Reminiszenzen an „Elbflorenz“

„Thue in Dresden die Augen auf so gut du kannst und übereile dich nicht, du möchtest so bald nicht wieder hinkommen und hast dort sehr viel zu gewinnen. …Um Dresden mußt du die Natur beschaulich genießen, in Dresden die Kunstwerke aller Art, die näher beysammen stehen als irgendwo…

(J.W. v. Goethe1)

Im November 1940 zog unsere Familie von Mahlow, Kreis Teltow, nach Dresden um. Von Berlin aus gelangten wir mit dem Zug vom damals noch nicht zerstörten Anhalter Bahnhof in die sächsische Metropole. Ich entsinne mich, als sei es gerade vor kurzem gewesen, wie wir über die Marienbrücke fuhren und in der späten Nachmittagssonne das eindrucksvolle Panorama dieser Stadt erstmals vor Augen hatten. Von jenen Minuten an waren wir von unserer neuen Heimat eingenommen.

In den folgenden Monaten machten wir dann nähere Bekanntschaft mit vielen Bereichen des ausgedehnten Stadtgebietes und seiner landschaftlich sehr ansprechenden Umgebung. Wir hatten im Frühjahr 1941 immerhin noch Gelegenheit, an einer Führung im ehemaligen Residenzschloss teilzunehmen. Wir lernten dort im zweiten Stockwerk die weiträumigen Gemächer kennen. Die berühmteste und größte barocke Schatzkammer Europas, das Grüne Gewölbe, im Erdgeschoss des Westflügels, konnte damals noch in jenen Räumen besucht werden, die August der Starke von 1721 bis 1730 in zwei Bauphasen für seine Sammlung hatte einrichten lassen. Die immense künstlerische und materielle Werte verkörpernden Ausstellungsstücke faszinierten uns ungemein. Hier wurden erstrangige Arbeiten europäischen Kunsthandwerks dargeboten, die ihresgleichen suchen.

Das Schaffen des Goldschmieds Melchior Dinglinger (1664-1731) und seiner Mitarbeiter war uns somit seit dieser Zeit vertraut. Erfreulicherweise war diese überaus kostbare Sammlung, bis zum Ende des Krieges in der Festung Königstein ausgelagert, dann 1945 in die Sowjetunion gebracht, 1958 vollständig zurückgegeben und seit 1974 dreißig Jahre im Albertinum ausgestellt, zum 800. Stadtjubiläum im Jahre 2006 den Besuchern wieder in den ursprünglichen Präsentationsräumen im Westflügel des Schlosses zugänglich.2 In Teilen schon im September 2004 wiederhergestellt, kündete diese Sammlung 60 Jahre nach Kriegsende als ein Ereignis von eminenter Bedeutung davon, dass Dresden als Kunststadt manches von seinem alten Glanz wiedererlangt.

Vor sieben Jahrzehnten verkamen die Bauten der Dresdner Vergangenheit durch die Flut der Bomben jählings zu Ruinen. Doch wurden oder werden die berühmtesten Gemäuer äußerst mühselig als Kopien hergestellt, teilweise aus erhaltenswerten Fassadenresten. Dies alles jeweils in dem Maße, wie es die beschränkten Mittel hergegeben haben. So mehren sich die Zeichen deutlich für den erneuten Aufstieg dieser Stadt.

Wer das Schloss besichtigte, hielt sich auch im Stallhof auf, mit dem Langen Gang, der hundert Meter misst. Er wurde seit 1720 mehrmals umgebaut. Der vom Historienmaler Wilhelm Walther von 1872 bis 1876 an der Außenfassade, Augustusstraße, als Sgraffito gestaltete, dann 1906/07 von anderer Hand auf Porzellanfliesen übertragene „Fürstenzug“, hat den Bombenhagel und den ringsum wütenden Feuersturm überdauert. In langer Reihe gibt er die Regenten des Hauses Wettin wieder, doch entdeckt man auch einige Zeitgenossen des Künstlers, so den Maler Ludwig Richter (1803-1884). Dieses repräsentative, eigenwillige Kunstwerk entsprach dem Zeitgeist der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der sich Dresden als Großstadt zügig entfaltete und das für die folgenden Generationen charakteristische Stadtbild annahm. Die Gemäldegalerien Alter und Neuer Meister lernten wir seinerzeit nicht kennen, denn sie wurden bald darauf für Besucher geschlossen und ausgelagert.

Die ehemalige Katholische Hofkirche, erbaut von 1739 bis 1755, nach Vorgaben des Italieners Gaetano Chiaveri (1689-1770), sowie die Semperoper, errichtet 1871-1878, nach Plänen von Gottfried Semper (1803-1879), kannten wir während des Krieges nur als Bauwerke, die das weite Schloss- und Zwingerareal zieren.

Im Zwinger weilten wir häufig. Die Namen Matthaeus Daniel Pöppelmann (1662-1736) – Architekt und Erbauer des Zwingers von 1711-1728, aber auch vieler anderer berühmter Bauten – sowie Balthasar Permoser (1651-1732), der mit seinen Mitarbeitern die Skulpturen im Zwinger, aber auch an anderen Bauwerken gestaltete und als bedeutender Bildhauer des Barocks in die Geschichte einging, waren uns früh geläufig. Unser Interesse für sächsische Geschichte wuchs, vorerst besonders für das augusteische Zeitalter.

Die Frauenkirche, eines der bedeutendsten Dresdner Wahrzeichen, habe ich, zusammen mit einer Schülergruppe, im Herbst 1944 besichtigt, wobei auch die Orgel erklang, geschaffen 1732 bis 1736 vom Freiberger Orgelbaumeister Gottfried Silbermann (1683-1753). Meine frühe Hochachtung vor George Bähr (1666-1738), Ratszimmermeister, Baumeister und Architekt, steigerte sich später noch, als vom problemreichen Wiederaufbau der Frauenkirche die Rede war. Wenn man bedenkt, dass dieses von 1726 bis 1743 errichtete grandiose, durch seine hohe und ausgedehnte Kuppel das Antlitz Dresdens wesentlich bestimmende Bauwerk seinerzeit trotz Geldmangels in nur siebzehn Jahren vollendet werden konnte, so muss man George Bähr und seinen Mitarbeitern um Ratsmaurermeister Gottfried Fehre (1685-1753) zugestehen, dass sie ihr Handwerk in höchster Vollendung ausübten. (Entgegen den vom Oberlandbauamt bestätigten Bauplänen, die eine Kuppel aus Holz, mit Kupfer belegt, vorsahen, setzte sich Bähr nachdrücklich für eine aus Stein gemauerte ein.) Erstaunlicherweise blieb die äußere Bauhülle nach drei Luftangriffen (13./14.Februar) zunächst erhalten.

Erst am folgenden Vormittag, kurz vor dem vierten Angriff, kam sie zum Einsturz. Der prasselnde Funkenflug war in der Nacht des Feuersturms durch die zerborstenen Fenster ins Kircheninnere gedrungen, das ausbrannte. Die andauernde glühende Hitze, der zuletzt eine Abkühlung und somit Verbiegung der Träger folgte, wobei sich die Druckverhältnisse an den Pfeilern änderten, scheint die Ursache für den Einsturz des Gemäuers gewesen zu sein.3, 5

Wie Krull und Zumpe3 belegen, ist die von Irving4 noch 1995 vertretene Auffassung, er sei einer Explosion eines in den Gewölben eingelagerten umfangreichen Filmarchivs des Reichsluftfahrtministeriums geschuldet, offenbar eine Legende. Es wurden 476 geschmolzene oder intakte Filmrollen bei der Enttrümmerung bis 1994 vorgefunden. Von Spuren einer Explosion ist nicht die Rede.

Schon einmal hatte dieser Kirche höchste Gefahr gedroht, als Dresden in den Tagen nach dem 14. Juli 1760 schwerem Beschuss durch preußische Truppen ausgesetzt war, dem viele Bauten und Bewohner zum Opfer fielen.6 Dem kunstbeflissenen König Friedrich II. lag der militärische Sieg über die Sachsen in diesem Falle mehr am Herzen als die Erhaltung historischer Bauten oder Kunstdenkmäler, von möglichen Opfern gar nicht zu reden.

Nach 1945 kündeten die Trümmer der Frauenkirche jahrzehntelang als Mahnmal von der unerträglichen Last des Luftkrieges, bis der Wiederaufbau – ein bauliches und finanzielles Wagnis hohen Ranges – eingeleitet werden konnte. Die äußere Bauhülle wurde am 22. Juni 2004 vollendet, die Innenausstattung bis zum 30. Oktober 2005 zum Abschluss gebracht. Dieses Bauwerk wird dem künftigen Dresden ein augenfälliges Bindeglied zu seiner bewegten Geschichte sein.

Das andere weithin sichtbare Wahrzeichen Dresdens, gleichfalls durch Bomben verwüstet, war das nach dem Krieg wiederhergestellte Neue Rathaus. Es entstand, nach Entwürfen von Carl Roth, von 1905 bis 1910 als wuchtiger Gebäudekomplex (die bebaute Fläche maß 9.225 m2 sowie fünf Innenhöfe)7 an der Südostecke der früheren Stadtbegrenzung. Vorher mussten dort Teile der alten Bausubstanz weichen. Das Neue Rathaus prägt mit seinem 100 m hohen, markanten Turm die Stadtmitte seit über einem Jahrhundert, zusammen mit anderen historischen Gebäuden. Stets empfand ich sein Erscheinungsbild, das in einem Übergangsstil Elemente der Renaissance, aber auch des Barocks widerspiegelt, für die Innenstadt Dresdens als sehr angemessen. Löffler meinte, der Turm wirke als zu massig und zu schwer. So hätte er bereits zur Bauzeit als eine überdimensionale bürgerliche Repräsentation gegolten.

Nun, über den Geschmack lässt sich nicht streiten. Meines Erachtens hatte man nach dem Krieg mit dem Wiederaufbau des Neuen Rathauses für die Gestaltung des Dresdner Stadtkerns ein für die Zukunft der Elbmetropole gewichtiges Werk vollbracht. Das bis 1945 am Altmarkt gelegene, im Feuersturm zerstörte Alte Rathaus – zweihundert Jahre zuvor (1741-1744) war es nach Plänen von Johann Christoph Knöffel (1686-1752) errichtet worden – genügte schon lange nicht mehr den zunehmenden Anforderungen an die städtische Verwaltung.

In ähnlicher, vor allem der Renaissance verpflichteter Architektur hatte der Erbauer des Berliner Reichstages, Paul Wallot (1841-1912), das Landtagsgebäude am Schlossplatz von 1901 bis 1907 geschaffen. Der Turm fügt sich nach meiner Ansicht in die barocke Kulisse des Elbufers wohlgefällig ein. Dieses massive Gebäude, das seinen Platz am Beginn der Brühlschen Terrasse an Stelle der früheren Palais Brühl und Fürstenberg einnimmt, kannten wir während des „Dritten Reiches“ als Reichsstatthalterei. Es diente nach seinem Wiederaufbau dem Museum für Mineralogie und Geologie als Heimstatt, seit 2001 ist es Sitz des Oberlandesgerichts.

Weitaus weniger gelungen schienen sich die Mitte des 19. Jahrhunderts im neugotischen Stil errichteten Bauten in das Stadtinnere einzugliedern. Markantestes Beispiel hierfür war die am Georgplatz 1864/65 entstandene Kreuzschule. Zu Recht betont Löffler8, der Bau habe sich, mit Blick auf die städtebauliche Situation jener Zeit, als verfehlt erwiesen. Ich kannte das Gemäuer auch von innen, habe ich doch dort 1942/43 mehrere Monate Unterricht gehabt, als unsere König-Georg-Oberschule, Johannstadt, zum Hilfslazarett erklärt worden war. Man hat gut daran getan, die zerstörte Kreuzschule nicht wieder aufzubauen.

Ein weiteres Beispiel des neugotischen Baustils ist der von Gottfried Semper 1843 gestaltete Cholera-Brunnen, der früher auf dem Postplatz stand, heute aber gegenüber dem Glockenspiel-Pavillon des Zwingers seinen Platz hat. Merkwürdigerweise widmete sich Semper damals einem Objekt dieses Baustils, obwohl er neugotische Stilelemente ablehnte. Die Sophienkirche, zwischen Postplatz und dem Taschenberg-Palais gelegen, war um 1600 als evangelische Kirche wieder eingerichtet worden. Sie wurde dann 1864 um zwei Türme im neugotischen Stil erweitert. Schon als Schüler war ich der Auffassung, sie haben sich in Dresden, wie fast alles als Stilbruch empfundene Neugotische, nicht optimal ins Stadtbild eingefügt. Diese Kirche brannte bei den Luftangriffen aus und wurde 1962/63 abgebrochen. Sie war aber, und das scheint bei den Diskussionen um einen möglichen Wiederaufbau übersehen worden zu sein, jenes kirchliche Gemäuer, in dem der Komponist Wilhelm Friedemann Bach, ältester Sohn Johann Sebastians, von 1733 bis 1746 als Organist wirkte.

Einen weiteren neugotischen Bau hatten wir im Blickfeld, wenn wir die Elbwiesen, den Loschwitzer Höhen gegenüber, aufsuchten. Und das war in jenen Jahren ungezählte Male der Fall. Dort lag, auf der anderen, hügeligen Seite des Flusses, das Schloss Eckberg, durch Friedrich Arnold von 1859 bis 1861 auf den Elbhängen errichtet. Es blieb, wie die beiden anderen dort etablierten Elbschlösser, als charakteristisches Zeugnis der späten Romantik bezeichnet, unbeschädigt erhalten. So auch das größte von ihnen, Schloss Albrechtsberg, ausgeführt von 1850 bis 1854 im spätklassizistischen Baustil, wie die zu gleicher Zeit entstandene Villa Stockhausen.

Am Königsheimplatz, wir wohnten in der oberen Löscherstraße nahebei, war 1860/1862 das „Weiße Schloss“ im neugotischen Stil erbaut worden. Auch dieses auffällige Gebäude wirkte inmitten der Häuser dieses Stadtteils ein wenig fremd. Die Flammen hatten bereits mehrere seiner Stockwerke erobert, als wir in der Nacht des Feuersturms die Löscherstraße verließen und dem nahen, nun auch durch Bombenwürfe ramponierten Waldpark zustrebten. Die ausgebrannte Ruine wurde später abgebrochen.

Dresden-Neustadt war uns, obwohl wir dort relativ wenige Anlaufpunkte hatten, nicht unbekannt. Es gab verschiedene Anlässe, das weiträumige Gebiet, bis nach Radebeul, im Laufe der Jahre aufzusuchen, Die südlich vom Albertplatz gelegene Hauptstraße, die zur Augustusbrücke führt, durchquert ein Wohngebiet, das in seiner noch von August dem Starken herrührenden Anlage und Gestalt, als besonders einheitlich und geschlossen wirkte. Am Rande sei vermerkt, dass ich Mitte des Krieges noch Gelegenheit hatte, das an der Nordseite der Augustusbrücke rechter Hand liegende Narrenhäus’l zu besichtigen. Es gehörte ehedem Gustav Fröhlich, seines Zeichens Hofnarr zur Zeit August des Starken. Sein Wahlspruch war: semper Fröhlich – numquam traurig.9 Auch dieses schlichte Gebäude fiel den Bomben zum Opfer.

Im November 1944 wartete ich am Albertplatz auf eine Straßenbahn, als ein deutscher Düsenjäger, ein bis dahin für uns ungewohntes Jagdflugzeug, mit ohrenbetäubendem Lärm im Tiefflug über diesen Stadtteil Dresdens hinweg donnerte. Doch auch diese neuartigen, technisch hochgerüsteten Maschinen haben den Untergang Dresdens und den anderer Städte nicht verhindern können.

Verständlicherweise kannten wir die in der Nähe der Löscherstraße liegenden Wohnbezirke in Striesen, Blasewitz und auch Johannstadt wie unsere Westentasche, besonders im Gebiet nördlich der Borsbergstraße bis hin zu den Elbwiesen.10 Unzählige Male sind wir vom Schillerplatz über das „Blaue Wunder“, die nach Loschwitz führende eiserne Hängebrücke, gegangen. Sie war schon 1891/93 erbaut worden – damals eine Aufsehen erregende technische Neuerung – und verband seitdem die Stadtteile Blasewitz und Loschwitz. Die Luftangriffe überstand sie unbeschadet. Man sagt, im Mai 1945 sei sie durch mutiges Einschreiten einiger Bürger vor der Sprengung bewahrt worden.

Oft hielten wir uns in der Dresdner Heide auf. Dorthin gelangten wir entweder mit der Standseilbahn, dann die Plattleite entlang zum Eingang neben dem Parkhotel, oder die Schillerstraße hinauf zur Mordgrundbrücke. Dabei kamen wir in der Schillerstraße Nr. 19 jeweils am Schillerhäuschen vorbei, dem Gartenhaus des Weinguts der Familie Körner. Hier weilte Schiller als Gast der Körners 1785 bis 1787 und vollendete den Don Carlos. Ein zweiter Besuch führte ihn dorthin 1801. Und was die Dresdner Heide angeht, so gibt es nur wenige Großstädte, die sich rühmen können, solch ein ausgedehntes Naherholungsgebiet – mehr als fünfzig km2 Waldfläche – den Bewohnern anbieten zu können. Es trägt wesentlich dazu bei, wie auch der im Südosten an das Stadtzentrum grenzende, fast zwei km2 umfassende Große Garten, Dresden ein Wohnareal besonderer Anziehungskraft zu nennen.

Großen Eindruck machte auf uns im Dezember 1941 die im Kaufhaus, Prager-/Ecke Waisenhausstraße, aufgebaute Modellbahnanlage. Damals herrschte noch die Spur 0 (Spurweite 32 mm) bei Modellbahnen vor, und die Firma Märklin war, wie man heute sagt, marktführend. So nahm die Fläche für die Modellbahn im Kaufhaus einen gehörigen Platz in Anspruch. Solche Ausstellungen unterblieben dann während der weiteren Kriegsjahre. Doch tat das unserer Begeisterung an Belangen der Eisenbahn und des Dresdner Nahverkehrs keinen Abbruch. Und die Elbmetropole hatte hierbei etwas zu bieten.

Die Straßenbahnen Dresdens waren uns Schülern vertraute öffentliche Beförderungsmittel. Wir Jungen bauten Modelle verschiedener Typen von Trieb- und Beiwagen, wie denn schon unser Vater in jungen Jahren Freude an solchem Hobby gehabt hatte.

Im September 1872 weilte Wilhelm Busch11 einige Tage in Dresden. Wir erfahren in einem am 29. jenes Monats geschriebenen Brief von seinen Eindrücken in dieser Stadt, aber auch davon, dass es öffentliche Verkehrsmittel schon damals gegeben hat. Wenige Tage zuvor, am 26. September 1872, hatte man den planmäßigen Verkehr der ersten Pferdebahn, zwischen Blasewitz (Schillerplatz) und dem Pirnaischen Platz, aufgenommen.12 Wilhelm Busch fuhr, als er in Dresden weilte, abends von Neustadt in die Altstadt zurück. „Ich war in Dresden und sah die Galerie und in der Rotunde die prachtvollen Gobelins, wo das Licht im Golde aufgewirkt ist; ich stand voll Bewunderung vor der katholischen Kirche; im Dämmerschein erstieg ich die Brühlsche Terrasse und blickte nach den freundlichen Hügeln hin; ich war beim alten Richter (Ludwig Richter WR.) in Loschwitz oben; ich trank Bier auf dem Waldschlößchen und fuhr abends spät zurück, hoch auf dem Omnibus, und sah von da hinab in der Elbe im bewegten Wasser, den langgezogenen, zackigen Widerschein der Lichter tanzen …“

Vorbild für die Straßenbahnen deutscher Städte waren die 1931/32 beschafften 34 vierachsigen Großraumwagen, die wegen ihrer spezifischen, besonders beeindruckenden Bauweise sehr bald den Beinamen »Großer Hecht« erhielten. Modern ausgestattet, hatten sie neuartige Steuerelemente, die dem Fahrer, in einer Kabine sitzend, eine bequeme Bedienung mit Knöpfen und Bremspedalen ermöglichten. Die Technologie der ‚Hechtwagen’ war damals richtungweisend für den künftigen Straßenbahnbau in Deutschland. Von 1934 bis 1938 folgten dann die 48 als »Kleiner Hecht« benannten zweiachsigen Triebwagen, die der Bauart des »Großen Hecht« ähnelten, doch maßen sie statt 14,5 m nur 11,7 m Länge. Bis zum 13. Februar 1945 setzte man die »Großen Hecht« auf langen Strecken ein, für die sie technisch konzipiert worden waren (Linie 11: Bühlau – Nürnberger Str.: 12,8 km; Linie 15: Weinböhla – Niedersedlitz: 30,4 km. Die »Kleinen Hecht« kannten wir als typisch für die Linie 1: Loschwitz-Plauen: 10 km; Linie 2: Loschwitz-Schlachthof: 9,6 km; Linie 16: Ludwig-Hartmann-Str. –Plauen: 11,2 km; Linie 26: Ringbahn, Stadtzentrum: 8.6 km). Die übrigen sechzehn Linien wurden mit dem Altwagenbestand betrieben. Insgesamt war Dresden durch Straßenbahnen und einige Buslinien bis in die Vororte hervorragend für den Nahverkehr erschlossen. Der Dresdner Straßenbahn AG standen 1944 für den Personenverkehr 439 Triebwagen und 442 Beiwagen zur Verfügung.13

Irving14 gab an, 185 Straßenbahnen und Anhänger seien bei den Luftangriffen völlig zerstört, 307 weitere beschädigt worden. Vier Jahre später war der Fahrzeugbestand, nach umfangreichen Instandsetzungen, auf 353 Triebwagen und 391 Beiwagen angewachsen. Die Gleislänge, die 1944 immerhin 397,5 km betragen hatte, ging durch Kriegsfolgen auf 334,7 km zurück, die Anzahl der Linien reduzierte man von 22 auf 16. Trotz der Kriegsjahre war abends in den abgedunkelten Straßen noch reger Straßenbahnverkehr. Am 13. Februar 1945 befand sich somit während des ersten Luftangriffs ein Teil des Wagenparks noch im Umlauf. Das erklärt die große Zahl der Totalausfälle und Beschädigungen, soweit sie dem Fuhrpark nicht durch Spreng- und Brandbomben in den Straßenbahndepots zugefügt wurden.

Damals bestand das Wagenpersonal aus dem Fahrer und den jeweiligen, meist dienstverpflichteten Schaffnerinnen, im Triebwagen und Anhänger(n). Mitte des Krieges war eine auf den Linien 1 und 16 darunter, mit der wir im wahrsten Sinne des Wortes öfter das Vergnügen hatten, zum Unterricht in der Kreuzschule am Georgplatz oder später zur Elisenstraße zu fahren. Dies war offenbar eine kulturell sehr gebildete, auffallend sprachgewaltige und humorvolle Frau, die den ihr auferlegten Dienst mit großer Gewandtheit und nur selten so zu erlebendem Mutterwitz und bewundernswerter Heiterkeit vor sich brachte. Sie sprach die ihr an sich wildfremden Menschen sehr vertraut z. B. mit Herr Doktor, Herr Kanzleirat, Frau Kammersängerin, Frau Bürochefin oder Herr Generaldirektor an, was jeweils beifälliges Schmunzeln erregte. Sie wusste lächelnd Sätze wie „den Wagen bitte in der Mitte durchtreten“ oder „wenn Sie heute nicht zahlen, kommen Sie morgen in meine tierärztliche Sprechstunde“ oder „wenn Sie das nächste Mal wieder Ihren Schirm hier vergessen, erkläre ich Sie zum Schirmherrn für Dresden“ oder „Herr Kapellmeister, wenn Sie Ihre Monatskarte erneut zu Hause im Arzneischrank haben liegen lassen, wer’n wir Ihnen den Kaisermarsch blasen.“ „Bei mir gibt es keine Schwarzfahrer, ich merke mir Ihre Visage genau.“ Das waren unvergessliche Fahrten, und wir bedauerten sehr, dass wir die in ihrer Art unübertreffliche Frau später dann nicht mehr zu Gesicht bekamen.

Das Straßenbahnpersonal trug Uniformen. Heute streitet man darüber, ob dies bei solchen Einrichtungen geboten sei. Man sieht manches bedauerlicherweise viel zu lässig – doch Ordnung und Disziplin gehören zu solch einem Unternehmen, denn man trägt große Verantwortung. Die Dienstjahre waren an den am Kragenspiegel angebrachten Sternen und Litzen abzuschätzen. Auch das schafft Achtung.

An Wochenenden fuhren wir mit unseren Eltern viele Male mit der Linie 22 durch Freital nach Hainsberg, um im Rabenauer Grund zu wandern. Bisweilen nutzten wir die Kleinbahn, die uns im Weißeritztal bis zur Talsperre Malter brachte. An diese Ausflüge in den ersten Kriegsjahren denke ich gern zurück. (Im Sommer 2002 kam diese anmutige Gegend in die Schlagzeilen, als die Flut das Flüsschen Weißeritz über alle Erwartungen anschwellen ließ und dabei auch Freital und den Westen Dresdens in arge Bedrängnis brachte.)

Häufiger waren wir in Pillnitz. Das Schloss war 1720 bis 1724 von M. D. Pöppelmann um das Wasser- und Bergpalais entsprechend den Vorgaben August des Starken erweitert worden. Es ist einer der wenigen historischen Gebäudekomplexe, der die Luftangriffe überstanden hat und somit im Original von der Baukunst jenes Zeitalters kündet. So auch das Jagdschloss Moritzburg, nordwestlich von Dresden in einer Waldlandschaft gelegen, ein Kleinod unter den Hinterlassenschaften der Barockzeit in Sachsen.

Es versteht sich, dass wir auch ausgedehnte Wanderungen in die Sächsische Schweiz, den Tharandter Wald sowie in das Osterzgebirge unternahmen, doch ist hier nicht der Raum, dies im Einzelnen darzulegen. Auch lernten wir im Osterzgebirge Altenberg und Umgebung kennen und besichtigten das Altenberger Bergwerk, die Binge. Das alles vermittelte uns einen Einblick in Dresdens Umgebung, die in Deutschland zu Recht als einmalig gilt.

Über die seit Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Entwicklung Dresdens zur Großstadt, die mit der Eingemeindung der Vororte verbunden war, gibt Band 3 der Geschichte der Stadt Dresden15 einen umfassenden Überblick. Dieser Band wurde, zusammen mit zwei weiteren dieses Werkes, anlässlich des Stadtjubiläums 2006 (800 Jahre Dresden) herausgegeben. Zudem erschienen beachtenswerte, umfängliche Text- und Bildbände über das alte Dresden, aus denen die überragende Bedeutung dieser Stadt in der europäischen Geschichte hervorgeht. Dabei nimmt der in vielen Auflagen weltweit verbreitete Band „Das alte Dresden“ eine besondere Stellung ein. Der Kunsthistoriker Fritz Löffler (1899-1988) „wandte sich mit diesem Band an die zahlreichen Freunde Dresdens in aller Welt, die vom Schicksal dieser Stadt berührt oder mit ihrem Bild aus der Zeit vor der Zerstörung durch eigenes Erleben verbunden sind. Er bietet aber auch denjenigen eine Fülle an Fakten und Daten zu Kunst und Bauwerken, denen die eigene Anschauung verwehrt blieb“ (aus dem Klapptext des Buches).