Bombenhagel und unbezähmbarer Feuersturm
Ein Schlachten war’s,
Nicht eine Schlacht zu nennen!
(F. v. Schiller 1)
Fliegeralarm! Wir beiden Jungs waren gegen 21:30 Uhr zu Bett gegangen und hatten noch etwas von den Tagesereignissen erzählt, als plötzlich die Sirenen heulten. Das geschah zwanzig Minuten vor 22 Uhr. Ich entsinne mich noch genau an diesen Moment. Groehler2 behauptet, 21:15 Uhr sei Voralarm gegeben worden, doch weder habe ich einen solchen in Erinnerung, noch konnte ich bei anderen Autoren einen entsprechenden Hinweis finden. Schnell waren wir angekleidet und griffen nach den bereitstehenden Koffern, die wir bei solchen Anlässen mit in den Luftschutzkeller nahmen. Das alles hatte keine zehn Minuten gedauert, denn nach den Erfahrungen der letzten Monate, die erste Luftangriffe auf Dresden zeitigten, beeilten sich die insgesamt zwölf Hausbewohner, darunter ein Kleinkind, nun meist, umgehend den Keller aufzusuchen, im Gegensatz zum lässigen Verhalten früherer Jahre.
Wie bereits in einem vorhergehenden Kapitel erwähnt, hatte unser Hauswirt den Luftschutzkeller vorbildlich, entsprechend den damaligen Anforderungen und den baulichen Gegebenheiten, herrichten lassen. So wurde die Decke verstärkt und abgestützt. (Als das Haus nach dem zweiten Angriff niederbrannte, erwies sich die Kellerdecke des Hauses als äußerst solide gebaut, denn sie hielt der Last der einstürzenden Geschossdecken und Trümmer sowie den prasselnden Feuersäulen stand.) Entgegen vielen aus dem Luftkrieg herrührenden Berichten waren die Flammen des zusammenkrachenden Hauses nicht bis in den Keller gedrungen, wie wir am nächsten Morgen feststellten. (Wenn wir dies vorher gewusst hätten!) Stahlplatten schützten Kellerfenster und Notausgänge, eine durch Stahltüren gesicherte Schleuse war vorgeschaltet. Die vom Hauswirt vor dem Kriege getätigten Aufwendungen sollten sich nun in der nächsten halben Stunde, und dann erneut beim zweiten Angriff in dieser Nacht mehr als bezahlt machen.
Wer hätte annehmen können, in den uns umgebenden, in offener Bauweise errichteten Wohnvierteln sei mit einem Flächenbombardement zu rechnen? Wir hatten jahrelang nur eine ungenügende Vorstellung von der Intensität des Luftkrieges. Jetzt wurde, sah man von den beiden Angriffen ab, die am 7. Oktober 1944 und 16. Januar 1945 im Zentrum der Altstadt und im Westen Dresdens Hunderte von Opfern gefordert hatten, alles nachgeholt, was in anderen Großstädten längst zur allmählich unerträglichen körperlichen und seelischen Dauerbelastung geworden war. Immerhin, wir blieben seit einigen Monaten psychisch auf solche Ereignisse vorbereitet, denn die täglichen Meldungen über die bedrohliche Lage an den Fronten sowie über die sich auf andere Städte mehrenden, schwerstes Ausmaß annehmenden Bomberattacken gingen nicht spurlos an uns vorüber.
Wir waren „dünnhäutiger“ geworden. Persönliche Dokumente und Unterlagen, wertvolle Stücke, ausgewählte Fotos sowie Briefmarkenalben und anderes, hatten wir in einer Kiste im Keller verstaut. Die Badewanne leistete nun Dienste als Wasserspeicher. Dies in der naiven Annahme, wir würden bei Wassermangel auf diesen Vorrat zurückgreifen können oder ihn zum Löschen von Bränden benötigen. Doch Rollos, die der Verdunkelung dienten, sowie Gardinen waren an den Fenstern verblieben. Sie brannten dann nach dem zweiten Angriff wie Zunder, obwohl sie durch die ungeheuren Druckwellen der Sprengbomben, die alle Fensterscheiben zertrümmert hatten, zum großen Teil schon im Schutt am Boden lagen. Doch folgen wir dem Ablauf des ersten Angriffs chronologisch.
All die Jahrzehnte, die seit dem Dresdner Inferno vergangen sind, habe ich darüber gegrübelt, wie es den Meteorologen des Bomber Command in High Wycombe – westnordwestlich von London, zwischen Reading und Aylesbury gelegen – möglich war, am Vormittag des 13. Februar 1945 präzise vorherzusagen, die seit Tagen dichte Wolkendecke würde in der Nacht kurz vor 22 Uhr über Dresden für die Dauer von vier bis fünf Stunden aufreißen. Dies mache einen Angriff auf die Stadt mit Zielgeräten möglich. Hat man dies als Höchstleistung jener Wetterkundler zu werten oder verfügten die britischen Militärs über geheime Funkverbindungen zu Agenten auf dem Kontinent, die Wetterdaten übermittelten? War es vielleicht nur Zufall, wenn es dann nicht bei der geschlossenen Wolkendecke blieb? Auch diese Folgerung ist nicht auszuschließen, denn in einigen Fällen erwiesen sich solche meteorologischen Voraussagen als nicht zutreffend. Für Dresden kannten die Götter jedoch, wie man so sagt, an diesem späten Abend keine Nachsicht.
Gegen 22 Uhr kam Motorengeräusch auf, das sich rasch verstärkte. Solchen Fluglärm kannten wir seit dem Sommer 1944. Ein Hausbewohner hatte einen Spalt an der Haustür geöffnet und rief uns in heller Aufregung zu, draußen sei alles taghell erleuchtet. Nun wussten wir, es würde kein blinder Alarm sein. Ein jäher Schreck durchfuhr uns. (Nach Berganders3 gesicherter Dokumentation trafen die Erstmarkierer, zweimotorige Mosquitos, 22:03 Uhr im Luftraum über Dresden ein.) Bei der über der Stadt ungehindert fortschreitenden Zielmarkierung wurden auch im Osten der Stadt, bis nach Striesen und Blasewitz, „Christbäume“ gesetzt (über Dresden waren es insgesamt 925.4 Diese „Ausleuchtung“ muss wohl zugereicht haben, die gesamten Wohnbezirke der Altstadt und das Elbtal wie ein mit Flutlicht erhelltes Stadion aus der Höhe wahrzunehmen). Bei diesen Markierungen und den dann folgenden Bombenwürfen wurden die Mosquitos und auch die Lancaster-Bomber weder durch Flakbeschuss noch von deutschen Nachtjägern gestört, und auch später, beim zweiten Angriff, konnte von irgendeiner Abwehr keine Rede sein. Dresden war den Bombern völlig schutzlos ausgeliefert.
Bomber Command hatte in die Karte von Dresden, auf der die Ziele eingetragen worden waren, vom DSC-Stadion (Ostra-Gehege) aus, das als Zielmarkierungspunkt diente, einen Sektor gebildet, der im Wesentlichen die Innenstadt umfasste. Doch, wie sich dann zeigte, wurde der Angriff auch auf elbnahe Teile der Neustadt und in östliche Stadtbezirke, in Einzelfällen sogar darüber hinaus, ausgedehnt. Es ist anzunehmen, dass diese große Fläche bereits in der Planungsphase vorgemerkt worden war.
Bergander5 gab eine Karte mit dem Schadensgebiet wieder, das während der beiden Nachtangriffe entstand. Er meinte, beim ersten Angriff sind besonders jene Teile des Stadtgebietes heimgesucht worden, die innerhalb der Ringbahn (Straßenbahnlinie 26) lagen, im Osten durch Sachsenplatz, Güntzstraße, Stübelplatz (Straßburger Platz), Lennéstraße begrenzt. Es seien aber „etliche Bombenladungen“ bis hin nach Loschwitz, Blasewitz, Striesen und Reick gefallen, deren größte Abweichungen vom Zielsektor fast 5.000 m betragen haben. Zumindest die Bewohner von Striesen und Johannstadt werden die zahllosen Einschläge schwerlich nur als „Abweichungen“ aufgefasst haben, denn es hatte augenscheinlich eine systematische Bombardierung ihres Areals stattgefunden. Auch die Filmaufnahmen aus der Luft bestätigten diese Wahrnehmungen.
Nach meiner Auffassung ist dies ein Beleg dafür, dass schon im Planungsstadium nicht nur die Innenstadt, sondern auch angrenzende Stadtteile für die Bombardements vorgesehen worden waren, nicht, wie später behauptet, erst nach Entscheid des Masterbombers bei seinem Kontrollflug während des Angriffs auf Dresden. Das Johannstädter Krankenhaus wies die schweren Treffer beim ersten Angriff auf, und nicht wenige Opfer waren zu beklagen. Es entwickelte sich in den östlichen Wohnbezirken Striesen und Johannstadt kurz nach dem ersten Angriff an manchen Stellen bereits ein begrenzter Feuersturm. Dies sei hier vorweggenommen.
Fünf Minuten nach 22 Uhr gingen die Mosquitos zum Tiefflug über, um rote Markierungen über dem DSC-Stadion zu setzen. Inzwischen waren 235 viermotorige Lancasters – von allen in Europa eingesetzten Bombern konnten sie die größte Last tragen – aus Richtung Riesa, im direkten Anflug auf Dresden, kurz vor dem Ziel. Der Masterbomber gab Anweisung zum Bombenwurf. Es war nun 22:13 Uhr. Sogleich begannen die Bomben zu fallen, bei uns zunächst dumpf, dann aber immer lauter und zahlreicher aus der Stadtmitte zu hören. Es vergingen nur wenige Minuten, bis die Einschläge näher kamen, erst allmählich, dann unvermittelt.
Schon beim ersten Angriff fiel die unerwartet große Menge von 918 Sprengbomben, darunter 198 Luftminen des Kalibers 4000 lb oder 2000 lb, die berüchtigten „Blockbuster“ (Wohnblockknacker), sowie die ungewöhnlich große Zahl von 205.428 Stabbrandbomben.4 Luftminen und Sprengbomben wurden vornehmlich verwendet, um Gebäude zu schädigen, Dächer durch den gewaltigen Luftdruck abzudecken oder zu zerfetzen und auf diese Weise günstige Voraussetzungen für einen mit Brandbomben zu entfachenden Feuersturm zu schaffen. Die Sprengbomben trafen aber auch an vielen Stellen das Rohrnetz, vor allem viele Wasserleitungen, womit Löscharbeiten meist schon nach kurzer Zeit zum Erliegen kamen.
Ein solches Mischungsverhältnis von Spreng- und Brandbomben war wohldurchdacht, in Planungsspielen gründlich studiert und längst bei Angriffen auf andere deutsche Städte umfassend erprobt worden. Dabei war man nach der Methode „trial and error“ (Versuch und Irrtum) vorgegangen, und der Lerneifer, beim Vernichten deutscher Städte maximalen Fortschritt zu erreichen, steigerte sich mit den Jahren.
Dresden, mit seiner in der Innenstadt alten, auf Einbau von viel Holz gegründeten, in geschlossener Bauweise errichteten Gebäudesubstanz, bot für eine solche Menge von Brandbomben – beim zweiten Angriff sollte noch weit mehr als das Doppelte fallen – eine geradezu ideale Flammennahrung. Leitbilder für diese Art von Flächenbombardement waren die Großangriffe auf Hamburg und Kassel 1943 gewesen.
Das laute, entsetzliche Pfeifen und Rauschen der abgeworfenen Sprengbomben vernahmen wir nun plötzlich ringsum. Man hört die Bombenfracht – es sind die unvermittelt entstehenden extremen Geräusche – auf sich zukommen. Diese jähen Sinneseindrücke lösten bisher nicht gekannte Angst und Todesfurcht aus. Dieter Forte6, der dies auch alles in einer anderen Stadt durchgemacht hatte, hat diese Empfindung wiedergegeben „ …jetzt in der nächsten Sekunde kannst du tot sein…“ Die Abstände der Einschläge betrugen unversehens nur noch Sekunden. Jetzt lagen die Bombentreffer in unmittelbarer Nähe. Ohrenbetäubendes Krachen folgte in kurzen Intervallen. Und in des Wortes wahrster Bedeutung: der Boden wankte.
Wir hatten uns unwillkürlich hingehockt. Das Licht war längst erloschen. In diesem kaltes Entsetzen erregenden Lärm vernahmen wir hinter uns eine zitternde, leise Stimme: „Lieber Gott, vergib unseren Feinden!“ Es war Gustl, die Greisin aus der Mansarde. Sie saß auf einem Stuhl an der Innenwand. Einige Kellerinsassen wimmerten, andere stöhnten. Nun lernten wir sie kennen, „ganz Deutschland seufzte unter Kriegeslast“ (F. v. Schiller7). In der Angst war ich selbst so irritiert, dass ich nur auf die von den Bomben ausgehenden Geräusche fixiert schien. Jetzt ein besonders starkes Pfeifen. Und sogleich der Einschlag in allernächster Nähe. Die Detonation zerriss fast die Trommelfelle. Das Haus bebte, als wäre es getroffen. Und gleich danach ein noch massiverer Treffer. Es hob uns eine oder zwei Handbreit über den stark schwankenden Boden. Die Kellerinsassen schrien. Jetzt durchfuhr mich nur ein Gedanke: das ist das Ende!
Offenkundig hatte das Haus durch die gewaltigen Erschütterungen großen Schaden genommen. Ich war wie gelähmt und dachte, jeden Moment kann die Kellerdecke über uns einstürzen. Große Teile des Putzes hatten sich gelöst, es staubte mächtig. Da lagen, hockten oder kauerten wir, auf engstem Raum dem wilden Geschehen völlig hilflos ausgeliefert. Auch Hände heben oder das Schwenken einer weißen Fahne wäre ohne Nutzen gewesen. Einem Soldaten bleiben in ausweglosen Situationen vielleicht noch diese letzten Möglichkeiten.
Um Zivilisten im Bombenkrieg steht es sehr übel, denn für sie gilt das nicht. Für mich ist es jedem Zweifel enthoben, dass der enorme Luftdruck der beiden zuletzt erwähnten Sprengbomben (war eine Luftmine darunter?) lebensbedrohend gewesen wäre, hätte unser Hauswirt nicht die Stahlplatten vor den Fenstern und Ausgängen des Luftschutzkellers Jahre zuvor anbringen lassen. Sie haben uns in jenen Sekunden das Leben gerettet, da sie den ungeheuren Luftdruck minderten. Noch ein paar Einschläge, nach meiner „Ohren-Schätzung“ in der Augsburger-, Tittmann- oder Forsthausstraße, und dann wurde es allmählich ruhiger.
Das fast eine halbe Stunde lang beängstigend starke Dröhnen der Motoren, jetzt rasch schwächer werdend, verebbte schließlich. Alle atmeten erlöst auf: wir hatten überlebt und waren – soweit wir es wahrnehmen konnten – nicht verschüttet. Später habe ich mir oft vorzustellen versucht, wie erleichtert wir gewesen sein mussten. Wir hatten unsere Feuertaufe erhalten. Rekonstruiert man das Ganze an Hand der von Bergander3 gegebenen Dokumentation, dann ist unser Wohnbezirk ungefähr 22:20 bis 22:25 Uhr in das Visier der Bombenschützen geraten.
Es schien nun stiller zu werden. Wir wagten uns vorsichtig aus dem dunklen Keller. Draußen überraschte uns ein starker Funkenflug, der schon nach wenigen Minuten des Bombardements entstanden war, denn einige Häuser in der unmittelbaren Nachbarschaft brannten, wie auch im umliegenden Wohnbezirk. Die Flammen schlugen dort zum Teil auch aus Wohnungen der unteren Stockwerke. Der Wind hatte merklich aufgefrischt und trug die unzähligen Funken wie schwebende Glühwürmchen davon.
Am Haus bemerkten wir die beträchtlichen Schäden. Die Fenster waren herausgedrückt, auch fast alle Türen zu Bruch gegangen. Das Klirren der Fensterscheiben war offenkundig Teil des unvorstellbaren Lärms der Einschläge gewesen. Der Schutt lag in allen Zimmern fast 15 cm hoch. Die Zimmerdecken wiesen immense dunkle Flecken auf, denn der Putz hatte sich offenbar an vielen Stellen von den Deckenbalken gelöst. Einige Möbelstücke waren von dem gewaltigen Luftdruck plattgedrückt worden, Küchengeräte und Geschirr zerbrochen, Bilder von den Wänden gefallen. Überall lag eine dicke Staubschicht, auch auf den Betten. Vom Hof aus sah man die großen Lücken, die der Luftdruck ins Dach gerissen hatte. Schutt häufte sich meterhoch vor den Hauswänden.
Die im Hof gebauten Garagen, die der Hauswirt vermietet hatte, schienen bislang nicht zu brennen. Die dort abgestellten PKW waren wegen Benzinmangels jahrelang nicht genutzt worden, so dass wir annahmen, es gehe von ihnen keine Brandgefahr aus. Sah man die Löscherstraße und Teutoburgstraße hinunter, loderten Brände überall, doch war es bislang noch kein durchgängiges Feuermeer. Der lästige Brandgeruch verstärkte sich auffallend. Beißender Qualm reizte allmählich die Augen. Die Brandkulisse und der immer dichtere Funkenflug ließen die Furcht aufkommen, auch unser Haus könne wegen des zerstörten Daches und der hohlen Fenster bald Feuer fangen.
Die Hausbewohner waren in ihre Wohnungen geeilt. Zunächst vor Schreck wie gelähmt, wich das Entsetzen erst allmählich ein wenig, und jeder war bemüht, seine Habe zu sichern. Keiner dachte an einen weiteren Angriff von Bombern, war man doch gerade dem unerbittlichen Schicksal entronnen, das Tausenden Stadtbewohnern und vielen sich in Dresden aufhaltenden Flüchtlingen in Sekundenschnelle den Tod gebracht hatte. Unmäßig zunehmendes Funkengestöber, starker Brandgeruch und beißender Qualm scheinen aber Anlass gewesen zu sein, die wichtigsten Utensilien so bereitzustellen, dass wir das Grundstück nötigenfalls ohne Umschweife hätten verlassen können. Das am nächsten gelegene Haus in der Teutoburgstraße stand in Flammen. Von ihm und anderen Gebäuden ging ein mehr und mehr prasselnder Funkenstrom aus. Wir hätten einen entstehenden Brand – es gab keine Fenster und Türen mehr – kaum löschen können, denn es stand nur noch das Wasser in der Badewanne sowie ein wenig Sand im Hof zur Verfügung. So trugen auch wir unseren kleinen Handwagen vor die Haustür und bestückten ihn mit einem Handkoffer. Ich nahm ein Briefmarkenalbum, das unser Vater besonders schätzte, entfernte einen Teil der Marken und steckte sie in Umschläge. Dabei übersah ich in der Eile, dass wir manche unserer Kleidungsstücke wegen des sich verstärkenden Funkenfluges mit Wasser besprengt hatten. So waren viele in der Brusttasche gerettete Briefmarken dann doch beschädigt, da sie verklebten. Ich hätte stattdessen alles in der im Keller abgestellten Kiste belassen sollen. Doch, wer trifft in solchen Situationen die rechten Entscheidungen?
Inzwischen entdeckte ich in einem für Gartengeräte genutzten Abstellraum des Nachbargrundstückes, Senefelderstraße, das an die größere Garage unseres Hofes grenzte, einen im Entstehen begriffenen Brand. Offenbar rührte er von einer nicht optimal gezündeten, aber sprühenden Brandbombe her. Er konnte gelöscht werden, ehe er auf den Garagenkomplex übergriff. Das war unser einziger Erfolg bei der Brandbekämpfung.
Mittlerweile hatte der beginnende Feuersturm bereits erschreckende Ausmaße angenommen. Und das, obwohl nur jedes fünfte oder sechste Haus in Flammen stand. Auch brennende Stücke, größer als ein Buch, flogen durch die Luft, denn der Wind hatte sich zum heftigen Sturm entwickelt. Lästiger Rauch und durchdringender Brandgeruch behinderten allmählich das Atmen. Der dichte Qualm ätzte zunehmend die Augen.
Die Tochter des Hauswirts hatte sich in der Zwischenzeit bei Bekannten in einem Haus am Waldpark, Marschallallee (Händelallee), nach einer Möglichkeit umgesehen, mit ihrem Kleinkind, ihrer Mutter sowie der Schwiegermutter unterzukommen, denn dort waren noch keine Bombenschäden zu verzeichnen. Sie kam mit unserer Mutter überein, unsere Schwester, damals zehn Jahre alt, solle mitgehen. Auch dies war eine Entscheidung, die der mangelnden Erfahrung der Dresdner zuzuschreiben war. Hätten wir mit einem zweiten Angriff gerechnet, unsere Mutter wäre nicht zu diesem Entschluss gekommen, denn er sollte noch angstvolle Stunden zur Folge haben.
So verging die Zeit wie im Fluge. Der 14. Februar brach an und nahm nun seinen verhängnisvollen Verlauf. Es war jetzt in dieser Nacht bald ein Uhr. Wir beobachteten sehr kritisch die Entwicklung der Brände in der unmittelbaren Nachbarschaft. Bei einem solchen Kontrollgang im Hof hörte ich, von fern kaum wahrnehmbar, unerwartet Sirenen heulen: Vollalarm! Die strapazierten Sinne täuschten nicht: erneuter Fliegeralarm! Ich rannte ins Haus und rief allen zu: ich habe wieder Sirenen vernommen. Keiner wollte mir glauben. Doch es war keine Einbildung. Der Zeitpunkt des Alarms ist nicht übereinstimmend dokumentiert: 1:05 oder 1:07 Uhr.9 Im bereits bombardierten Stadtgebiet funktionierten die Alarmanlagen nicht mehr. So waren es wohl Sirenen aus den Stadtteilen Tolkewitz oder Loschwitz gewesen.
Wenn schon kein Hausbewohner entsprechend reagierte, so schien wenigstens die Botschaft in die Hirne gelangt zu sein. Meine Nachricht vom Alarm wurde wohl als Überreaktion abgetan, unter den gegebenen Umständen durchaus verständlich. Denn mehr als eine Viertelstunde lang ereignete sich tatsächlich nichts anderes als das bisherige Drama. Doch dann hörten wir plötzlich stark anschwellendes Motorengeräusch – wie ging diese Wahrnehmung doch damals wie ein Blitz durch den Körper, denn die Markierer trafen 1:20 Uhr ein. Meine Hinweise auf den erneuten Alarm bestätigten sich nun.
Die ersten Bombeneinschläge waren bald darauf deutlich zu hören (1:30 Uhr ist als Beginn des Abwurfs ausgewiesen9). Aufgeschreckt rannten wir unversehens in den dunklen Luftschutzkeller, doch waren es offenbar jetzt einige Personen weniger als beim ersten Angriff. Wer achtete dabei auf die anderen Hausbewohner? Unsere Schwester befand sich noch in jenem Gebäude am Waldpark, wohin sie mit der Tochter des Hauswirts geeilt war. Doch hatten alle anderen Hausbewohner den Keller aufgesucht? Was mag unsere Mutter von diesen Minuten an durchgestanden haben? Zum Grübeln blieb jedoch keine Zeit. Wieder näherten sich die Einschläge beängstigend schnell. Und sehr häufig hörte man Geräusche, die wie ein lautes „Klick“ oder „Klack“ klangen. Dies scheinen die unzähligen Brandbomben gewesen zu sein, die nun durch die Dächer in die Wohnungen „rieselten“, denn ihre Zahl war bei diesem Angriff für Dresden auf 443.158 ausgelegt, eine verteufelte Menge, um den vor drei Stunden ausgelösten Feuersturm unvorstellbar anzufachen, und dies nicht nur in der Stadtmitte.
Dieser zweite Angriff5 brachte das Inferno in weiten Teilen der Stadt auf einen nicht auszudenkenden Höhepunkt. Er war absichtlich von Bomber Command angesetzt, um begonnene Löscharbeiten zu unterbinden und die Intensität der Brände auf ein nicht gekanntes Maß zu steigern, kurzum als Mittel vorausberechnet, Dresden als Großstadt ohne jegliche Rücksicht auf die Einwohner sowie die sich in der Stadt aufhaltende große Zahl von Flüchtlingen im wahrsten Sinne des Wortes einzuäschern. Nun übertraf es die Bombentonnage des ersten Angriffs bei weitem, und beide Bomberattacken, zusammen mit den sich an den folgenden zwei Tagen vollziehenden Luftangriffen amerikanischer Bomber, erwiesen sich als das umfassendste konventionelle, ein riesiges Feuermeer bewirkende Bombardement auf dem europäischen Kriegsschauplatz.
Den 524 von Westen anfliegenden Lancaster war als Zielpunkt der Altmarkt vorgegeben. Dichter Qualm und Rauch erlaubten meist keine Sicht, und so luden die Besatzungen ihre Bombenfracht auch über Gebieten ab, die gar nicht im Blickfeld waren. Die Bomberpulks trafen nacheinander ein, wobei zunächst die Stadtteile Löbtau und Friedrichstadt im Westen, dann die Südvorstadt, doch bald Johannstadt und Striesen sowie der „Große Garten“ und daran angrenzende Wohnbezirke betroffen waren. Es fielen 356 „Wohnblockknacker“ („Blockbuster“) vom Kaliber 4000 lb (einer sogar doppelt so schwer), was die Gesamtzahl solcher Luftminen bei beiden Angriffen auf 529 brachte.11 Man kann sich kaum vorstellen, welchen Schaden sie hervorgerufen haben und wie viele Menschen gerade durch diese schweren Luftminen umkamen, zerfetzt und zerstückelt. Auch von den „kleineren Wohnblockknackern“ (2000 lb) fielen immerhin 127 herab, gar nicht zu reden von mehr als 1.000 weiteren Sprengbomben unterschiedlichen Kalibers.
Nun waren wir in einen andauernden Schreck- und Angstzustand versetzt worden. Merkwürdig: was macht den Körper so widerstandsfähig gegen solch unerhörte plötzliche Strapazen? Es wiederholten sich jetzt Abläufe, die wir drei Stunden zuvor schon erlebt hatten. Doch fielen die Sprengbomben in unserem Wohngebiet nicht mehr so häufig wie beim ersten Angriff, nur einzelne noch in unmittelbarer Nähe. Die Brände wurden aber durch den Abwurf unzähliger Stabbrandbomben straßenweit zur Massenerscheinung.
Zunächst merkten wir es noch nicht, da wir wegen des starken Motorengeräusches und der Bombeneinschläge in den Luftschutzkeller „verbannt“ waren. Doch drang nun der starke Brandgeruch zusehends auch bis dorthin vor. Dieses Mal dauerte das Bombardement 25 Minuten. Es waren der Luftflotte somit zehn Minuten mehr an Zeit als beim ersten Angriff gegeben. Sie wurden opulent genutzt, um eine gewaltige Bombenlast auch dieses Mal unbehelligt zu Boden zu bringen. Selbst unbebaute Gebiete, wie der einschließlich des Zoos annähernd zwei Quadratkilometer Parkfläche umfassende „Große Garten“, waren Ziel von Bombenteppichen, mit grauenvollen Auswirkungen. Denn in dieses Gebiet hatten sich viele Bewohner und Flüchtlinge nach dem ersten Angriff gerettet. Wir konnten es mit eigenen Augen einen Tag später wahrnehmen, als uns unser Marsch nach Dresden-Plauen durch diese Todeshölle führte: der „Große Garten“ war zur blutigen Schlachtbank mit einer Unzahl dort auf grausame Weise Umgekommener geworden.
Die Tänzerin Gret Palucca10 versuchte nach dem zweiten Angriff, nachdem das von ihr und anderen Bürgern bewohnte und mit einquartierten Flüchtlingen belegte Haus an der Bürgerwiese von einer Sprengbombe getroffen worden war, dann den Großen Garten zu erreichen. In einem erschütternden Bericht gab sie ihre dabei erlebten Eindrücke wieder. Jahre später lasen wir diese Zeilen und fanden dabei unsere eigenen Erlebnisse beim Gang durch den zerbombten Großen Garten, nur 36 Stunden später, vollauf bestätigt.
Nach bangen vierzig Minuten verstummte das Motorengedröhn. Von Bombeneinschlägen war fast nichts mehr zu hören. In der Literatur ist von vielen Zeitzünder-Bomben die Rede. Wir wussten, dass bei Luftangriffen davon rigoros Gebrauch gemacht wurde. Doch ist uns solch eine fatale Begegnung zum Glück erspart geblieben. Als wir aus dem Keller kamen, schlug uns an der zerborstenen Haustür ein warmer, sehr zügiger Luftstrom entgegen. Der Funkenflug hatte nun schon unvorstellbare Ausmaße erreicht, der Wind sich zum tosenden Orkan entwickelt. Ein Blick nach draußen genügte, um zu erkennen, „Flackernd steigt die Feuersäule“ (Schiller12) ringsum in allen Häusern.
Wie wir am nächsten Morgen lernten, war davon nur eines ausgenommen: unser Nachbarhaus, Löscherstraße 8. Doch nahmen wir das in diesem Moment nicht wahr, da die Flammen aus der davor erbauten Garage loderten. Wir blickten am Haus nach oben. Aus den Fensterhöhlen aller Wohnungen schlugen meterweit breite Feuerzungen. Viele vor der Haustür abgestellte Koffer und Körbe waren gleichfalls in Brand geraten. Auch an unserem kleinen Handwagen, mit dem Koffer darauf, züngelten erste Flämmchen, die wir aber sogleich eindämmen konnten. Intuitiv hielten wir nach Phosphor Ausschau, von dem wir soviel gehört, aber kaum eine Vorstellung von der Substanz hatten. Doch nahmen wir hier und anderswo solche Brandauslöser nicht wahr. Die erhitzte Luft machte das Atmen schwer. Der Funkenstrom peitschte nun entsetzlich. Man stand wie in einem pausenlosen Feuerregen. Der Orkan verstärkte sich noch, von den unzähligen Bränden pausenlos genährt. Unserer Mutter und uns beiden Jungs blieb keine Zeit für lange Überlegungen. Der Feuersturm hatte sein Vernichtungswerk schon bedenklich weit vorangetrieben. Aus den Wohnungen war nichts zu retten. Zugängliches Löschwasser gab es nicht.
Schnell fassten wir den einzig sinnvollen Entschluss: hier hilft nur der unverzügliche Aufbruch, und dies in der Hoffnung, im Waldpark, an der Elbe oder noch weiter draußen dem Flammenmeer und der nun auch in unserem Wohngebiet stärker aufkommenden Luftnot zu entweichen. Wir brachen mit dem Handwägelchen auf. Überall lagen brennende Holzteile, Strauchwerk, Mauerreste und sonstiger Unrat herum, durch die ungeheure Wucht der Detonationen dorthin gelangt.
Unsere Mutter war in großer Sorge um unsere Schwester. In der Senefelderstraße hatten sich Feuersäulen in sämtlichen Häusern gebildet. Auch der Königsheimplatz bot ringsum diese grausige Brandkulisse, bis hinein in die Schubertstraße. Selbst das „Weiße Schloss“, am Eingang der Marschallallee (Händelallee), war getroffen worden. Die Flammen schlugen aus den Fenstern. Wir gingen auf die Marschallallee (Händelallee) zu. Da sahen wir, dass auch das Haus am Waldpark, wo sich unsere Schwester befinden sollte, in den oberen Stockwerken Feuer gefangen hatte. Der Schreck war groß, doch lähmte er nicht den Versuch, weiterzukommen. Wir bogen in den Waldpark ein, was viele Leute taten. Im vorderen Teil hatten die Sprengbomben gewütet und wie bei einem Orkan Bäume kreuz und quer zu Fall gebracht. Es gab überall Bombentrichter. Auch hier vermuteten wir Zeitzünder-Bomben. An ein Durchkommen war nur zu denken, wenn man alle verbliebenen Kräfte in Anspruch nahm. So brauchten wir bis zum Lothringer Weg wohl mehr als eine halbe Stunde.
Doch der zweite Teil des Waldparks lag offenbar ungestört da, fast wie im Frieden. Wir strebten nun zum Schillerplatz, wussten wir doch, dort ist ein öffentlicher Luftschutzkeller, denn im gleichen Haus betrieb unser Hauswirt sein Tabakgeschäft. Wir fanden diesen Bereich ohne Häuserschäden, zumindest schien es uns so im fahlen Licht, das die Brände im Stadtgebiet auch hier weit draußen trotz der Dunkelheit hergaben. Der besagte Keller war nicht überfüllt, und so konnten wir uns hier niedersetzen. Die zunehmende Erschöpfung forderte ihren Preis. Es mag gegen drei Uhr gewesen sein.
Bis zum Morgen haben wir uns dort aufgehalten, mehr oder weniger vor uns hin dösend, denn die aufgeputschten Nerven nahmen noch wahr, wenn andere Leute kamen oder gingen und sich unterhielten. Die Luft war sehr aufgeheizt, der penetrante, sich von Stunde zu Stunde enorm verstärkende Brandgeruch überall außerordentlich lästig. Und dann ständig der ätzende Schmerz in den Augen. Auch das Durstgefühl nahm rapid zu. Über den Straßen hingen riesige Wolken von Qualm, und es wirbelten Fetzen von Papier und Lumpen herum. Doch war am Schillerplatz das Atmen nicht so beschwerlich wie zuletzt in unserem Wohnviertel. Wir hatten nur eine große Sorge: wo ist unsere Schwester geblieben? Offenbar war sie mit den dortigen Hausbewohnern zur Elbe geflüchtet. Dieser Gedanke ließ uns hoffen.
Gegen acht Uhr am Morgen brachen wir auf, um nach unserer ausgebrannten Wohnung zu sehen und gegebenenfalls dort auch unsere Schwester vorzufinden. Es war inzwischen hell geworden, doch hatte sich eine dichte, relativ dunkle und tiefe Wolkenschicht über Dresden gelegt. Der Funkenregen hatte hier draußen, in Blasewitz, weitgehend nachgelassen, der Brandgeruch war geblieben. Wieder zogen wir mit unserem kleinen Handwagen los, der uns noch durch ganz Dresden begleiten sollte. Als wir in der Residenzstraße (Loschwitzer Straße) waren, ungefähr dreihundert Meter vor dem Königsheimplatz, kam uns unsere Schwester von dort entgegen. Selten haben wir wohl ein solches Gefühl der Freude gehabt. Unserer Mutter fiel ein großer Stein vom Herzen. Die ganze Not dieser Stunden schien nun weniger auf uns zu lasten. Und als wir in der Löscherstraße das Haus erstmals als Ruine vor uns sahen, war gewissermaßen der erste Abschnitt der Tortur beendet. Doch man vergisst es auch im hohen Alter nicht: noch immer sehe ich uns dort entgeistert vor den Überresten des Gebäudes eine Weile stehen.
Schnell fanden wir heraus, dass der Keller den Flammen wider Erwarten standgehalten hatte. Das überraschte uns sehr. Auf dem Boden des Erdgeschosses schwelte es noch hier und da, doch hatte das Feuer in den wenigen Stunden alles in Schutt und Asche gelegt. Zwischendecken der Stockwerke gab es nicht mehr, das Dach war verschwunden. Nur die Außenwände standen noch, mit den Aussparungen für die Fenster. Doch man konnte auf der steinernen Haustreppe noch bis fast in das erste Stockwerk emporsteigen, die Flammen hatten hier keine Nahrung gehabt. Wo waren all die Möbelstücke und Einrichtungsgegenstände geblieben? Als hätte sich alles in Luft aufgelöst, denn die wenigen verkohlten Reste erwiesen sich von minimalem Umfang. Wir tasteten uns in den Keller vor. In unseren Regalen standen, seit langem dort als Reserve verblieben, ein paar Gläser mit eingemachten Birnen und Kirschen. Jetzt war ihre Zeit gekommen. Der Saft diente nun dazu, den stark brennenden Augen ein wenig Linderung zu bringen und den großen Durst ein wenig zu löschen. Trinkwasser war nicht vorhanden.
Draußen blickten wir uns um. Die Häuser des Wohnviertels hatten sich zu Ruinen gewandelt. Wie ein Wunder erschien uns das offenbar fast unbeschädigte Nachbarhaus, sieht man davon ab, dass die Fensterscheiben zu Bruch gegangen und wohl auch geringe Schäden zu verzeichnen waren. Später zeigte sich, es stand hier als weit und breit einziges erhalten gebliebenes Gebäude.
Nun, es gab nichts mehr zu tun, wir verschlossen den Keller und zogen uns mit unserer kärglichen Habe wieder zum Schillerplatz zurück. Dort hatte sich herumgesprochen, eine nahe gelegene Schule sei ein erster Anlaufpunkt für Ausgebombte. Doch wimmelte es dort von Menschen. In diesem Durcheinander stießen wir auf Bewohner von Nachbarhäusern. Auch die Familie meines Schulfreundes, die in der Marschallallee alles verloren hatte, trafen wir an. Wir kehrten um. Unsere Mutter meinte, wir sollten zunächst den öffentlichen Luftschutzkeller am Schillerplatz wieder aufsuchen und dort ein wenig ausruhen. Anschließend wollten wir nach Bekannten in Dresden-Plauen Ausschau halten und dann die Stadt verlassen. Es war nun annähernd 11 Uhr. Wir begaben uns in den besagten Keller, waren aber so erschöpft, dass wir den ganzen Tag und die folgende Nacht schliefen.
So gut wie nichts haben wir deshalb in unserem Notquartier von dem am Mittag dieses Tages über Dresden niedergegangenen Angriff von 311 amerikanischen „Fliegenden Festungen“ (B-17 Bombern) erfahren, der nur dreizehn Minuten dauerte, aber mehr als 1.800 Sprengbomben und 136.800 Stabbrandbomben dem Inferno der vorhergegangenen Nacht hinzufügte.13 Keiner von uns hatte Sirenengeheul oder das Dröhnen der Motoren vernommen. Von Bombenteppichen im Westen Dresdens war die Rede, als einige Leute den öffentlichen Luftschutzkeller am Nachmittag aufsuchten.
Folgen wir späteren Angaben: Der Angriff hatte 12:17 Uhr begonnen, bei einem zum großen Teil bewölkten Himmel. Rauchschleier behinderten die Sicht der Bombenschützen an ihren Geräten. In den nächsten Minuten konnte bei nun geschlossener Wolkendecke nur noch mit Radar gezielt werden. Dadurch gab es dann einen verstreuten, aber dennoch konzentrierten Bombenabwurf. Die letzten Bomben fielen 12:30 Uhr. Besonders der Stadtteil Friedrichstadt war davon betroffen, vor allem der Verschiebebahnhof, doch auch das umliegende Wohngebiet und einige kleinere Fabrikanlagen. Bombenteppiche fielen auch in Löbtau und Plauen, und die Neustädter Seite war, bis hin nach Pieschen, nicht ohne Schäden davongekommen. Dieser Angriff hatte somit vornehmlich den Westen der Stadt heimgesucht und der Schreckensbilanz neue Opfer hinzugefügt. Deutsche Jäger waren aufgestiegen. Im Raum Dresden fanden aber nur wenige Luftkämpfe statt.
So hatten wir zunächst auch noch keine Kenntnis von sich mehrenden mündlichen Berichten, auf den Elbwiesen und im Großen Garten seien die sich dort aufhaltenden Ausgebombten und Flüchtlinge von Tieffliegern beschossen worden. Diese Nachrichten erhitzen seit diesem Tag bis heute die Gemüter. Sie haben mit der Zeit scharfe Kontroversen ausgelöst, denn viele Dresdner, die das Inferno überlebten, haben hierzu etwas zu sagen, und nicht wenige geben an, sie seien dabei gewesen, als es geschah. Somit verwundert es nicht, wenn sich solche Angaben auch in der Literatur wiederfinden. Von einigen anderen werden dagegen diese Tieffliegerangriffe bestritten.
Bergander18, der sich bemühte, Beweise für solche Attacken in Aufzeichnungen und Dokumenten der amerikanischen Luftflotte zu finden, weist darauf hin, es habe ein Luftkampf über dem Elbtal zwischen einigen deutschen und amerikanischen Jagdmaschinen stattgefunden. Dies könnte seiner Auffassung nach von den dort auf den Elbwiesen weilenden Menschen irrtümlicherweise für einen Tieffliegerangriff gehalten worden sein. Und es gibt weitere Autoren, die abstreiten, es habe Angriffe einer größeren Anzahl von Tieffliegern gegeben (Fleischer und Hänchen17, u. Bürgel15,16).
Von Helmut Schnatz, der Dresdens Untergang aber nicht selbst erlebte, wurde sogar ein Buch allein zu diesem Thema veröffentlicht, von vielen überlebenden Dresdnern bei einer Buchlesung des Autors empört zur Kenntnis genommen. Schnatz gab an, die Maschinen hätten zu wenig Treibstoff gehabt, um solche Angriffe zu fliegen. (Immerhin führten sie Zusatztanks mit sich, und so konnten sie sich in Luftkämpfe, auch in Bodennähe, verwickeln lassen – sie waren ja prinzipiell Begleitjäger der Bomberarmada –, womit das Argument, der Treibstoff habe für Tiefflüge nicht ausgereicht, ins Wanken gerät.)
Die Aufnahmen der Zielkameras, mit den Maschinengewehren gekoppelt, hätten solche Attacken nicht ausgewiesen. Und in den Protokollen des langen Fluges sei in keinem Falle solches vermerkt worden. Die Berichte der überlebenden Dresdner müsse man der damaligen nervlichen Anspannung zuschreiben. Bürgel14,15 sowie Fleischer und Hänchen16 haben den aktuellen Stand der Recherchen erläutert und zusammengefasst.
Nun, Tieffliegerangriffe waren schon 1944, vor allem in den westlichen Landesteilen, eine Schrecken verbreitende Erfahrung. Viele Zivilisten sind dabei umgekommen, auch wenn vordergründig militärische Ziele und Verkehrswege im Visier waren. Ich habe nach den Dresdner Angriffen von Mitte Februar bis Kriegsende in der Nähe von Nossen viele Attacken amerikanischer und sowjetischer Tiefflieger miterlebt, zum Teil im Straßengraben, während des 4 km langen Schulweges vom Dorf in die Stadt oder bei anderen Gelegenheiten. Die Piloten machten wenig Unterschied zwischen Militär und Zivilisten. Auch wusste in der Schlussphase des Krieges jeder, Tiefflieger würden zu dieser Zeit alles ins Visier nehmen, das vor die Rohre kommt. Da wundert es nicht, wenn die Frage gestellt wurde: ausgerechnet in Dresden, das gerade einem überaus martialischen Vernichtungswillen zum Opfer gefallen war, soll man sich Zurückhaltung auferlegt haben?
Doch aus einzelnen Wahrnehmungen entstanden damals leicht Erzählungen und Legenden, die an Dramatik nichts zu wünschen übrig ließen. Auf der anderen Seite ist zu den Tieffliegerattacken meines Erachtens festzuhalten: wenn sie die behaupteten Verluste unter den dort versammelten Menschen hervorgerufen haben, hätte man dann doch auf den Elbwiesen mit einer bedeutenden Zahl an Opfern rechnen müssen, wie wir sie noch am nächsten Tag z. B. in der Fürstenstraße (Fetscherstraße) und im „Großen Garten“ zu Hunderten (vermutlich sind es Tausende gewesen!) liegen sahen. Nach meiner Kenntnis hat aber niemand über solche von Tiefflieger-Angriffen herrührenden „Leichenberge“ berichtet.