Ist der Geist erkannt, ist das
der Buddha.
The Wisdom of the Passing Moment Sutra
Sie sind nicht das beschränkte, von Angst und Sorge erfüllte Wesen, für das Sie sich halten. Jeder buddhistisch geschulte Lehrer kann Ihnen mit aller aus persönlicher Erfahrung erwachsenen Überzeugung sagen, dass Sie in Wirklichkeit die Essenz von Mitgefühl sind; dass Sie vollkommen gewahr und absolut fähig sind, nicht nur für sich selbst, sondern für jeden und alles Ihnen Vorstellbare das höchste und umfassendste Wohl zu erlangen.
Das einzige Problem ist, dass Sie das alles nicht erkennen. Meine Unterhaltungen mit Experten in Europa und den USA ließen mich begreifen, dass – strikt wissenschaftlich gesprochen – die meisten Menschen irrtümlicherweise ihr gewohnheitsmäßig aufgebautes, neuronal konstruiertes Selbstbild für das halten, was und wer sie wirklich sind. Und diese Vorstellung von einem selbst wird fast immer auf dualistische Weise zum Ausdruck gebracht: ich und andere, Schmerz und Lust, Haben und Nichthaben, Anziehung und Abneigung. Wie man mir erklärte, sind dies die fundamentalsten Begriffe des Überlebens.
Wenn der Geist durch diese dualistische Perspektive eingefärbt ist, ist leider jede Erfahrung – auch die Momente von Freude und Glück – an irgendein Gefühl der Begrenzung gekettet. Im Hintergrund lauert immer ein Aber. Und eine Art von Aber ist das Aber der Verschiedenheit oder des Anderen. »Oh, meine Geburtstagsparty war wunderbar, aber ich hätte lieber eine Schokoladentorte statt eines Karottenkuchens gehabt.« Dann gibt es da das Aber des »Besseren«. »Ich habe mein neues Haus sehr gern, aber das Heim meines Freundes John ist größer und hat mehr Licht.«
Und schließlich gibt es noch das Aber der Angst. »Ich kann meinen Job nicht ausstehen, aber wie soll ich in diesem Marktbereich je einen anderen finden?« Die persönliche Erfahrung hat mich gelehrt, dass es möglich ist, jegliches Gefühl von persönlicher Begrenztheit zu überwinden. Ansonsten würde ich wahrscheinlich immer noch in meinem Retreatkämmerchen sitzen, zu viel Angst haben und mich zu unzulänglich fühlen, um an Gruppenpraxisübungen teilzunehmen. Als Dreizehnjähriger lernte ich nur, wie ich über meine Angst und Unsicherheit hinwegkommen konnte. Unter der geduldigen Anleitung von Experten auf den Gebieten der Psychologie und Neurowissenschaft, wie zum Beispiel Francisco Varela, Richard Davidson, Dan Goleman und Tara Bennett-Goleman, habe ich nun zu erkennen begonnen, warum die Praxisübungen aus objektiv wissenschaftlicher Sicht tatsächlich funktionieren: dass die Gefühle von Begrenztheit, von Sorgen und Angst einfach nur neuronales Geschwätz sind. Sie sind im Kern Gewohnheiten. Und Gewohnheiten kann man sich abgewöhnen.
NATÜRLICHER GEIST
Man nennt sie »wahre Natur«, weil
niemand sie geschaffen hat.
Chandrakirti: Beginn des Mittleren Weges
Mit zu den ersten Dingen, die ich als Buddhist lernte, gehörte, dass die grundlegende Natur des Geistes so unermesslich ist, dass sie das intellektuelle Verständnisvermögen vollkommen übersteigt. Sie kann nicht mit Worten beschrieben oder auf exakte Konzepte reduziert werden. Für einen Menschen wie mich, der sich mit begrifflichen Erklärungen sehr wohl fühlt, war das ein Problem.
Im Sanskrit, der Sprache, in der Buddhas Lehren ursprünglich festgehalten wurden, nennt man diese grundlegende Natur des Geistes Tathagatagarbha, was eine sehr subtile und kryptische Bezeichnung darstellt. Wörtlich bedeutet es »die Natur derer, die so gegangen sind«. »Die, die so gegangen sind«, sind die Wesen, die die vollkommene Erleuchtung erlangt haben – mit anderen Worten, Leute, deren Geist die gewöhnlichen, mit Worten zu beschreibenden Begrenzungen völlig hinter sich gelassen hat.
Sie werden mir sicher darin zustimmen, dass uns das hier nicht gerade sehr viel weiterhilft.
Andere, weniger wörtliche Übersetzungen haben aus Tathagatagarbha »Buddhanatur«, »wahre Natur«, »erleuchtete Essenz«, »gewöhnlicher Geist« oder auch »natürlicher Geist« gemacht – alles Begriffe, die auf die eigentliche Wortbedeutung nur wenig Licht werfen. Um Tathagatagarbha wirklich verstehen zu können, braucht man eine direkte Erfahrung. Und bei den meisten Menschen ereignet sie sich zunächst in Form von raschen, spontanen Einblicken. Als ich schließlich meinen ersten Einblick dieser Art hatte, erkannte ich, dass alles wahr ist, was die buddhistischen Texte darüber sagen.
Bei den meisten von uns ist der natürliche Geist oder die Buddhanatur durch unser von den neuronalen Gewohnheitsmustern geschaffenes beschränktes Selbstbild verschleiert oder verdunkelt –, wobei auch die neuronalen Gewohnheitsmuster an sich einfach eine Widerspiegelung der unbegrenzten Fähigkeit des Geistes sind, jede von ihm gewählte Bedingung zu erschaffen. Der natürliche Geist ist fähig, alles und jedes hervorzubringen, auch die Unkenntnis von seiner eigenen Natur. Mit anderen Worten, wenn wir den natürlichen Geist nicht erkennen, ist dies nur ein Beispiel für die unbeschränkte Fähigkeit des Geistes, alles, was er will, zu erzeugen. Wenn wir Angst, Traurigkeit, Eifersucht, Begehren verspüren oder irgendeine andere Emotion, die dazu beiträgt, dass wir uns verletzlich oder schwach fühlen, dann sollten wir uns mal auf die Schulter klopfen, denn wir haben gerade die unbegrenzte Natur des Geistes erfahren.
Wenn die wahre Natur des Geistes auch nicht direkt beschrieben werden kann, so bedeutet das nicht, dass wir nicht zumindest versuchen sollten, ein gewisses theoretisches Verständnis von ihr zu entwickeln.Auch ein begrenztes Verständnis ist wenigstens ein Wegweiser, der den Weg zur direkten Erfahrung aufzeigt. Der Buddha wusste, dass Erfahrungen, die unmöglich mit Worten beschrieben werden können, sich am besten mithilfe von Geschichten und Metaphern erklären lassen. In einer seiner Reden verglich er Tathagatagarbha mit einem von Schlamm und Schmutz bedeckten Goldklumpen.
Stellen Sie sich vor, Sie seien ein Schatzjäger und Sie entdecken eines Tages in der Erde einen Metallklumpen. Sie graben ein Loch, holen das Metall heraus, nehmen es mit nach Hause und fangen an, es zu säubern. Zunächst enthüllt sich nur ein Eckchen davon, glänzend und strahlend. Und während Sie den angesammelten Schlamm und Dreck nach und nach entfernen, offenbart sich der ganze Klumpen allmählich als Gold. Und nun frage ich Sie: Was ist wertvoller – der im Schlamm begrabene oder der gereinigte Goldklumpen? Tatsächlich ist beides gleich wertvoll. Der Unterschied zwischen dem schmutzigen und dem sauberen Klumpen ist nur etwas Oberflächliches.
Dasselbe gilt für den natürlichen Geist. Das neuronale Geschwätz, das Sie davon abhält, Ihren Geist in seiner ganzen Vollkommenheit zu sehen, ändert nichts an der grundlegenden Natur Ihres Geistes. Gedanken wie »Ich bin hässlich«, »Ich bin dumm« oder »Ich bin ein Langweiler« sind nichts weiter als eine Art biologischer Schlamm, der die strahlenden Qualitäten der Buddhanatur oder des natürlichen Geistes vorübergehend verdunkelt oder verdeckt.
Manchmal verglich der Buddha den natürlichen Geist auch mit dem Raum; nicht unbedingt mit dem Raum, so wie er von der modernen Wissenschaft verstanden wird, sondern vielmehr mit Raum im poetischen Sinn der tiefgründigen Erfahrung von Offenheit, die wir machen, wenn wir zum wolkenlosen Himmel aufblicken oder einen riesigen Raum betreten. Wie der Raum ist auch der natürliche Geist nicht von Ursachen oder Bedingungen abhängig. Er ist, er existiert ganz einfach: unermesslich und jenseits aller Beschreibung, der essenzielle Hintergrund, durch den wir uns bewegen und der uns einen Bezugsrahmen für die Unterschiede zwischen den von uns wahrgenommenen Objekten gibt.
NATÜRLICHER FRIEDE
Im natürlichen Geist gibt es weder Ab-
lehnen noch Annehmen, weder Verlust
noch Gewinn.
Der Dritte Gyalwang Karmapa, Song of Karmapa:
The Aspiration of the Mahamudra of True Meaning
Ich möchte klarstellen, dass der Vergleich zwischen dem natürlichen Geist und dem (kosmischen) Raum, so wie er von der modernen Wissenschaft beschrieben wird, mehr eine nützliche Metapher denn eine genaue Beschreibung ist. Beim Gedanken ans All stellen sich die meisten von uns einen leeren Hintergrund vor, vor dem alle möglichen Dinge in Erscheinung treten und verschwinden: Sterne, Planeten, Meteore, schwarze Löcher, Asteroiden – und auch Dinge, die noch gar nicht entdeckt wurden. Doch unsere Vorstellung vom Wesen des Raumes bleibt trotz all dieser Dinge unberührt. Soweit uns zumindest bekannt ist, hat sich der Raum bisher noch nicht über das beklagt, was in ihm stattfindet. Wir haben Millionen von Botschaften ins Universum geschickt und noch nie eine Antwort vernommen, die besagt: »Ich bin so sauer, dass ein Asteroid gerade meinen Lieblingsplaneten zertrümmert hat« oder »Wow, ich bin ganz aus dem Häuschen! Gerade ist ein neuer Stern geboren!«
Auf die gleiche Weise bleibt die Essenz des Geistes von unangenehmen, normalerweise als schmerzhaft oder leidvoll empfundenen Gedanken oder Situationen unberührt. Sie ist ganz natürlich friedvoll wie der Geist eines kleinen Kindes, das in Begleitung seiner Eltern durch ein Museum wandert. Während die Eltern ganz damit beschäftigt sind, die verschiedenen zur Schau gestellten Kunstwerke zu beurteilen und einzuschätzen, schaut das Kind einfach nur. Es fragt sich nicht, wie viel ein Kunstwerk gekostet haben mag, wie alt eine Statue ist oder ob das Werk des einen Malers besser ist als das des anderen. Es betrachtet alles mit vollkommen unschuldigem Blick, nimmt alles an, was es sieht. Diese unschuldige Art der Sicht bezeichnet man im Buddhismus als »natürlichen Frieden«, einen Zustand ähnlich der totalen Entspannung, die etwa jemand erleben mag, der gerade aus dem Fitnessstudio kommt oder eine schwierige Arbeit erledigt hat.
Es ist eine Erfahrung, die gut durch die alte Geschichte von einem König veranschaulicht wird, der einen neuen Palast erbauen ließ. Als das neue Gebäude vollendet war, stand er vor dem Problem, heimlich all seine Schätze – Gold, Juwelen, Statuen und andere Gegenstände – vom alten in den neuen Palast bringen zu müssen. Er selbst konnte diese Aufgabe nicht übernehmen, weil ihm seine königlichen Pflichten keine Zeit dazu ließen. Andererseits gab es an seinem Hof auch kaum Leute, an die er diese Aufgabe übergeben konnte, ohne dass sie ihm einige Schätze stahlen. Doch da war ein getreuer General, dem er vertrauen konnte und der imstande war, diesen Job unter völliger Geheimhaltung und mit großer Effizienz zu erledigen.
Also rief der König den General zu sich und bat ihn, diesen äußerst wichtigen und schwierigen Auftrag zu übernehmen. Abgesehen von der Geheimhaltung war das Schwierigste an diesem Job, dass er binnen eines einzigen Tages erledigt werden musste. Wenn der General das schaffte, würde er, der König, ihm zum Lohn große Ländereien mit fruchtbarem Ackerland, stattlichen Anwesen, Gold und Juwelen schenken – genug Reichtümer, um sich für den Rest des Lebens bequem zur Ruhe setzen zu können. Der General übernahm bereitwillig die Aufgabe und war ganz begeistert von der Aussicht, mit der Arbeit von nur einem Tag so viel Reichtum anzusammeln, dass seine Kinder, Enkel und Urenkel ihre Tage in aller Bequemlichkeit und Herrlichkeit verbringen konnten.
Er wachte früh am nächsten Morgen auf und machte sich daran, die Schätze des Königs vom alten in den neuen Palast zu schaffen, rannte immer wieder mit Kisten und Kästen voller Gold und Juwelen durch die Geheimgänge und gönnte sich nur eine kurze Mittagspause, um bei Kräften zu bleiben. Schließlich gelang es ihm, auch noch den letzten Schatz des Königs in die neue Schatzkammer zu bringen, und als die Sonne eben unterging, begab er sich zum König und berichtete, dass die Aufgabe vollbracht war. Der König gratulierte ihm, händigte ihm alle Urkunden und Dokumente für die versprochenen reichen Ländereien aus und gab ihm noch das Gold und die Juwelen, die ebenfalls Bestandteil des Lohnes waren.
Der General nahm nach seiner Heimkehr ein heißes Bad. Dann hüllte er sich in bequeme Gewänder, begab sich in sein Privatgemach und ließ sich mit einem tiefen Seufzer in einen Haufen weicher Kissen sinken. Er war erschöpft, doch zufrieden, dass er diese ihm übertragene, unglaublich schwierige Aufgabe erfolgreich abgeschlossen hatte. Erfüllt vom absoluten Gefühl der Zuversicht und der vollbrachten Leistung konnte er nun loslassen und die Freiheit erleben, genau so zu sein, wie er in diesem Moment war.
Dieser vollkommen einfache, natürliche Entspannungszustand ist das, was unter natürlichem Frieden verstanden wird.
Wie bei so vielen Aspekten des natürlichen Geistes übersteigt diese tiefe Erfahrung von natürlichem Frieden so sehr das, was wir normalerweise als Entspannung ansehen, dass es sich jeder Beschreibung entzieht. In klassischen buddhistischen Texten wird sie damit verglichen, dass man einem Stummen eine Süßigkeit zu essen gibt. Dieser macht zweifellos die Erfahrung von Süße, kann sie aber nicht beschreiben. Und ebenso ist die Erfahrung, den natürlichen Frieden unseres Geistes zu erleben, fraglos real, liegt aber jenseits unseres Vermögens, ihr mit Worten Ausdruck zu verleihen.
Wenn Sie sich also das nächste Mal zum Essen niederlassen und sich fragen sollten: »Was ist es, das denkt, dass dieses Essen gut – oder nicht so gut – schmeckt? Was ist es, das den Essvorgang erkennt?«, dann seien Sie nicht überrascht, wenn Sie gar nicht darauf antworten können. Beglückwünschen Sie sich stattdessen. Wenn Sie eine eindrückliche Erfahrung nicht mehr mit Worten beschreiben können, ist das ein Zeichen für Fortschritt. Es bedeutet, dass Sie zumindest Ihre Zehen in den Bereich der unsagbaren Weite Ihrer wahren Natur eingetaucht haben; ein sehr tapferer Schritt, den zu tun viele Leute, die zu sehr an die Vertrautheit mit ihrer Unzufriedenheit gewöhnt sind, nicht den Mut haben.
Gom, das tibetische Wort für Meditation, bedeutet wörtlich »vertraut werden mit«, und bei der buddhistischen Meditationspraxis geht es im Grunde darum, dass man sich mit der Natur des eigenen Geistes vertraut macht. Das ist ein bisschen so, wie wenn wir einen Freund auf immer tieferen und noch tieferen Ebenen kennen lernen. Und genau wie bei diesem Kennenlernen einer Freundin oder eines Freundes ist auch das Entdecken der Natur unseres Geistes ein allmählicher Prozess. Nur selten ereignet sich alles auf einmal. Der einzige Unterschied zwischen Meditation und gewöhnlicher gesellschaftlicher Interaktion besteht darin, dass bei der Meditation der Freund oder die Freundin, die Sie allmählich kennen lernen, Sie selber sind.
UNSEREN NATÜRLICHEN GEIST KENNENLERNEN
Wenn ein unerschöpflicher Schatz
in der Erde unter der Hütte eines ar-
men Mannes begraben läge, wüsste der
Mann nichts von ihm, und der
Schatz würde nicht zu ihm sprechen und sa-
gen: »Hier bin ich!«
Maitreya, Mahayana Uttaratantra Shastra
Der Buddha verglich den natürlichen Geist oft mit Wasser, das in seiner Essenz immer klar und rein ist. Schlamm, Ablagerungen und andere Unreinheiten mögen es zeitweilig trüben oder verschmutzen, aber wir können solche Unreinheiten herausfiltern und seine natürliche Klarheit wieder herstellen. Besäße das Wasser keine natürliche Klarheit, dann würde es, ganz egal wie viele Filter wir benutzten, nicht klar werden.
Der Buddha veranschaulichte den ersten Schritt hin zum Erkennen der Qualitäten des natürlichen Geistes mit einer Geschichte über einen sehr armen Mann, der in einer alten verfallenen Hütte hauste. In den Wänden und im Boden seiner Hütte steckten Hunderte von Edelsteinen, aber er ahnte nichts davon. All diese Juwelen waren in seinem Besitz, aber da er nichts von ihnen wusste, lebte er in elender Armut – litt unter Hunger und Durst, unter bitterer Kälte im Winter und schrecklicher Hitze im Sommer.
Eines Tages fragte ihn ein Freund: »Warum lebst du in solcher Armut? Du bist doch nicht arm, du bist ein sehr reicher Mann.«
»Spinnst du? Wie kannst du so etwas sagen?«, erwiderte der Arme.
»Schau dich doch um«, sagte sein Freund. »Dein ganzes Haus ist voller Edelsteine – Smaragde, Diamanten, Saphire und Rubine.«
Zunächst konnte der Mann es gar nicht glauben. Aber nach einer Weile wurde er neugierig, pickte einen kleinen Edelstein aus der Wand heraus und nahm ihn mit in die Stadt. Er brachte ihn zu einem Händler, und der zahlte ihm unglaublicherweise eine hübsche Summe dafür. Mit dem Geld kaufte sich der Mann nun ein neues Haus in der Stadt und nahm alle Edelsteine, die er finden konnte, dorthin mit. Er besorgte sich neue Kleider, füllte seine Vorratsschränke mit Nahrungsmitteln, stellte Diener ein und begann ein sehr komfortables Leben zu führen.
Nun lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen. Wer ist reicher – der Mann, der in einer alten Hütte inmitten von Edelsteinen haust, von denen er nichts weiß, oder der, der den Wert dessen, was er hat, kennt und absolut komfortabel lebt?
Wie schon bei der früheren Frage, bei der es um den Goldklumpen ging, lautet auch hier die Antwort: Beide sind gleich reich, beide sind im Besitz von großem Reichtum. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der eine viele Jahre lang nicht erkannte, was er hatte. Erst als er begriff, was sich da in seinem Besitz befand, konnte er sich von Armut und Schmerz befreien.
So ergeht es uns allen. Solange wir unsere wahre Natur nicht erkennen, leiden wir. Wenn wir sie erkennen, werden wir frei von Leiden. Deren Qualitäten aber bleiben unverändert, unabhängig davon, ob wir sie erkennen oder nicht. Doch wenn wir unsere wahre Natur zu erkennen beginnen, verändern wir uns und wird auch unsere Lebensqualität eine andere. Es beginnen sich Dinge zu ereignen, die wir nicht einmal im Traum für möglich gehalten hätten.
GEIST, BIOLOGIE ODER BEIDES?
Der Buddha weilt in unserem
eigenen Körper.
Samputa Tantra
Dass etwas nicht ausfindig gemacht werden kann, bedeutet noch nicht, dass es nicht existiert. Das beobachteten wir schon beim Versuch, den konkreten Sitz des Geistes auszumachen: Zwar gibt es reichlich Hinweise auf die mentale Aktivität, aber bisher konnte kein Wissenschaftler die Existenz des Geistes selbst nachweisen. Ebenso war noch kein Wissenschaftler imstande, die Natur und Eigenschaften von Raum auf grundlegendster Ebene präzise zu definieren. Aber wir wissen, dass wir einen Geist haben, und können auch nicht die Existenz des Raumes bestreiten. Geist und Raum sind tief in unsere Kultur eingewurzelte Begriffe. Wir sind mit diesen Begriffen und damit verbundenen Vorstellungen vertraut. Wir empfinden sie als normal und bis zu einem gewissen Grad als etwas ganz Gewöhnliches.
Hingegen sind wir mit Begriffen wie »natürlicher Geist« und »natürlicher Friede« nicht in gleichem Maße vertraut. Und folglich gehen viele Leute mit einiger Skepsis an sie heran. Doch lässt sich rechtens sagen, dass wir uns zumindest bis zu einem gewissen Grad dadurch mit dem natürlichen Geist vertraut machen können, dass wir uns auch hier der Schlussfolgerung und direkten Erfahrung bedienen.
Der Buddha lehrte, dass sich die Wirklichkeit des natürlichen Geistes anhand eines bestimmten, für jedermann augenfälligen Merkmals demonstrieren lässt, dargestellt in Form einer Frage und einer Antwort. Die Frage lautete: »Was ist ganz allgemein das eine Grundanliegen, das alle Leute miteinander teilen?«
Wenn ich bei öffentlichen Belehrungen die gleiche Frage stelle, erhalte ich eine Reihe verschiedener Antworten. Manche sagen, dass das Hauptinteresse aller darin besteht, am Leben zu bleiben, glücklich zu sein, Leiden zu vermeiden oder geliebt zu werden. Andere Antworten lauten: Frieden, Fortschritt, Essen, Atmen, keine Veränderung, Verbesserung der Lebensumstände. Wiederum andere Antworten sind unter anderem, mit sich selbst und anderen in Harmonie zu leben, den Sinn des Lebens zu verstehen oder die Angst vor dem Tod zu überwinden. Eine Antwort, die ich ganz besonders lustig finde, ist: »Ich selber!«
Alle Antworten sind absolut korrekt, aber sie stellen lediglich Aspekte der letztendlichen Antwort dar.
Das Grundanliegen, das alle Wesen miteinander teilen – Menschen, Tiere und Insekten gleichermaßen – ist der Wunsch, glücklich zu sein und Leiden zu vermeiden.
Obschon jeder von uns eine andere Strategie anwenden mag, arbeiten wir am Ende doch alle für das gleiche Resultat. Selbst Ameisen halten nie still, nicht einmal eine Sekunde. Sie rennen die ganze Zeit herum, sammeln Nahrung und bauen oder erweitern ihre Nester. Und warum machen sie sich die ganze Mühe? Um irgendeine Art von Glück zu finden und Leiden zu vermeiden.
Der Buddha sagte, dass der Wunsch, dauerhaftes Glück zu erlangen und Leiden zu vermeiden, das eine untrügliche Zeichen für die Anwesenheit des natürlichen Geistes sei. Tatsächlich gibt es noch viele andere Indikatoren, doch wenn man sie alle aufzählen wollte, ergäbe das vermutlich ein eigenes Buch. Und warum hat der Buddha diesem einen speziellen Zeichen so viel Bedeutung beigemessen?
Weil die wahre Natur aller Lebewesen bereits völlig frei von Leiden und mit vollkommenem Glück ausgestattet ist: Indem wir nach Glück streben und Leiden zu vermeiden suchen, bringen wir – ganz gleich, wie wir die Sache angehen – nur die Essenz dessen, der wir sind, zum Ausdruck.
Das sehnliche Verlangen nach dauerhaftem Glück, das die meisten von uns empfinden, ist die »leise innere Stimme« des natürlichen Geistes, die uns an das erinnert, was wir in Wirklichkeit zu erfahren und zu erleben vermögen. Der Buddha veranschaulichte dieses Sehnen durch das Beispiel einer Vogelmutter, die ihr Nest verlassen hat. Ganz gleich, wie schön der Ort ist, zu dem sie geflogen ist, ganz gleich, wie viele neue und interessante Dinge sie dort erblickt, etwas drängt sie beständig zur Rückkehr zu ihrem Nest. Und so ist es auch mit uns. Ganz gleich, wie sehr uns das Alltagsleben in Anspruch nimmt – egal, wie großartig es sich vorübergehend anfühlen mag, verliebt zu sein, gelobt zu werden oder den absolut »perfekten« Job zu bekommen –, die Sehnsucht nach einem Zustand vollständigen, ununterbrochenen Glücks zerrt an uns.
In gewisser Weise haben wir Heimweh nach unserer wahren Natur.
WIR SELBST SEIN
Wir müssen unseren Grundzu-
stand erkennen.
Tsoknyi Rinpoche: Carefree Dignity
Dem Buddha zufolge kann die grundlegende Natur des Geistes ganz einfach dadurch erfahren werden, dass wir den Geist, so wie er ist, ruhen lassen. Wie bringen wir das zuwege? Kommen wir auf die Geschichte von dem General zurück, der mit der Aufgabe betraut war, binnen eines Tages des Königs Schätze von einem Palast in den anderen zu schaffen. Und erinnern wir uns daran, wie entspannt und zufrieden er war, als er seinen Job zu Ende gebracht hatte. Er saß nach seinem heißen Bad auf seinen Kissen und sein Geist war vollkommen zur Ruhe gelangt. Gedanken stiegen nach wie vor auf, aber er war es zufrieden, sie aufsteigen und wieder verschwinden zu lassen, ohne einem nachzuhängen oder irgendeinen Gedankengang zu verfolgen.
Wahrscheinlich haben Sie schon etwas Ähnliches erlebt, nachdem Sie eine langwierige und schwierige Aufgabe erledigt hatten, sei sie nun mit körperlicher oder mit geistiger Anstrengung verbunden gewesen, wie sie etwa das Schreiben eines Aufsatzes oder das Erstellen einer Finanzanalyse erfordern. Wenn Sie die Arbeit erledigt haben, kommen Geist und Körper in einem Zustand glücklichen Erschöpftseins ganz natürlich zur Ruhe.
Versuchen wir es nun also mit einer kurzen Übung, bei der wir den Geist ruhen lassen. Es ist keine Meditationsübung, eher könnte man es eine Übung in »Nichtmeditation« nennen, und es ist eine sehr alte buddhistische Praxis, die, wie mein Vater erklärte, den Druck der Vorstellung wegnimmt, dass man ein Ziel erreichen oder irgendeinen speziellen Zustand erlangen muss. In der Nichtmeditation beobachten wir einfach nur, was passiert, ohne uns einzumischen. Wir sind lediglich interessierte Beobachter bei einer Art introspektivem Experiment, ohne aber daran interessiert zu sein, wie das Experiment ausgeht.
Natürlich war ich, als ich mich zum ersten Mal daranmachte, dies zu erlernen, noch immer ein ziemlich zielorientiertes Kind. Wenn ich mich zum Meditieren hinsetzte, wollte ich immer, dass sich etwas ganz Wunderbares ereignete. Ich brauchte eine Weile, bis ich das mit dem simplen Ruhen raushatte, einfach nur zusah und mich um die Resultate nicht mehr bekümmerte.
Nehmen Sie als Erstes eine Körperhaltung ein, bei der das Rückgrat gerade aufgerichtet und der Körper entspannt ist. Befindet sich der Körper in einer bequemen Haltung, lassen Sie Ihren Geist etwa drei Minuten lang einfach ruhen. Lassen Sie los, so als hätten Sie gerade eine lange und schwierige Arbeit hinter sich gebracht.
Was auch passiert, ob Gedanken oder Gefühle aufkommen, ob Sie der Sie umgebenden Laute oder Gerüche gewahr sind oder Ihr Bewusstsein völlig leer ist, bleiben Sie unbekümmert. Alles, was geschieht oder nicht geschieht, ist schlicht Teil der Erfahrung, den Geist ruhen zu lassen.
Verweilen Sie einfach im ruhigen Gewahrsein dessen, was auch immer Ihren Geist durchzieht …
Einfach ruhen …
Einfach ruhen …
Sind die drei Minuten vorbei, fragen Sie sich: Wie war diese Erfahrung ? Beurteilen Sie sie nicht; versuchen Sie keine Erklärung. Blicken Sie einfach noch einmal auf das Geschehen und Ihre Gefühle zurück. Vielleicht haben Sie eine kleine Kostprobe von Frieden oder Offenheit bekommen. Das ist gut. Oder Sie waren vielleicht einer Million verschiedener Gedanken, Gefühle und Empfindungen gewahr. Das ist auch gut. Warum? Weil Sie in beiden Fällen, solange Sie zumindest das bloße Gewahrsein von Ihren Gedanken oder Gefühlen aufrechterhalten haben, direkte Einsicht in Ihren Geist genommen haben, der nur seine natürlichen Funktionen ausgeübt hat.
Lassen Sie mich Ihnen also ein großes Geheimnis an vertrauen: Wenn Sie in einem beliebigen Moment Ihre Aufmerksamkeit einfach auf dem Geschehen in Ihrem Geist ruhen lassen, dann ist das Meditation, was auch immer Sie dabei erfahren oder erleben. Einfach in dieser Weise ruhig zu verweilen ist die Erfahrung des natürlichen Geistes.
Der einzige Unterschied zwischen der Meditation und dem üblichen alltäglichen Prozess des Denkens, Fühlens und Empfindens besteht darin, dass wir das simple nackte Gewahrsein anwenden, das eintritt, wenn wir unseren Geist einfach so ruhen lassen, wie er ist – ohne Gedanken nachzujagen oder durch Gefühle oder Empfindungen abgelenkt zu werden.
Ich brauchte lange, bis ich erkannte, wie einfach die Meditation wirklich ist, vor allem deshalb, weil sie so völlig normal, gewöhnlich und meinen Wahrnehmungsgewohnheiten so nahe zu sein schien, dass ich selten innehielt, um mir dies zu vergegenwärtigen. Wie viele andere Leute auch, denen ich nun auf meinen Lehrreisen begegne, dachte ich, dass der natürliche Geist etwas anderes sein müsse, etwas, das anders oder besser sei als das, was ich schon an Erfahrungen machte.
Wie die meisten Menschen brachte ich sehr viel Beurteilung und Bewertung in meine Erfahrung ein. Ich glaubte, dass Gedanken des Ärgers, der Wut, der Angst oder Furcht und so weiter, die über den Tag hinweg kamen und gingen, schlecht oder kontraproduktiv seien – zumindest aber mit dem natürlichen Frieden unvereinbar seien! Die Lehren des Buddha – und die in dieser Übung in Nichtmeditation enthaltene Lektion – besagen, dass wir, wenn wir uns entspannen und einen mentalen Schritt zurücktreten, allmählich erkennen können, dass all die verschiedenen Gedanken ganz einfach im Kontext eines unbegrenzten Geistes kommen und gehen, der wie der Raum auf fundamentale Weise ungestört bleibt, gleich was sich darin abspielt.
Tatsächlich ist es einfacher, den natürlichen Frieden zu erfahren, als ein Glas Wasser zu trinken. Um zu trinken, müssen Sie Mühe aufwenden. Sie müssen nach dem Glas greifen, es an die Lippen führen, das Glas neigen, damit das Wasser in den Mund gelangen kann, Sie müssen das Wasser schlucken und dann das Glas wieder abstellen. Um den natürlichen Frieden zu erfahren, ist keine solche Anstrengung nötig. Sie müssen einfach nur den Geist in seiner natürlichen Offenheit ruhen lassen. Es braucht keinen speziellen Fokus, keine spezielle Bemühung.
Und wenn Sie aus irgendeinem Grund den Geist nicht zur Ruhe bringen können, dann können Sie einfach beobachten, was an Gedanken, Gefühlen oder Empfindungen aufkommt, ein paar Sekunden lang dabeibleiben, sich dann wieder ausklinken und sagen: »Aha, das also geht gerade in meinem Geist vor sich.«
Wo Sie auch sind, was Sie auch tun, wesentlich ist, dass Sie Ihre jeweilige Erfahrung als etwas Gewöhnliches, Normales ansehen, als den natürlichen Ausdruck Ihres wahren Geistes. Wenn Sie keinen Versuch machen, das Geschehen in Ihrem Geist zu stoppen, wenn Sie es nur beobachten, werden Sie schließlich ein ungeheures Gefühl von Entspannung verspüren, ein immenses Gefühl von Offenheit in Ihrem Geist wahrnehmen – und genau das ist Ihr natürlicher Geist, der natürliche ungestörte Hintergrund, vor dem mannigfaltige Gedanken kommen und gehen. Gleichzeitig werden Sie neue neuronale Verbindungen herstellen, die, wenn sie an Stärke zunehmen, auch Ihre Fähigkeit steigern, die Gedankenflut auszuhalten, die in jedem gegebenen Moment durch Ihren Geist rauscht. Was immer an störenden oder verstörenden Gedanken aufkommt, wird als Katalysator fungieren, der Ihr Gewahrsein vom natürlichen Frieden stimuliert, denn dieser Frieden umgibt die Gedanken und durchdringt sie – ganz so wie der Raum jedes Teilchen in der Welt der Phänomene umgibt und durchdringt.
Aber nun ist es an der Zeit, diese allgemeine Einführung in den Geist zu beenden und dessen Merkmale detaillierter zu untersuchen. Sie fragen sich vielleicht, warum es denn nötig ist, noch mehr über den natürlichen Geist zu wissen. Reicht ein allgemeines Verständnis denn nicht aus? Können wir jetzt nicht einfach zu den praktischen Übungen übergehen?
Betrachten Sie es mal so: Würden Sie, wenn Sie in der Dunkelheit mit dem Auto unterwegs sind, nicht auch ein besseres Gefühl haben, wenn Sie eine genaue Autokarte dabeihätten statt einer nur vagen Ahnung davon, wo es hingehen soll? Ohne Karte und ohne irgendwelche Wegweiser könnten Sie sich verirren. Sie würden vielleicht alle möglichen falschen Abzweigungen und Seitenstraßen nehmen und die Reise damit komplizierter und langwieriger als nötig gestalten. Es könnte Ihnen passieren, dass Sie im Kreis fahren. Klar, Sie könnten wohl schließlich an Ihr Ziel gelangen – aber die Reise wäre erheblich einfacher, wenn Sie wüssten, wohin Sie fahren und wie Sie fahren müssen. Betrachten Sie also die nächsten beiden Kapitel als Landkarte, als eine Reihe von Richtungs- und Wegweisern, die Ihnen helfen können, rascher dahin zu gelangen, wo Sie hinwollen.