denn diese erfahrene Lehrkraft, schon in den Fünfzigern, war freilich von mittlerer Gestalt, aber durchaus nicht von übermäßiger Körperfülle.

An diesem Nachmittag lud nur weniges ein, sich schulischen Aufgaben zu widmen. Kein Wunder, dass bei der angespannten Lage kaum Lerneifer aufkam. Standen die sowjetischen Truppen doch nur etwa 120 km von Dresden entfernt, denn die Roten Armeen hatte schon am 25. Januar die Oder bei Brieg und anderen Orten erreicht. Sie waren mittlerweile weiter vorgedrungen, doch hielt die bröckelnde deutsche Front noch stand. Die eigentliche sowjetische Offensive begann erst am 16. April 1945. Die anglo-amerikanischen Truppen operierten Anfang Februar schon bei Aachen und Geilenkirchen auf deutschem Gebiet.

Im jugendlichen Übermut, den es an jenem Tag bis zum Abend hier und da noch gab, schrieb einer von uns, mit klarem Bezug auf eine im Kriege bei der Deutschen Reichsbahn weithin verbreitete Losung, in großen Lettern an die Tafel:

FÄSSER MÜSSEN ROLLEN FÜR DEN SIEG!

Selbst unter den einschneidenden Bedingungen des „totalen Krieges“ blieben solche Streiche nicht völlig aus. Und so hatten wir auch unter den Gegebenheiten der Kriegsjahre manch kleinen, heute noch erheiternden Beitrag zum aufgelockerten Schüler-Lehrer-Verhältnis geleistet. Es ist alles psychologisch zu erklären. „Ach, was muß man oft von bösen Kindern hören oder lesen! …“ hatte Wilhelm Busch 1865 ins Stammbuch der Nation geschrieben und mit »Max und Moritz« gewissermaßen den Modellfall vorgestellt. Und als wir im August 1944 im Kino, Augsburger Straße, erstmals den Film »Die Feuerzangenbowle« sahen, wussten wir, auch frühere Generationen von Schülern hatten ihren Lehrern manches zugemutet, wenngleich vieles eine humorige Note trug und das Schulleben bereicherte. Doch, an diesem denkwürdigen 13. Februar 1945 überschritten wir das erträgliche Maß bei weitem, und wir bereuten sogleich, was wir nichtsahnend angerichtet hatten, denn es wurde uns eine bittere Lektion erteilt.

Schon rief einer von der Tür her: „Achtung, Fass!“ Wir eilten auf die Plätze. Entgegen seiner Gewohnheit betrat Herr Dr. Wendschuch den Raum mit auffallend düsterer Miene, in dunklem Anzug. Nach der üblichen Meldung durch einen Schüler fiel sein Blick auf die Tafel. Dort stand die dreiste, ihn provozierende Losung, die an sich schon ein schlimmes Nachspiel hätte haben können, wäre sie politisch gewertet worden. Jetzt starrte unser Klassenlehrer gebannt auf diesen Satz. Unvermittelt wandte er sich an uns und geriet in eine sogleich stärker werdende Erregung. Sein Gesicht rötete sich rasch. Das war ungewohnt, obwohl wir seine Reaktion kannten, wenn Störungen des Unterrichts vorkamen. Er pflegte dann, laute Vorwürfe an uns richtend, langen Schrittes unruhig auf- und ab zu gehen, wobei er immer den Kopf etwas beugte und tief atmete. Die meisten von uns vermochten damals diese für ihn typische Positur nachzuahmen.

Als Klassenlehrer hatte er jedoch ein annehmliches Verhältnis zu seiner 4a. Aber an diesem Tag, der unser Leben so nachhaltig verändern sollte, war alles anders. „Das ist eine unglaubliche Lümmelei, mir heute einen solch unwürdigen Empfang zu bereiten. Ich habe vorhin erfahren, dass mein Sohn an der Ostfront gefallen ist. Ich bin ins Tiefste erschüttert.“ Er war ungemein aufgewühlt und musste sich erst fassen. Mit eindringlicher Stimme folgten sehr ernsthafte Vorhaltungen. Und ob wir in unserem Alter und unter den derzeitigen außerordentlich belastenden Umständen nicht begriffen hätten, in welch schwerer Zeit man lebe, die jedem das Äußerste an Opferbereitschaft, Disziplin, aber auch Mut abverlange. Er konnte sich kaum beruhigen, und der Unterricht wollte nach diesem bedauerlichen Vorfall keine vertraute Form annehmen. Auch wir waren nun sehr berührt. Einer fasste dann Mut und brachte einige entschuldigende Worte für unser widriges Verhalten vor.

Diese unglückselige Begebenheit hat sich tief ins Gedächtnis eingegraben. Sie war ein übles Omen für das uns wenige Stunden später Bevorstehende. Nachdenklich legten wir am späten Nachmittag den Schulweg zu Fuß zurück.

Erst 30 Jahre später bin ich die Gerokstraße und die Blasewitzer Straße erneut gegangen, doch hat der Feuersturm die damals vertrauten Häuserfronten zum großen Teil ausgelöscht, und mit ihnen unzählige Bewohner. Neue Wohnviertel sind entstanden. Wenige Wochen nach Kriegsende erfuhr ich, Herr Dr. Wendschuch habe das Inferno in der Innenstadt als Ausgebombter überlebt, was manchem Lehrer und Schüler nicht beschieden war.

Unter den Opfern sei, wie ich damals vernahm, unser Musiklehrer, Herr Dr. Kurt Kreiser. Ausgewiesen als Musikschriftsteller, fühlte er sich dem genius loci besonders verpflichtet und führte uns schon in sehr jungen Jahren zur Musik Carl Maria von Webers und Richard Wagners. Als wir den Film »Die Feuerzangenbowle« sahen, empfanden wir, zu unserem großen Ergötzen, den darin agierenden „Musikpauker“ als Ebenbild unseres verehrten Musikus, sowohl von der schmächtigen Gestalt her wie auch von der lebhaften Gestik. Dr. Kreiser förderte die musischen Neigungen seiner Schüler nach Kräften. Regelmäßig spielte er uns am Flügel Klavierauszüge aus Opern vor. Als Komponist hat er einige Lieder hinterlassen, von denen ich eines, das seinerzeit zu den von uns einstudierten gehörte, in den 90er Jahren im Rundfunk hörte.

Gern erinnere ich mich an seine Besessenheit, mit uns jungen Schülern Opernchöre und Lieder einzuüben, die wir dann in den Lazaretten und anderen Einrichtungen Dresdens sowie in Orten seiner Umgebung häufig zu Gehör brachten. So klingt mir noch immer der Matrosenchor aus dem »Fliegenden Holländer«, der Jägerchor aus dem »Freischütz« und manches vertraute Liedgut in den Ohren, als ob alles gestern dargeboten worden wäre.

Doch an jenem Nachmittag und Abend dachten wir nicht an Musik. Gesprächsstoff gaben die bedrückende Situation an den Fronten sowie die sich bedrohlich mehrenden Luftangriffe auf Städte und Industrieanlagen Mitteldeutschlands. Die Verhältnisse gerieten nun zunehmend aus den Fugen. Die daraus herzuleitenden Lebensumstände würden, so war abzusehen, beängstigende Formen annehmen. Trotz des in Dresden, vor allem in der Innenstadt, sehr auffälligen und beträchtlich anschwellenden Flüchtlingsstroms aus Schlesien und Ostbrandenburg war in den Stadtteilen Striesen, Blasewitz, aber auch in anderen Bereichen Dresdens, eine amtliche Anordnung zur Einquartierung ausgeblieben. Schulgebäude, Kinosäle, geräumige Gaststätten und ähnliche Quartiere dienten der vorübergehenden Unterbringung. So ergab sich in Sachsen eine nach Westen anwachsende Flüchtlingswelle.

Die Ereignisse hatten sich in beklemmend raschem Tempo zu einer Drohkulisse aufgeschaukelt. Unserer Mutter merkten wir die Sorge um die drei Kinder an, hatte man doch unseren Vater zum Volksturm eingezogen und, nach einer kurzen Ausbildung in Königsbrück, seine Volkssturm-Einheit Anfang Februar an die Oder-Front, bei Müllrose (südlich Frankfurt/O.), verlegt. Bei der Schlacht um Berlin, in den letzten Tagen des Krieges, am 4. Mai verwundet, aber ohne ärztliche Behandlung geblieben, verstarb er vier Tage nach Kriegsende, im 47. Lebensjahr in der Nähe von Loburg, bei Magdeburg, wie wir im Juni von einer Dresdner Verwandten einer dortigen Gärtnerfamilie, die unseren Vater in den letzten Lebenstagen aufgenommen hatte, erfuhren.

Unsere Schulzeit ging am 13. Februar 1945 in Dresden abrupt zu Ende. Aber, es war nicht nur dieser Bruch mit dem Bisherigen. Nach Jahrzehnten der Rückschau gibt es nur einen zwingenden Schluss. Dresdens Untergang war die einschneidende, durch nichts zu entkräftende Zäsur unseres Lebens. Unsere Familie büßte alles Hab und Gut ein, von wenigen Utensilien abgesehen, die in einem mitgeführten Koffer sowie in einer Kiste lagen, die den Feuersturm entgegen allen Erfahrungen im Keller überdauerte. Doch, mit solchen Einzelheiten greife ich den Ereignissen voraus.

War der materielle Totalverlust in den äußerst schwierigen Nachkriegsjahren noch von langandauernden Auswirkungen, so hatte uns die Zeit, die wir in Dresden lebten, nachhaltig geprägt. Die Atmosphäre dieser einmaligen Stadt hinterließ unauslöschliche Eindrücke.