Vorboten kommenden Unheils

And coming events cast their shadows before.

(Und kommende Ereignisse werfen ihre Schatten voraus.)

Thomas Campbell (1812)1

Die zunehmende Dauer des Krieges brachte in allen Lebensbereichen immer schwerer lastende Einschränkungen mit sich. Die Industrie war weitgehend auf Rüstungsproduktion umgestellt. Konsumgüter, Kleidungsstücke und persönliche Utensilien unterlagen der Zuteilung, und mit den Jahren verringerte sich das Warenangebot merklich. Auch viele Wünsche, die Heranwachsende zu haben pflegen, blieben unerfüllt, gar nicht zu reden von den allmählich zurücktretenden kulturellen Belangen, dem Erwerb von Büchern entsprechend den Interessengebieten sowie von anderen geistigen Bedürfnissen. Esswaren gab es nur auf Lebensmittelkarten, von einigen Gemüsearten in den ersten Kriegsjahren abgesehen.

Im Geschäft Forsthaus - Ecke Teutoburgstraße – dort bezogen wir die meisten Nahrungsmittel – wurde dann während des Sommers manches zusätzlich angeboten. Auf der Tafel las man bisweilen, mit Kreide in deutscher Schrift geschrieben: Kollerabi blau; grüner Sallad. Quantität und Qualität der Lebensmittel entsprachen aber immer weniger den Anforderungen an eine gesunde Ernährung. Durch die wirren Umstände jener Jahre wurden wir allmählich, ohne es zu wollen, auf die sich zuspitzende Lage „getrimmt“. Doch bis in den Spätsommer 1944 kannten die Einwohner Dresdens den Bombenkrieg nur vom Hörensagen, abgesehen vom häufigen Sirenengeheul bei Vor- und Fliegeralarm.

Gleichwohl war vielfache Kunde über unzählige Opfer, immense Zerstörungen und unsägliche psychische Belastungen auch bis in die Elbestadt gedrungen. Mancher konnte sich durch eigene Reisen zu Verwandten nach West- und Süddeutschland an Ort und Stelle ein Bild von der fortschreitenden Vernichtung der Städte machen. Ausgebombte – ein neugeprägter Begriff des Luftkrieges – und Evakuierte trugen ihre Erlebnisse als Erinnerung an das Grauen mit sich und gaben ihre Eindrücke an die „Volksgenossen“ der noch nicht betroffenen Gebiete weiter. Welche Szenen der Verwüstung sieht man an seinem geistigen Auge vorüberziehen, bedenkt man allein die Zahl der Angriffe auf Großstädte: zum Beispiel Essen 272, Düsseldorf 243, Köln 262, Hamburg 213, Duisburg 299.2

Nach den Großangriffen auf Hamburg im Juli/August 1943 rechneten die Behörden mit ähnlich massiven Bombenattacken auf Berlin. Doch die Bausubstanz der Reichshauptstadt widerstand den Versuchen, sie durch ausgedehnten Feuersturm vehement niederzubrennen. Vorsorglich wurden dort und in Westdeutschland im Sommer 1943 viele Kinder, alte Menschen und nicht erwerbstätige Bürger evakuiert, fast ein Viertel der Bevölkerung. Auch unsere Großeltern verließen Berlin-Friedenau und kamen auf dem Lande bei Verwandten in Ostbrandenburg unter.

Bereits zu diesem Zeitpunkt war absehbar, dass die Luftverteidigung nicht mehr in der Lage sein würde, die an Umfang rasch zunehmenden Bomberströme von ihren Zielen abzuwehren. Die gänzliche Vernichtung deutscher Städte schien nur noch eine Frage von Monaten zu sein. Hitler, der die Auswirkungen des Bombenkrieges offenbar erst wesentlich später kennen lernte (im November 1944, bei der Fahrt durch Berlin, als das Führerhauptquartier bei Rastenburg/Ostpreußen aufgegeben werden musste), hatte offenbar keine rechte Vorstellung von der wirklichen Lage der Bombengeschädigten. So meinte er auf Bedenken des für die Rüstungsproduktion zuständigen Ministers, Albert Speer, er sei sicher, man könne es trotz allem schaffen. Doch wider Erwarten ließen die Briten keine gleichschweren Luftangriffe auf andere Städte unmittelbar folgen. So gewann Speer Zeit, die Rüstungsproduktion zu forcieren.3

Zu dieser Zeit waren bereits weite Landstriche Europas von den Kampfhandlungen sowie durch rigorose Ausbeutung der eroberten Länder verwüstet worden. Millionen Menschen der besetzten Gebiete mussten über Jahre Zwangsarbeit leisten, meist unter sehr unwürdigen Bedingungen. Der Propagandaminister, Dr. Josef Goebbels, hatte am 18. Februar 1943 den totalen Krieg verkündet, und seitdem wurden den „Volksgenossen“ rasch zunehmende Entbehrungen auferlegt. So rückten der Feuersturm in Hamburg (Juli/August 1943) und die sich in kurzen Abständen wiederholenden Angriffe auf westdeutsche Städte, auf Berlin und weitere Zentren, den Bombenkrieg auch den Menschen in Sachsen näher, denn er nahm nun für Mitteldeutschland nach und nach verheerende Formen an.

Im Zuge der sich verschärfenden Bomberattacken auf die Hydrierwerke im Gebiet Halle-Leipzig, des Lausitzer Beckens sowie des Sudetenlandes war Dresden jetzt im Aktionsbereich alliierter Luftflotten. Auch hatte sich, trotz der absichtlich völlig unzureichenden Information über Verlauf, Auswirkungen und Opfer des Luftkrieges längst der Eindruck erhärtet, bei den Angriffen werde keineswegs vor der Vernichtung von ausgedehnten Wohnbezirken zurückgeschreckt. Die „Strategie der verbrannten Erde“, erprobt an vielen Fronten, war nun erklärtes Ziel von Bomber Command für das deutsche Hinterland geworden, und das bedeutete die Zerstörung der Lebensbereiche in den deutschen Städten.

Was hatten wir im Vorfeld der tragischen Dresdner Ereignisse an eigenem Erleben des Bombenkrieges aufzuweisen? Bergander4 hat eine Liste der in Sachsens Hauptstadt während des II. Weltkrieges ausgelösten Fliegeralarme zusammengestellt. Vom 28./29. August 1940 bis zum 13. Februar 1945 heulten die Sirenen 175 Mal. Bis dahin hatten die Dresdner schon die Luftangriffe am 7. Oktober 1944 und 16. Januar 1945 überstanden, abgesehen von jenem auf Freital am 24. August 1944. Und bis Kriegsende gab es dann noch 123 Mal Alarm und weitere schwere Luftangriffe. In den ersten Jahren waren von manchem Dresdner die vom Luftkrieg drohenden Gefahren unterschätzt worden. So kam für die Stadt der Begriff „Reichsluftschutzkeller“ auf, der aber auch anderswo zu hören war, zum Beispiel in Breslau. In der Zeit vor dem 24. August 1944, dem Tag des Angriffs auf Freital, fielen in Dresdens Umgebung nur vereinzelt Bomben. Schon im September 1940 gingen, wie Bergander5 berichtet, bei Meißen zwei Sprengbomben nieder, am 20. Oktober dann drei auf einem Acker bei Bühlau, nahe Stolpen. In den Folgejahren blieben solche zufälligen Bombenwürfe jedoch aus.5,6 So verharrten viele Dresdner bei ihrer Meinung, sie kämen mit dem Schrecken davon und ihnen würden Luftangriffe erspart bleiben, wenngleich die immer näherkommenden Bombenwürfe bisweilen schlimme Befürchtungen weckten.

Der Flakschutz der Stadt war im Laufe des Krieges verstärkt worden. Er setzte sich aus Batterien der bewährten 8,8 cm-Geschütze, aber auch aus erbeutetem Gerät zusammen. Standorte der Flakstellungen sowie die Struktur der Batterien wurden mehrfach geändert. Die Geschütze verteilten sich auf Stellungen in Übigau, Klotzsche, Rochwitz, Altfranken, Gohlis, Wölfnitz, Gruna, Radebeul, an der Kohlenstraße und auf der Vogelwiese. Zusätzlich brachte man seit Mitte 1943 leichte Flak (meist 2 cm-Geschütze) auf Dächer ausgewählter Industrieanlagen, Mietshäuser oder öffentlicher Gebäude. In unserer Nähe war ein solcher Flakstand auf einem Haus Tittmann/Ecke Augsburger Straße errichtet worden. Es ist sehr zu bezweifeln, dass die Dachstühle die starken Erschütterungen, die beim Beschuss von Flugzeugen ausgelöst worden wären, ohne beträchtliche Schäden überstanden hätten. Doch bis zum Spätherbst 1944 kam es, offenbar wegen zu großer Flughöhen der Bomber, an diesen Geschützen zu keinem Feuerbefehl. Mit Unbehagen beobachteten wir im November und Dezember 1944 den Abbau der Flakstellungen in verschiedenen Stadtteilen. Die Bevölkerung wurde nicht informiert. Als das Verhängnis dann über Dresden hereinbrach, gab es nicht ein einziges Geschütz, das zur Abwehr hätte genutzt werden können.

Als unsere Familie im November 1940 nach Dresden umgezogen war, glaubten wir schon erste Erfahrungen zu haben, welche Belastungen mit dem sich allmählich ausweitenden Bombenkrieg verbunden sein könnten. In Mahlow, an der Südgrenze von Berlin, hatten wir bereits seit den ersten Septembernächten 1939, nur wenige Tage nach Kriegsbeginn, nächtliche Einflüge einzelner britischer Bomber erlebt. (In historischen Schriften wird bisweilen der Eindruck vermittelt, als hätten britische Flugzeuge erst in späteren Monaten dieses Gebiet überflogen). Die dort südlich des alten Dorfes, von den Wohnsiedlungen räumlich entfernte Flakbatterie (8,8 cm-Geschütze) – wir jungen Schüler hatten sie in den ersten Kriegstagen mehrmals aufmerksam besichtigt – feuerte in den folgenden Wochen und Monaten des Nachts häufig.

Im Frühjahr 1940 erschienen britische Bomber zuweilen über Berlin, doch waren nur wenige Staffeln im Anflug. Wir sammelten damals Granatsplitter, die überall in Gärten, auf Feldern, Straßen und Wegen verstreut herumlagen. Auch waren wir schon Zeuge des Einschlags einer Sprengbombe geworden, die sich mit einem durchdringenden Pfeifen und einem ohrenbetäubenden Knall bemerkbar machte. Am nordwestlichen Rand von Blankenfelde, nur etwa 800 m von unserer Mahlower Wohnung, in der Glasower Straße, entfernt, konnten wir auf freiem Feld am nächsten Tag den recht umfänglichen Bombenkrater in Augenschein nehmen. Der Abwurf hatte wohl der Flakstellung gegolten, die aber weitab lag. Außerdem bemerkten wir am linken Rand unserer Straße (das war eine landwirtschaftlich genutzte Fläche), in Abständen von etwa fünfzehn Metern, Einschläge von Thermit-Brandbomben, die offenbar die gegenüberliegenden Wohnhäuser treffen sollten. Somit waren auch schon in dieser sehr frühen Phase des Krieges nichtmilitärische Ziele im Visier der Bombenschützen, denn die Flakbatterie stand weit abseits, und auf solche Geschütze wirft man keine Brandbomben. Im Übrigen hatten wir im Frühjahr und Sommer 1940 bei Besuchen unserer Großeltern in Berlin-Friedenau manchen nächtlichen Fliegeralarm erlebt.

Mit diesen „Erfahrungen“ kamen wir nach Dresden. Was waren das aber für kaum nennenswerte Geschehnisse gewesen angesichts der kaum vorstellbaren Leidenszeit, die der westdeutschen Bevölkerung und dann auch den Süddeutschen bevorstand. Die meisten Dresdner konnten sich lange Zeit keinen rechten Begriff davon machen. Und sie ahnten auch nicht, dass der Untergang ihrer Stadt schließlich als Kulminationspunkt des Luftkrieges in die Annalen des II. Weltkrieges eingehen würde.

Ausdruck einer verbreiteten leichtfertigen Unterschätzung der Gefahren war in unserem persönlichen Umkreis eine „ergötzliche“ Begebenheit bei einem Tagesalarm im Frühjahr 1944. Die Tochter des Hauswirts hatte während des Krieges geheiratet. Ihre öfter anreisende Schwiegermutter nahm Alarme in Dresden nicht recht ernst, obwohl sie schon Luftangriffe in Hamburg und Stettin erlebt hatte. Bei diesem Vollalarm bat man die ältere Dame, den Schutzraum aufzusuchen. Doch sie blieb auf der Kellertreppe stehen. Alles Drängen half nicht. Da ging eine in der Mansarde wohnende Greisin auf sie zu: „Nu, kommen Se schon, was woll’n Se denn machen, wenn ‘ne Bombe fällt?“ Doch die Schwiegermutter zierte sich, und die Antwort wurde mit deutlich hanseatischem Akzent vorgetragen: „Ach, da s-pringe ich s-nell beiseite“. Selbst damals haben wir darüber lachen müssen.

Monate später sprang sie dann sehr behände in den Luftschutzkeller, der vom Hauswirt schon vor dem Kriege, vorbildlich für Dresdner Verhältnisse, mit Notausgängen, die Decke gebührend abgestützt, Stahlplatten vor den Fenstern des Schutzraumes, umsichtig hergerichtet worden war. Eben diese Platten haben uns am 13./14. Februar 1945 das Leben gerettet, worauf später noch einzugehen sein wird.

Trotz nachdrücklicher Aufforderung waren durchaus nicht in allen Dresdner Häusern beispielhafte Schutzeinrichtungen entstanden, auch nicht im fortgeschrittenen Stadium des Krieges. Manche Gebäude verfügten überhaupt nicht über Kellerräume. Eine solche Erfahrung machten wir zwei Brüder, als wir uns zufällig beim erneuten Angriff amerikanischer Bomber am 2. März 1945 in Dresden aufhielten. Wir suchten Schutz in einem mehrstöckigen Haus, das in der Kaitzer Straße, südlich des Hauptbahnhofs, inmitten unzähliger Ruinen intakt geblieben war, wie sich das bei offener Bauweise in verschiedenen Stadtgebieten durch den Zufall, der als Schicksal wirkte, hier und da ereignete. (Wir kannten ein solches Beispiel von unserem Nachbarhaus, Löscherstraße 8). Das untere Geschoss des Hauses hatte eine Kellersohle von nur ungefähr einem halben Meter und ragte mit den Fenstern über den Boden. Wir waren einen Luftschutzkeller gewohnt, doch fanden wir hier nur ein typisches Souterrain vor, keineswegs ein Einzelfall in Dresdner Mietshäusern.

Bei diesem Angriff waren den 406 „Fliegenden Festungen“ (B-17 Bombern) die Verschiebebahnhöfe und die Altstadt Dresdens als „Zweitziel“ vorgegeben. Doch behinderte eine dichte Wolkendecke die Sicht.7 Viele Bomben verfehlten daher trotz Radarpeilung das eigentliche Ziel. Beschädigungen an Brücken, Industrieanlagen und vielen Gebäuden vermehrten die Trümmer und die Opfer vorangegangener Bombardements. Wir beiden Jungen kamen mit argem Schrecken davon, wieder in einen Angriff geraten zu sein. Bombenteppiche fielen vor allem in Übigau, im Bereich der Marienbrücke, in verschiedenen Wohngebieten der Neustadt, in der Altstadt, bis hin nach Laubegast, aber auch noch weiter.

Am 18. Dezember 1944 hatte ich einen Verwandten vom Hauptbahnhof abgeholt, der in Ostsachsen als Flaksoldat eingesetzt war und einen Tag Urlaub bei uns verbringen durfte. Noch am Hauptbahnhof ertönten die Sirenen: Voralarm. Ursache für die öffentliche Luftwarnung war, wie man heute weiß, ein US-Aufklärer, der sich Dresden genähert hatte. In der Absicht, uns möglichst weit vom Bahngelände zu entfernen, gelangten wir noch bis zum Georgplatz, als Vollalarm gegeben wurde. Wir eilten in den öffentlichen Luftschutzkeller des Neuen Rathauses, der wegen des festen Mauerwerkes, seiner Geräumigkeit und, wie man meinte, wegen genügender Tiefe, als relativ sicher galt. Doch auch das Rathaus hat in der Nacht vom 13./14. Februar 1945 immensen Schaden erlitten. Für Großgebäude hatte Bomber Command die gefürchteten „Blockbuster“ („Wohnblockknacker“) als schwere Luftminen entwickeln lassen, deren Durchschlagskraft gewaltig war. Bei den zwei nächtlichen Luftangriffen wurden 529 solcher 4000-lb-Bomben abgeworfen; eine hatte sogar das Kaliber 8000 lb.8

Dresdens Bevölkerung war nur sehr ungenügend auf den verschärften Luftkrieg vorbereitet. Selbst nach dem schweren Angriff auf Leipzig, am 4. Dezember 1943, wurde nur relativ wenig unternommen, um den Luftschutz in Sachsens Hauptstadt halbwegs dem Stand der Entwicklung des Bombenkrieges anzupassen. Es gab in Dresden keine Hochoder Tiefbunker, die von der Bevölkerung hätten aufgesucht werden können. Viele Gelegenheiten, große Gebäude mit starkem Mauerwerk und soliden Kellergewölben als öffentliche Schutzräume herzurichten, wurden ausgeschlagen, zum Teil auch gar nicht erwogen. Hierzu zählen die Kasematten unter der Brühlschen Terrasse, die Keller der Ministerien auf der Neustädter Elbseite, das Japanische Palais, aber auch die Tiefkeller mancher Brauereien. Auch hätte man meines Erachtens in Loschwitz oder im Süden der Stadt (in Plauen, Richtung Freital, wo Jahrzehnte später der Autobahntunnel entstand) und einigen anderen Stadtteilen in die Hänge Stollen treiben können.

Die bitteren Erfahrungen aus Großstädten, die schon Luftangriffe mit ausgedehntem Feuersturm hinter sich hatten, zum Teil sogar wiederholt solcher Last ausgesetzt waren, wurden offenbar als für Dresden nicht zutreffend gewertet. Auf größeren Plätzen entstanden zwar Löschwasserbecken (Altmarkt, Sidonienstraße, Bismarckplatz, Seidnitzer Platz), und die Bevölkerung wurde aufgefordert, die Böden zu entrümpeln sowie Sand und Wasser zur Brandbekämpfung bereitzustellen. Doch reichten solche Maßnahmen bei weitem nicht aus, um der drohenden Gefahr zu begegnen.

Die Verantwortlichen unterschätzten die heikle Problematik der Luftangriffe auf Sachsens Großstädte. Man hatte die Informationen und die Übersicht, doch zog man unzureichende oder sogar falsche Schlüsse für die Elbestadt. Ende 1943 begann man, die Keller von Gebäuden in der zentralen Altstadt durch ein Netz unter den Straßen verlegter Gänge zu verbinden. Ausstiegsschächte wurden auf dem Adolf-Hitler-Platz (Theaterplatz), Postplatz und Neuen Markt gebaut. Die Kellersohlen bildeten jedoch keine Ebene. Und später sollte sich zeigen, dass die Ausstiegsschächte, wenn sie nicht dicht verschlossen waren (man bedenke allein den Ein- und Ausstieg von Schutzsuchenden), Luftzug erzeugten. Er gab den Bränden, die sich in vielen Kellern gebildet hatten, verstärkt Auftrieb.

Man hatte zudem das unberechenbare Verhalten der Menschen bei panikartigem Verlassen solcher Gänge nicht bedacht. So erwies sich dieses Netz von unterirdischen Fluchtwegen für viele als Todesfalle.9 Stattdessen hätte man, wie in anderen Großstädten, den Bunkerbau voranbringen sollen, doch hat der in den letzten beiden Kriegsjahren für den zivilen Bereich zunehmende Mangel an Baumaterialien offenbar eine solche Konzeption als nicht realisierbar erscheinen lassen. Bei geschlossener Bauweise waren Keller zum großen Teil durch rasch einzureißende Mauerdurchbrüche verbunden, die im Ernstfall geöffnet werden konnten.

Allgemein nahm man in den Kreisen der Verantwortlichen die Gefahr für Dresden über lange Zeit nicht so ernst, wie es unbedingt vonnöten gewesen wäre. Doch hatten, wie Dokumente im Dresdner Stadtarchiv belegen, Verwaltungsstellen insgeheim Pläne erarbeitet, die auf dem Papier vorgaben, was bei einem Großangriff im Detail zur Bergung zahlreicher Opfer zu geschehen hätte. Ausgedehnte Begräbnisflächen waren auf dem Heidefriedhof sowie Johannisfriedhof vorbereitet, Einzelheiten zur Tätigkeit von Bestattungstrupps festgelegt sowie Ausweichstellen für Verwaltung und Betreuung vorgesehen worden.10

Man stritt sich in solchen Fragen heftig in internen Auseinandersetzungen verschiedener „Führungsgremien“ der Partei, SS, Polizei und Verwaltung, hoffte aber darauf, die Stadt werde verschont. Doch musste im verbliebenen Reichsgebiet seit längerem für die Bevölkerung der Eindruck entstehen, man habe die Städte den angloamerikanischen Bomberströmen ausgeliefert, denn die Luftabwehr konnte ihnen nur noch Nadelstiche versetzen, sie aber nicht in die Flucht schlagen oder gar gänzlich vernichten. Alles in allem, die Vorsorge zum umfassenden Schutz der Bevölkerung wurde in Dresden sträflich vernachlässigt. Es bestand aber durchaus Grund, die Gefahren ernst zu nehmen. Tausende haben die Leichtfertigkeit der Behörden mit dem Leben bezahlt.

Einen wesentlich gediegeneren Schutz gab es nur für Angehörige der Führungsstäbe (NSDAP, SS, Polizei, Luftschutz, Wehrmacht und Spitzen der Verwaltung). So hatte man im Lockwitzgrund, südöstlich der Stadt, einen größeren bombensicheren Befehlsstand errichtet, stellte einen Tiefkeller im Neuen Rathaus für einen SS-Stab zur Verfügung (der dortige schon erwähnte öffentliche Luftschutzkeller lag höher und war vergleichsweise weniger geschützt) und sprengte unterirdische Räume in die Felsen an der Mordgrundbrücke (auf der rechten Elbseite, am Heiderand) als Befehlsstelle der SS- und Polizei-Führung, vom Befehlstand des Luftschutzes im Keller des Albertinums, der nur wenige Personen fasste, abgesehen.11

Unmut kam verständlicherweise verbreitet auf, als im Garten der repräsentativen Villa des Gauleiters, Martin Mutschmann, Comeniusstraße (am Nordrand des Großen Gartens), ein Beton-Tiefbunker von beträchtlichem Ausmaß (100 m x 30 m) errichtet wurde. Die auffallend große Baugrube war seit August 1943 für jeden sichtbar, der die Stübelallee entlangging. Auch wir Jungen haben dort mehrmals am Zaun gestanden. Selbst unter uns Jugendlichen löste der Bau, der nur einem Bunker gelten konnte, Diskussionen aus, die manche für die damalige Zeit unerwartete Bemerkung zeitigten. Er rief auch, wie sich später aus Unterlagen ergab, den Unwillen des SS-Obergruppenführers von Woyrsch hervor, der damals das Amt des Höheren SS- und Polizeiführers in Dresden ausübte (war doch sein Vorgesetzter, der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, auch Chef der Deutschen Polizei). Er bewohnte das Nachbargrundstück in der Comeniusstraße. Sein getrübtes Verhältnis zum Gauleiter führte zu manch einer Beschwerde beim Reichsführer SS, und er meinte, der Bunkerbau werfe auch auf ihn, von Woyrsch, ein schlechtes Licht, da man denken könne, auch er sei einer der Nutznießer.

Mutschmann antwortete kurz nach dem Krieg bei einem Verhör auf Vorwürfe zu diesem Bunkerbau und jenem an seinem Jagdschloss Grillenburg (bei Tharandt), er habe den Bunkerbau aus privaten Mitteln bestritten. Diese für ihn selbstverständliche Handlung offenbarte seine Arroganz, die seinem rücksichtslosen, ausgeprägten Machtstreben eigen war. Als Vertrauter Hitlers aus der „Kampfzeit“ hatte er als Gauleiter Sachsens die politische Führung und dann auch die Regierung des Landes 1935 an sich gebracht12, ein typisches Beispiel menschlichen Verhaltens in repressiven Rangordnungen. Seitdem konzentrierte sich die Macht in Sachsen auf Martin Mutschmann. Für ihn trifft zu, was Eibl-Eibesfeldt13 über die Schattenseiten des Dominanzverhaltens schreibt: „Machtstreben des Menschen ist ein Ansporn zu Höchstleistungen … Der Antrieb ist jedoch gefährlich, da es für ihn keine abschaltende Endsituation gibt. Es handelt sich um einen offenen Trieb…“. Und man wird bei Erwähnung der Selbstherrlichkeit dieser derben, unbeliebten „Führerpersönlichkeit“ an die Zeilen erinnert, die Johann Wolfgang von Goethe14 in den Reineke Fuchs (8. Gesang, 1793) einflocht:

Unser Herr ist der Löwe, und alles an sich zu reißen,

Hält er seiner Würde gemäß. Er nennt uns gewöhnlich

Seine Leute: fürwahr, das Unsre, scheint es, gehört ihm.“

Mutschmann prägten sein exzessiver Antisemitismus, die willkürliche, autokratische Personalpolitik, die Verfolgung politischer und religiöser Gegner. Er scheute auch nicht davor zurück, servile Parteigänger nach seinem Gutdünken fallen zu lassen. In Kreisen der NS-Funktionäre hatte Mutschmann den Ruf eines jähzornigen Despoten.15Und seine maßlose Machtgier widerspiegeln noch einige weitere Zeilen aus dem 8. Gesang des Reineke Fuchs:

„Doch das Schlimmste find‘ ich den Dünkel des irrigen Wahnes,

Der die Menschen ergreift: Es könne jeder im Taumel
Seines heftigen Wollens die Welt beherrschen und richten.“

Die internen Gegensätze zwischen Gauleitung und der Dresdner SS-Führung waren ausgeprägt. Doch konnte Mutschmann seine Machtstellung auch während des Krieges festigen. Das lässt auf ein enges Verhältnis zu Adolf Hitler sowie Martin Bormann, Hitlers Sekretär und der für die Gauleiter zuständige Reichsleiter, schließen. Die Bevölkerung wusste von all diesen Querelen nichts. Jene Dresdner, die alle Luftangriffe überstanden hatten und bis Kriegsende in der Stadt verblieben, wissen nur zu gut, unter welchem Druck der Verantwortlichen die Bevölkerung in den letzten Kriegswochen zu leiden hatte, wies doch der Gauleiter unerbittlich an, alles auf den Endkampf vorzubereiten. Wer den Befehlen nicht Folge leistete, hatte mit dem Standgericht zu rechnen, das dann auch verschiedentlich tätig wurde.

Doch, wie zumeist, offenbarte sich der wahre Charakter auch bei solchen „Führungsgrößen“ erst unter größten Belastungen. So fand man Mutschmann keineswegs in der vordersten Frontlinie oder im Stadtgebiet, als die Rote Armee am 8. Mai 1945 Dresden einnahm, sondern weit hinten im Sachsenland. Er hatte sich mit seinem Pkw in westlicher Richtung abgesetzt und war auf der Flucht bis ins Westerzgebirge, in die Nähe von Oberwiesenthal, gelangt, als er am 16. Mai schließlich erkannt wurde. Wie Schmeitzner16 mitteilte, war von sowjetischer Seite versucht worden, Mutschmann als Hauptkriegsverbrecher 1945 nach Nürnberg zu überstellen, doch fehlte den Westalliierten die zentrale Bedeutung dieses für Sachsen ausgewiesenen NS-Politikers. Er wurde 1947 in Moskau zum Tode verurteilt. Auch ein anderer Gauleiter, Karl Hanke, der sich gleichfalls auf Standgerichte stützte, hatte sich in buchstäblich letzter Minute aus seiner von den Roten Armeen hart bedrängten Gauhauptstadt Breslau entfernt und die „Volksgenossen“ im Stich gelassen.

Was zur Verbesserung des Luftschutzes im letzten Kriegsjahr getan wurde, war gänzlich unangemessen. Auch in den Schulen gab es zumeist völlig unzureichende Schutzeinrichtungen. Hätte der Untergang Dresdens mit einem umfassenden Tagesangriff der US-Luftflotte begonnen, wie es für den 13. Februar noch am Vortage geplant war (ungünstiges Flugwetter hat ihn verhindert), dann wären nicht nur die als Hilfslazarette betriebenen oder für die Unterbringung von Flüchtlingen genutzten Schulen „Todesfallen“ geworden, sondern auch die noch auf Unterricht eingestellten.

Am 29. April 1944 hatte die Flak Dresdens das erste Mal im Kriege das Feuer eröffnet, als ein einzelner von Berlin kommender amerikanischer Bomber in den Luftraum der Stadt eindrang. Am 31. Mai und am 7. Juli des gleichen Jahres wurden alliierte Aufklärer über Dresden gesichtet, ein Zeichen für das zunehmende Interesse der für das strategic bombing Verantwortlichen an Dresden. Im „Bomber’s Baedeker“,10,17 dem Zielhandbuch der RAF, waren acht Seiten über die Elbmetropole verzeichnet. Sie galten lohnenswerten Objekten der Industrie sowie der Verkehrsanlagen. Trotz der jahrelangen „Schonung“ Dresdens sammelte Bomber Command seit 1942 unentwegt Daten und Informationen zu dieser Stadt, vervollständigte die Luftbilder der Innenstadt und verschiedener Stadtteile, der Kasernen (im Stadtteil Albertstadt) und des Flughafens Klotzsche.

Man ergänzte die Gebietszielkarte Nr. 82, die Auskunft über die Historie, die Wirtschaft, Industrie, Kultur und Verwaltung gab. Es wurde immerhin vermerkt, Dresden ist eine der schönsten Städte Deutschlands. Beachtung fanden in diesem Material alle Stadtteile, die Bevölkerungsdichte, die großflächigen Park- und Waldgebiete sowie die in vielen Stadtteilen vorherrschende offene Bauweise. Im Vergleich mit anderen deutschen Großstädten sei aber Dresden kein lohnendes Ziel für einen Großangriff. Bergander10 hielt diese Aussage für den Schlüssel zur Lösung des Rätsels, weshalb Dresden bis zum Herbst 1944 nicht bombardiert wurde. Man hatte in den Materialien von Bomber Command beschrieben, die „verwundbaren Gebiete“ seien im Westen der Stadt gelegen, und die Bahnanlagen offenbaren gewissermaßen die „Gefahrenstellen“, da eine Reihe der mittelgroßen Industriebetriebe in ihrer Nähe aufgebaut worden waren.

Die über Jahre zusammengetragenen Informationen wurden dann im „Bomber’s Baedeker“ vom Mai 1944 – es war die letzte Fassung während des Krieges – als dem gültigen Zielhandbuch aktualisiert. Auf acht Seiten erklärte man Dresden zum wichtigen Eisenbahn-Knotenpunkt. In den Dringlichkeitsstufen 1+ bis null waren 45 Ziele vermerkt, doch keines wurde der höchsten zugeordnet. Sechs gelangten in die erste Kategorie (Kraftwerke West, Schleifscheibenfabrik Reick, vier Zeiß-Ikon-Betriebe). Zehn Unternehmen wurden in die Kategorie 2 eingestuft (Verschiebebahnhof Friedrichstadt, Fa. Seidel und Naumann /Friedrichstadt/und Radio Mende /Industriegelände Dresden-Neustadt/. Die Wertung „weniger wichtig“ erhielten 21 Betriebe, und sechs waren „ohne Bedeutung“. Auf der Gebietszielkarte No. 82 (Dresden und Freital) wurden Betriebe, Kraftwerke, Gaswerke, Kasernen und der Flugplatz Klotzsche rot umrandet, darunter auch die Ölraffinerie der Rhenania Ossag AG in Freital, auf die am 24. August 1944 von US-Bombern ein Angriff geflogen wurde (siehe S. 48 ff.). Die Luftbilder wurden 1944 während des Herbstes durch Luftaufklärer mehrmals ergänzt, so dass die Luftwaffenstäbe der RAF und der US Army Air Force über Dresden umfassend „im Bilde waren“.

Doch, als dann der Befehl zur Auslöschung Dresdens gegeben wurde, blieben die genannten Vorbereitungen offenbar unbeachtet. Wie anderswo erging der Befehl zum Flächenbombardement, wobei die zum großen Teil in den äußeren Stadtbezirken angesiedelte Industrie meist ohne größere Schäden davonkam, vor allem aber die Kasernen und der militärisch genutzte Flugplatz weitgehend verschont wurden. Die sich 1944 ausweitenden Angriffe auf die Hydrierwerke bei Leipzig, Merseburg, im Lausitzer Becken und im Sudetengebiet markierten die wachsende Gefahr für die sächsische Hauptstadt, lagen diese für den Fortgang des Krieges bedeutsamen Produktionsstätten für Bomber doch in räumlicher Nähe. Bei ungünstiger Wetterlage hatte man folglich jederzeit mit einem Angriff auf das „Zweitziel“, Dresden, zu rechnen.

Mit dem 24. August 1944 kam für uns damals Vierzehnjährige die erste, wenn auch kurze, aber einschneidende Bewährungsprobe durch den Angriff von 65 amerikanischen „Fliegenden Festungen“, wie die B 17-Bomber wegen ihrer starken Bewaffnung genannt wurden, auf den südwestlich gelegenen Vorort Freital. Die Maschinen nahten von Osten in großer Höhe aus Richtung Sebnitz, sozusagen von rückwärts. Sie waren aus England zunächst mit den Pulks eingeflogen, die im Lausitzer Becken Hydrierwerke angreifen sollten. Sie näherten sich am südlichen Stadtrand Dresdens ihrem Ziel. Die Flak eröffnete das Feuer. Es fielen 620 Sprengbomben des Kalibers 500 lb, eine relativ große Zahl. Das Ziel war die Ölraffinerie der Rhenania Ossag AG in Freital. Dies war eine Produktionsstätte geringer Größe, die aber ein kriegswichtiges Spezialöl herstellte.17Davon hatten offenbar die ausländischen Geheimdienste „Wind bekommen“. Die meisten Dresdner wussten von diesem rüstungswichtigen Erzeugnis nichts, und so rätselten wir damals, weshalb wohl gerade Freital für die amerikanische Bombergruppe von Interesse war.

Der Abwurf der Bomben an diesem sonnigen, warmen Donnerstag ereignete sich, bei klarer Sicht, in wenigen Minuten, von 12:59 – 13:05 Uhr. Trotz der idealen Sichtverhältnisse traf nur ein sehr geringer Teil davon das eigentliche Ziel, die meisten fielen in den Ortsteil Birkigt, der keinerlei kriegsbedeutende Stätten aufwies. Sie gingen dort auf Wohnhäuser, Gehöfte, Ställe, Gärten und Felder nieder, viele auf unbebautes Gelände, aber andere in unheilbringender Konzentration auf Wohnflächen. So nimmt es nicht wunder, wenn 241 Bewohner Freitals den Tod erlitten. Die brutale Realität des Krieges traf sie im wahrsten Sinne wie der Blitz aus heiterem Himmel, denn wer hatte vermuten können, es würde die am Plauenschen Grund liegende Kleinstadt an diesem Donnerstag so unsäglich heimsuchen?

Am folgenden sonnenreichen Wochenende waren wir Schüler in Birkigt zu Aufräumarbeiten eingesetzt. Ich entsinne mich, als hätte es sich soeben zugetragen, an den jähen Schreck, der uns erfasste, als wir in einem durch Volltreffer völlig zerstörten Wohnhaus beim Wegräumen von Schutt im Keller Leichenteile entdeckten, später dann noch weitere menschliche Überbleibsel. Der abscheuliche „Krieg an der Heimatfront“, dem wir sechs Monate später in tausendfacher Erweiterung bis zur völligen Abstumpfung, ausgesetzt sein sollten, hatte uns eingeholt. „…sie haben die Einsicht nun in alles, was geschehn…“ (Fr. v. Schiller).18 Damals im August war dies ungewohnt, und wir brauchten Tage, um mit diesen Erlebnissen „zurechtzukommen“.

Offenbar hatte aber das Kommando der 8. US-Luftflotte den Eindruck, diese kleine Ölraffinerie ausreichend zerstört zu haben, denn der Angriff wurde nicht wiederholt. Wir wären bei den Aufräumarbeiten einem erneuten Abwurf von Sprengbomben schutzlos ausgesetzt gewesen. Bergander19 schreibt, der Angriff auf Freital habe die Dresdner nicht sonderlich berührt, obwohl auch Bomben am Südrand der Stadt, in Alt-Coschütz, und auf die Heidenschanze fielen, bei nur geringen Schäden. In meiner Erinnerung blieb aber haften, dass dieses Ereignis, dessen Folgen wir durch unseren Räumeinsatz unmittelbar wahrnahmen und das uns noch wochenlang bewegte, der Bevölkerung den Ernst der Lage offenbarte und entsprechend „in die Psyche aufgenommen“ wurde. So jedenfalls war die Reaktion bei den Mitschülern, den Nachbarn und Bekannten. Und eines klärte sich: die Zivilbevölkerung war auch hier mit in militärische Zielvorgaben einbezogen worden. Das verhieß nichts Gutes.

Die zivilen Opfer, die sich bei solchen Fehlwürfen ergaben, wurden meist nur am Rande oder gar nicht vermerkt. So schreibt z.B. Taylor20 über den letzten Angriff der amerikanischen Luftflotte auf Dresden (17. April 1945), der die endgültige Zerstörung des Eisenbahnnetzes zum Ziel hatte, dass es eine beträchtliche natürliche Abweichung (der Bombeneinschläge, WR) gab, und Schäden in vielen Bereichen der bereits zerstörten Innenstadt entstanden seien. Wie wir aus der Gegenwart wissen, wird auch heute noch von manchen Militärs wider besseres Wissen behauptet, solche fatalen Abweichungen vom eigentlich militärischen Ziel der Bomben seien die Ausnahme. Im modernen Militär-Jargon nennt man das nun Kollateralschäden.

Der erste Luftangriff auf Dresden selbst wurde am 7. Oktober 1944 von US-Bombern geflogen. Voralarm war 11:40 Uhr gegeben worden, Fliegeralarm 12:00 Uhr. Ursprünglich sollte diese Bombergruppe das Hydrierwerk Brüx im Sudetengebiet angreifen, doch die geschlossene Wolkendecke und die Vernebelung der Anlage störten dieses Vorhaben. So wurde als „Zweitziel“ Dresden gewählt. Dort herrschte nur lockere Bewölkung.

Die „Fliegenden Festungen“ (B-17 Bomber)) kamen auf Nordostkurs heran und flogen aus dem Raum Freital auf das Stadtzentrum und die Bahnanlagen zu. Es wurden 290 Bomben (Kaliber 500 lb) abgeworfen. Sie sollten vor allem die aus militärischer Sicht bedeutsamen Verkehrsanlagen treffen. Ein Teil detonierte auf dem Verschiebebahnhof Friedrichstadt sowie einigen anliegenden kleineren Industriebetrieben, mit erheblichen Zerstörungen. Die Bombenserie, die den Altstädter Güterbahnhof verwüsten sollte, verfehlte jedoch das Ziel und traf die Wohnviertel zwischen Postplatz und Wettiner Bahnhof (Bahnhof Dresden-Mitte). Dort entstanden beträchtliche Schäden. Trotz einer halb so großen Bombenmenge wie beim Angriff auf Freital am 24. August waren 270 Opfer zu beklagen21, doch erfuhren wir diese Zahl damals nicht. Hier wiederholte sich das Drama der Fehlwürfe – es lag nicht an mangelnder Sicht –, und das geschah später noch unzählige Male. Auch das Tierkundliche Museum, Ostra-Allee, das wir in den Jahren zuvor als Schüler mehrmals besucht hatten, war schwer getroffen worden. Dieser Einflug von 29 Bombern wurde dennoch von den Behörden insgesamt als leichter Angriff gewertet. Es hätte ein schwerer Angriff werden können, wenn einige der für die aktiven Bomberflotten ausgegebenen „Erstziele“ an diesem Tage wegen der jeweiligen Witterungsverhältnisse nicht angeflogen worden wären.

Am Nachmittag dieses Tages wurden wir vom „Jungvolk“ zu einer Leitstelle des Luftschutzes, in der Nähe des Hauptbahnhofs, Wiener Straße, bestellt. Zu zweit erhielten wir den Auftrag, Meldungen zu einer anderen Luftschutzstelle, in Dresden-Neustadt, zu befördern. Wir machten uns auf den Weg. Doch, mein „Kumpel“ ließ mich schon in der Prager Straße im Stich. Nachdem die Aufgabe in Neustadt erfüllt war, erhielt ich wiederum Umschläge mit Informationen, die ich in die Wiener Straße schaffen sollte. Ich trat den Rückweg an. Inzwischen war schon die Dämmerung hereingebrochen. In der Innenstadt spürte man die Hektik der Aufräumungsarbeiten und der zur Bergung der Opfer eingeleiteten Maßnahmen, die der Bombenabwurf ausgelöst hatte. Wäre am gleichen Tage ein weiterer Angriff vorgesehen gewesen, hätte ich ihn womöglich bei diesem „Meldegang“ in der Innenstadt erlebt.

Das zweite Mal geriet Dresden am 16. Januar 1945 ins Visier der Bombenschützen. Wir waren zu Hause. Es ist mir nicht mehr erinnerlich, ob wir erst nachmittags Unterricht haben sollten oder noch in den Winterferien waren. Voralarm wurde 11:20 Uhr gegeben, Fliegeralarm 11:50 Uhr. Zunächst war in unserem Stadtteil noch Ruhe. Ich entsinne mich sehr genau, aus der Haustür gegen NNW (auf dem Stadtplan: in Richtung Waldschlößchen-Brauerei) geschaut zu haben, als von der Innenstadt her unvermittelt Bombeneinschläge der ersten Staffeln zu hören waren. Gerade in diesem Moment vernahm ich sehr lautes Motorengeräusch. Zwischen einem mehrstöckigen Haus in der Blasewitzer Straße und den Häusern der Senefelder Straße gab es über die Häuser am Königsheimplatz hin eine „Sichtlücke“, und so sah ich plötzlich einen aus Nordosten, von der Dresdner Heide in Richtung Innenstadt fliegenden Pulk von Bombern. Bergander22 gibt als Angriffshöhe 7300-8200 m an. Nach meiner Beobachtung, die sich wohl auf die Bombergruppe 44 C bezieht, flogen die Maschinen beträchtlich niedriger, denn sie zeigten sehr deutlich sichtbare Umrisse und Hoheitsabzeichen. Von Flakfeuer war nichts zu hören, denn man hatte die Geschütze schon im November/Dezember aus Dresden abgezogen.

Die von insgesamt 127 B 24-Bombern (Liberators) geworfenen Bombenteppiche fielen vor allem auf den Verschiebebahnhof, Industriebetriebe und Treibstofflager sowie auf Wohnviertel in Friedrichstadt, auch auf die Stadtteile Cotta, Löbtau und Leutewitz sowie ins „Hechtviertel“ der Neustadt, wo zudem das Gaswerk schwer getroffen wurde. Auch das bereits am 7. Oktober 1944 heimgesuchte Wohngebiet zwischen Postplatz und Wettiner Bahnhof (Bahnhof Dresden-Mitte) erhielt neue Treffer. Bei diesem Angriff waren 376 Opfer zu beklagen22, darunter auch ein britischer Kriegsgefangener. So gab es bis zum 16. Januar 1945 in Dresden, mit Freital, immerhin schon 887 Luftkriegsopfer. Der Bevölkerung verschwieg man diese Zahl. Doch war vielen Dresdnern nun bewusst geworden, dass man mit weiteren Angriffen werde rechnen müssen.

Immerhin schienen den bisherigen Bomberattacken vor allem Verkehrsanlagen und Industriebetriebe als Ziele gedient zu haben, wobei Fehlwürfe mit verheerenden Folgen nicht ausblieben. Solche begrenzten, militärisch begründeten Zielvorgaben wurden bei den Großangriffen, Mitte Februar 1945, völlig aufgegeben.

Bomber Command hatte nun den Befehl erhalten, Dresden als Stadt auszulöschen, wie es vordem schon mit Hamburg, Kassel, Köln und vielen anderen Orten geschehen war und nach dem Untergang Dresdens noch wochenlang bei anderen Städten fortgesetzt wurde. Luftmarschall Arthur Harris kam dieser Aufforderung mit all der ihm zur Verfügung stehenden Macht nach, beständig unterstützt von der 8. US-Luftflotte, die unter dem Oberbefehl von General Carl Spaatz stand.