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LEERE: DIE WIRKLICHKEIT HINTER DER REALITÄT

Die Leere wird als die Basis beschrie-
ben, die alles möglich macht.

 

Der Zwölfte Tai Situpa Rinpoche:
Den schlafenden Buddha wecken

 

 

Das Gefühl von Offenheit, das die Menschen erfahren, wenn sie ihren Geist einfach friedlich ruhen lassen, ist im Buddhismus als Leere oder Leerheit bekannt, wahrscheinlich einer der am meisten missverstandenen Begriffe der buddhistischen Philosophie. Er ist für Buddhisten schon schwer genug zu verstehen, aber westlichen Lesern bereitet er noch mehr Schwierigkeiten, weil viele frühe Übersetzer buddhistischer Texte aus dem Sanskrit und Tibetischen die Leere als »das Nichts« interpretierten. Sie setzten irrtümlicherweise den Begriff der Leere oder Leerheit mit dem Gedanken gleich, dass gar nichts existent ist. Nichts könnte der Wahrheit ferner sein, die der Buddha zu beschreiben suchte.

Zwar lehrte der Buddha, dass die Natur des Geistes – ja, die Natur aller Phänomene – Leerheit ist, meinte damit aber nicht, dass diese wirklich leer ist so wie ein Vakuum. Er sagte Leerheit (Sanskrit Ihunyata), ein Begriff, der sich im Tibetischen aus zwei Worten zusammensetzt: tongpa-nyi. Das Wort tongpa bedeutet »leer«, aber nur im Sinne von etwas, das jenseits unserer Wahrnehmungsfähigkeit oder unseres Begriffsvermögens liegt. Vielleicht wäre »unbegreiflich« oder »unnennbar« eine bessere Übersetzung. Das Wort nyi hingegen hat in der tibetischen Umgangssprache keine besondere Bedeutung. Wenn es aber einem anderen Wort hinzugefügt wird, übermittelt es das Gefühl von »Möglichkeit« – das Gefühl, dass alles entstehen, alles passieren kann. Wenn wir tibetischen Buddhisten also über die Leerheit sprechen, meinen wir nicht das Nichts, sondern ein grenzenloses Potenzial, aufgrund dessen alles in Erscheinung treten, sich verändern oder verschwinden kann.

Vielleicht können wir hier einen Vergleich mit den Erkenntnissen der modernen Physik über die seltsamen und wunderbaren Phänomene anstellen, die sie bei ihren Untersuchungen der inneren Mechanismen eines Atoms beobachten. Nach Auskunft der Physiker, mit denen ich mich unterhalten habe, bezeichnet man die Basis, aus der alle subatomaren Phänomene hervorgehen, häufig als Vakuumzustand: der Zustand niedrigster Energie im subatomaren Universum. In diesem Vakuumzustand erscheinen und verschwinden Teilchen fortwährend. Somit ist dieser dem Anschein nach »leere« Zustand in Wirklichkeit sehr aktiv und voller Potenzial, um alles Mögliche hervorbringen zu können. So gesehen hat das Vakuum mit der »Leerheit des Geistes« gewisse Eigenschaften gemeinsam. So wie das Vakuum als »leer« betrachtet wird, aber die Quelle ist, aus der alle möglichen Arten von Teilchen in Erscheinung treten, ist auch der Geist nur insofern »leer«, als er sich einer absolut gültigen Beschreibung entzieht, aber aus dieser undefinierbaren und nicht vollständig erkennbaren Basis gehen ständig alle Gedanken, Gefühle und Empfindungen hervor.

Weil die Natur oder das Wesen unseres Geistes Leerheit ist, besitzen wir die Fähigkeit, eine potenziell grenzenlose Vielfalt an Gedanken, Gefühlen und Empfindungen wahrzunehmen und zu erfahren. Auch all die Missverständnisse in Bezug auf die Leerheit sind schlicht nur Phänomene, die aus der Leerheit hervorgehen!

Ein einfaches Beispiel mag Ihnen helfen, quasi auf der Erfahrungsebene zu einem gewissen Verständnis von der Leerheit zu gelangen.

Vor ein paar Jahren kam ein Schüler zu mir und bat mich um eine Belehrung über die Leerheit. Ich gab ihm die grundlegende Erklärung, und er schien darüber ganz glücklich – ja geradezu entzückt zu sein.

»Das ist ja so cool!«, sagte er am Ende unseres Gespräches.

Da ich aus eigener Erfahrung wusste, dass die Leerheit nach nur einer Lektion nicht so leicht zu verstehen war, wies ich ihn an, die nächsten sieben Tage über das, was er gelernt hatte, zu meditieren.

Ein paar Tage später stand der Schüler plötzlich vor meiner Tür, und in seinem Gesicht malte sich Entsetzen aus. Bleich, gebückt und zitternd durchquerte er ganz vorsichtig den Raum wie jemand, der den Boden vor sich auf Treibsand überprüft.

Als er schließlich vor meinem Sitzplatz haltmachte, sagte er: »Rinpoche, Sie haben mich angewiesen, über die Leerheit zu meditieren. Aber letzte Nacht kam mir plötzlich der Gedanke: Wenn alles Leerheit ist, so sind auch dieses Gebäude, seine Stockwerke und der Grund und Boden darunter Leerheit. Und wenn das so ist, warum sollten wir dann nicht durch den Fußboden und immer weiter hinabfallen?«

Ich wartete, bis er zu Ende gesprochen hatte. Dann fragte ich: »Wer würde fallen?«

Er dachte einen Augenblick über diese Frage nach, und dann wandelte sich sein Gesichtsausdruck vollkommen. »Oh«, rief er aus, »ich verstehe! Wenn das Gebäude Leerheit ist und die Leute Leerheit sind, dann gibt es niemanden, der fällt, und nichts, durch das man fällt.«

Er stieß einen lang gedehnten Seufzer aus, sein Körper entspannte sich, in sein Gesicht kehrte die Farbe zurück. Ich bat ihn nochmals, mit diesem neuen Verständnis über die Leerheit zu meditieren.

Zwei oder drei Tage später stand er erneut unerwartet vor meiner Tür und betrat wieder bleich und zitternd das Zimmer. Es war klar ersichtlich, dass er sehr bemüht war, möglichst den Atem anzuhalten, und dass er sich vor dem Ausatmen fürchtete.

Er ließ sich vor mir nieder und sagte: »Rinpoche, ich habe über die Leerheit meditiert, wie Sie mich angewiesen haben, und ich habe begriffen: So wie dieses Gebäude und der Grund darunter Leerheit sind, so bin auch ich Leerheit. Aber als ich diese Meditation weiter verfolgte, ging ich immer tiefer und tiefer, bis ich aufhörte, noch irgendetwas sehen oder fühlen zu können. Ich habe solche Angst, dass ich, wenn ich nichts weiter als Leerheit bin, einfach sterben werde. Deshalb kam ich an diesem Morgen zu Ihnen gerannt. Wenn ich nur Leerheit bin, dann bin ich im Grunde nichts, und es gibt auch nichts, was mich davon abhalten könnte, mich einfach ins Nichts aufzulösen.«

Als ich sicher war, dass er mit seiner Rede am Ende war, fragte ich: »Wer ist es, der sich auflösen würde?«

Ich wartete ein paar Augenblicke, damit er diese Frage verdauen konnte, und schob dann nach: »Du hast die Leerheit irrtümlicherweise für das Nichts gehalten. Fast jeder macht zu Anfang diesen Fehler, wenn er versucht, die Leerheit als eine Vorstellung oder ein Konzept zu begreifen. Du kannst sie nur durch direkte Erfahrung erkennen. Ich sage nicht, dass du mir glauben musst. Ich sage nur, dass du dich die nächsten Male, wenn du dich zum Meditieren hinsetzt, fragen sollst: ›Wer oder was kann sich auflösen, wenn die Natur von allem Leerheit ist?‹ Versuche es damit, und die Antwort, die du bekommst, wird dich vielleicht überraschen.«

Nach einem Seufzer willigte er ein, es noch einmal zu probieren.

Einige Tage später suchte er mich wieder auf und verkündete mit friedvollem Lächeln: »Ich glaube, ich fange an, die Leerheit zu verstehen.«

Ich bat ihn um eine Erklärung.

»Ich folgte Ihren Anweisungen, und nachdem ich lange über das Thema meditiert hatte, erkannte ich, dass die Leerheit nicht das Nichts ist, weil irgendetwas da sein muss, bevor nichts da sein kann. Die Leerheit ist alles und jedes – alle vorstellbaren Möglichkeiten von Existenz und Nichtexistenz, die sich gleichzeitig ereignen. Wenn also unsere wahre Natur Leerheit ist, dann kann man von niemandem sagen, dass er, sie oder es wirklich stirbt, und kann man von niemandem sagen, dass er, sie oder es wirklich geboren wird, weil die Möglichkeit des Seins und des Nichtseins in jedem Moment in uns gegenwärtig ist.«

»Sehr gut«, erwiderte ich. »Und jetzt vergiss alles, was du eben gesagt hast, denn wenn du versuchst, dich genau daran zu erinnern, wirst du alles, was du gelernt hast, in ein Konzept verwandeln, und dann müssen wir wieder von vorne anfangen.«

 

 

 

ZWEI WIRKLICHKEITEN:
ABSOLUT UND RELATIVa

Ohne auf Konventionen zurückzu-
greifen, kann das Absolute nicht ent-
hüllt werden.

 

Nagarjuna: Verse aus der Mitte
(Mulamadhyamakakarika)

 

 

Die meisten von uns brauchen Zeit fürs Kontemplieren und Meditieren, um die Leerheit zu verstehen. Wenn ich über dieses Thema Belehrungen gebe, lautet gewöhnlich eine meiner ersten Fragen: »Wenn die Basis der Wirklichkeit Leerheit ist, woher kommt dann alles?« Das ist eine gute, ja tatsächlich eine sehr tiefgründige Frage. Aber der Zusammenhang zwischen Leerheit und Erfahrung ist nicht so einfach – oder vielmehr, er ist so einfach, dass er uns leicht entgeht. Es ist das grenzenlose Potenzial der Leerheit, aus dem die Phänomene – ein Sammelbegriff, der Gedanken, Gefühle, Empfindungen und auch materielle Objekte mit einschließt – in Erscheinung treten können, in dem sie sich bewegen und verändern können und in das sie letztlich zurückkehren.

Statt mich nun auf ein Gespräch über die Quantenmechanik einzulassen – den heutigen Zweig der Physik, der die Materie auf der atomaren und subatomaren Ebene untersucht, zugegebenermaßen nicht gerade mein Fachgebiet –, lässt sich nach meiner Erfahrung dieser Aspekt der Leerheit am besten dadurch beschreiben, dass man auf den Vergleich mit dem Raum zurückkommt, so wie er zu Buddhas Zeiten verstanden wurde: eine unermessliche offene Weite, die nicht das Ding selbst ist, sondern vielmehr ein unendlicher merkmalsloser Hintergrund, vor dem und durch den Galaxien, Sterne, Planeten, Tiere, Menschen, Flüsse, Bäume und so weiter in Erscheinung treten und sich bewegen.

In der Abwesenheit von Raum könnte keines dieser Dinge in distinkter Weise oder auf individuelle Art zum Vorschein kommen. Es gäbe keinen Platz für sie, keinen Hintergrund, vor dem sie gesehen werden könnten. Sterne und Planeten können nur vor dem Hintergrund des Raums zum Sein gelangen, sich bewegen und sich wieder auflösen. Und auch wir können nur aufgrund des uns umgebenden Raums stehen, sitzen, gehen, ein Zimmer betreten und es wieder verlassen. Unser eigener Körper ist von Raum erfüllt: die Körperöffnungen, die uns das Atmen, Schlucken, Sprechen und so weiter ermöglichen, sowie auch der Raum in unseren inneren Organen wie etwa den Lungen, die sich beim Einatmen und Ausatmen öffnen und schließen.

Eine ähnliche Beziehung existiert zwischen der Leerheit und den Phänomenen. Ohne die Leerheit könnte nichts in Erscheinung treten; in der Abwesenheit der Phänomene könnten wir die Leerheit im Hintergrund nicht erfahren, aus der alles hervorgeht. So muss man also in gewisser Hinsicht sagen, dass zwischen der Leerheit und den Phänomenen eine Beziehung besteht. Aber es gibt auch einen wichtigen Unterschied. Die Leerheit oder grenzenlose unendliche Möglichkeit ist die absolute Natur der Wirklichkeit. Alles, was aus der Leerheit in Erscheinung tritt – Sterne, Galaxien, Lebewesen, Tische, Lampen, Uhren und auch unsere Wahrnehmung von Zeit und Raum –, ist ein relativer Ausdruck der grenzenlosen Möglichkeit, eine momentane Erscheinung im Kontext der Unendlichkeit von Zeit und Raum.

Ich möchte an dieser Stelle noch auf einen anderen außerordentlich wichtigen Unterschied zwischen der absoluten und relativen (oder konventionellen) Wirklichkeit hinweisen. Nach buddhistischem Verständnis – und offensichtlich auch einigen westlichen Denkmodellen der modernen Wissenschaft zufolge – kann nur etwas von absoluter Wirklichkeit sein, das unveränderlich ist, das nicht der Beeinflussung durch Zeit oder Umstände unterliegt oder in kleinere, miteinander verbundene Teile aufgespalten werden kann. Auf der Grundlage dieser Definition wurde ich gelehrt, dass die Leerheit – das unermessliche, undefinierbare Potenzial, das der Hintergrund aller Phänomene ist, ungeschaffen und unbeeinflusst von Ursachen und Bedingungen und den damit verbundenen Veränderungen –, dass also die Leerheit die absolute Wirklichkeit ist. Und da der natürliche Geist Leerheit ist, vollkommen offen und unbegrenzt durch irgendeine Art benennbarer oder definierbarer Merkmale oder Eigenschaften, kann man nicht behaupten, dass irgendetwas, das jemand über die Phänomene denkt oder sagt oder das ich über die Phänomene denke oder sage, deren wahre Natur definiert.

Mit anderen Worten, der absoluten Wirklichkeit kann nicht mit Worten, Bildern und nicht einmal mit den Symbolen mathematischer Formeln Ausdruck gegeben werden. Ich habe gehört, dass eine Reihe von Religionen ebenfalls die Anschauung vertritt, dass sich das Absolute nicht auf diese Weise zum Ausdruck bringen lässt, und sich weigert, das Absolute mit Benennungen oder Bildern zu beschreiben. In diesem Punkt zumindest ist sich der Buddhismus mit ihnen einig: Das Absolute kann nur durch Erfahrung erfasst werden.

Gleichwohl wäre es absurd, leugnen zu wollen, dass wir in einer Welt leben, in der die Dinge in Zeit und Raum erscheinen, sich verändern und verschwinden. Menschen kommen und gehen; Tische zerbrechen und splittern; jemand trinkt ein Glas Wasser, und das Wasser ist weg. In der buddhistischen Terminologie bezeichnet man diese Ebene der sich endlos wandelnden Erfahrung als relative Wirklichkeit – das heißt relativ im Vergleich zum unveränderlichen und undefinierbaren Zustand absoluter Wirklichkeit.

Es wäre also dumm, so zu tun, als würden wir keine Erfahrungen mit solchen Dingen wie Tischen, Wasser, Gedanken und Planeten machen; gleichzeitig können wir aber nicht behaupten, dass irgendetwas von diesen Dingen aus sich selbst heraus auf vollständige, eigenständige, unabhängige Weise existiert. Der Definition nach muss alles aus sich selbst heraus Existierende dauerhaft und unveränderlich sein. Es kann nicht in kleinere Bestandteile aufgespalten oder von den durch Ursachen und Bedingungen bewirkten Veränderungen berührt werden.

Das ist eine hübsche, intellektuelle Beschreibung des Verhältnisses zwischen absoluter und relativer Wirklichkeit. Aber sie liefert uns kein intuitives, unmittelbar eingängiges Verständnis, das wir brauchen, um diese Beziehung wirklich zu begreifen. Wenn der Buddha von seinen Schülern gedrängt wurde, die Beziehung zwischen absoluter und relativer Wirklichkeit zu erklären, nahm er oft Zuflucht zum Beispiel der Träume. Er verwies darauf, dass unsere Erfahrungen im Wachzustand den Erfahrungen, die wir in Träumen machen, ähnlich sind. Und die Traumbeispiele, derer er sich bediente, bezogen sich natürlich auf Dinge, die für seine damaligen Schüler relevant waren: Kühe, Getreide, Strohdächer und Lehmmauern.

Da ich vermute, dass diese Beispiele auf die Menschen des 21. Jahrhunderts nicht mehr den gleichen Eindruck machen, nehme ich bei meinen Belehrungen meist Beispiele zu Hilfe, die für die Leute relevant sind, an die ich mich wende. Nehmen wir daher einmal an, Sie gehören zu den Menschen, die in Autos vernarrt sind. Dann wären Sie wahrscheinlich sehr begeistert, wenn Sie träumten, dass Ihnen jemand ein brandneues Auto schenkt, für das Sie keinen Cent ausgeben müssen. Ihr »Traum-Ich« wäre glücklich, das »Traum-Auto« in Empfang zu nehmen, es zu fahren und es stolz jedermann in Ihrem Bekanntenkreis vorzuführen.

Aber nehmen wir weiter an, dass bei Ihrer Autofahrt im Traum plötzlich ein anderes Auto in Ihres hineinrast. Ihr Wagen ist völlig ruiniert, und Sie haben sich ein Bein gebrochen. Im Traum würde Ihre Stimmung wahrscheinlich sofort von Glück in Verzweiflung umschlagen. Das Auto ist kaputt, Sie haben keinerlei »Traumversicherung« und Ihr gebrochenes Bein verursacht schreckliche Schmerzen. Vielleicht fangen Sie im Traum sogar zu weinen an, und wenn Sie aufwachen, ist Ihr Kissen nass von Tränen.

Und jetzt stelle ich Ihnen eine einfache Frage:

Ist das Auto im Traum real oder nicht?

Natürlich lautet die Antwort, dass es nicht real ist. Niemand hat den Wagen entworfen, keine Fabrik hat ihn gebaut. Er besteht noch nicht einmal aus den verschiedenen Teilen, aus denen sich ein konkretes Auto zusammensetzt, oder aus den Molekülen und Atomen, aus denen jeder dieser Teile besteht. Doch im Traum erleben Sie das Auto als etwas ganz Reales. Ja, Sie beziehen sich auf alles im Traum als etwas Reales und reagieren auf Ihre Erlebnisse mit sehr realen Gedanken und Gefühlen. Doch egal, wie real Ihre Traumerlebnisse zu sein scheinen, man kann nicht behaupten, dass sie wirklich existent sind, oder? Wenn Sie aufwachen, hat der Traum ein Ende, und alles, was Sie in ihm wahrgenommen haben, löst sich in die Leerheit hinein auf: die grenzenlose unendliche Möglichkeit, in der sich alles und jedes ereignen kann.

Der Buddha lehrte, dass auf gleiche Weise jede Form der Erfahrung eine Erscheinung ist, die aus der unendlichen grenzenlosen Möglichkeit der Leerheit hervorgeht. Wie es im Herz-Sutra , einer der berühmtesten Lehrreden des Buddha, heißt:

Form ist Leere,

Leere ist Form;

Leere ist nichts anderes als Form.

Form ist nichts anderes als Leere.

In modernen Begriffen ausgedrückt könnte man sagen:

Ein Traum-Auto ist ein nicht aus sich selbst heraus wirkliches Auto.

Ein nicht aus sich selbst heraus wirkliches Auto ist ein Traum-Auto.

Ein Traum-Auto ist nichts anderes als ein nicht aus sich selbst heraus wirkliches Auto,

und ein nicht aus sich selbst heraus wirkliches Auto ist auch nichts anderes als ein Traum-Auto.

Natürlich könnte man dem entgegenhalten, dass sich im Wachzustand erlebte Dinge nicht auf logischer Ebene mit Traumereignissen vergleichen lassen. Schließlich haben wir, wenn wir aus dem Traum erwachen, nicht wirklich ein gebrochenes Bein oder ein kaputtes Auto in der Einfahrt stehen. Werden wir hingegen im Wachzustand in einen Unfall verwickelt, kann es durchaus sein, dass wir uns im Krankenhaus wiederfinden und für die Reparatur unseres Autos Tausende von Euro bezahlen müssen.

Trotzdem ist die Basis unserer Erfahrungen im Wachzustand und im Traumzustand die gleiche: Gedanken, Gefühle und Empfindungen, die sich je nach den wechselnden Umständen und Situationen ändern. Wenn Sie diesen Vergleich im Kopf behalten, werden Ihre Erfahrungen im Wachzustand allmählich ihre Einflusskraft auf Sie verlieren. Gedanken sind nur Gedanken. Gefühle sind nur Gefühle. Empfindungen sind nur Empfindungen. Sie kommen und gehen im Wachzustand ebenso rasch und leicht wie im Traum.

Alles, was Sie wahrnehmen und erleben, ist gemäß den sich wandelnden Bedingungen und Umständen der Veränderung unterworfen. Wenn sich auch nur eine einzige Bedingung ändert, wird sich auch die Form Ihrer Erfahrung ändern. Ohne einen Träumer gäbe es keinen Traum. Ohne den Geist des Träumers gäbe es keinen Traum. Würde der Träumer nicht schlafen, gäbe es keinen Traum. Alle diese Umstände müssen zusammenkommen, damit sich ein Traum ereignen kann.

 

 

 

EINE ÜBUNG IN LEERHEIT

 

Der Geist ist vom Wesen her leer.
Obschon er leer ist, tritt doch fort
während alles aus ihm hervor.

 

Der Dritte Gyalwang Karmapa: Song of Karmapa:
The Aspiration of the Mahamudra of True Meaning

 

 

Das intellektuelle Verständnis der Leerheit ist eine Sache, die direkte Erfahrung eine andere. Versuchen wir es also mit einer kleinen Übung, die ein bisschen anders ist als die in den vorhergehenden Kapiteln beschriebenen Übungen. Dieses Mal werden Sie sich Ihre Gedanken, Gefühle und Empfindungen sehr genau anschauen, während sie aus der Leere hervorgehen, für einen Augenblick als Leerheit in Erscheinung treten und sich dann wieder in der Leere auflösen. Sollten in Ihnen keine Gedanken, Gefühle oder Empfindungen aufsteigen, dann fabrizieren Sie einfach welche – so viele, wie Sie können, rasch hintereinander. Hauptsache ist, dass Sie so viele Formen von Erfahrung bewusst beobachten, wie Ihnen möglich ist. Wenn Sie diese nicht bewusst wahrnehmen, werden sie einfach unbemerkt davonschlüpfen. Lassen Sie also nicht zu, dass Ihnen Gedanken, Gefühle oder Empfindungen unbeobachtet entgehen.

Setzen Sie sich zunächst in aufrechter, entspannter Haltung hin und atmen Sie normal. Wenn Sie so weit sind, fangen Sie an, Ihre Gedanken, Gefühle und Empfindungen sehr klar zu beobachten. Denken Sie daran, wenn nichts in Ihnen aufsteigt, fangen Sie einfach an innerlich loszuquatschen. Was Sie auch wahrnehmen  – Schmerz, Druck, Geräusche und so weiter –, beobachten Sie alles ganz klar. Auch Gedanken wie »Das ist ein guter Gedanke«, »Das ist ein schlechter Gedanke«, »Ich mag diese Übung« oder »Ich kann diese Übung nicht ausstehen« sind beobachtbare Gedanken. Sie könnten auch so etwas Simples wie ein Jucken wahrnehmen. Um die Übung in ihrer ganzen Auswirkung zu erfahren, setzen Sie sie mindestens eine Minute lang fort.

Sind Sie bereit? Okay, dann geht es jetzt los!

 

Beobachten Sie die Bewegungen Ihres Geistes …

 

Beobachten Sie die Bewegungen Ihres Geistes …

 

Beobachten Sie die Bewegungen Ihres Geistes …

 

Und jetzt Stopp.

 

Bei dieser Übung kommt es darauf an, dass Sie alles beobachten, was durch Ihr Gewahrsein zieht, so wie es aus der Leere aufsteigt, für einen Augenblick in Erscheinung tritt und sich wieder in der Leere auflöst – eine Bewegung wie das Aufsteigen und Absinken einer Woge in einem riesigen Ozean. Weder wollen Sie Ihre Gedanken, Gefühle und so weiter abblocken noch wollen Sie ihnen nachjagen. Wenn Sie ihnen nachjagen, wenn Sie sich von ihnen lenken und leiten lassen, fangen sie an, Sie zu bestimmen, und Sie verlieren die Fähigkeit, offen und spontan auf den gegenwärtigen Moment zu reagieren. Wenn Sie andererseits Ihre Gedanken abzublocken versuchen, kann Ihr Geist sehr angespannt und eng werden.

Das ist ein wichtiger Punkt, weil viele Leute irrtümlicherweise glauben, Meditation beinhalte, dass man der natürlichen Bewegung der Gedanken und Gefühle bewusst Einhalt gebietet. Es ist möglich, eine kleine Weile lang diese Bewegung abzublocken und sogar ein flüchtiges Gefühl von Frieden zu erlangen – aber das ist der Friede eines Zombies. Ein Zustand ganz ohne Gedanken oder Emotionen ist ein Zustand ohne Unterscheidung oder Klarheit.

Wenn Sie sich aber darin üben, Ihren Geist so sein zu lassen, wie er ist, wird er schließlich ganz von selbst zur Ruhe kommen. Sie werden ein Gefühl von Weiträumigkeit entwickeln, und Ihre Fähigkeit, die Dinge klar und ohne Vorurteile wahrzunehmen und zu erfahren, wird nach und nach zunehmen. Fangen Sie erst einmal an, das Kommen und Gehen dieser Gedanken, Gefühle und so weiter mit bewusstem Gewahrsein zu beobachten, dann werden Sie allmählich erkennen, dass das alles relative Phänomene sind. Sie lassen sich nur in Relation zu anderen Erfahrungen definieren. Ein mit Glück verbundener Gedanke zeichnet sich durch seinen Unterschied zu einem mit Unglück verbundenen Gedanken aus, so wie eine groß gewachsene Person nur in Relation zu einem kleiner gewachsenen Menschen als »groß« betrachtet werden mag. Für sich allein genommen ist diese Person weder groß noch klein. Ganz ähnlich kann ein Gedanke oder ein Gefühl für sich selbst genommen nur im Vergleich mit anderen Gedanken oder Gefühlen als positiv oder negativ beschrieben werden. Ohne einen solchen Vergleich sind ein Gedanke, ein Gefühl oder eine Wahrnehmung einfach nur das, was sie sind. Sie besitzen keine inhärenten Eigenschaften oder Merkmale und können für sich genommen, außer durch den Vergleich, nicht definiert werden.

 

 

 

DIE PHYSIK DER ERFAHRUNG

Physische Objekte existieren nicht im
Raum, sondern sind räumlich ausge-
dehnt. Damit verliert die Vorstellung
vom »leeren Raum« ihre Bedeutung.

 

Albert Einstein, Relativitätstheorie

 

 

Bei meinen Gesprächen mit modernen Wissenschaftlern fiel mir eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen den Prinzipien der Quantenmechanik und dem buddhistischen Verständnis von der Beziehung zwischen Leerheit und Erscheinung auf. Weil wir unterschiedliche Worte und Begriffe benutzten, brauchte ich eine Weile, bis mir klar wurde, dass wir über das Gleiche redeten – Phänomene, die sich, durch eine fast unendliche Anzahl und Vielfalt von Ereignissen verursacht und bedingt, von Moment zu Moment entfalten.

Um diese Gemeinsamkeiten richtig verstehen und einordnen zu können, fand ich es wichtig, etwas über die Prinzipien der klassischen Physik zu wissen, die die Grundlage bildet, auf der die Quantenmechanik aufbaut. »Klassische Physik« ist der Allgemeinbegriff für eine Reihe von Theorien über die Mechanismen der Welt der Natur, die sich auf die Erkenntnisse von Sir Isaac Newton, jenes Genies des 17. Jahrhunderts, und der Wissenschaftler gründen, die zu seinen Einsichten ihren Beitrag lieferten und in seine Fußstapfen traten.

Die klassische Physik verstand das Universum als riesige, geregelte Maschinerie, einem Uhrwerk vergleichbar. Diesem »Maschinenmodell« zufolge ließen sich, wenn man den Standort und die Geschwindigkeit – das heißt das Tempo und die Bewegungsrichtung  – jedes Teilchens im Universum und der zu einem bestimmten Zeitpunkt zwischen ihnen wirksamen Kräfte kannte, die Position und Geschwindigkeit jedes Teilchens im Universum für jeden künftigen Zeitpunkt vorhersagen. Und ähnlich ließ sich auch die gesamte Vergangenheit des Universums aus einer vollständigen Beschreibung seines gegenwärtigen Zustandes ableiten. Man konnte die Geschichte des Universums als riesiges Netz der Geschichten einzelner Teilchen begreifen, die durch absolute und erkennbare Gesetze von Ursache und Wirkung miteinander verbunden sind.

Die Gesetze und Theorien der klassischen Physik gründeten sich jedoch zum großen Teil auf Beobachtungen von groß dimensionierten Phänomenen wie etwa der Bewegungen der Sterne und Planeten und der Interaktionen von materiellen Gegenständen auf der Erde. Die technologischen Fortschritte im 19. und 20. Jahrhundert ermöglichten dann den Wissenschaftlern die Beobachtung des Verhaltens von immer kleiner und noch kleiner dimensionierten Phänomenen. Und ihre Experimente, die die Grundlage der Quantenmechanik (des grundlegenden Bezugrahmens der modernen Physik) bildeten, zeigten allmählich, dass sich auf der Ebene extrem winziger Dimensionen die materiellen Phänomene keineswegs in der hübsch ordentlichen und vorhersehbaren Weise verhalten, wie die klassische Physik sie beschrieb.

Einer der verblüffendsten Aspekte dieser Experimente beinhaltete die Enthüllung, dass das, was wir normalerweise als »stoffliche Materie« ansehen, gar nicht so fest, dauerhaft und definierbar ist, wie einst geglaubt wurde. Wenn man sie auf der subatomaren Ebene beobachtet, verhält sich die Materie ziemlich seltsam. Manchmal zeigt sie Eigenschaften, die man gemeinhin mit stofflichen Teilchen in Verbindung bringt, und manchmal tritt sie als nichtmaterielle Energie-»Wellen« in Erscheinung. Wenn ich es recht verstehe, lassen sich diese Teilchen /Wellen nicht gleichzeitig in den Begriffen von Standort und Geschwindigkeit bestimmen. Somit bricht die klassische Vorstellung zusammen, wonach sich der Zustand des Universums durch die Positionen und Geschwindigkeiten der Teilchen beschreiben lässt.

Ebenso wie die Quantenmechanik sich mit der Zeit aus den Gesetzen der klassischen Physik entwickelte, erfuhr auch Buddhas Beschreibung vom Wesen der Erfahrung eine allmähliche Entwicklung und baute, je nach Verständnisebene derer, die sie hörten, jede Einsicht und Erkenntnis auf der vorangegangen auf. Diese Lehren werden, historisch gesehen, drei Abteilungen zugeordnet oder drei hauptsächlichen Lehrzyklen, die man als das erste, zweite und dritte Drehen des Dharma-Rades (des Rades der Lehre) bezeichnet. Das Sanskritwort Dharma hat hier die Bedeutung von »Wahrheit« oder einfacher ausgedrückt : »so wie die Dinge sind«. Seinen ersten Zyklus der Belehrungen gab der Buddha an einem Ort in der Nähe von Varanasi (Benares), der als der Gazellenhain von Varanasi bekannt ist. In dieser ersten Sammlung wird, basierend auf beobachtbaren physischen Erfahrungen, die relative Natur der Wirklichkeit beschrieben. Man fasst diese dem ersten Drehen des Dharma-Rades zugehörigen Unterweisungen oft in einer Reihe von Aussagen zusammen, die allgemein als »Die Vier Edlen Wahrheiten« bekannt sind. Doch könnte man sie präziser als »Die Vier Reinen Einsichten in die Seinsweise der Dinge« beschreiben. Diese vier Einsichten lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

  1. Das normale Leben ist durch Leiden bedingt.
  2. Das Leiden entsteht aus Ursachen.
  3. Die Ursachen des Leidens können ausgelöscht werden.
  4. Es gibt einen einfachen Weg, mittels dessen die Ursachen des Leidens ausgelöscht werden können.

Beim zweiten und dritten Drehen des Dharma-Rades beschrieb der Buddha die Merkmale der absoluten Wirklichkeit. Die dem zweiten Drehen zugehörigen Unterweisungen – die auf dem Geiergipfel gegeben wurden, einem Berg im Staat Bihar im Nordosten Indiens – konzentrierten sich auf die Natur der Leerheit sowie auf Güte, Mitgefühl und Bodhicitta. (Bodhicitta ist ein Sanskritwort, das im Deutschen meist mit »Erleuchtungsgeist« übersetzt wird.) Die dem dritten Drehen des Dharma-Rades zugehörigen Unterweisungen, in denen der Buddha die grundlegenden Merkmale der Buddhanatur beschrieb, wurden an verschiedenen Orten Indiens gegeben.

Die Unterweisungen dieser drei Lehrzyklen sind für sich genommen faszinierend in ihren Aussagen über die Natur des Geistes, des Universums und über die Art und Weise, in der der Geist Erfahrungen wahrnimmt. Aber sie helfen uns auch bei der Klärung der Gedanken und Vorstellungen, die unter den ersten Anhängern Buddhas aufkamen. Nach dem Hinscheiden Buddhas waren sich dessen Anhänger nicht immer einig in der Interpretation dessen, was er gesagt hatte; manche von ihnen hatten vielleicht auch nicht alle Unterweisungen der drei Drehungen des Dharma-Rades gehört. Dass Meinungsverschiedenheiten aufkamen, war nur ganz natürlich; schließlich hatte der Buddha wiederholte Male betont, dass sich die Essenz seiner Lehren nicht über das intellektuelle Begreifen, sondern nur über die direkte Erfahrung verstehen und verinnerlichen ließ.

Diejenigen, die nur von den Belehrungen, die beim ersten Drehen des Dharma-Rades erteilt wurden, Kenntnis hatten, entwickelten zwei philosophische Schulen, die Sichtweise des Vaibhashika und des Sautrantika. Ihr zufolge wurden unendlich kleine Teilchen – die im Tibetischen als dül-tren oder dül-tren-cha-me bekannt sind, was sich grob mit »kleinste Teilchen« beziehungsweise »unteilbare Teilchen« übersetzen lässt – insofern als von absoluter »Wirklichkeit« begriffen, als sie in sich selbst vollständig sind und nicht in noch kleinere Teilchen aufgespalten werden können. Diese Grundbestandteilchen wurden als die essenziellen Bausteine aller Phänomene angesehen, die nie aufgelöst werden oder verloren gehen, sondern nur in andere Formen umgewandelt werden konnten. So gingen zum Beispiel die dül-tren-cha-me des Holzes nicht verloren, wenn ein Holzscheit entzündet wurde, sondern wurden nur in Rauch oder Flammen ungewandelt.

Diese Ansicht ähnelt dem Gesetz der »Bewahrung von Energie«, einem Grundprinzip der Physik, dem zufolge Materie weder erschaffen noch zerstört, sondern nur in andere Formen umgewandelt werden kann. So lässt sich zum Beispiel die im Benzin enthaltene chemische Energie in die mechanische Energie umwandeln, die ein Auto in Bewegung hält. An dieser Stelle mögen Sie sich vielleicht fragen, was die Entwicklung der modernen Physik mit dem Erlangen von persönlichem Glück zu tun hat. Wenn Sie sich noch ein bisschen gedulden können, wird der Zusammenhang klar werden.

Die späteren Unterweisungen des Buddha zeigten auf, dass auch die unendlich winzigen Teilchen umgewandelt werden können – wie Albert Einstein viele Jahrhunderte später mit seiner berühmten Formel E = mc2 beweisen sollte, die sehr einfach ausgedrückt Teilchen als kleine Energiepäckchen beschreibt. Daraus folgt, dass auch ein dül-tren oder dül-tren-cha-me ein vergängliches Phänomen ist und folglich nicht im grundlegenden oder absoluten Sinn als »wirklich« betrachtet werden kann.

Nehmen wir ein ganz alltägliches Beispiel zu Hilfe. Wenn es sehr kalt ist, verwandelt sich Wasser in Eis. Bei Zimmertemperatur ist das Wasser flüssig. Wenn es genügend erhitzt wird, wird es zu Dampf. Bei Laborexperimenten lassen sich die Wassermoleküle in Wasserstoff- und Sauerstoffatome aufspalten, und wenn man diese Atome genauer untersucht, stellt man fest, dass sie aus kleineren und immer noch kleineren subatomaren Teilchen bestehen.

Es besteht also eine interessante Parallele zwischen den Anschauungen des Vaibhashika und Sautrantrika einerseits und der Lehre der klassischen Physik andererseits. Letzterer zufolge – und ich vereinfache wahrscheinlich allzu stark, um diese Vorstellungen leichter begreiflich zu machen – lassen sich die Grundelemente der Materie sowie auch große Entitäten wie Sterne, Planeten und menschliche Körper mithilfe von genau messbaren Eigenschaften wie Standort und Geschwindigkeit beschreiben ; und sie bewegen sich, in perfekter Koordination mit bestimmten Kräften wie Schwerkraft und Elektrizität, in hübsch vorhersagbarer Weise durch Raum und Zeit. Diese klassische Interpretation funktioniert noch immer ziemlich gut, wenn es um die Vorhersagbarkeit des Verhaltens von groß dimensionierten Phänomenen wie etwa der Planetenbewegungen geht.

Doch wie mir erklärt wurde, gaben die technologischen Fortschritte des 19. Jahrhunderts den Physikern die Mittel an die Hand, stoffliche Phänomene in mikroskopisch genauen Einzelheiten zu untersuchen. Im frühen 20. Jahrhundert führte der britische Physiker J. J. Thomson eine Reihe von Experimenten durch, die ihn zu der Entdeckung führte, dass ein Atom keine dauerhaft feste Einheit ist, sondern sich vielmehr aus kleineren Teilchen zusammensetzt – insbesondere aus elektronisch geladenen Teilchen, den sogenannten Elektronen. Auf den Experimenten Thomsons aufbauend entwickelte der Physiker Edward Rutherford ein Modell des Atoms, das den meisten Menschen der westlichen Welt, die ein Gymnasium besucht haben, noch aus ihrem Chemie- oder Physikunterricht bekannt sein dürfte: eine Art Miniatursonnensystem, das aus Elektronen besteht, die den zentralen Kern in der Mitte des Atoms umkreisen.

Das Problem mit Rutherfords »Sonnensystem«-Modell war, dass es einer beobachteten Tatsache nicht Rechnung trug, nämlich der, dass Atome, wenn sie erhitzt werden, immer mit ganz bestimmten Energiemerkmalen versehenes Licht ausstrahlen. Die Anordnung von Energieebenen, die bei jeder Atomart eine andere ist, wird gemeinhin als Spektrum des Atoms bezeichnet. 1914 erkannte Niels Bohr, dass sich das Energiespektrum eines Atoms präzise erklären lässt, wenn man die Elektronen im Innern eines Atoms als Wellen auffasst. Das war einer der großen frühen Erfolge der Quantenmechanik, der die Welt der Wissenschaft dazu zwang, diese seltsame neue Theorie allmählich ernst zu nehmen.

Zu etwa gleicher Zeit demonstrierte jedoch Albert Einstein, dass es möglich war, das Licht nicht in Form von Wellen, sondern in Form von Teilchen zu beschreiben, die er Photonen nannte. Wenn man die Photonen auf eine Metallplatte lenkte, beschleunigten sie die Aktivität der Elektronen und erzeugten Elektrizität. Einsteins Entdeckung folgend begann eine Anzahl von Physikern Experimente durchzuführen, die zeigten, dass sich möglicherweise alle Formen von Energie als Teilchen beschreiben ließen – eine Sichtweise, die der Vaibhashika-Anschauung sehr ähnlich ist.

Während die modernen Physiker fortfahren, die Welt der subatomaren Phänomene zu studieren, sehen sie sich nach wie vor mit dem Problem konfrontiert, dass sich diese Phänomene – die wir als die Bausteine der »Realität« oder »Erfahrung« bezeichnen könnten – manchmal wie Teilchen und manchmal wie Wellen verhalten. Somit können die Physiker nur eine Wahrscheinlichkeit postulieren, dass eine subatomare Entität bestimmte Eigenschaften zeigen oder sich auf eine bestimmte Weise verhalten wird. Während es zweifellos so zu sein scheint, dass hinsichtlich ihrer praktischen Anwendbarkeit die Quantentheorie stimmt – wie die Entwicklung in den Bereichen von Lasertechnik, Transistoren, Supermarkt-Scannern und Computerchips beweist –, bleibt die Quantenerklärung des Universums nach wie vor eine ziemlich abstrakte mathematische Beschreibung von Phänomenen. Doch sollten wir nicht vergessen, dass die Mathematik eine Symbolsprache ist – eine Art Poesie, die sich statt der Worte der Zahlen und Zeichen bedient, um den Sinn für eine Wirklichkeit zu vermitteln, die unseren konventionellen Erfahrungen zugrunde liegt.

 

 

 

DIE FREIHEIT DER WAHRSCHEINLICHKEIT

 

Sei ungekünstelt, lasse das Bewusst-
sein in seiner unberührten Frische.

 

Karmapa Wangtschug Dordsche:
Mahamudra – Ozean des wahren Sinnes

 

 

In seinen frühen Lehrreden besprach der Buddha das Problem des Leidens unter dem Aspekt des Fixiertseins auf eine inhärent existierende oder absolut »wirkliche« Ebene von Erfahrung, wozu auch der Glaube an ein inhärent wirkliches Selbst oder Ich und an die inhärent wirkliche Existenz materieller Phänomene gehört. Als seine Zuhörerschaft später bereits ein bisschen aufgeklärter war, begann er die Leerheit und die Buddhanatur auf direktere Art anzusprechen. Ganz ähnlich wurden durch die Bemühungen von Wissenschaftlern des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Vorstellungen der Vertreter der klassischen Physik in Bezug auf die Natur und das Verhalten materieller Gegenstände allmählich modifiziert und auf den neuesten Stand gebracht.

Wie schon erwähnt, führten die Beobachtungen der modernen Wissenschaft über das Verhalten der Materie auf subatomarer Ebene zu der Erkenntnis, dass sich die Elemente der subatomaren Welt, wenn sie unter bestimmten experimentellen Bedingungen beobachtet werden, manchmal ganz ordentlich wie »dinghafte« Teilchen aufführen, sich aber, wenn sie unter anderen Bedingungen beobachtet werden, eher wie Wellen verhalten. Diese Beobachtungen von einer »Welle-Teilchen-Dualität« markierten in vielerlei Hinsicht die Geburt der »neuen« Physik der Quantenmechanik.

Ich stelle mir vor, dass dieses merkwürdige Verhalten bei den Wissenschaftlern, die es zum ersten Mal beobachteten, wohl ein gewisses Unbehagen auslöste. Bedienen wir uns eines etwas simplen Vergleichs und stellen wir uns vor, dass Sie von jemandem, den Sie sehr gut zu kennen glaubten, den einen Augenblick wie sein bester Freund, eine halbe Stunde später aber wie Luft behandelt werden, so als hätte er Sie noch nie gesehen. Ein solches Verhalten würden Sie als sehr befremdlich ansehen.

Andererseits muss es sehr aufregend gewesen sein, da diese direkte Beobachtung des Verhaltens von Materie eine ganz neue Welt eröffnete, die es zu erforschen galt – ganz ähnlich der Welt, die sich uns auftut, wenn wir anfangen, uns aktiv mit der Beobachtung unserer eigenen Geistestätigkeit zu befassen. Da gibt es so viel zu sehen und so viel zu lernen!

Die Physiker des frühen 20. Jahrhunderts kehrten mit ihrem gewohnten Eifer an »die Schultafel« zurück, um das wellenhafte Verhalten der Teilchen zu erklären. Auf Niels Bohrs Bild von der wellenhaften Natur der Elektronen im Innern von Atomen aufbauend, gelangten sie schließlich zu einer neuen Beschreibung der subatomaren Welt, in der mit sehr detaillierten mathematischen Begriffen dargestellt wird, wie jedes Teilchen im uns bekannten Universum als Welle verstanden werden kann und jede Welle als Teilchen. Mit anderen Worten, die Teilchen, aus denen sich das umfassendere materielle Universum aufbaut, können aus einer Sicht als »Dinge« und aus einer anderen Sicht als sich durch Zeit und Raum erstreckende Ereignisse betrachtet werden.

Und was hat nun also die Physik mit dem Glücklichsein zu tun? Wir halten uns gerne für solide, eigenständige Individuen mit klar umrissenen Zielen und bestimmter Persönlichkeit. Wenn wir uns aber die Entdeckungen der modernen Wissenschaft ehrlich anschauen, müssen wir zugeben, dass diese Auffassung von uns selbst bestenfalls unvollständig ist.

Die Unterweisungen des Buddha werden oft in zwei Kategorien zusammengefasst: die Belehrungen über die Weisheit oder Theorie und die Belehrungen über die Methode oder Praxis. Der Buddha selbst verglich diese beiden Kategorien oft mit den beiden Flügeln eines Vogels. Ein Vogel braucht zwei Flügel, um fliegen zu können. Der »Flügel« der Weisheit ist nötig, weil ohne eine gewisse Vorstellung von dem, auf was man abzielt, der Flügel der »Praxis« ziemlich nutzlos herumflattert. Die Menschen, die sich zum Beispiel ins Fitnessstudio begeben, haben eine Vorstellung davon, was sie mit ihrem Schwitzen auf dem Laufband oder mit dem Stemmen von Gewichten erreichen wollen. Das gilt analog für die Bemühung um die Einsicht in unsere angeborene Fähigkeit zum Glücklichsein. Wir müssen wissen, wohin wir gehen, um dort auch ankommen zu können.

Die moderne Wissenschaft – speziell die Quantenphysik und Neurowissenschaft – bietet uns einen Zugang zur Weisheit in Begriffen an, die für Menschen des 21. Jahrhunderts akzeptabler sind und sich zugleich auch besser demonstrieren lassen als die buddhistischen Einsichten in die Natur der Wirklichkeit, die durch subjektive Analyse gewonnen wurden. Sie hilft nicht nur zu erklären, warum die buddhistische Praxis unter dem Gesichtspunkt einer strengen, wissenschaftlichen Analyse funktioniert, sondern liefert auch faszinierende Einsichten in das buddhistische Verständnis der dül-tren-cha-me, der vorübergehenden Phänomene, die binnen eines Augenblicks gemäß den sich verändernden Ursachen und Bedingungen in Erscheinung treten und wieder verschwinden. Aber wir müssen einen tiefer gehenden Blick in das Reich der Wissenschaft tun, um ein paar von diesen Parallelen zu entdecken.