Hab ein liebes Gärtchen vor dem Tore an der Ilm schönen Wiese, ist ein altes Häuschen drinnen …
da lass ich mir von den Vögeln Vorsingen und zeichne Rasenbänke, die ich will anlegen lassen, damit Ruhe über meine Seele kommt.
Johann Wolfgang von Goethe
Goethe war nicht nur Dichter und Künstler; er befasste sich auch mit wissenschaftlichen Fragen seiner Zeit, er entdeckte den Zwischenkieferknochen (Os intermaxillare) beim Menschen, studierte das Wetter, entwickelte eine andere Auffassung der Farben als Newton, die dem Kunstmaler mehr Freude macht als dem Physiker, studierte die Entwicklung der Tier- und Pflanzenformen und klopfte mit seinem Hammer an die Granitfelsen der Alpen, um die Mineralwelt zu erforschen. Im hohen Alter bekennt er: »Auf alles, was ich als Poet geleistet habe (…) bilde ich mir gar nichts ein. Es haben treffliche Dichter mit mir gelebt, es lebten noch trefflichere vor mir, und es werden ihrer nach mir sein.« Auf seine wissenschaftlichen Leistungen gab er hingegen viel (Voigt 1979: 31).
Der Dichter war ein begeisterter Gärtner, der die gepuderte Perücke und die Seidenstrümpfe, die damals Mode waren, ablegte und mit seiner Freundin in ein Gartenhaus an der Ilm außerhalb der Stadtmauern Weimars zog. Seine Mutter schrieb ihm einen empörten Brief, indem sie ihn anflehte, er solle doch in der Stadt wohnen bleiben, wie es sich für einen Patriziersohn gehört. Er aber war glücklich in der Natur, betrieb Gärtnerei und praktische Botanik. Sein Ansatz war ganzheitlich: Er verband die Botanik mit Pharmazie und Kunst; »Kunstliebhaber sind zugleich Botanophile«, schrieb er in einem Aufsatz. Eifrig studierte er das Hauptwerk seines brillanten Zeitgenossen, des Naturforschers Carl von Linné (Linnaeus). Dieser machte Inventur im Lagerhaus der Natur, ordnete und systematisierte die Pflanzen und belegte sie mit einer lateinischen Doppelbenennung. Für Goethe war das statische Bild, das Linnaeus von den Pflanzen vermittelte, zu starr. Als einen dynamischen Entwicklungsvorgang wollte er die Pflanzen verstehen. Vor allem die »Jungfer im Grünen« (Schwarzkümmel, Nigella damascena) hatte ihm vor Augen geführt, wie wandelhaft die Gestaltwerdung der Vegetation ist: »Wenn ich an demselben Pflanzenstengel erst rundliche, dann eingekerbte, zuletzt beinahe gefiederte Blätter entdeckte, die sich alsdann wieder zusammenzogen, vereinfachten, zu Schüppchen wurden und zuletzt gar verschwanden, verlor ich den Mut [mit dem linnaeischen System]« (Krätz 1998: 94).
Die Spiraltendenz. Originalskizze von Johann Wolfgang von Goethe.
Für uns unterhaltungssüchtige Massenmedienkonsumenten sind Goethes Schriften oft schwer zu lesen. Es drängt sich uns die Frage auf, wie aktuell seine Einsichten und seine allegorischen Anspielungen auf die griechische Sagenwelt eigentlich sind. Sicher hat uns auch ein Pauker in der Literaturstunde den Zugang dazu verkorkst. Rudolf Steiner, der als junger Philosoph als Redakteur einer Weimarer Ausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes tätig war, macht darauf aufmerksam, dass es weniger der Inhalt als die Denkart ist, die uns bei Goethe interessieren sollte (Steiner 1962). Diese Denkart überwindet das Verhaftetsein in wissenschaftlichen Schablonen, die zwar für die anorganische, physikalische Welt angemessen sind, aber mit der organischen, belebten Welt nichts Gescheites anzufangen wissen. Diese Methode Goethes, die den Erscheinungen der organischen Welt gerecht wird, nennt Steiner die goetheanistische Methode oder Goetheanismus.
Dieser Goetheanismus ist ein wesentlicher Bestandteil der biologisch-dynamischen Landwirtschaft, daher wollen wir ihn uns etwas näher ansehen. Ich kam zum ersten Mal mit dieser Methode in Berührung, als wir im Garten von Aigues Vertes einen starken Lausbefall auf den Bohnen hatten. Wie in der Einführung schon geschildert, war ich sofort zur Hand mit einer starken Tabakbrühe, mit der ich die Läuse vergiften wollte. Der Gärtnermeister Manfred Stauffer ließ dies jedoch nicht zu, sondern hockte sich hin, strich über sein Kinn, kratzte sich am Kopf und murmelte Unverständliches, ehe er sagte, dass wir überhaupt nichts unternehmen sollten. Er habe eben überlegt, wie das Phänomen der Läuse zu bewerten sei, anstatt blindlings schematisch darauf zu reagieren. Fruchtfolgen, Wetter und Düngung hatte er an seinem geistigen Auge vorbeiziehen lassen. »Es gilt, die angemessenen Gedanken dem Phänomen gegenüberzustellen, nicht Hypothesen aufzuzwingen!«, belehrte er seine erstaunten Zuhörer. Der Vorgang war eine Lektion in der goetheanistischen Methode.
»Bei Betrachtung der Natur im großen wie im kleinen hab ich unausgesetzt die Frage gestellt: Ist es der Gegenstand oder bist du es, der sich hier ausspricht?«
(Goethe, Sprüche in Prosa)
Dem Goetheanismus liegt eine genaue Naturbetrachtung, ein radikaler Empirismus zugrunde. Aus dieser Betrachtung selbst sollen die richtigen Gedanken fließen, die der Erscheinung angemessen sind, nicht aus irgendwelchen erlernten Begriffen, Schablonen, Hypothesen oder voreiligen Schlüssen:
»Es ist eine schlimme Sache, die doch manchem Beobachter begegnet, mit einer Anschauung sogleich eine Folgerung zu verknüpfen und beide für gleichgeltend zu achten.«
(Sprüche in Prosa)
»Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gern los sein möchte und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt.«
(Sprüche in Prosa)
»Die Sinne trügen nicht, aber das Urteil trügt.«
(Sprüche in Prosa)
Ebenso wie Goethe die schnelle Schlussfolgerung verwirft, weist er auch den primitiven Empirismus zurück, der nur die Tatsachen sammelt und addiert. Für ihn ist die Beobachtung der von außen an die Menschen herantretenden Erscheinungen nur die halbe Sache. Diese äußere Erscheinungshälfte muss ergänzt werden durch die von innen aufsteigende Idee. Jedes Wesen hat eine äußere Erscheinungsform und eine innere, zugrunde liegende Idee, die das klare, reine Denken wahrnehmen kann. Das Denken ist also ein Wahrnehmungsorgan! Während die genaue, ungetrübte Beobachtung der Erscheinungen nur einzelne Wesen, nur Einzeldinge und Spezialfälle ermittelt, gibt das Denken uns das Allgemeine, den grundlegenden »Typus«, die Idee des Organismus. Wir sehen verschiedene, einzelne Würmer, aber durch das klare Denken erkennen wir die »Wurmheit«. Wenn dieses innere Prinzip fehlen würde, dann würde die Erscheinungswelt in eine zusammenhanglose Ansammlung von Einzelheiten zerfallen. Dieses innere Prinzip, das die Urbilder und Ideen wahrnimmt, nennt Goethe die anschauende Urteilskraft. Das Erkennen kommt von innen, ungefähr so wie geistreiche Einfälle. Wir denken also nicht über die Dinge nach, sondern in die Dinge, in ihr Wesen hinein.
Dies ist eine ganz andere Erkenntnistheorie als diejenige, die in der heutigen Wissenschaft gepflegt wird, in der man von einer objektiven Welt »da draußen« spricht, die nicht viel mit unserer inneren »subjektiven« Welt der Gedanken zu tun hat, höchstens dass wir wie ein Computer Informationen von außen in unsere Datenbanken im Gehirn aufnehmen. Nach Goethe ist die innere Welt der Gedanken weder nur subjektiv noch eine Akkumulation von gespeicherten Informationen, sondern sie ist ein ebenso objektiver wie ideeller Bestandteil der Welt, in der wir leben. Die Gedanken nehmen eben die Innenseite des Universums wahr wie die Augen und Sinne die Außenseite.
Natürlich kann man falsch denken, genauso wie man falsch beobachten kann. Die schnellen, lauten, abstrakten Hypothesen und Gedankengerüste sind meistens falsches, den Phänomenen nicht entsprechendes Denken. Ebenso sind hastige, oberflächliche Beobachtungen oder durch umständliche, technische Instrumente vermittelte Beobachtungen falsch, das heißt, sie verzerren die Erscheinungen:
»Mikroskope und Fernrohre verwirren eigentlich
den reinen Menschensinn!«
(Sprüche in Prosa)
Der greise Goethe hat aus diesem Grund nicht einmal Brillengläser tragen wollen. Sein Alter Ego, Dr. Faust, drückt es folgendermaßen aus:
»Ihr Instrumente freilich spottet mein,
Mit Rad und Kämmen, Walz und Bügel:
Ich stand am Tor, ihr solltet Schlüssel sein;
Zwar euer Bart ist kraus, doch hebt ihr nicht die Riegel.
Geheimnisvoll am lichten Tag
Lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,
Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.«
Die durch die anschauende Urteilskraft gewonnene Idee ist holistisch und ganzheitlich, wie wir sie in der Landwirtschaft und im ökologischen Gartenbau so dringend brauchen. Sie ist das Gegenteil der Bruchstücke, Teilansichten und Prokrustesbetten, wie sie uns vom Labor zurechtgeschustert werden.
Der Goetheanismus kennt kein experimentelles Ausschalten von »unwesentlichen und irrelevanten Faktoren«. Alle Faktoren, die zur Erscheinung dazugehören, ergeben den Erscheinungszusammenhang, zu dem die Idee gehört. Es ist des Teufels (Mephistopheles’) Rat an den naiven Studenten, im experimentellen Modell »unwesentliche« Umstände aus dem Spiel zu lassen:
»Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist herauszutreiben,
Dann hat er die Teile in der Hand,
Fehlt leider! Nur das geistig Band.«
In der Iatromathematik, einer Heilmethode der Renaissance, wusste man, dass man nicht schablonengläubig verallgemeinern oder Teile der Erscheinung weglassen kann. Man bezog alle Aspekte einer Krankheitserscheinung ein: den seelischen und physischen Zustand des Patienten, den Stand der Sterne und die Disposition des Arztes. Man suchte für jeden Einzelfall die Kräuter und stellte bei günstigem Horoskop die Medizinpräparate her.
Der Cherokeemedizinmann Rolling Thunder wehrt sich gegen den Versuch einer medizinwissenschaftlichen Kommission, bei ihm diejenigen Elemente zu isolieren, die seine schamanistische Methode so erfolgreich machen: »Es gibt keine Experimente. Es gibt nur die wirkliche Situation. Wie kann denn überhaupt die ›Wissenschaft‹ die Medizin der Indianer bewerten, wenn sie nicht einmal begreift, dass alle Umstände zur wirklichen Situation gehören. Es gehört die Hoffnung auf ein ungewöhnliches Ergebnis, der Glaube an dieses Ergebnis, eine besondere Einstellung zur Sonne, zur Erde und zur ganzen Natur dazu (…) Es fehlt ›Objektivität‹ und Skepsis« (Boyd 1974: 10).
Vom Sichtbaren zum unsichtbar Wahren
Im Garten trifft Ähnliches zu. Wir dürfen nicht unsere schlauen Theorien, die wir uns aus der Schule oder aus Büchern geholt haben, gedankenlos auf den Garten übertragen. Unsere Gedanken müssen sachlich aus dem, was vor uns liegt, hervorgehen.
Im Januar jeden Jahres wird in Dornach an der naturwissenschaftlichen Sektion des Goetheanums ein Ausbildungskurs für junge Gärtner und Landwirte veranstaltet, dessen Ziel ist, ihnen die schöpferischen Ideen, die in der Natur walten, bewusst zu machen. Man versucht, die Formen und Bewegungen in den Naturreichen durch körperliche Bewegungen nachzuvollziehen oder sie mit Farbe und Modellierton nachzugestalten. Jeden Tag, ob Regen oder Sonnenschein, unternimmt man einen Spaziergang durch die Natur und erlebt das gleiche Stück Weg bei verschiedenen Licht- und Witterungsverhältnissen. Man wird nicht aufgefordert, seine Beobachtungen zu erklären oder zu benennen, sondern ständig nur wahrzunehmen, bis die entsprechende »Idee« sich selbst aus den beobachteten Erscheinungszusammenhängen herausschält.
Übung in Erscheinungszusammenhängen.
Der Pfad führte immer an einer merkwürdigen alten, dreistämmigen Eiche vorbei, an deren Südseite eine Gruppe junger Tannen wuchs. Ihre schweren Hauptäste wuchsen gegen Nordosten; die Stämme waren mit jungen Sprossen bewachsen, als hätte man Pfeile in sie hineingeschossen. »Versucht einmal, aus der Betrachtung heraus die Frage zu beantworten, warum dieser Baum so eigenartig gewachsen ist«, forderte uns der Leiter auf.
Wir schauten. Der Boden war Kalkmergel, der hier üblicherweise eine Eichen-Buchen-Klimaxvegetation hervorbringt. Wir zählten die Knoten an den Tannen: Es waren zwölf. Wir zählten die Jahresabschnitte an den Sprossen am Eichenstamm: Sie waren zehn Jahre alt. Vor dem inneren Blick ergab sich das Bild, wie es vor einem Dutzend Jahren hier ausgesehen hatte. Wo jetzt die Tannenbäumchen wuchsen, stand ein hoher Wald. Dieser Baum am Nordsaum des Waldes war als einziger stehen gelassen worden. Seine Südseite war beschattet gewesen, daher die Richtung des Wachstums der Hauptäste nach Norden. Nachdem man die anderen Bäume gefällt hatte und Licht auf den Stamm fiel, erwachten die schlafenden Sprossen und begannen zu wachsen. Zur gleichen Zeit wurden junge Tannen gepflanzt. Und warum hatte der merkwürdige Baum drei Hauptstämme? Vor noch viel längerer Zeit hatte man den jungen Baum einmal gefällt. Drei Seitensprossen wuchsen dann zu einem neuen Baum heran.
Wir waren erstaunt, wie genau man sich ein Bild machen kann von etwas, was nicht mehr sichtbar ist, wenn man, wie ein Indianer die Fußspuren, die Phänomene genau liest. Ohne zu Fantasieren hatten wir uns anhand des noch Sichtbaren ein wahres Bild vom nicht mehr Sichtbaren geschaffen.
Der Gärtner sollte sich ähnlich darin üben. Er muss ja ungefähr wissen, wie sein Garten im nächsten Jahr aussehen wird, und muss sich merken, wie sich seine Gestalt von Jahr zu Jahr verwandelt hat. Er muss sich ein inneres Bild davon machen können, wie weit auseinander die Setzlinge und Bäume zu pflanzen sind. Anfänger säen und pflanzen immer alles zu dicht.
Um diese Fähigkeiten zu entwickeln, kann man folgende Übungen machen. Man kann einen Samen in die Hand nehmen, sich genau Schritt für Schritt vorstellen, wie er keimt, seine Blätter und Wurzeln entfaltet, wie er blüht und neue Samen hervorbringt. Dann denkt man sich den ganzen Vorgang wieder rückwärts bis zum Samen, den man in der Hand hält. Dabei darf man nicht in andere Vorstellungen oder in die Fantasie abschweifen, sondern muss getreu bei der Sache bleiben. Etwas Ähnliches tun die Priester der Puebloindianer im Winter in ihren Kivas. In diesen unterirdischen Tempeln nimmt einer der Priester-Zauberer ein Maiskorn in die Hand, lässt es keimen, sprossen und aufblühen, bis es zum reifen Kolben herangewachsen ist; dann lässt er es sich wieder zum Samenkorn zurückentwickeln. Dies geschieht innerhalb weniger Sekunden. Die Indianer schwören, dass es sich tatsächlich um den wirklichen Mais handelt, der im nächsten Jahr wachsen wird. Sie »sehen« eben in ihren dunklen, unterirdischen Zeremonialräumen das Wesen des Maises. Dieses Wesen nimmt dann im Sommer auf den Feldern der Puebloindianer mannigfache Gestalt in der Erscheinungswelt an.
Um in das Wesen der makrokosmischen Natur einzusteigen, brauchen wir klare Sinne. Wir dürfen unsere Beobachtungen nicht durch Übertragungen von Wunschdenken, Abstraktionen oder Fantasien trüben. Jede innere und äußere Wahrnehmung braucht jedoch Begriffe, Worte und Bilder, die die Träger des Gedankens sein können und durch die man sie mitteilen kann. Wir können zwar rein wahrnehmen, aber zum Mitnehmen des Wahrgenommenen wählen wir treffende Sinnbilder. Der Wein des klaren Geistes braucht Schläuche, Flaschen und Fässer. Diese Hüllen und Einkleidungen werden durch die mythologischen Strukturen, ja durch die Sprache selbst gegeben, die eine Kultur im Laufe der Jahrtausende entwickelt hat. Märchenbilder, Sagen und alchemistische Allegorien können die Träger des Verständnisses ganz genau erkannter Naturvorgänge sein. Nur muss man diese allegorische Sprache, ihre Metaphern und Grammatik beherrschen, um sie zu verstehen.
Goethe bevorzugte die reiche Bilderwelt der alten Griechen und kleidete sein unübertreffliches Naturverständnis in die Sagenmotive und Götternamen dieser Kultur. Weil wir uns heutzutage weitgehend von der klassischen Bildung entfernt haben und stattdessen die Allegorien der Maschinenwelt oder Motive aus der Unterhaltungsindustrie bevorzugen, verstehen wir kaum mehr, was der Dichter Wesentliches zu sagen hatte. Wer kann sich denn noch etwas unter Oberon, Daphne, Epaphos, Circe und ähnlichen Namen vorstellen?
Nehmen wir als Beispiel ein physisch wahrnehmbares Ereignis. Im Spätherbst oder im Vorfrühling wandeln wir durch unseren Obstgarten. Frostkristalle glitzern im sanften Licht der Morgendämmerung auf den schwarzen Ästen. Plötzlich fallen die ersten Sonnenstrahlen auf die Zweige. Die Eiskristalle lösen sich und purzeln raschelnd auf die trockene Bodenstreu. Das Geräusch hält so lange an, bis die Sonne frei über dem Horizont steht. Der Raureif ist verschwunden.
Eine sachliche, materialistische Wissenschaft legt diesen Erscheinungen folgende Deutung zugrunde: »Wenn der Planet Erde in der diurnalen Rotation seine relative Position vis-à-vis der Sonne so weit verändert hat, dass die vom Stern ausgehenden Photonen direkt auf die Borke strahlen, dann beschleunigt sich die Brownsche Molekularbewegung der im Kristallgitter gebundenen H2O-Moleküle. Weil das Periderm der Rinde dunkel ist, absorbiert es das ganze Lichtspektrum. Die photoenergetischen Einheiten werden zu thermischen Einheiten umgewandelt. Beim Übersteigen des Schmelzpunktes (0° Celsius) dissoziieren sich die Moleküle aus dem kristallenen Bereich. Durch die Gravität der relativ viel größeren Masse des Planeten angezogen, bewegen sich die halbflüssigen Kristalle in Richtung des Oberbodenhorizonts, wo sie akustisch messbare Vibrationen beim Aufprall erzeugen, ehe sie in das Edaphon tropfen.«
Eine imaginative Erklärung des gleichen Phänomens entnimmt ihre Bilder weniger den Messinstrumenten und abstrakt formulierten Gesetzen der Physik und Chemie, sondern uralten, überlieferten Bildern, wie man sie im Märchen oder Mythos findet: »Der Sonnenkönig Helios kommt. Seine Schwester Eos, die schöne, rosenfarbige Morgenröte, deren Wagen von den beiden Rossen Lampos (Glanz) und Phaeton (Schimmer) gezogen wird, hat seinen Zug schon angekündet. In großer Eile ziehen sich die Gnomen, die sonst in den dunklen Kristalladern und Erzlagern der Erde arbeiten, vor dem Licht in die dunkle Erde zurück. Sie können die Sylphen nicht leiden und das direkte Sonnenlicht nicht vertragen; sie lassen sich viel lieber von den Wurzeln erzählen, was die Sonne tagsüber und im Jahreslauf macht. Hastig versuchen sie, die schönen Frostkristalle mitzunehmen, aber raschelnd entgleiten ihnen diese und fallen ins Laub. Die schalkhaften Undinen erhaschen die Kristalle und verwandeln sie spielend in glitzernde Wassertropfen, gerade als der goldene Sonnenwagen über die Berge gerollt kommt.«
Hier haben wir zwei Deutungen des Phänomens, eine wissenschaftliche und eine imaginative. Auf die Frage, welche richtig und welche falsch ist, können wir nur antworten: Beide sind richtig. Der Unterschied besteht darin, dass die wissenschaftliche Deutung vom Standpunkt der Messinstrumente und mathematisch-abstrakten Formulierungen ausgeht, vom Bereich des Untersinnlichen (der »ahrimanischen« Imagination), die die Welt als ein System von leblosen Kräften auffasst. Die bildhafte, mythologische Deutung hingegen geht vom Bereich der übersinnlichen Imagination aus, mit der man die Lebendigkeit und die Seelendurchdrungenheit der Schöpfung wahrnehmen kann. Es handelt sich nur um verschiedene Standpunkte des Beobachters.
Warum macht es etwas aus, wie man die Phänomene deutet? Wie man eine Sache anschaut und begreift, so wird man sie auch behandeln. Wenn man, als krasses Beispiel genommen, Behinderte als untermenschliche Fehlprodukte der Natur ansieht, wird man sie anders behandeln, als wenn man sie als Gotteskinder betrachtet, die Schwierigkeiten haben, sich in der physischen Welt zu inkarnieren. Ebenso ist es mit dem Gartenbau und der Landwirtschaft. Im Garten haben wir es mit unzähligen, unmessbaren Wesen, mit Mineralien, Pflanzen, Insekten, Vögeln, Wetter und kosmischen Einflüssen zu tun, und eine auf Messen und Zählen eingestellte Wissenschaft vergewaltigt diese Komplexität. Eine imaginative Anschauung kann viel besser Bilder schaffen, die der komplexen Realität mit ihren unzähligen Verwandlungen eher gerecht wird. Bilder können mit Ganzheiten besser umgehen als das logisch folgernde, lineare Denken. Die Gärtner wissen das unbewusst und stellen sich deshalb ihre kitschigen Heinzelmännchen, den heiligen Franz und einen Wunschbrunnen mit Steinfröschen in den Garten. Die Bilder und Imaginationen repräsentieren tatsächlich vorhandene übersinnliche Sachverhalte, die im Garten wirksam sind, oder, modern ausgedrückt: Sie machen auf Parameter aufmerksam, die außerhalb unseres konzeptuellen Systems liegen.
Die Menschheit wird sich langsam dessen bewusst, dass die Ansichten der materialistischen Wissenschaft »teuflische« Eingebungen sind. Sie lassen die Seele und das eigentlich Lebendige außer Acht und zerstören mit chemischen Giften, Bioziden (griech. bios = Leben, lat. caedo = töten), invasiven Techniken, schweren, lärmenden Maschinen und stinkender Müllproduktion die Lebensgemeinschaft (Ökologie). Goethe lässt den Lebenshass des Teufels im »Faust« zum Ausdruck kommen:
»Und dem verdammten Zeug, der Tier- und Menschenbrut,
Dem ist nun gar nichts anzuhaben:
Wie viele hab’ ich schon begraben!
Und immer zirkuliert ein neues, frisches Blut.
So geht es fort, man möchte rasend werden!
Der Luft, dem Wasser, wie der Erden
Entwinden tausend Keime sich,
Im Trocknen, Feuchten, Warmen, Kalten!
Hätt’ ich mir nicht die Flamme vorbehalten,
Ich hätte nichts Aparts für mich.«
Lebendiges, imaginatives Denken wird dem landwirtschaftlichen Organismus, dem Gartenmikrokosmos als durchseeltes Wesen, viel eher gerecht. Ehrfurcht vor dem Leben und ein offenes Seelenauge begleiten dieses Denken. Dieses ist im Einklang mit der Natur, es enthält keine falsche Sentimentalität und kein romantisches Wunschdenken. Es hat auch nichts mit den toten Abstraktionen des so genannten ahrimanischen Denkens zu tun oder den rauschhaften, schwärmerischen Verirrungen, die Steiner die »luziferische Versuchung« nennt. Nein, des Gärtners Imaginationen sollen wahre Bilder, keine Trugbilder sein.
Die Urpflanze und die Eigenschaften des Lebendigen
Goethe hat durch seine »anschauende Urteilskraft« manche Naturrätsel lösen können. Auf seiner langen Italienreise sah er, dass bekannte Pflanzenarten im sonnigen, südländischen Klima fast nicht wiederzuerkennende Formen und Gestalten annahmen. Dabei kam ihm die Idee der »Urpflanze«, die sich in jedem Kraut und Strauch der Erde auslebt, aber nur mit dem inneren Blick zu erfassen ist. Es handelt sich weder um eine genetische Urform noch um eine induktive Abstraktion, sondern um einen realen Aspekt des Pflanzenwesens. Mit der Formulierung der Idee der Urpflanze schuf Goethe eine Methodologie, mit der man die Eigenart des Lebendigen besser verstehen kann als mit dem schwärmerischen Pantheismus der Romantiker oder den mechanistischen Erklärungen der Aufklärer (Descartes), denen das Uhrwerk als Begriffsmodell diente.
Einige Begriffe, die das Wesen des Lebendigen auszeichnen und es von dem toten Mechanismus unterscheiden, hat Goethe bei seinen Pflanzenbeobachtungen hervorgehoben:
Polarität. Ein dynamischer Zweierrhythmus und sich ständig steigernde Metamorphosen machen das Wesen der Urpflanze aus. Die Polarität drückt sich in der Pflanze in einem dauernden Wechselspiel von Ausdehnen und Zusammenziehen aus. Das festgefügte Samenkorn dehnt sich zu Keimblättern aus, in den Achsen zieht sich die Pflanze jedoch wieder in eine zusammengeballte Knospe zurück, die sich dann wiederum in Form von Blättern ausdehnen. In fortschreitender Metamorphose verengen sich die obersten Blätter der Idealpflanze zu kleinen Kelchblättern, erweitern sich zu Blütenblättern, ziehen sich zu Stempel und Staubblättern zusammen, erweitern sich wieder in der Frucht und ruhen schließlich konzentriert im neuen Samenkorn. Ein Gesetz der Dialektik, des Yin-Yang tritt uns vor Augen, wobei jeder Widerspruch auf einer weiteren Stufe verwandelt und gelöst wird. Man kann diese Stadien nie alle auf einmal sehen, immer manifestiert sich nur ein beschränkter Teil vor unseren Augen. Die Ganzheit steht aber vor dem inneren Auge. Es ist die Ganzheit, die die eigentliche Pflanze ausmacht, nicht nur der eben materialisierte Teil.
In dieser Polarität machen sich eine senkrechte, dem Stengel entsprechende Tendenz und eine waagrechte, flächenbildende Tendenz bemerkbar, die einander durch die sich spiralförmig drehende Anordnung der Blätter um den Stengel ausgleichen.14 Wir können Pflanzentypen danach beurteilen, welche Tendenz vorherrscht. Beim Getreide herrscht die vertikale Stengeltendenz, beim Kürbis und den Blattgemüsen hingegen die horizontale Blattendenz vor. Eine weitere Gegensätzlichkeit im Pflanzenreich besteht im Wachstum der oberirdischen Teile in Richtung des Zenit gegenüber dem Wurzelwachstum in Richtung der Erdmitte (Nadir). Hier kommen die Schwerkraft und das entgegengesetzte Prinzip der Leichtkraft zum Ausdruck.15 Eine weitere der vielen Polaritäten im Lebensbereich ist jene von Tier (Biene) und Pflanze (Blume).
Metamorphose. Das Lebewesen verwandelt sich, metamorphosiert aus einem unsichtbaren Inneren heraus. Was für ein Wunder, wenn der steinhart gefrorene Boden taut und im März zarte, duftende Krokusse, Schneeglöckchen und Himmelsschlüssel hervortreibt und wenn im Mai der einst harte, scheinbar tote Apfelzweig Blätter und Blüten hervorzaubert. Maschinen und leblose Automaten können etwas Neues nur durch Addition von außen her bilden, eine innere Entfaltung in diesem Sinne gibt es nicht. Ein Samenkorn wächst nicht nur zu einem Riesensamen heran, sondern es verwandelt sich andauernd. Legt man uns einen uns unbekannten Samen vor die Augen, können wir nicht wissen, was für Blätter, Blüten oder Früchte darin verborgen sind, auch wenn wir den Samen unter das Mikroskop legen und ihn genaustens sezieren.
Steigerung. Je länger eine Maschine läuft, umso eher wird sie abgenutzt und verbraucht Treibstoff, bis sie still steht. Rein mineralischphysikalische Gebilde zerfallen nach einer Zeitspanne. Das Gegenteil ist bei einem biologischen System der Fall. Je mehr Leben in einem Ökosystem ist, umso mehr Leben kann es hervorbringen. Eine Monokultur oder viehlose Landwirtschaft braucht immer ein Übermaß an Fremdenergie, um zu funktionieren. Wenn aber eine Pflanzen- und Tiervielfalt vorhanden ist, steigert sich die allgemeine Lebensaktivität. Man kann dann ohne weiteres von einem landwirtschaftlichen Organismus sprechen, der selbstregenerationsfähig ist. Sich gegenseitig steigernde Lebenskreisläufe und Geselligkeit (Symbiose), nicht abbauende Konkurrenz der Arten, kennzeichnen diesen gesunden Organismus.
Der Gärtner muss sich die anschauende Urteilskraft, mit der er hinter die Erscheinungen sehen kann, erwerben. Dieses »Hellsehen« erlaubt es ihm, mit dem Wesen und nicht nur mit den äußeren Symptomen zu arbeiten. Bei jeder Erscheinung muss er sofort auf die dazugehörige Polarität schließen, auch wenn diese nicht unmittelbar sichtbar ist. Er muss die Stufen der Metamorphose kennen, um zu wissen, ob sich die Pflanzen artgemäß entwickeln. In seinem Inneren muss er jeden Schritt, den das Lebewesen im Makrokosmos vollzieht, mitvollziehen. Er muss die Ganzheit im Auge behalten, damit er Einseitigkeiten erkennen kann. Er muss die Polaritäten zu steigern wissen und den Garten zu einer immer vollkommeneren Lebendigkeit führen.
14 Ein weiteres Grundprinzip des pflanzlichen Wachstums, das Goethe als fast Achtzigjähriger beim Studium des Riesenbärenklaus in seinem Garten entdeckte, ist die spiralige Anordnung der Knospen und Blätter an den Stengeln. Die Spiraltendenz, wie er die Urbewegung des Lebendigen nannte, fand er offen oder versteckt überall im Pflanzenwachstum (Balzer 1976: 150).
15 Ein Bauer, der wahrscheinlich John Ruskin gelesen hatte, drückte es so aus: »Newton wollte wissen, warum ihm der Apfel auf den Kopf gefallen ist; ich aber will wissen, wie er überhaupt auf den Baum gekommen ist.«