Die Casablanca-Direktive und die Realität des Luftkrieges

C’est plus qu’un crime, c’est une faute.
(Das ist mehr als ein Verbrechen, das ist ein
Fehler.)

(Talleyrand, C.-M. de. 1)

Am 13. Dezember 1939 – der II. Weltkrieg währte bereits dreieinhalb Monate, wurde aber von den Briten als „phoney war“ („Sitzkrieg“) empfunden – hatte das zur Störung der gegnerischen Handelsschifffahrt in den Südatlantik beorderte deutsche Panzerschiff Admiral Graf Spee Gefechtsberührung mit drei britischen Kreuzern, Exeter, Ajax und Achilles. Diese von Commodore Henry Harwood geleitete Kampfgruppe war, neben weiteren Kriegsschiffen, ausgesandt worden, um das von Kapitän zur See Hans Langsdorff geführte deutsche Panzerschiff aufzuspüren. Es hatte in den ersten Monaten des Krieges schon neun Handelsschiffe versenkt.2 Der sich rasch nähernden Graf Spee gelang es, den schweren Kreuzer Exeter außer Gefecht zu setzen. Doch erhielt sie selbst 19 Treffer, wodurch 36 Männer der Besatzung fielen und 63 verwundet wurden. Zudem war die Seetüchtigkeit des Schiffes gemindert, so dass sich Langsdorff entschloss, den sich in Reichweite befindenden neutralen Hafen Montevideo anzulaufen, um dort die volle Gefechtsbereitschaft wieder herzustellen.

Die Regierung des Staates Uruguay gestattete aber nur einen Aufenthalt von höchstens 72 Stunden, vor allem auf britischen diplomatischen Druck hin. In dieser kurzen Zeit waren weder die Schäden zu beheben noch konnte die Munition ergänzt werden. Es bestand auch Grund zu der Annahme, die britische Kampfgruppe sei mittlerweile verstärkt worden. So erging, offenbar auf Vorschlag von Langsdorff, aus dem Oberkommando der Kriegsmarine der Befehl, das Schiff in der La Plata-Mündung zu versenken, um es nicht in britische Hände fallen zu lassen. Die Besatzung wurde interniert. Der Kommandant nahm sich das Leben. Er konnte den Verlust des Schiffes nicht verwinden. Diese Handlungsweise gebot ihm sein Ehrgefühl. Vielleicht bedrückte ihn auch der Gedanke, während des Gefechts am 13. Dezember den taktischen Fehler begangen zu haben, wie Winston Churchill3 meinte, bei Beginn der Seeschlacht nicht genügend Abstand zu den gegnerischen Schiffen gehalten zu haben, was seiner überlegeneren Schiffsartillerie eine Weile größere Vorteile verschafft hätte.

Derselbe Winston Churchill, damals Erster Lord der britischen Admiralität, brachte seine Hochachtung zum Ausdruck, hatte doch Langsdorff beispielgebend darauf hingewirkt, sinnloses Blutvergießen zu vermeiden. Diese ehrenvolle Entscheidung wird ihm in unserer Zeit hoch angerechnet. Sie zeugt von Verantwortungsgefühl für die ihm anvertraute Besatzung sowie achtbarem, ritterlichem Verhalten eines Offiziers, auch gegenüber den vollzählig geretteten Besatzungen der versenkten gegnerischen Handelsschiffe.4:5

Die Besatzungen der von der Admiral Graf Spee versenkten Schiffe waren zunächst an Bord genommen und dann dem mit ihr im Südatlantik operierenden Versorgungsschiff Altmark übergeben worden. Diesem gelang die Rückfahrt durch den Atlantik, doch musste sie Zuflucht in norwegischen Hoheitsgewässern suchen, denn Winston Churchill hatte dem Kommandanten des britischen Zerstörers Cossack befohlen, die Altmark dort zu entern und die britischen Gefangenen an Bord zu nehmen. Bei dem Handgemenge starben vier Mann der Altmark-Besatzung. Dieses Unternehmen erregte damals, wegen des Eindringens in norwegische Hoheitsgewässer, große Aufmerksamkeit.

Diese Episode über das Aufeinandertreffen der gegnerischen Seestreitkräfte, das damals für großes Aufsehen sorgte, wird von mir hier in die Darlegungen über die Dresdner Luftangriffe eingeflochten, um zu verdeutlichen, wie sich die Kampfhandlungen während der langen Kriegszeit beispiellos auswuchsen. Im sechsten Jahr der nun längst weltweiten Auseinandersetzungen hatten sich die überkommenen Vorstellungen vom Kriegsgeschehen beträchtlich gewandelt.

Adolf Hitler begann schon Ende 1940, die politischen und militärischen Führungsgremien darauf einzustimmen, der nunmehr bevorstehende Kampf mit dem Bolschewismus werde ein radikaler sein, wie man ihn bisher nicht kannte. Gewohnte Regeln des Kriegshandwerks seien dann als überholt anzusehen. Hitler durchdachte die Folgen einer Störung des europäischen Gleichgewichts völlig unzureichend, denn sonst hätten ihm bald Zweifel am eigenen aggressiven Streben kommen müssen. Bedenken derjenigen, die ungeheure Gefahren heraufziehen sahen, wurden in den Wind geschlagen. Doch hieß es schon in der Antike, und es ist im Gedankengut bewahrt: Quidquid agis, prudenter agas, et respice finem (Was auch immer du tust, handle klug und bedenke das Ende). Ein solcher Grundsatz erhielt im II. Weltkrieg ein besonderes Gewicht. Und für jemanden, der einen Staat lenkt, sollte diese Maxime oberstes Gebot sein!

Der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, wurde schon frühzeitig beauftragt, Einsatzgruppen zu bilden, denen dann Sonderaufgaben obliegen würden, wie man die für das Hinterland besetzter Gebiete vorgesehenen „Säuberungsaktionen“ sorgsam umschrieb.6 All diese intern verkündeten Maßnahmen standen im eklatanten Widerspruch zu den Grundsätzen der Kriegsführung und des Völkerrechts.

Als dann der Einmarsch in die Sowjetunion begann, offenbarte der Vernichtungskampf ein bisher nicht gekanntes Ausmaß an Brutalität. Sondereinheiten hatten in Polen schon zu Beginn des Weltkrieges die Bevölkerung drangsaliert, doch nun war aus den Auseinandersetzungen ein unerbittlicher Kampf zweier Staaten mit gegensätzlichen Weltanschauungen geworden. Mindestens seit der Schlacht vor Moskau (Ende 1941), noch mehr aber nach der deutschen Niederlage in Stalingrad (1. Februar 1943), offenbarten die strategischen und taktischen Entscheidungen des Führerhauptquartiers oft auch wenig Rücksichtnahme auf die eigenen Truppen. Und die deutsche Zivilbevölkerung hatte schon Mitte des Krieges mit Schrecken zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Alliierten mittlerweile dazu übergegangen waren, die deutsche „Heimatfront“ als eine „Hauptkampflinie“ für ihre stetig an Umfang und Bombenlast zunehmenden Luftflotten anzusehen. In den deutschen Städten produzierte man allenthalben Waffen und schuf somit die Voraussetzungen für die Wehrfähigkeit des nationalsozialistischen Staates.

So stellte sich Bomber Command auf die Vernichtung eben jener Wehrbasis ein. Diese Strategie beruhte auf den schon von Guilio Douhet, General der italienischen Luftstreitkräfte, 1921 in seinem Buch Il dominio dell’ aria und dann darauf auch vom britischen Luftmarschall Hugh Trenchard formulierten Gedanken, in einem vollindustrialisierten Krieg würde die Herstellung von Waffen entscheidend sein. Die Rüstungsbetriebe und die Wohnstätten der „Produzenten“ zu zerschlagen, müsse somit besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Von dieser Douhet-Trenchard-Doktrin hatte man sich leiten lassen und rechtzeitig an den Aufbau einer für strategische Aufgaben geeigneten Bomberflotte gedacht. So verfügten die Briten schon nach wenigen Kriegsjahren über leistungsfähige viermotorige Bomber, vor allem über die berüchtigten Lancaster und Halifax, in den USA gab es die B-17 (Flying Fortress) und B-24 (Liberator), an denen es der vor allem für taktische Aufgaben vorgesehenen deutschen Luftwaffe wegen bedeutungsschwerer Fehlentscheidungen gebrach. Und dies, obwohl man auch in den deutschen politischen und militärischen Gremien früh erkannte, in einem künftigen Krieg sei das Hinterland als „Kampfzone“ zu betrachten, eben wegen der Produktion von Militärtechnik. Dann würde sich der Unterschied zwischen Soldaten und Zivilisten verwischen.7 Somit spiegelte das folgende makabre Wortspiel den Ernst der Lage für die „Volksgenossen“ durchaus zutreffend wider.

Früher war die Renaissance-Zeit,
Jetzt ist die reene Angst-Zeit
.

Mittlerweile überforderte der Mehrfrontenkrieg zunehmend die begrenzten Ressourcen des Deutschen Reiches und der noch besetzten Gebiete, zumal man das den Gegnern auf Dauer zur Verfügung stehende und wachsende Potential an Rohstoffen, Waffen, Streitkräften sowie intellektueller Kapazität von Anbeginn an äußerst leichtfertig unterschätzt hatte. Dies im eitlen Dünkel, der deutsche Mensch sei anderen geistig und körperlich überlegen. Rechtzeitig eine die Städte vor dem zunehmenden Bomberstrom ausreichend schützende Luftabwehr aufgebaut zu haben, war schon Mitte des Krieges als Illusion zu werten, an die man sich selbst in höchsten Führungsstellen trotz des riesigen Ausmaßes der Zerstörungen auch weiterhin klammerte, verblendet von den Erfolgen der frühen Kriegszeit. Für die Bevölkerung taten sich aber angesichts der unergründlichen Vielfalt von Möglichkeiten die Abgründe der Vernichtung auf, schließlich der Kriegsfurie in einem Inferno doch noch zu erliegen.

Das seit Mitte Mai 1940 von Winston Churchill geleitete britische Kriegskabinett und die führenden Militärs der Royal Air Force, vor allem ihr Chef, Luftmarschall Charles Portal, vertraten schon früh die Auffassung, man könne und müsse die deutsche Bevölkerung durch den Luftkrieg zermürben und gegen Hitler aufbringen (moral bombing). Entsprechend diesen Vorstellungen, die dann aber der Realität nicht entsprachen, war man bei Bomber Command, von Februar 1942 bis Kriegsende unter dem Befehl von Luftmarschall Arthur Travers Harris (er ist in den Geschichtsbüchern als „Bomber-Harris“ vermerkt), seit 1942 und dann 1943 verstärkt zum Flächenbombardement dichtbesiedelter gegnerischer Gebiete übergegangen.

Somit sollte nicht mehr nach Wohnungen, Industriebetrieben, Kirchen, Schulen, Krankenhäusern und anderen Bereichen der jeweiligen Orte unterschieden werden. Rücksicht auf die deutsche Bevölkerung wurde nun nicht genommen, obwohl man noch im sechsten Kriegsjahr von britischer und amerikanischer Seite im In- und Ausland stets ausdrücklich hervorhob, die Einsätze der Bomber gelten nur militärischen Objekten, Industrieanlagen und Verkehrszentren. Dieser eklatante Widerspruch ist nicht zu verdrängen.

Doch hatte der Propagandaminister, Dr. Josef Goebbels, am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast lautstark den totalen Krieg ausgerufen, wobei seine Worte unter viel zustimmendem Getöse der geladenen Zuhörer fast untergingen. Der dreieinhalb Jahre zuvor von Berlin aus entfesselte Weltkonflikt war nun, um den Krieg von deutscher Seite doch noch zu gewinnen und das „Tausendjährige Reich“ zu festigen, in die Phase mutwilliger Massenvernichtung übergegangen. Bei den Gegnern hatte oberste Priorität, die Kampfhandlungen so rasch wie möglich, unter Schonung der am Boden kämpfenden eigenen Truppen, mit dem Sieg über das Regime Hitlers zu beenden. Logischerweise schloss dies nun auch radikale Lösungen im Bombenkrieg ein.

Schon im Frühjahr 1943 und letztlich von der Konferenz in Jalta (4.-11. Februar 1945) war von den Alliierten deshalb verkündet worden, es gäbe keine Verhandlungen mit dem Hitler-Regime. Nur die bedingungslose Kapitulation käme in Betracht. Für Hitler scheint vor allem diese grundlegende Entscheidung seiner Gegner der Auslöser gewesen zu sein, alle Brücken hinter sich abzubrechen. Bereits im Herbst 1944 hatte er begonnen, die Taktik der „verbrannten Erde“ für jene deutschen Gebiete zu befehlen, die nun von feindlichen Armeen nach und nach besetzt wurden. Den Gegnern sollte nur ein riesiges Trümmerfeld überlassen werden. Doch überschlugen sich bald die Ereignisse, und so steigerte sich Hitlers Zerstörungsmanie ins Unermessliche. Für ihn galt als unumstößliche Maxime, das deutsche Volk habe sich im Heldenkampf zu bewähren.8 Nicht die Beendigung der angesichts vielfacher Übermacht nunmehr sinnlosen Feindseligkeiten, sondern der Kampf bis zum Untergang, der in seiner Art ein grandioser sein sollte, dem auch das Volk nicht ausweichen könne, das war seine für den Abgang von der Weltbühne bestimmende Wahnvorstellung. Die Macht des Schicksals schien für die „Volksgenossen“ in seiner Person verkörpert.

Dem entsprach Hitlers Irrglaube, ihm werde in letzter Minute ein Zerwürfnis der Alliierten zu Hilfe kommen, wie es 183 Jahre zuvor seinem Vorbild, Friedrich II., im Siebenjährigen Krieg nach dem Tod der Zarin Elisabeth, widerfahren war. Damals rettete den preußischen König letztlich der Umstand, dass der nachfolgende Zar, Peter III., den Preußen zugeneigt war und sich mit ihnen sogleich verbündete. Doch wenige Monate darauf fiel er einer Verschwörung zum Opfer. Katharina II., die nun das Regime in Russland übernahm, kündigte zwar sogleich diesen Bündnisvertrag, ließ aber die russischen Truppen am Kampf nicht mehr teilnehmen. Konnte es nicht sein, dass sich nun, im Frühjahr 1945, die Westalliierten von der Sowjetunion distanzierten und gemeinsam mit den Deutschen gegen die Roten Armeen angingen? Die bittere Realität offenbarte eine andere Entwicklung.

Hitlers Rüstungsminister, Albert Speer, seit einiger Zeit in zunehmend kritischer Haltung zu all den zur Zerstörung der wirtschaftlichen Basis eingeleiteten verhängnisvollen Maßnahmen, hatte im letzten Kriegsjahr mehrfach in Denkschriften und bei mündlichem Vortrag ernste Bedenken geäußert. Er war der Meinung, durch die Vernichtung aller Grundlagen des Überlebens gerate das deutsche Volk in eine bedrohliche Lage. Auch sei der Krieg verloren, da die nötigen Ressourcen für die Waffenproduktion zu Ende gingen. Doch Hitler wehrte ab. Er war, wie manche seiner Funktionäre auch, sogar der Auffassung, der Bombenkrieg hätte dazu beigetragen, die Bausubstanz der Vergangenheit zu beseitigen, so dass nach dem Sieg mit dem Aufbau solcher Städte unverzüglich begonnen werden könne, die der Zukunft des „Tausendjährigen Reiches“ würdig seien.

Insgeheim arbeitete Speer den Befehlen entgegen und trug dazu bei, dass ein Teil der Industrie-, Versorgungs- und Verkehrsanlagen als Basis für den Wiederaufbau bewahrt blieb, wenn auch mitunter arg beschädigt. Anfang Februar 1945 erfuhr er von Friedrich Lüschen, der die deutsche Elektroindustrie leitete, Hitler habe zwanzig Jahre zuvor in Mein Kampf Gedanken formuliert, die seinem jetzigen Handeln völlig zuwiderlaufen würden. Denn dort könne man nachlesen, die Aufgabe der Diplomatie sei es, dafür Sorge zu tragen, dass eine Nation nicht heroisch untergeht. Alles müsse getan werden, sie zu erhalten. Würde dies nicht befolgt, müsse man eine solche Unterlassung als einen kriminellen Akt betrachten. Und an anderer Stelle habe er ausgeführt, wenn eine Staatsautorität die Bevölkerung in die Vernichtung treibt, sei eine Rebellion nicht nur Recht, sondern auch Pflicht der Bürger.9 Diese Hinweise auf Hitlers eigene Worte, die seinem Handeln nunmehr völlig widersprachen, bestärkten Speer in seinen Aktionen, dem sogenannten Nero-Befehl Hitlers vom 19. März 1945, die wirtschaftlichen Grundlagen im zuletzt verbliebenen deutschen Staatsgebiet systematisch zu zerstören, noch stärker entgegen zu wirken.10

Als Vergeltung für die verschärfte Kriegslage beschlossen die Alliierten zwei Jahre vor der deutschen Niederlage eine neue Strategie für den weiteren Luftkrieg. Anfang 1943 hatte auch die amerikanische Luftflotte von den Britischen Inseln aus begonnen, Angriffe gegen Ziele in Deutschland und in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten zu unternehmen. Die alliierten Kommandostellen befolgten von nun an offiziell die als Casablanca-Direktive bezeichnete Richtlinie vom 4. Februar 1943. Sie wurde jedoch später mehrfach ergänzt und geändert. Mit dieser Direktive war vorgegeben, das militärische, industrielle und ökonomische System der Deutschen zu zerschlagen und die Widerstandskraft der deutschen Bevölkerung zu schwächen. Als Prioritäten für Luftangriffe galten folgende: U-Boot-Häfen, Flugzeugindustrie, Transportwesen, Treibstoffwerke und andere Ziele der Kriegsindustrie.11

Von Angriffen auf Wohngebiete, vom Flächenbombardement, war offiziell nicht die Rede. Die britische und amerikanische Öffentlichkeit wurde bis zum Februar 1945 von ihren Regierungen in der Auffassung bestärkt, die Luftangriffe würden, entsprechend den Vorgaben der Casablanca-Direktive, ausschließlich militärischen und industriellen Objekten sowie Verkehrsanlagen gelten.

Auf Drängen des Premierministers, Winston Churchill, der den weitreichenden Vorschlägen seiner zivilen Berater folgte, hatte Bomber Command aber im Laufe der Kriegsjahre die Strategie der völligen Vernichtung deutscher Städte nicht nur als theoretische Erwägung, sondern auch in der Praxis zu einer nie gekannten Perfektion gebracht. Den Verantwortlichen schienen die Flächenbombardements das geeignete Mittel zu sein, sowohl die Rüstungsindustrie zu zerschlagen als auch den Wehrwillen der Bevölkerung zu brechen. Große Teilbereiche von Städten regelrecht auszulöschen, erfüllte somit solche internen strategischen Vorgaben. Die dabei unvermeidlichen zahlreichen Opfer unter der Zivilbevölkerung wurden bedenkenlos in Kauf genommen. Die Bomberflotten waren sogar, in Vorbereitung und bei Beginn der Invasion im Frühjahr und Sommer 1944, auf Ziele in der Normandie und im französischen Hinterland eingesetzt, wobei Zehntausende Franzosen ums Leben kamen.

Lange Zeit herrschte die Auffassung vor, man könne die Deutschen durch die Luftangriffe gegen Hitler aufbringen. Doch zeigte sich, die Menschen waren zuallererst um das Überleben, aber nicht um Aufstände bemüht. Die geschickte Goebbelssche Propaganda schob die Schuld den Alliierten und nicht Hitler zu, abgesehen davon, dass der Machtapparat des Staates jegliche Erhebungen brutal zunichte gemacht hätte. Es galt das Kriegsrecht (wie auch bei den Alliierten!), und es war bekannt, dass die Gestapo und der Justizapparat des Dritten Reiches jeglichen Widerstand unverzüglich zu brechen wussten. Hatte man das bei der Planung des moral bombing unterschätzt?

Am Beispiel Hamburgs führte man den Deutschen dann Ende Juli, Anfang August 1943 unmissverständlich vor Augen, welch gewaltige Macht künftig gegen die Städte und damit ihre Bewohner eingesetzt werden würde. Wie hatte sich doch die Art der Kriegsführung in diesen wenigen Jahren gewandelt! Diese Nichteinhaltung der Casablanca-Direktive war lange Zeit weder in Großbritannien noch in den USA Gegenstand öffentlicher Diskussion, von mutigen Einwänden einzelner Persönlichkeiten abgesehen. Diese sahen darin eine Abkehr von der bisherigen Art, das Kriegsgeschehen zu lenken, auch wenn früh bekannt wurde, dass von deutscher Seite aus die Bewohner der besetzten Gebiete unterdrückt, vielerorts zu Zwangsarbeit genötigt sowie einige Bevölkerungsgruppen, die schließlich Millionen von Menschen ausmachten, aus ideologischen Beweggründen verfolgt und als „Untermenschen“ eingestuft und der physischen Vernichtung anheim gegeben wurden. Juden und Sowjetbürger zahlten dabei einen nach Millionen zählenden Blutzoll, doch nicht nur sie.

Doch gab es während des Krieges und in den Jahrzehnten danach in Großbritannien und den USA eine Anzahl Stimmen, die besonders die Flächenbombardements der letzten Kriegsphase als Massenvernichtung brandmarkten. Der Untergang Dresdens hat diese Stimmen dann beträchtlich anschwellen lassen. Taylor12 verweist auf kritische Beiträge, die während des Krieges im Londoner Unterhaus oder in anderen Gremien zu Gehör gebracht wurden. Und in der Nachkriegszeit mehrten sich die Vorwürfe. Hierfür sind die Ausführungen von R.H.S. Crossman (1963) ein typischen Beispiel.13 Sechs Dezennien nach Kriegsende kam der britische Philosoph und Historiker A.C.Grayling14 (2006) in einer umfassenden Analyse zu dem Schluss, das systematische Flächenbombardement habe man als schweres Kriegsverbrechen einzustufen. Zu dieser bemerkenswerten Aussage gelangte auch der Philosoph Lothar Fritze in seinem Band Die Moral des Bombenterrors (2007).

Im Laufe meiner beruflichen Tätigkeit begegnete ich im September 1986, anlässlich eines von mir an der Universität Rostock geleiteten Symposiums, Mrs. Marylouise Cowan aus Southport, Maine (USA), die mit einem Fachkollegen aus den USA an dieser wissenschaftlichen Veranstaltung teilnahm. Erst Jahre danach erfuhr ich gelegentlich eines mit ihr über Dresden geführten Gedankenaustausches (Mrs. Cowan hatte die Stadt besucht), ihr 1985 verstorbener Gatte, Howard Cowan, sei 1945 als Kriegskorrespondent für Associated Press (AP) tätig gewesen. Kurz nach den Dresdner Luftangriffen hatte er in den Alliierten Stäben für helle Aufregung gesorgt. Durch ihn gelangten Angaben aus einem „Briefing“ (Information der Kriegskorrespondenten) vom 16.Februar 1945, beim Alliierten Hauptquartier in Paris, auf dem das wirkliche Ausmaß des Bombenkriegs ungeschönt zur Sprache kam, am nächsten Morgen erstmalig in die führenden amerikanischen Zeitungen. Und das blieb in den restlichen Kriegswochen nicht ohne beachtliche Auswirkungen auf die öffentliche Meinung sowie die Überlegungen mancher für das Flächenbombardement verantwortlichen Politiker und Militärs.

Howard Cowan gab später im Staate Maine (USA) ein Wochenblatt, The Boothbay Register heraus. Anlässlich des 40. Jahrestages von Dresdens Untergang war in der Ausgabe vom 21. Februar 1985, die mir vorliegt, sein ausführlicher Beitrag über jenes „Briefing“ enthalten, das am 16. Februar 1945 beim Obersten Hauptquartier der Alliierten Expeditions-Streitkräfte (Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force) in Paris abgehalten worden war. Hier informierte RAF-Commodore C.N. Grierson über die alliierten Luftangriffe der letzten Tage. Im Gegensatz zu den verschleiernden offiziellen Mitteilungen der Alliierten, wonach es sich im Falle Dresdens um ein routinemäßiges Bombardement gehandelt habe, das vor allem der Zerstörung dieser Stadt als Verkehrszentrum dienen sollte, brachte Grierson15 u. a. folgendes zum Ausdruck: Man habe sehr sorgfältig geprüft, wie man die schweren Bomber gegen die Großstädte einsetzen könne. Und wörtlich sagte er dann:

Die Wirkung der schweren Angriffe auf Bevölkerungszentren sei immer zuallererst gewesen, die Deutschen zu veranlassen, Bahnladungen mit Hilfsgütern zur Unterstützung heranzuschaffen und die ausgebombte Bevölkerung zu anderen Orten zu bringen. Jetzt stützt sich diese Form der Hilfe in großem Maße auf rasche und zuverlässige Kommunikation zwischen den großen Städten im Innern Deutschlands, so dass die Zerstörung nicht nur Kommunikationszentren, sondern auch Städte, aus denen die Unterstützung kommt und die Evakuierten hingebracht werden, zweifellos Operationen sind, die wesentlich zum Zusammenbruch des ökonomischen Systems beitragen.

Auf die Frage, ob Bombenterror jetzt die neue strategische Linie sei, gab Grierson zur Antwort, die Angriffe erfüllten zwei Zwecke. Einerseits richten sie sich vor allem gegen die Verkehrszentren, denn man wolle hinter der sowjetischen Front Störungen des Verkehrs und der Versorgung schaffen, um den deutschen Truppennachschub zu stören. Zum anderen habe das Auswirkungen auf die Wirtschaft und auf die verbliebene Moral der Bevölkerung.

Das späte Eingeständnis, bei diesen Bombardierungen ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung vorgegangen zu sein, war denn offenkundig in den USA eine die Öffentlichkeit schockierende Nachricht. So wurde Cowans Bericht zunächst vom Zensor abgelehnt, aber nach Cowans Protest dann doch zugelassen und am nächsten Morgen von den großen Zeitungen der USA auf den Titelseiten gedruckt. Er fand beachtlichen Widerhall in der amerikanischen Bevölkerung. Hatte man doch bislang den offiziellen Angaben Glauben geschenkt, die Luftangriffe würden sich stets gegen Ziele richten, die von der Casablanca-Direktive vorgegeben waren.

Bezeichnenderweise hatte Winston Churchill den britischen Medien sogleich untersagt, Cowans Beitrag in Großbritannien zu publizieren. Großen Unwillen löste Cowans Nachricht in den militärischen Hauptquartieren der Alliierten aus. Die Combined Field Press Censorship Group16, offenbar die für Zensoren vorgesetzte Dienststelle des Hauptquartiers, erließ einen Tag später eine vertrauliche Anweisung an die Zensoren, in der es hieß, Howard Cowans Pressemitteilung sei irrtümlich genehmigt worden. Zugleich wurden alle Zensoren informiert, Cowans Bericht sei völlig falsch und hätte nicht bestätigt werden dürfen (!). Er erwecke den Eindruck, das alliierte Luftwaffen-Kommando habe beschlossen, „Terror bombing“ deutscher Städte auszuführen. Es sei aber die Politik der Alliierten, nur militärische Ziele zu bombardieren.

Im Übrigen bestritt man von sowjetischer Seite stets, die Angriffe wären auf Wunsch Stalins geflogen worden. wie von westalliierter Seite nachdrücklich behauptet und auch vom Biographen Winston Churchills, Martin Gilbert17, später vermerkt. Doch scheint es bis heute hierzu keine schriftlichen Beweise zu geben. Es verwundert daher nicht, dass Winston Churchill keinen Kommentar zu Dresdens Zerstörung in die sechs Bände aufnahm, mit denen er den Verlauf des II. Weltkrieges aus seiner Sicht auswertete und dabei seinen immensen persönlichen Einfluss auf das Kriegsgeschehen zum Ausdruck bringen wollte.18

Taylor19 beschrieb, welche Auswirkungen Howard Cowans Beitrag in den letzten Kriegsmonaten auf Entscheidungen der Alliierten gehabt habe. Er kam zu dem Schluss, Cowans Artikel sei auf alliierter Seite einer der größten Propagandafehler des Krieges gewesen (!). Offenbar wirkte auch im Jahr 2004, als Taylors Buch erschien, die Aufregung noch nach, dass der Unmut über das Flächenbombardement nun nicht nur der deutschen Propaganda angelastet werden konnte, sondern sich auch in den eigenen Reihen unterschwellig ausweitete. Cowans Bericht sei eine Hilfe für Goebbels gewesen. Der Begriff „terror bombing“, stets tabu für die Allgemeinheit in den USA und Großbritannien, sei erst durch diesen Beitrag in die dortige Öffentlichkeit gelangt. Auch Irving20 äußerte sich zu den Folgen des AP-Berichts von Howard Cowan.

Abgesehen davon, dass sich die Verantwortlichen nun zu ausweichenden Erklärungen veranlasst sahen, verlas der Abgeordnete Richard Stokes vierzehn Tage später den Beitrag Howard Cowans im britischen Unterhaus, was tiefe Eindrücke bei den Abgeordneten, Ministern und den Militärs hinterließ. Winston Churchill sah sich schließlich gefordert, die Strategie der Luftangriffe zu überdenken. Jetzt kamen ihm, aber viel zu spät, ernste Bedenken, die forcierte Vernichtung deutscher Städte würde die Basis für den Wiederaufbau in der Nachkriegszeit sowohl in England wie in Deutschland schmälern. Steckte er, der als Premierminister im Kriege aus seinem unerbittlichen Hass gegen die „Huns“, wie die Deutschen seit langem genannt wurden, kein Hehl machte, nun zurück? Winston Churchill war vom Charakter her sehr wandelbar und anpassungsfähig. Wohl sich vollauf bewusst, welche Last die Verantwortung für das seinerzeit von ihm initiierte moral bombing schließlich ausmachen würde, legte er General Hastings Ismay und dem Chef der Royal Air Force, Charles Portal, seine nun grundlegend geänderte, eine Abkehr vom bisherigen Denken widerspiegelnde Auffassung in einem Memorandum dar.21 Darin kamen zwei Sätze vor, die jedem Dresdner, der das Inferno überlebte, zu denken geben müssen: „Die Zerstörung von Dresden bleibt eine ernste, unangenehme Frage im Hinblick auf das alliierte Bombardement. Ich bin der Meinung, dass von nun an militärische Ziele strenger in unserem Interesse anstatt dem des Gegners geprüft werden müssen“.

Hatte er vergessen, wie Cowan damals schrieb, dass er es war, der Ende Januar 1945 die Royal Air Force und die amerikanische Luftflotte zur Vernichtung Dresdens gedrängt hatte, als die Gipfelkonferenz in Jalta (4.-11. Februar 1945) unmittelbar bevorstand? Kein Wunder, dass es Winston Churchill in seinen sechsbändigen Kriegserinnerungen wohlweislich vermied, auf Dresdens Untergang zu sprechen zu kommen. Die führenden Militärs der Royal Air Force, besonders Charles Portal – er und Bomber-Harris hatten das Flächenbombardement deutscher Städte stets nachdrücklich befürwortet – fühlten sich durch dieses Memorandum offenbar unter Druck gesetzt, die Verantwortung für das moral bombing zu übernehmen. Sie wiesen das Schriftstück daher energisch zurück, worauf Churchill ein gemäßigteres verfasste. (Wie Taylor22 mitzuteilen weiß, kamen wohl Bomber-Harris nach dem Krieg dann im hohen Alter Bedenken zum Flächenbombardement. So meinte er, aus der Rückschau wäre vielleicht der Plan, frühzeitig die Hydrierwerke zu vernichten, keine so abwegige Idee gewesen.)

Nichtsdestotrotz ging die bisherige Art des Bombenkrieges bis Mitte April weiter. Nicht jeder verstand, weshalb man sich noch zu den schweren Angriffen z. B. auf Pforzheim, Swinemünde, Würzburg und Potsdam sowie weitere Städte entschied, die außerordentlich hohe Verluste unter der Zivilbevölkerung hervorriefen. Da war der Krieg bereits in seine allerletzte Phase getreten und dauerte nur noch wenige Wochen oder, für manche Gebiete, sogar nur noch einige Tage. Hatte Winston Churchill vergessen, was er Jahre zuvor an Hanns Langsdorff, dem Kommandanten der „Admiral Graf Spee“, so schätzte? Musste dieses sinnlose Blutvergießen noch sein?

Längst war das grauenerregende Finale auf dem europäischen Kriegsschauplatz eingeläutet, doch die noch verbliebenen deutschen Städte boten offenbar der stete Auslastung suchenden Bomberkapazität, bei merklich nachlassender, aber bis zuletzt spürbarer Abwehr, noch ein reiches Betätigungsfeld. Taylor23 verweist darauf, für die Ausstattung der Bomberflotten, das Training der Besatzungen, die umfangreiche Planung und Verwaltung seien außerordentliche Kosten entstanden, hatte man doch den Bombenkrieg schließlich zur Perfektion gebracht. Er meinte, das Flächenbombardement war zur Gewohnheit, sogar zur Sucht geworden (!).

Taylor zitierte W. G. Sebald, der zum Ausdruck brachte, es wäre gegen jeden ökonomischen Instinkt gewesen, die Flugzeuge und ihre Bombenfracht untätig auf den Rollfeldern stehen zu lassen. Dies alles sollte helfen, die restliche Kriegszeit zu verkürzen, was dann auch weitere Opfer vermeiden würde. Es bleibt aber eine offene Frage, ob die Fortführung der Luftangriffe zu einem wesentlich früheren Zusammenbruch des Hitler-Regimes geführt hat.

Die Abwehr der Bomber war jedoch im März/April 1945 kaum noch der Rede wert. Im Luftkampf dominierten nur noch einzelne Düsenjagdflugzeuge. Die angloamerikanischen Bomberflotten flogen ihre Bahnen im Wesentlichen ungehindert.