De omnibus dubitandum
(alles ist zu bezweifeln;
alles ist kritisch zu prüfen)
René Descartes 1
In einem früheren Kapitel hatte ich auf die Kontroversen verwiesen, die sich im Laufe der Jahrzehnte darüber ergeben haben, wie hoch die Zahl der Mitte Februar 1945 in Dresden weilenden Flüchtlinge sowie der Luftkriegsopfer sei. Ich will hier zu solchen Vergleichen, mehr oder weniger begründeten Auffassungen sowie einer Reihe fragwürdiger Behauptungen nichts Neues hinzufügen, zumal mir originale Dokumente nicht vorlagen.
Aber im Gegensatz zu manchen Autoren, deren wortreiche Aussagen über das Ausmaß der Dresdner Katastrophe schon wegen ihres geringeren Alters oder fernen Wohnsitzes nur auf Studien in der Literatur oder in Archiven, wenn nicht gar auf Hörensagen beruhen können, haben viele Überlebende, so auch ich, Tausende von Leichen und unzählige Leichenteile in den entscheidenden Februartagen des Jahres 1945 auf Straßen, Plätzen, in Ruinen, im Großen Garten und an anderen Stellen verschiedener Stadtteile liegen gesehen. Das waren Dresdner und Flüchtlinge aus Schlesien, Ostbrandenburg oder anderen ehemals deutschen Gebieten, verbrannt, zerfetzt, verstümmelt, erstickt oder auf andere Weise tragisch ums Leben gekommen, eine ungemein bittere „Kriegserfahrung“, auf die wir gern verzichtet hätten.
Doch Bemerkungen zu diesem äußerst traurigen Kapitel anzufügen, scheint mir in ehrendem Andenken an die Opfer, in Erinnerung an diese uns das Äußerste abverlangenden Erlebnisse sowie in kritischer Haltung zu manchen von der Historikerkommission veröffentlichten Stellungnahmen und Ergebnissen geboten.
Die Tätigkeit der vom damaligen Oberbürgermeister der Stadt Dresden 2004 (2007) berufenen Historikerkommission und das von ihr veröffentlichte Buch2 haben mich bewogen, meiner Schrift Feuersturm unbändiger Macht (2004), die auf den Erlebnissen der Ausbombung in Dresden, 13./14. Februar 1945, beruhte, bei der Überarbeitung einige ergänzende Passagen anzufügen.
War doch die Kommission der Auffassung3, „in diesen breit angelegten Nachforschungen unterschied sich die Kommissionsarbeit grundsätzlich von anderen Forschungsansätzen, da der Abgleich der auf kontrastierenden Forschungsmethoden beruhenden Ergebnisse die Gesamtaussage zur Zahl der Toten auf eine höhere Basis stellt.“ Man meinte, „ein verantwortliches Erinnern an das Schicksal aller Menschen setzt ein ernsthaftes und andauerndes Bemühen um die Korrektheit der geschichtlichen Darstellung voraus.“4Es ist, völlig zu Recht, davon die Rede, der Bombenkrieg hatte in den letzten Kriegsjahren eine Pervertierung erfahren. Unmissverständlich kommt H. Boog (2010)5 in seinem Beitrag auf diese Zusammenhänge zu sprechen.
Die Casablanca-Direktive der Alliierten (vergl. Rudolph, S. 100) verfolgte die Strategie, für Luftangriffe vor allem militärische Ziele, Verkehrszentren, und im Besonderen die Hydrierwerke vorzusehen. Diese Vorgaben seien allmählich von den verantwortlichen Politikern und Militärs unterlaufen und zunehmend an ihrer Stelle das Flächenbombardement, das sich vor allem gegen die Zivilbevölkerung richtete, besonders von britischer Seite rigoros ausgedehnt worden. Immense Opfer waren die Folge, ganz zu schweigen von großflächiger Zerstörung von Wohnraum, Kulturstätten und städtischen, darunter vor allem schulischen und medizinischen Einrichtungen.
In der „Dresden-Literatur“ muss man bisweilen lesen, diese Stadt habe eine Fülle von Industrie aufgewiesen. Wenn Taylor6 behauptete, Dresden sei ein bedeutendes Zentrum der Industrie gewesen, so verkannte er den Charakter dieser Stadt. Am treffendsten charakterisierte „Bomber’s Baedecker“, ein britischer Leitfaden für die wirtschaftliche Bedeutung deutscher Städte, die Belange der Industrie in Dresden, als Zielhandbuch am 2. Januar 1943 erstmals verfügbar. Dieser Band sollte, wie Bergander7 erläuterte, Anleitung für Luftangriffe auf wehrwirtschaftlich interessante Ziele deutscher Städte geben. „In Friedenszeiten spielten Tabak, Schokolade und Süßwarenherstellung eine große Rolle …, es gibt auch eine große Zahl von Betrieben des Apparatebaus und Herstellern von Maschinen, die jetzt an allen Arten von Rüstungsproduktion beteiligt sind, viele von ihnen sind zu klein, um hier eigens notiert zu werden… Verschiedene wichtige Fabriken produzieren Elektromotoren, Präzisions- und optische Instrumente und Chemieprodukte …“
Fritze8 machte den damaligen Tatbestand deutlich. Er wies darauf hin, die meisten der größeren Rüstungsbetriebe befanden sich in den Randbezirken der Stadt. „Für die komplette Zerstörung der Innenstadt bestand – nach allem, was wir heute wissen und was man damals wissen konnte – keine militärische Notwendigkeit.“
Dresden war aber bis Kriegsende eine bedeutende Garnisonsstadt. Als Zielgebiete für die Bomber bestimmte man jedoch nicht diese leicht in Dresden-Neustadt zu erkennenden militärischen Einrichtungen (Kasernen u. Ä.), sondern die Altstadt mit ihren historischen Bauten, Wohnvierteln, Kliniken sowie schulischen und kirchlichen Einrichtungen. Man gab vor, militärische Ziele anzugreifen, ließ aber die Kasernenkomplexe in der Albertstadt (Stadtteil in Dresden-Neustadt) und den Flugplatz in Dresden-Klotzsche, der militärisch genutzt wurde, absichtlich aus, und traf nur einen Teil der Industrie. Erst beim achten Luftangriff (17.April) wurde das Verkehrsgefüge (Verschiebebahnhöfe, Hauptbahnhof u. A.) völlig lahmgelegt.
Der britische Historiker A.C. Grayling veröffentlichte 2006 sein anklagendes Buch Among the Dead Cities (in deutscher Fassung: Die toten Städte, 2007). Er kam nach eingehender Analyse fast nur angloamerikanischer Quellen zu dem höchst bedeutsamen Schluss, Bomber Command habe mit der bewussten Abweichung von der Casablanca-Direktive, der rücksichtslosen Anwendung des Flächenbombardements, moralische Verbrechen, das heißt Kriegsverbrechen begangen. Dieses Aufsehen erregende Urteil von britischer Seite hat wohl auch in Großbritannien heftige Diskussionen ausgelöst.
Es kommt noch hinzu, dass Fritze9 nach umfassender Analyse des Bombenkrieges in seinem Band zu einem gleichen Resultat gelangte: „Wer über diesen Krieg, das größte staatlich organisierte Massenschlachten der Geschichte, nachdenkt, wird dessen Ende und Ergebnisse bedenken. Er wird sich fragen, ob nicht viele der unsäglichen Leiden überflüssig oder vermeidbar waren. Und er wird Fehler und Verbrechen auch der Gegner Hitlers als solche benennen wollen – um möglichst zu verhindern, dass die durch jene Handlungen exemplifizierten Verhaltensgrundsätze Vorbildcharakter gewinnen und zur Rechtfertigung zukünftiger Handlungen dieser Art missbraucht werden können.“
Taylor10, der 2004 seine historische Studie Dresden, Tuesday 13th February 1945 im gleichen Verlag, Bloomsbury, London, wie Grayling publiziert hatte, gab am 13. Februar 2011 der Zeitung Welt am Sonntag ein Interview, in dem er verlauten ließ, „ohne Zweifel war der 13. Februar 1945 ein Beispiel für rücksichtslose Kriegsführung, und als Engländer kann ich darauf nicht stolz sein. Die Bombardierung von Städten ist ein Fluch des 20. Jahrhunderts…“ Er kommt somit nun zu einer sehr kritischen Einstellung, vergleicht man diese seine Bemerkungen mit manchen, die er in seinem Buch machte. Sieben Jahre zuvor hatte er dort z. B. das mutige Handeln Howard Cowans (vergl. Rudolph, S. 102 ff.) über die Maßen kritisiert, am 16. Februar 1945 als AP-Korrespondent in Paris die US-Presse über ein Briefing zu den Flächenbombardements der letzten Tage informiert zu haben, denn dies sei der größte Fehler in der Kriegspropaganda der Alliierten gewesen.
M. Neutzner11 meinte, sich der sehr überzogenen Meinung Taylors anschließen zu müssen, doch sprach er fälschlich von Howard Cohan. Im Lichte des Urteils von Grayling (2006) sowie von Fritze (2007) hatte Howard Cowan aber mit seinem Bericht meines Erachtens in der letzten Kriegsphase Bedeutendes zur Aufklärung der US-amerikanischen Bevölkerung getan, die Casablanca-Direktive werde nicht mehr strikt eingehalten und man habe diesen Tatbestand verschwiegen. Aussagen, wie sie Grayling seinen britischen Landsleuten und Fritze in gleicher Eindringlichkeit deutschsprachigen Lesern vorstellten, waren in den Jahrzehnten nach Kriegsende nur hinter vorgehaltener Hand zu hören gewesen.
Zum Wandel der Auffassungen über die Moral des Bombenterrors haben vor allem auch die Bücher des Historikers Jörg Friedrich (2002, 2003) in bedeutendem Maße beigetragen. Sie gingen weniger auf die militärischen Aktivitäten der Bomberflotten ein, als vor allem auf die unsäglichen Leiden der Opfer.
Seit dem Februar 1945 sind sehr unterschiedliche Opferzahlen zum Dresdner Bombardement weltweit veröffentlicht oder diskutiert worden. Es kam noch hinzu, dass F. Reichert,12 Historiker am Stadtmuseum Dresden, die Friedhofsunterlagen im Stadtarchiv Anfang der 90er Jahre erneut durchgesehen hatte. Das führte in den Medien zu dem unerwarteten Hinweis, die Opferzahl betrage nicht 35.000, wie von M. Seydewitz (1955) sowie vom ehemaligen Oberbürgermeister, W. Weidauer (1965), unter Bezug auf die städtischen Friedhofsakten der Jahre 1945/46, mitgeteilt, sondern 25.000. Friedhofsakten werden lange Zeit aufbewahrt.
Man fragt sich, weshalb im Falle des Johannisfriedhofs (Tolkewitz) die Angaben zu den Begräbnissen 1945/46 mit jenen übereinstimmen, die von der Historikerkommission 60 Jahre später ermittelt wurden. Ähnlich verhält es sich mit anderen Friedhöfen Dresdens. Nur zum Heidefriedhof, der die weitaus größte Zahl der Toten aufzunehmen hatte, fehlen aussagekräftige Unterlagen. Vergegenwärtigt man sich die Hinweise, die Oberfriedhofsgärtner Zeppenfeld 1945 gab, der von Weidauer13 erwähnt wird, so sollen damals 28746 Opfer auf dem Heidefriedhof ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. Er schloss 9.000 auf dem Altmarkt verbrannte und als Asche auf den Heidefriedhof transportierte Leichen ein. In der neueren Dresden-Literatur, auch von der Historikerkommission, wird auf sie verwiesen, werden stattdessen 6.865auf dem Altmarkt verbrannte Tote angegeben. Manche Autoren halten es aber für möglich, dass Zeppenfeld durchaus dem realen Umfang der Einäscherungen nahe kam, denn in den letzten Tagen der Verbrennungen sei die Übersicht über die reale Opferzahl verloren gegangen (Wetterbedingungen, Zustand der Leichen u. a.).
Wurden die zahlreichen nicht identifizierbaren, offenbar in Massengräbern beerdigten Leichen und Leichenteile zu den Opfern gezählt? In seinem Interview, das er der Zeitung Welt am Sonntag am 13. Februar 2011 gab, meinte Taylor: „…Ich glaube, mit einer Zahl von 25.000 kommt man der Wirklichkeit sehr nahe. Aber endgültige Gewissheit wird man nie bekommen…“ Als Zeitzeuge, dem der Anblick unzähliger Leichen als junger Mensch beim Gang durch Dresden (15.Februar 1945) nicht erspart blieb, neigt man dazu, sich dieser Auffassung anzuschließen, doch bleiben beträchtliche Zweifel. So wurde in der letzten Kriegsphase berichtet, Leichen ohne Kopf, auch den unzähligen Leichenteilen, ist kein Einzelgrab zugesprochen worden. Wo wurden sie beerdigt? Gelangten sie in Massengräber? Wo sind entsprechende Angaben?
Wenn man auch aus Schaarschmidts Buch14 unmittelbarer als aus manch anderen Quellen an das dramatische Erleben der Dresdner Bombentage erinnert wird, den Schlussfolgerungen dieses Autors, es habe vermutlich mindestens 100.000 Todesopfer gegeben, möchte man, da diese Angaben als viel zu hoch erscheinen und die Bergungskapazität der Stadt überstiegen hätten, nicht zustimmen. Die Aussagen der Historikerkommission (25.000 Tote) beziehen sich auf Einzelgräber. Und man meinte, die toten Opfer auf diese Weise erfasst zu haben (Bergung und Bestattung der Luftkriegstoten mit dokumentarischem Nachweis zu jeder geborgenen Person).
Reicherts Ermittlungen im Stadtarchiv sowie die in aller Welt kursierenden überhöhten Angaben über die Luftkriegsopfer in Dresden 1945 scheinen Gründe gewesen zu sein, eine erneute detaillierte Übersicht über die Opferzahl anzustreben und diese Aufgabe einer Historikerkommission zu übertragen. Man musste sich jedoch darüber im Klaren sein, dass man mit diesem Auftrag, sechs Jahrzehnte nach Kriegsende, den sich unmittelbar aus den letzten Kriegstagen und der ersten Nachkriegszeit aus Friedhofsbestattungen herleitenden und in der Zeit der DDR in die Stadtgeschichte eingegangenen Tatbestand von 35.000 Todesopfern anzweifeln und gegebenenfalls nicht mehr als zutreffend werten würde.
Immerhin waren seit dem Erscheinen der Angaben von Seydewitz (1955) und der 1. Auflage des Buches von Weidauer (1965) fast vier bis fünf Jahrzehnte vergangen, und die von den damaligen Stadtbehörden ermittelte Zahl der Toten beruhte nach den Angaben dieser Autoren auf den Unterlagen der Jahre 1945/46; sie hatte seitdem Bestand. Sie findet sich auch in anderen Quellen (z.B. Bergander 1998, Müller u.a. 2004). Die Historikerkommission nahm Berganders Buch in die Auswahl der Quellen ihres Bandes auf. Und dann noch: Waren kritische Zeitgenossen, von der Historikerkommission als „Aktivisten verschiedener Überzeugungen“ bezeichnet (ist das eine politische Abwertung?),weil sie meinten, 35.000 Tote kämen der Realität vom Februar 1945 am nächsten (z.B. Lämpe, 2010), wirklich fehlorientiert?
Und dann ist schließlich der Name Hanns Voigt zu nennen. An der Dreikönigsschule lehrte er als Studienrat Musik. Hanns Voigt war aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Wehrmacht eingezogen worden. Wie Schaarschmidt14 mitteilte, erhielt Voigt Anfang März 1945 die Weisung, die Abteilung Tote in der Vermissten-Nachweiszentrale zu leiten. In dieser Funktion kam er mit den Bergungsdiensten und in fast allen Stadtteilen mit vielen ausgebombten Bürgern zusammen und lernte die Sorgen und Nöte der vom Flächenbombardement betroffenen Bevölkerung kennen. D. Irving15, der mit Voigt in den 50er Jahren korrespondierte, will von ihm erfahren haben, für 80.000 bis 90.000 Tote seien Karteikarten angelegt worden.
Voigt war 1955 legal nach Bielefeld mit seiner Familie umgezogen, nachdem er von Stadtrat Weidauer falscher Aussagen zur Anzahl der Opfer bezichtigt und aus ideologischen Gründen aus seinem Dienst entlassen worden war. Weidauer16 überhäufte Voigt mit schweren Vorwürfen wegen seiner Mitgliedschaft in der NSDAP. Die ermittelten Daten über die Toten der Luftangriffe entsprächen nicht der Wahrheit. Diese Äußerungen Weidauers waren offenbar nicht sachlich fundiert. Die Abteilung Tote war für die Ermittlung verstorbener Opfer sowie deren Identifizierung zuständig. Die in den ersten Wochen der unmittelbaren Nachkriegszeit stattgefundene Auseinandersetzung zwischen Weidauer und Voigt hat letztlich wesentlich dazu beigetragen, 60 Jahre nach dem Krieg den fragilen Versuch zu unternehmen, die Zahl der Toten erneut zu bestimmen. Schaarschmidt, dem es wie vordem Irving viele Jahre nach dem Krieg gelang, mit Voigt zu korrespondieren, erhellt aus diesen Informationen manche Gegebenheiten, die bislang nicht zur Sprache gekommen waren, auch nicht von der Historikerkommission.
Vor allem das verantwortungslose Handeln einiger Autoren sowie die politischen Absichten verschiedener Gruppen trugen dazu bei, weltweit von überhöhten, bis zu sechsstelligen Opferzahlen zu sprechen. So hatte z.B. David Irving noch 1963 in seinem weltweit verbreiteten Band von 135.000 Toten berichtet. Er korrigierte diese Angabe zwar 1966 in einem Leserbrief der Times und bedauerte seine Fehlinformation17. Diese nachträgliche Notiz erreichte aber viele Leser seines Buches nicht. In den Neuauflagen (1990, 1995) war, wider alle Sorgfalt und Verantwortung dieses Autors, dann erneut von 135.000 Toten die Rede. Kein Wunder, dass sich vielerorts die Meinung bildete, in Dresden seien weit mehr Menschen umgekommen, als von offiziellen Stellen zugegeben. Und andere leichtfertige Autoren handelten ähnlich.
Bergander (1998) hat versucht, eine bibliographische Übersicht hierfür zu schaffen. Die seit Jahrzehnten geltende Opferzahl von 35.000 fand weltweit jedoch zu wenig Annahme, obwohl sie doch von Bergander (1998) sowie Müller u. a. (2004) übernommen worden war. Immerhin hat H. Schnatz18, Mitglied der Historikerkommission, hervorgehoben, dass von der Vernichtungskapazität der Bomberflotten her 35.000 Tote noch eine Verhältniszahl im Bereich des Möglichen ergeben (!). Es gehe bei 25.000 Toten in Dresden um eine Verhältniszahl von 9,3 Toten/Tonne (metrisch.), bei 35.000 um eine solche von 13,1, bei 50.000 18,7. Bei höheren Opferzahlen hätte dies die Vernichtungskapazität der Bomber, was Dresden angeht, bei weitem überschritten. Die Historikerkommission scheint diesem Ergebnis zu geringes Gewicht beigemessen zu haben. Auch die Angaben von Schnatz bestärken mich in der Auffassung, unter Berücksichtigung aller Umstände ist Fritze19 zuzustimmen, der es für möglich hielt, dass 25.000 bis zu 35.000 Menschen ihr Leben verloren. Auch Taylor, der die präzise Arbeit der Historikerkommission in den Archiven anerkannte, wollte sich offenbar nicht auf 25.000 Opfer festlegen lassen (Interview v. 13. Februar 2011).
Die Problematik der oft korrigierten Opferzahlen ist bei den Überlebenden, gar nicht zu reden von sensationshungrigen Zeitgenossen und Medien, seit den Februartagen 1945 derart mit Emotionen, eigenem Erleben und Eindrücken, Gerüchten, Spekulationen, Fälschungen und Missverständnissen belastet, dass sich bis heute die unterschiedlichsten Auffassungen und Meinungen gebildet haben und hartnäckig weiter vertreten werden. Und dann fällt noch folgendes auf: Die von Hanns Voigts „Abteilung Tote“ mit ungeheurem Aufwand und großer Einsatzbereitschaft unter denkbar schwierigsten Bedingungen kurz vor Kriegsende zusammengetragenen Daten und Belege sind angeblich verlorengegangen. Verwundert nimmt man im Beitrag von Archivdirektor Kübler20, Amtsleiter des Stadtarchivs Dresden, zur Kenntnis, dass offenbar doch verschiedene Teile der Vermisstenkartei und anderer Unterlagen heute noch im Stadtarchiv verfügbar sind. Auch Overmans21 berichtet über diesen Sachverhalt. Das lässt einiges offen.
Die Historikerkommission kommt, interdisziplinär vorgehend, auf eine Opferzahl von 25.000. Sie bestätigt somit die von Reichert vordem angegebene.
Wer den Untergang Dresdens inmitten der Bombardements erlebt hat, rechnet mit mehr Opfern. Aus meiner Sicht gibt es dafür vor allem zwei Gründe. Nicht geklärt werden konnte, auch nicht durch die Historikerkommission, wie viele Flüchtlinge aus Schlesien, Ostbrandenburg und anderen ehemals deutschen Gebieten zur Zeit der Bombenwürfe in Dresdens Innenstadt und nahen Stadtteilen weilten. Aber von Overmans22 wird trotzdem dreist ausgesagt, die Masse der Flüchtlinge sei in Lagern am Stadtrand untergebracht worden, und diese Vermutung sei durch einen Befund zu einem der Flüchtlingsfälle bestätigt (?). Nun, einige Lager hat es gegeben, doch wo sind relativ verlässliche Angaben zu ihren Standorten, ihrer Größe und Belegung, gegebenenfalls auch zu Opfern?
Noch gibt es zahlreiche Zeitzeugen, die bekräftigen können, dass sich am 13. Februar eine auffallend große Anzahl Flüchtlinge im Stadtzentrum und in angrenzenden Stadtteilen aufhielt (vor allem in Gebäuden mit großen Räumen). Auch die in jenen Tagen gewonnenen eigenen Eindrücke belegen das. Es bleibt, im energischen Widerspruch zu Overmans, durchaus die berechtigte Frage, ob das die Masse der Flüchtlinge war. Und wer, wie wir, am Vormittag des 15. Februar die unzähligen Toten auf der Fürstenstraße (Fetscherstraße), im Großen Garten und anderswo hat liegen sehen, weiß um die Brisanz der Thematik. Wenn die Zahl der Flüchtlinge im Stadtgebiet aus bewusst beschränkter Sicht als gering vorgegeben wird, würde man geneigt sein, auch die Opferzahlen Dresdens insgesamt von niedrigerem Ausmaß anzunehmen. Doch wird das den damaligen Gegebenheiten auf keinen Fall gerecht. Und hier täuschen sich die Zeitzeugen nicht, wie man es ihnen wiederholt zur Problematik Tiefflieger vorgeworfen hat (Fleischer und Hänchen23 sowie Bürgel24).
Widera25 legte dar, wenn behauptet wurde, unzählige Opfer seien im Feuersturm zu Asche verbrannt, so seien aber die entstandenen Brandtemperaturen häufig nicht hoch genug gewesen. In den Luftschutzkellern haben die Brände, im Gegensatz zu den oberen Geschossen der Häuser, oft nicht die nötige Luftzufuhr gehabt, was zu geringerer Hitze führte. Auch in unserem Haus in der Löscherstraße waren die Flammen, die das Gebäude niederbrannten, nicht in das Kellergeschoß vorgedrungen. Wie bei Einäscherungen, so Widera, würden auch im Feuersturm Knochenreste verbleiben. Es ist von Ausnahmen die Rede. Sind solche z. B. bei extrem orkanartig wütendem Feuersturm außerhalb von Kellern gegeben? Wie kam es zu den vielen verkohlten Leichen? Hat man die Physik vom ausgedehnten, aber äußerst vielgestaltigen Dresdner Feuersturm diesen Aussagen umfassend genug zugrunde gelegt?
Die Lage der Wohnhäuser im Stadtgebiet, ihre bauliche Gestaltung, die sehr unterschiedliche Solidität der Keller, auch das Kaliber der Sprengbomben ist zu bedenken. Nach Widera wurden insgesamt 1477,7 t Sprengbomben geworfen (der Feuersturm veranlasste viele Historiker, das Augenmerk besonders den Brandbomben zuzuwenden, doch hatten Sprengbomben, gar nicht zu reden von den 529 Luftminen, gewaltige zerstörerische Kraft und waren Ursache für viele verstümmelte und zerfetzte Leichen). Und die auffallenden Unterschiede im Ausmaß des Feuersturms bei geschlossener Bauweise (z. B. im Stadtteil Johannstadt) und offener Bauweise (so z. B. im Stadtteil Striesen), die sich durch unvorstellbare, aber verschieden hohe Hitzegrade und Energie der Feuersäulen, orkanartige Böen und unwiderstehlichen Sog des Feuermeeres sowie in manchen Stadtgebieten durch ausgeprägte Luftnot für die Bewohner offenbarten, sind der Grund dafür, dass sich zahlreiche Situationen ergaben, die kein Überleben ermöglichten. v. Plato und Nicole Schönherr26 sprechen davon, dass manche Historiker auf die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses von Zeitzeugen verweisen. Es wird dabei behauptet, „… die Stärke der subjektiven Erinnerungszeugnisse liegt … vor allem in der Erforschung der »verarbeiteten Geschichte«, d. h. in der Untersuchung der Weichenstellungen und Brüche eines Lebens, der heutigen Sicht auf die damaligen Ereignisse, der Bedeutung von traumatisierenden Erlebnissen für die weitere Lebensgeschichte, in der Nachwirkung früherer Erfahrungen und Auffassungen auf spätere Phasen der Geschichte…“. Solche Historiker meinen, es sei ein Missverständnis, subjektive Erinnerungen als eine wesentliche Quelle der Realgeschichte zu nutzen, Fakten bestimmter Ereignisse, ihre Daten und Abläufe zu rekonstruieren. So wird meines Erachtens die Ermittlung von erlebten dramatischen Vorkommnissen unterschätzt. Zu Recht hatte die Historikerkommission erkannt, die Schaffung eines Zeitzeugenarchivs ist notwendig, mit dem »Erkenntnisse über den Zusammenhang von Erinnerung und Vergangenheitsrekonstruktion gewonnen werden…«.27
Zunächst ist meines Erachtens festzuhalten, das Erinnerungsvermögen ist individuell sehr unterschiedlich, sowohl was die Intensität des Erinnerns als auch die gedankliche Präzision des Ablaufs von Ereignissen angeht. Hierzu geben die Aussagen Dresdner Zeitzeugen genügend divergierende Beispiele. Und nicht in jedem Fall, wie behauptet wird, sind damalige Eindrücke von späteren Erlebnissen, Beiträgen in Medien und der Literatur, von bedeutsamen Vorkommnissen oder sonst wie überlagert. Im Gegenteil: einschneidende Ereignisse haften in der Erinnerung besonders manifest. Der Zeitzeuge musste die lebensbedrohende, wiederholte Tortur der Luftangriffe ertragen, der Historiker hat hingegen den Vorteil, später das Erinnerungsgut der Zeitzeugen am Schreibtisch zu vergleichen und daraus Schlüsse zu ziehen.
v. Plato und Schönherr26 weisen darauf hin, dass manche Historiker sogar einen (Gegen)Mythos aufbauen, wonach sich alle oder manche Zeitzeugen „falsch“ erinnern. Man geht wohl nicht fehl, dies als arrogante, völlig überzogene Denkweise zu bezeichnen. Wenn Zeitzeugen noch leben, tragen sie die Erinnerung an das betreffende Ereignis mit sich. Nur über sie lässt sich das Geschehen reproduzieren. Wie sich denn die Historiker der Nachkriegsgenerationen nur sehr selten in die reale Situation eines ausgedehnten Luftangriffs so versetzen konnten, dass dies die Erlebnisse von Zeitzeugen widerspiegelt. Und schließlich fragt man sich, wie „die lückenhafte archivalischen Überlieferung“ zu erklären ist. Aus welchen Gründen sind die Angaben zum Heidefriedhof nur teilweise in den Friedhofsunterlagen auffindbar, woraus sich manche Widersprüche ergeben, will man Opferzahlen ausmachen, die sich vor 70 Jahren ergaben.
Den größten Kummer muss aber ein alter Freund dieser Stadt empfinden, wenn er an die Rücknahme der UNESCO-Auszeichnung Dresdens als Weltkulturerbe (2004) denkt, die eine verständliche Konsequenz auf den hartnäckig von manchen Bürgern vertretenen Bau der „Waldschlösschenbrücke“ war, als Elbüberquerung trotz vieler Bedenken beschlossen. Dem zunehmenden Autoverkehr gebührt offenbar das Primat vor dem internationalen Ansehen der Stadt, der historischkulturellen Bedeutung des Elbpanoramas. Zu Recht kritisierte W. Haedecke28 die architektonische Plumpheit der Brücken-Architektur, wählte man doch eine massive Bogenbrücke.
Meines Erachtens hätte man bei der Planung unbedingt bedenken müssen, dass die Erbauer der Marien-, Carola- und Albertbrücke im 19. Jh. aus guten Gründen flache Brückenkonstruktionen wählten, um die Stromlandschaft nicht über Gebühr zu belasten. Zugegeben, bei Betrachtung eines Stadtplanes aus der Mitte des 19. Jh. – und die damaligen Verantwortlichen verstanden etwas von Stadtplanung (!) –, fällt ins Auge, dass die ehemalige Fürstenstraße (Fetscherstraße) wohlbedacht in Richtung Elbufer geführt wurde, um unter Umständen später einen Brückenbau vorzusehen. Doch hätte man dabei vermutlich keine Bogenbrücke gewählt.
Befürworter des Brückenbaus werden vielleicht darauf verweisen, dass es auch beim Bau des „Blauen Wunders“ (1891/93) sehr kritische Einwände gab, doch verhinderte der Standort dieser Brücke nicht den berühmten „Panoramablick“ auf Dresden. Es ist zu befürchten, dass die „Waldschlösschenbrücke“ noch manche Kontroverse hervorbringen wird, die vorschnelle, ungenügend komplex durchdachte Beschlüsse aufkommen lassen.
Und das sei noch als Erinnerungsgut angefügt: Die Nachkriegsjahre verbrachte ich bis zum Abitur in Halle/S., um dann nach dem Studium an der Martin-Luther-Universität die berufliche Tätigkeit entfernt von Dresden zu beginnen. Doch jeder spätere Besuch Dresdens mahnte an das Geschehen im Februar 1945. Und so wollte es der Zufall, dass ich am 13. Februar 1985, am 40. Jahrestag des Bombardements, auf einer Dienstreise nach Nitra (Slowakische Republik), um der Einladung eines Forschungsinstituts zu folgen, 22:03 Uhr im Hauptbahnhof Dresden Richtung Prag abfuhr. Die Stadt lag in hellem Licht, als ich aus dem Bahnfenster schaute, gerade so, wie es vor 40 Jahren gewesen sein mochte, als die britischen Markierer hunderte von „Christbäumen“ über der Stadt abgeworfen hatten. An diesem Abend wurde die Semperoper nach ihrem Wiederaufbau eröffnet. Und im Gegensatz zum damaligen Kriegsgeschehen war die Stadt nicht der Zerstörung geweiht, sondern dem friedlichen, Kräfte zehrenden Aufbau und der wiedererwachten kulturellen Entwicklung.