Bombennachspiel unter Wolken

…und nun, Verderben, gehe deinen Gang!

(F. v. Schiller1)

Die Nacht vom 14. zum 15. Februar hatten wir wiederum im öffentlichen Luftschutzkeller, am Schillerplatz, verbracht. Es war nun schon hell, und so machten wir uns gegen 8:30 Uhr von dort auf den Weg zur Löscherstraße. Anschließend wollten wir versuchen, nach Dresden-Plauen, Regensburger Straße, vorzudringen, denn dort wohnte ein Kollege unseres Vaters. Vielleicht hatte er überlebt und würde einige Ratschläge geben können. Wir konnten nicht wissen, dass wir mit diesem Entschluss erneut in eine missliche Lage kommen würden, denn auch dieser wolkenreiche Tag nahm nun einen dramatischen Verlauf.

Von ihm künden Schriften und Beiträge über Dresdens Untergang jedoch nur unzureichend, obwohl viele Dresdner und die sich noch in der weniger zerstörten Dresdner Neustadt oder an der Peripherie der Altstadt aufhaltenden Ausgebombten und Flüchtlinge erneut die Bombenwürfe einer amerikanischen Luftflotte über sich ergehen lassen mussten. Diese stellten manche Autoren als Randereignis dar, in den Ausführungen anderer fehlen sie gänzlich, vor allem bei jenen, die offenbar keinen der Luftangriffe auf Dresden selbst zu ertragen hatten.

Groehler2erwähnt sie nicht. Paeschke und Zimmer3 wiesen darauf hin, amerikanische Bomber hätten die Stadt am 15. Februar, und dann später am 2. März und 17. April erneut heimgesucht und die Trümmer noch einmal durchgepflügt. Taylor4 sowie Gretzschel5 halten diesen Luftangriff für den am wenigstens erfolgreichen aller amerikanischen Luftflotten, die Dresden bombardierten. Gleichwohl wissen sie von erheblichen Schäden in der Südvorstadt und in einigen Stadtgebieten zu berichten. Es wird erwähnt, wie auch bei einigen anderen Autoren, Sprengbomben hätten das Landgericht getroffen, dort Opfer unter den Gefangenen herbeigeführt, doch sei es einer größeren Anzahl von Insassen gelungen, durch beschädigte Mauern zu entkommen. Bergander6, der die konkretesten Angaben machte, bezeichnete den Angriff, obwohl er ihn in der Stadt erlebte, als Nachspiel und meinte, er hätte sich der geplagten Bevölkerung kaum eingeprägt.

Ich bitte um Nachsicht, wenn ich die Überschrift dieses Kapitels auf seine Bemerkungen beziehe, denn für uns war er alles andere als eine Randerscheinung des Luftkrieges. Gewiss, gemessen an der ungeheuren Wucht der drei ersten Bomberattacken brachte die vierte geringere Vernichtung, doch kam Dresden auch dieses Mal durchaus nicht ohne Opfer und Schäden davon. Zumindest diejenigen, die mitten in die Bombenwürfe gerieten, werden ihr eigenes Urteil darüber haben. Wer erwähnt die Toten, die zu all den anderen noch hinzu kamen?

Irving7;/8, der den Lesern seines Buches über Dresden in der deutschen Erstausgabe (1963) und dann auch im späten Nachdruck (1990) unzählige Male den Begriff dreifacher Schlag zum Überdruss einhämmerte, erwähnte sonderbarerweise aber auch die Bomber vom 15. Februar. Wie an manchen Stellen seines Buches sind einige Details aber ungenau oder nicht den Tatsachen entsprechend wiedergegeben. So wird von ihm dieser Angriff erst gegen 12:30 Uhr angesetzt, und die Bomber seien von Ruhland (korrekt: Böhlen) auf das Ausweichziel Dresden umgeleitet worden. „Die Bombenwürfe auf das Gebiet von Dresden wurden von der Bevölkerung kaum beachtet und werden ihr unbedeutend vorgekommen sein, nach allem, was sie durchgemacht hatte.“ In der überarbeiteten britischen Neuausgabe (1995), die unter leicht verändertem Buchtitel erschien, nannte er auch die Stadtteile, die dieses Mal von den Bombern getroffen wurden. Das hielt ihn aber in dieser revidierten Fassung seines Buches nicht davon ab, wieder häufig vom dreifachen Schlag (triple blow) zu sprechen.

Ich zähle mich zu jenen, denen es am Verständnis für solch eine merkwürdige Auslegung der Fakten seit langem mangelt. Wenn eine Luftflotte von 210 „Fliegenden Festungen“ (B-17 Bomber) über Dresden annähernd 3.700 Sprengbomben abwirft, dann soll dies kein nennenswerter Angriff gewesen sein, selbst wenn ein Teil der Bomben unter der Rubrik Fehlwürfe dokumentiert ist. Wenn ein solcher Angriff mehr oder weniger verharmlost wird, werden manche unbefangene Leser jüngerer Generationen den Eindruck haben, als seien nur ein paar „Bömbchen“ zu Boden gekommen, ohne nennenswerte Zerstörungen zu hinterlassen. Kurowski9, der sein Wissen über Dresdens schlimmes Ende aus Büchern und dann Jahre später aus einem Besuch der Stadt schöpfte, teilte mit, es habe an diesem 15. Februar jenen vierten Angriff mit 210 amerikanischen Bombern gegeben.

Eine die Wahrheit besonders verletzende Aussage ist in Weidauers10 Darlegungen zu finden. Bei der Lektüre seines Bandes (1. Auflage, 1965) möchte man meinen, dieser Autor ist in den Tagen und Nächten, als Dresden unterging, in der Stadt gewesen. Doch erstaunlicherweise spricht er „von der plumpen Erfindung eines vierten Angriffs“, die vom Reichspropagandaministerium ersonnen sei. So muss der Eindruck entstehen, Weidauer hat zwar die Vernichtung Dresdens mit anprangernden Worten beschrieben, die Februartage aber offenbar nicht an der Seite der leidgeprüften Bewohner dieser Stadt erlebt. Er übernahm manche Angaben Irvings, und so sprach auch er, wen wundert’s, fortwährend davon, das Bombardement sei ein dreifacher Schlag gewesen. Was sollen jene Dresdner und die betroffenen Flüchtlinge, die am 15. Februar die unselige Bekanntschaft weiterer Bombenteppiche machten, von all dem halten?

Wir kamen mit unserem kleinen Handwagen nur langsam zur Löscherstraße voran. Der penetrante Brandgeruch hatte nachgelassen, doch überall auf dem Wege sah es noch so aus wie am vorhergehenden Morgen, nach dem zweiten Angriff. Schutt, Geröll, verbranntes Holz, halbverkohltes Papier oder andere Reste lagen verstreut auf den Straßen. Insgesamt schien es uns, als sei dieser Teil von Blasewitz nicht so heftig heimgesucht worden wie der Wohnbereich um den Königsheimplatz und all die anderen Stadtteile, die wir in den folgenden Stunden noch vor Augen haben würden. Uns begegneten hier nur wenige Leute. Wie wir, schienen sie nach „irgendwo“ unterwegs zu sein.

An der Ruine des Hauses angekommen, eilten wir, nicht ohne Grund, in den Keller, der nach wie vor seine unerwartete Solidität bewies. Immerhin konnten wir uns an dem Rest der eingemachten Birnen und Kirschen laben, denn unerträglicher Durst machte sich mittlerweile bemerkbar. Die Augen schmerzten heftig. Kirschen- und Birnensaft leisteten große Hilfe. Unsere Mutter sortierte die letzten Habseligkeiten.

Wir Jungs erkundeten die Umgebung, doch nicht mehr als 500 m nach links und rechts, Teutoburgstraße und Tittmannstraße. Die Feuerwalze hatte bis in die Spenerstraße, und zum Teil weit darüber hinaus, gewütet. In der Prinzenstraße/Ecke Teutoburgstraße war vom letzten Haus, rd. 80m von unserer Wohnung entfernt, nur ein Geröllhaufen geblieben. Die Hausbewohner haben den Volltreffer nicht überlebt, wie wir später erfuhren. Keines der vertrauten Gebäude war erhalten. Nur das Nachbarhaus, Löscherstraße 8, schien, weithin als einziges, nicht getroffen. Der breite und tiefe Bombenkrater davor, mitten auf der Kreuzung der Löscher- und Teutoburgstraße, wurde nun noch einmal eingehend betrachtet. (Es waren vermutlich die hier detonierte Bombe größeren Kalibers sowie der soeben erwähnte Volltreffer in der Prinzenstraße, die unser Haus beim ersten Angriff schwer beschädigt hatten.)

Unsere Mutter kritzelte noch die bedeutungsvollen Worte, „wir sind am Leben“, an das, was vordem die Haustür bildete. Dann ein letzter Blick zurück. Wir brachen auf. Es muss kurz nach 10 Uhr gewesen sein, wenn ich den Ablauf unseres folgenden Marsches durch Dresden rekonstruiere. Zu dieser Zeit stürzte die Kuppel der Frauenkirche ein, wie an anderer Stelle bereits erwähnt.

In der Augsburger Straße bot sich überall das gleiche, nun fast gewohnte, grausige Bild. Unserer Mutter ging es offenbar wie uns: wir erblickten die furchtbare Szenerie, doch waren wir in der kurzen Zeit durch die Dramatik des Geschehens offenbar bereits abgestumpft. Es schien uns innerlich zunächst nicht so zu bewegen, wie es einen unvorbereiteten Menschen psychisch treffen würde. In der Huttenstraße und dem rechter Hand anschließenden östlichen Teil der Dürerstraße mehrten sich die Beispiele durchgängiger Zerstörung. Überall ausgebrannte Gebäude, die sich noch vor kurzem als typische Dresdner Bürgerhäuser präsentierten. Die ersten Toten hatten wir auf dem bisherigen Weg liegen sehen, doch als wir in die Fürstenstraße (Fetscherstraße) einbogen, um zum Großen Garten vorzurücken, änderte sich die Situation unvermittelt in äußerst dramatischer Weise.

Auf der rechten Straßenseite boten sich die ausgedehnten, in geschlossener Bauweise errichteten Wohnviertel um die östlichen Teile der Dürer-, Gabelsberger-, Holbein- und Haydnstraße als weiträumige, an verschiedenen Stellen noch rauchende Trümmerwüste. Vor den ausgebrannten Häuserfassaden türmten sich auf dieser Front des Gehweges und der Fahrbahn Unmassen von Schutt, Eisenträgern und Geröll. Wir mussten, wollten wir unserem Ziel näherkommen, auf der linken Straßenseite an Hunderten, vielleicht sogar Tausenden Opfern der bisherigen Angriffe vorbeiziehen, denn hier lagen die Leichen beinahe eine an der anderen. Bergungsarbeiten schienen zu dieser Zeit nicht im Gange zu sein, doch hatten anscheinend solche schon am Vortag stattgefunden. Unversehens hatten wir das Bild eines grausigen Schlachtfeldes vor uns. Unser Weg durch Dresden mutete uns diesen Entsetzen erregenden Anblick zu, vor dem es kein Entrinnen gab.

Merkwürdig, der Zustand der Opfer war sehr unterschiedlich. Viele Leute schienen nur zu schlafen. Ich hatte den Eindruck, sie haben sich erschöpft hingelegt. Dieser und jener leblose Körper war gedunsen oder bläulich verfärbt, mancher Leichnam nur noch als Torso oder in Überresten vorhanden, unglaublich verstümmelt. Verschmutzte Textilien sowie zahlreiche Teile zerfetzter menschlicher Körper lagen weithin verstreut. Ich wurde sogleich an die Aufräumarbeiten in Freital-Birkigt erinnert, die wir sechs Monate zuvor als Schüler zu leisten hatten. Doch hier schien alles tausendfach verstärkt. Besonders furchterregend waren die vielen verkohlten, verschmorten Leichen zugerichtet, meist auf ungefähre Kindergröße bis zur Unkenntlichkeit „geschrumpft“.

Wir fragten uns schon dort an Ort und Stelle und später, was die Ursache für die zahllosen Opfer gewesen sei, denn die Fürstenstraße (Fetscherstraße) kennt man als eine der breitesten Fahrbahnen Dresdens. Doch in den vielen in geschlossener Bauweise errichteten Wohnvierteln der Stadtteile Johannstadt und Süd-Striesen musste der rasch anschwellende Feuersturm so gewaltig gewesen sein, dass diese bedauernswerten Menschen an unvorstellbarer Luftnot litten oder gar durch den orkanartigen Sog in die Glut hineingerissen wurden. Unzählige waren erstickt, andere verbrannt. Viele hatten nicht mehr die Kraft, rechtzeitig zu entkommen, denn sie trauten sich nicht aus den scheinbar noch Schutz bietenden Kellern hinaus in das Flammenmeer, bei den geschlossenen Häuserfronten dieser Straßen. Wir hatten solche unerwarteten Auswüchse des prasselnden Feuersturms selbst in der Löscherstraße, bei offener Bauweise, kennen gelernt und die arge, sich rasch steigernde Luftnot erfahren. Der Sog war bei uns, als wir das Haus nach dem zweiten Angriff verlassen mussten, aber noch nicht unmittelbar lebensbedrohend, wie er sich in jenen nun durchschrittenen Wohngebieten rasch entwickelt haben mochte. Welch höllische Marter für diese vielen beklagenswerten Menschen!

Der Anblick einer solchen Menge an Leichen ist unauslöschlich in die Erinnerung eingemeißelt. Der Tod hatte gewütet und seine Opfer durch starke Druckwellen, unvorstellbaren Sauerstoffmangel, überhitzte Luft, Feuersglut, Verschüttung, fallende Trümmerteile, bisweilen durch herabsausende Sprengbomben gefunden. Die Worte widersetzen sich, das alles näher zu beschreiben. Doch die Fürstenstraße (Fetscherstraße) war lang. Wir tasteten uns bis zum Fürstenplatz (Fetscherplatz) vor. Es war ein schleppendes Fortkommen. Denn der Handwagen musste über das Geröll, die Mauerreste und anderen Unrat gehoben sowie um Bombenkrater herumgelenkt werden, vorbei an den dicht oder verstreut liegenden Opfern, kurzum, eine Fahrt mit vielen Hindernissen. Fast überall bot sich das gleiche schreckliche Bild, wenngleich hier und da nun auch einige Häuser offenbar vom Bombenwurf verschont worden waren. Weiter ging es, schließlich über die Kreuzung der Fürstenstraße mit der Comeniusstraße, und bald in den Großen Garten. Ich weiß nicht mehr, weshalb wir unsere Schritte nicht zum Stübelplatz (Straßburger Platz) lenkten, um von dort in die Lennéstraße einzubiegen. Mag sein, der Zugang war durch Bombentrichter auf der Stübelallee nicht möglich.

Wie sich den Augen eingangs des Großen Gartens, in der Fürstenallee, unvermittelt offenbarte, hatten sich hier weithin unbeschreiblich grausige Szenen abgespielt. Aus dem ansehnlichen Parkgelände war ein Leichenfeld geworden. Winterliche, mit mehr oder weniger Schneeresten bedeckte, zum Teil aufgewirbelte und durch Bombenkrater verunstaltete Grundflächen, umgestürzte oder abgebrochene Bäume sowie Sträucher machten nun das „Panorama“ aus. Das Inferno musste bei den Angriffen unbeschreiblich gewesen sein. War der Gang durch die Fürstenstraße (Fetscherstraße) schon eine Tortur gewesen, die vielen Opfer, noch dazu zum großen Teil in unglaublich verunstalteter Form wahrnehmen zu müssen, so bot sich hier ein Entsetzen erregender Anblick.

Offenkundig hatten sich auf diesen Freiflächen nach dem ersten Angriff viele Menschen angesammelt, in die dann Wellen der Vernichtung hineinfuhren. Überall lagen die Opfer, auch hier zum Teil verstümmelt, auf dem Boden, unter Bäumen, auf und unter den Bänken, einzeln oder in Gruppen, zum Teil übereinander. Die ungeheuren Druckwellen der Sprengbomben hatten manche Opfer in das Astwerk der Bäume gewirbelt.

Schaarschmidt11 zitierte einen Bericht der Tänzerin Gret Palucca, die von ihren im Großen Garten Grauen erregenden Eindrücken berichtete. Sie hatte damals ihre Wohnung in einem Haus auf der Bürgerwiese, das mit Flüchtlingen überfüllt war. Während des zweiten Angriffs wurde dieses Gebäude von einer Sprengbombe getroffen. Gret Palucca überlebte und versuchte dann, in den Großen Garten zu gelangen „in der Hoffnung dort Schutz vor den Flammen und den Bomben zu finden…Als ich den Großen Garten erreichte, fand ich an Stelle der erhofften Sicherheit ein wahres Inferno vor. Viele der alten Bäume brannten, die ebenfalls brennenden Wiesen sahen wie leuchtende Teppiche mit kunstvoll sich schlängelnden dunklen Mustern aus. Diese Muster aber waren tote oder vor Schmerzen sich windende und brüllende Menschen…Auf vielen Bäumen lagen in den furchtbarsten Stellungen Männer, Frauen und vor allem Kinder oder einzelne Körperteile – Arme und Beine – wie gespenstische Früchte auf den kahlen Ästen…In der Nacht noch trieb es mich wieder zu unserem zusammengestürzten Haus zurück…“ Und später schrieb sie12: „Nie in meinem Leben kann ich die Erlebnisse jener Zeit vergessen. Sie sollten immer als Menetekel vor den Augen aller Menschen stehen, damit dieses von barbarischen Menschenhirnen erdachte und von grausamer Menschenhand ausgeführte Verbrechen sich nicht mehr wiederhole.“

Einem Schweizer, dem es gelang, ein Ausreisevisum für sich und seine Familie zu erhalten, da seine Firma zerstört worden war, veröffentlichte am 22.-24. März 1945 im Tagesanzeiger für Stadt und Kanton Zürich seine Erlebnisse während der Dresdner Bombenangriffe. Auch er beschreibt die entsetzlichen Szenen, die er im Großen Garten wenige Tage nach den Bombardements kennen gelernt hatte. „Die Opfer des Großen Gartens waren nicht von Sprengbomben zerrissen, sondern von den anderthalb Millionen Brandbomben erschlagen worden, die über diesen Park niedergingen…“

Als ich viele Jahre später den Gedanken von Vergil13 las,

Plurima mortis imago

(Das Erscheinungsbild des Todes ist vielgestaltig), wurde ich eindringlich an jenen 15. Februar 1945 erinnert. Hier zeigte sich der Widersinn des fortgeschrittenen Krieges auf drastische Weise. Wie heißt es doch bei Schiller14? „Da unten aber ist’s fürchterlich.“ So hätte es sich für die Besatzungen der Bomber ergeben müssen. Hitlers fanatisch verkündete Parole: Keinen Schritt zurück!, die für alle „Volksgenossen“ galt, war bei solchen Kämpfen, in denen nur die eine Seite die Waffen nutzen konnte, ad absurdum geführt. Der Zivilist vermag sich nicht zu wehren, und die Luftabwehr, die solches für ihn übernehmen sollte, war längst zur Fata Morgana verkommen.

Wir bahnten uns den Weg zum Palais. Selbst dieses mitten im Großen Garten erbaute Gebäude war ausgebrannt. Nun gelangten wir rechts in die Hauptallee. Links davon liefen ein Lama und Kamele, die nach Futter suchten. Wir ahnten, auch der Zoo muss getroffen worden sein.15Als wir die untere Lennéstraße erreicht hatten, vernahmen wir verdächtige Motorengeräusche in der Luft. Die überreizten Nerven reagierten nun auf solche Schrecken verbreitende, schon gewohnte Laute sogleich. Nach wie vor deckten dichte Wolken den Himmel. Das Motorengedröhn ließ nicht nach. Wir durchschritten die Gellertstraße, überquerten die Wiener Straße und standen nun vor der zerstörten Bahnbrücke. Der Zugang zur Franklinstraße schien verwehrt, denn diese Bahnüberführung war von einer Sprengbombe getroffen und für Personen- und Güterzüge unpassierbar geworden. Die Träger lagen auf der einen Seite am Boden, auf der anderen aber oben an den Bahngleisen, so dass wir uns mit unseren wenigen Habseligkeiten mühsam unter den Trümmern hindurch winden konnten.

Der Motorenlärm verstärkte sich. Wir legten einen Schritt zu, denn die Nähe der Bahnanlagen war uns nicht geheuer. Intuitiv dachten wir an einen neuen Angriff. Wir erreichten noch den Zelleschen Weg. Das war damals ein in diesem Teil noch nicht bebautes Gelände, wie man es heute dort vorfindet. Wir hatten uns gerade bis zu jener Stelle vorgearbeitet, an der heute ein Bibliothekskomplex steht, als etwa 700 m westlich vor uns die Bomben sichtbar in die dort beginnenden Häuserreihen fielen. Wer versteht unsere helle Aufregung? Jeden Moment konnten sie auch bei uns einschlagen. Götz Bergander übersandte mir vor Jahren ein Luftbild vom Gelände der Südvorstadt, aufgenommen von einem US-Flugzeug. Am Vortage waren dort am Zelleschen Weg Sprengbomben niedergegangen. Wo bot sich auf freiem Feld irgendein Schutz? Rechts, 10-15 m entfernt, war eine Hecke, doch jetzt im Winter ohne Blattwerk. Wir kauerten uns in dieses Gebüsch, das keinen Schutz bot. Auf dem Boden liegend, ohne jegliche Deckung, die wenigstens ein Loch oder eine Vertiefung geboten hätten, vernahmen wir das Krachen der Bomben, dann auch aus anderen Stadtteilen. Das Motorengeräusch dauerte an. Wie später berichtet wurde, währte der eigentliche Angriff zehn Minuten, von 11:51 bis 12:01 Uhr, somit nicht länger als am Vortage. Diese Zeit ist uns dort auf dem gefrorenen Boden wie eine Ewigkeit erschienen. Was war geschehen?

Folgen wir Angaben, die Bergander16 zusammengetragen hat. Die 1. Division der 8. US-Luftflotte hatte den Auftrag erhalten, das Treibstoffwerk Böhlen anzugreifen. Es waren 210 „Fliegende Festungen“ (B-17 Bomber), begleitet von 141 Mustang-Jägern. Die Wetter-Pfadfinder meldeten, über Böhlen sei vollbedeckter Himmel. So wurde stattdessen das für diesen Fall vorgesehene Zweitziel, Dresden, angesteuert. Die Maschinen kamen aus dem Raum Oschatz, auf Südostkurs. Doch auch über Dresden war die Wolkendecke nicht aufgerissen. So mussten die Bombenschützen die Radargeräte betätigen. Viele Fehlwürfe waren die Folge.

Das eigentliche Ziel, Dresdens Bahnanlagen durch massierte Treffer endgültig lahmzulegen, wurde nicht erreicht. (Bei freiem oder wolkenarmen Himmel wäre unsere Nähe zu den Schienensträngen, die sich auf dem Zelleschen Weg unfreiwillig ergeben hatte, durch sehr nahe Einschläge vermutlich mit schrecklichen Erlebnissen verbunden gewesen.) Ein Teil der Bomben kam weit verstreut zu Boden, oft an völlig unerwarteter Stelle. Doch zu folgern, die Zerstörungen wären gering gewesen, ist wohl eine Untertreibung. Spürbare Schäden hatte es in der Südvorstadt gegeben, besonders in der Gegend um den Münchner Platz. Dort hatten wir eine halbe Stunde nach dem Angriff alles selbst vor Augen. In Plauen waren weitere Konzentrationen von Einschlägen festzustellen. Anderseits hatten Bombenwürfe besonders im Waldschlößchen-Gebiet (Neustadt) und auch auf Wohnviertel östlicher Stadtteile stattgefunden.

Eine Randnotiz ist zum Verständnis des Geschehens noch beizubringen. Die „Fliegenden Festungen“ (B-17 Bomber) waren von Nordwesten, teilweise auch von Westen auf die Stadt zugeflogen und hatten 11:51 Uhr die ersten Bomben geworfen. Vorher hätte somit von Motorengeräusch keine Rede sein können. Doch war solches bereits zu vernehmen, als wir uns auf der Höhe der Ilgen-Kampfbahn (Lennéstraße, heute: Rudolf-Harbig-Stadion) befanden. Bis zum Zelleschen Weg haben wir, trotz unserer Eile, noch 12 bis 15 Minuten durch die Trümmerwüste gebraucht. Wieso machte sich das Motorengedröhn bereits früher bemerkbar?

Einerseits könnte ein Teil der Mustang-Begleitjäger den Luftraum Dresdens schon früher erreicht haben. Es sollen sich einzelne Luftkämpfe mit deutschen Jägern im Raum Dresden abgespielt haben. Anderseits ergibt sich aus den Dokumenten, dass am gleichen Tag die 3. Division der 8. US-Luftflotte den Einsatzbefehl hatte, das Hydrierwerk in Ruhland, 60 km weiter nördlich, mit 459 B-17 Bombern anzugreifen. Die geplante Flugroute führte von Chemnitz südöstlich um Dresden herum nach Norden. Meines Erachtens haben die am nordwestlichen Rand dieses Bomberstroms fliegenden Maschinen im Stadtgebiet für deutliches Motorengedröhn gesorgt, denn der Zeitpunkt unserer Wahrnehmungen fällt präzis mit dem Verlauf des Flugs dieser 3. Luftdivision zusammen. Auch für sie kam das Erstziel mit Rücksicht auf die ungünstigen Wetterbedingungen nicht in Betracht. Man entschied sich dann, die Stadt Cottbus anzugreifen. Dort erreichte diese Bomberarmada eine immense Zerstörung von Bahnanlagen, aber auch vieler Wohngebiete. Als Angriffsbeginn hatte sich gleichfalls 11:51 Uhr ergeben. Somit wären diese viermotorigen „Fliegenden Festungen“ durchaus schon ungefähr 11:35 Uhr beim Flug am Rande Dresdens von uns zu hören gewesen.

Nachdem der Motorenlärm abgeklungen war und weitere Detonationen ausblieben, legten wir nun den Restweg zurück. Bald befanden wir uns in der Regensburger Straße. Doch hier und in der noch nicht bebauten Umgebung waren, wie schon angedeutet, eine halbe Stunde zuvor nicht wenige Sprengbomben niedergegangen, wie auch das mir von Götz Bergander übergebene Luftbild ausweist. Man zählt dort, wo heute das Wohngebiet in der Würzburger und Landsberger Straße, bis hin zur Regensburger Straße errichtet ist, begrenzt durch die Münchner und Nöthnitzer Straße, mindestens 30 Bombentrichter. Hätten wir am Morgen unseren Marsch durch Dresden früher begonnen, wären wir hier mitten in diesen Angriff geraten.

Der Kollege meines Vaters stand mit seiner Familie und anderen Bewohnern auf der Straße. Das Nachbarhaus hatte einen Treffer erhalten (250-lb-Bombe) und war zur Ruine geworden. Ich erinnere mich nicht mehr, ob Opfer zu beklagen waren. Auch die beiden anliegenden Wohnhäuser schienen so erschüttert worden zu sein, dass zunächst unklar war, ob man sie betreten konnte. Weitere Gebäude waren im Gebiet um den Münchner Platz stark in Mitleidenschaft gezogen, vor allem auch der Gerichtskomplex und Bereich der Technischen Hochschule. Unter diesen Umständen konnten wir nicht lange verweilen. Der Kollege meines Vaters geleitete uns dorthin, wo der Stadtplan den Straßenabschnitt Altplauen verzeichnet. Hier standen einige Lastwagen, und es wurden Getränke und belegte Brote verteilt. Das war die erste Nahrungsaufnahme, von den wenigen eingemachten Birnen und Kirschen abgesehen, die wir in unserem Keller vorfanden.

Nach kurzer Erholung gelangten wir durch die Bahnbrücke. In der Nähe des Bahnhofs Dresden-Plauen warteten einige „Holzvergaser“, die zum Bahnhof Freital fahren sollten. Wir „saßen auf“. So verließen wir am Nachmittag Dresden. Die damals noch nicht abgebaute Kleinbahn fuhr uns abends von Freital nach Nossen. Wie andere Ausgebombte kamen wir einige Zeit bei Bekannten, in ländlicher Umgebung dieser Kleinstadt, unter. Bis zum Kriegsende vergingen nun noch zwölf Wochen.

Als am Dienstag, den 17. April, amerikanische Bomber zum letzten Mal Dresden anflogen, um das Eisenbahnnetz durch eine gewaltige Bombenflut nachhaltig zu unterbrechen, geschah dies, obwohl die strategische Bomberoffensive der Alliierten bereits für beendet erklärt worden war. Offenbar sollte der Einsatz der unmittelbaren Unterstützung der Fronten dienen, die sowohl im Osten wie im Westen der zerstörten Elbmetropole weniger als 100 km entfernt verliefen.

Taylor17 meint, dieser offenkundig auf Ziele des von deutschen Truppen genutzten Eisenbahn-Knotenpunktes Dresden angesetzte amerikanische Luftangriff sei vielleicht der am meisten von allen zu rechtfertigende. Kam er zu dieser Schlussfolgerung, da er eine Übereinstimmung mit der Casablanca-Direktive (vergl. nächstes Kapitel) erkannte, die militärische Ziele und solche der Öl- und Rüstungsindustrie sowie des Transportwesens für Bombardierungen vorgab?

Nach dem letzten Angriff führte der Rückflug die „Fliegenden Festungen“ über Gebiete des Kreises Meißen. Wir beobachteten die Pulks, deren Maschinen ganz ungestört und geordnet am sonnigen Nachmittagshimmel über Nossen dahinzogen. Bergander18 berichtete, beim Anflug auf Dresden hätten diese Bomber eine Flughöhe von etwa 7000 m eingenommen. Über dem Nossener Gebiet, und die Erinnerung trügt mich nicht, waren die Bomber so deutlich in allen Umrissen zu erkennen, dass ich beträchtliche Zweifel habe, beim Rückflug war es auch eine solche Flughöhe.