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EINFACH RUHEN: DER ERSTE SCHRITT

Schau von Natur aus auf die Essenz
von allem, was sich ereignet.

 

Karma Chagmey Rinpoche:
The Union of Mahamudra and Dzogchen

 

 

Der Buddha erkannte, dass kein Mensch einem anderen genau gleicht, dass jede Person mit einer einmaligen Kombination an Fähigkeiten, Eigenschaften und Wesenszügen zur Welt kommt. Es zeugt vom immensen Maß seiner Einsicht und seines Mitgefühls, dass er eine so ungeheure Vielfalt an Methoden zu entwickeln vermochte, durch die alle möglichen Menschentypen zu einer direkten Erfahrung ihrer wahren Natur gelangen und völlig frei von Leiden werden können.

Der größte Teil dessen, was der Buddha lehrte, wurde spontan übermittelt, je nach den Bedürfnissen und Erfordernissen der Leute, die ihn gerade umgaben. Eines der Kennzeichen eines erleuchteten Meisters ist seine Fähigkeit, spontan absolut richtig zu reagieren und zu antworten. Das funktioniert so lange wirklich gut, wie der erleuchtete Meister am Leben ist. Doch nach Buddhas Tod mussten seine erfahrensten Schüler eine Möglichkeit finden, diese spontanen Belehrungen so zusammenzustellen und zu strukturieren, dass sie auch den nachfolgenden Generationen von Nutzen sein konnten. Zum Glück waren diese frühen Anhänger Buddhas sehr gut im Klassifizieren und Kategorisieren, und so entwickelten sie auch zwei Grundkategorien, in die sich die verschiedenen, von Buddha gelehrten Meditationspraktiken unterteilen ließen: die analytischen Methoden und die nichtanalytischen Methoden.

Die nichtanalytischen Methoden werden gewöhnlich als erste gelehrt, weil sie die Möglichkeit bieten, den Geist zu befrieden und zur Ruhe zu bringen. Ist der Geist beruhigt, kann man sehr viel einfacher der verschiedenen Gedanken, Gefühle und Empfindungen gewahr sein, ohne sich in ihnen zu verfangen. Die analytischen Methoden beinhalten, dass man sich den Geist inmitten einer Erfahrung direkt ansieht. Sie werden gewöhnlich gelehrt, nachdem man sich schon einige Übung darin erworben hat, den Geist einfach so ruhen zu lassen, wie er ist. Und da die Erfahrung einer direkten Einsicht in den Geist eine Menge Fragen aufwerfen kann, übt man sich in diesen analytischen Praxismethoden am besten unter der Leitung von Lehrern oder Lehrerinnen, die über genügend Einsicht und Erfahrung verfügen, um die Fragen verstehen und Antworten geben zu können, die dem spezifischen Wesen eines Schülers gerecht werden. Aus diesem Grund möchte ich mich hier vorrangig mit den Meditationspraktiken befassen, die auf das Befrieden und Beruhigen des Geistes ausgerichtet sind.

Die nichtanalytische Herangehensweise ist unter dem Sanskritbegriff Shamatha bekannt. Im Tibetischen heißt sie Shiné. Die erste Silbe shi bedeutet »Friede« oder »ruhige Gelassenheit«, und die zweite Silbe bedeutet »verweilen« oder »bleiben«. Im Deutschen ist diese Methode als »ruhiges Verweilen« bekannt – den Geist einfach friedlich ruhen lassen, so wie er ist. Es handelt sich um eine elementare Praxis, bei der wir den Geist ganz natürlich in einem Zustand entspannten Gewahrseins ruhen lassen, damit sich sein Wesen offenbaren kann.

 

 

 

MEDITATION OHNE OBJEKT

 

Ergründe die Tiefen deines Geistes
und belasse deine Bewusstheit gänz-
lich unverhüllt.

 

Tilopa: Mahamudra Upadesa. Essenzielle
Mahamudra-Unterweisungen am Ganges

 

 

Als ich meinen Vater zum ersten Mal Belehrungen darüber geben hörte, wie man seinen Geist ganz natürlich »im bloßen Gewahrsein« ruhen lässt, hatte ich keine Ahnung, wovon er sprach. Wie sollte ich meinen Geist einfach »ruhen« lassen, ohne etwas zu haben, worauf er ruhen konnte?

Zum Glück war mein Vater schon ein bisschen in der Welt herumgekommen und hatte eine ganze Menge Leute getroffen, mit denen er Gespräche über ihr Leben, ihre Probleme und ihre Erfolge hatte führen können. Das ist tatsächlich einer der großen Vorteile, die das Tragen einer buddhistischen Robe mit sich bringt. Die Leute sind eher geneigt zu denken, dass man weise oder wichtig ist, und öffnen sich einem bereitwillig und fangen an, einem Einzelheiten aus ihrem Leben zu erzählen.

Das Beispiel, dessen sich mein Vater zur Erklärung des ruhigen Verweilens bediente, entstammt dem Bericht eines Hotelangestellten. Dieser war immer selig, wenn er seinen Arbeitstag beenden konnte, nachdem er acht Stunden hinter der Rezeption gestanden hatte, wo er Leute ein- und auscheckte, sich ihre Beschwerden über ihre Zimmer und ihr endloses Gezeter über einzelne Posten auf ihren Rechnungen anhörte. Am Ende seiner Schicht war er körperlich so erschöpft, dass er sich nur noch darauf freute, nach Hause zu kommen und ein schönes langes Bad zu genießen. Danach ging er ins Schlafzimmer, legte sich auf sein Bett, stieß einen Seufzer aus und entspannte sich einfach. Die nächsten paar Stunden gehörten nur ihm: kein Herumstehen in Uniform, kein Entgegennehmen von Beschwerden, kein Starren auf den Computermonitor, um Reservierungen zu bestätigen und freie Zimmer für eine Buchung ausfindig zu machen.

Genauso lässt man bei der objektlosen Shiné-Meditation den Geist ruhen: als ob man gerade einen langen Arbeitstag beendet hätte. Einfach loslassen und entspannen. Wir brauchen auftauchende Gedanken, Emotionen oder Empfindungen nicht abzublocken, aber wir brauchen ihnen auch nicht nachzugehen. Wir ruhen einfach offen in der Gegenwart, lassen einfach zu, was auch immer geschieht. Wenn Gedanken oder Emotionen hochkommen, werden wir ihrer einfach gewahr. Objektlose Shiné-Meditation bedeutet nicht, dass man seinen Geist ziellos zwischen Fantasien, Erinnerungen und Tagträumen herumstreifen lässt. Es bleibt immer noch eine gewisse Präsenz des Geistes bestehen, die man in etwa als Gewahrseinszentrum beschreiben könnte. Unsere Aufmerksamkeit ist auf nichts im Besonderen gerichtet, aber wir sind dennoch gewahr, sind dennoch präsent für das, was im Hier und Jetzt geschieht.

Wenn wir in diesem Zustand der auf kein bestimmtes Objekt gerichteten Achtsamkeit meditieren, lassen wir den Geist, der von den vorbeiziehenden Gedanken und Emotionen völlig unberührt bleibt, in seiner natürlichen Klarheit ruhen. Diese natürliche Klarheit – die sich jenseits allen dualistischen Ergreifens von Subjekt und Objekt findet – ist immer für uns vorhanden, so wie der Raum immer da ist. In gewisser Weise gleicht diese Meditationsform dem Akzeptieren von Wolken und Nebelschwaden, die den Himmel verdecken, im Wissen, dass der Himmel selbst unverändert bleibt, auch wenn er verborgen ist. Wenn Sie je einmal im Flugzeug gesessen haben, haben Sie vermutlich auch gesehen, dass der Himmel über den Wolken, dem Nebel oder dem Regen in seiner Weite immer offen und klar ist. Es sieht so normal aus. In gleicher Weise ist die Buddhanatur immer offen und klar, auch wenn Gedanken und Emotionen sie verdecken. Obwohl sich dieser Zustand vielleicht sehr normal ausnehmen mag, sind doch all die Qualitäten von Klarheit, Leerheit und Mitgefühl in ihm enthalten.

Die objektlose Shiné-Praxis stellt die elementarste Form des Sich-vertraut-Machens mit dem ruhigen Verweilen des Geistes dar. Weder müssen Sie hier Ihre Gedanken oder Emotionen beobachten – Übungspraktiken, die ich später besprechen werde  –, noch müssen Sie versuchen, sie abzublocken. Sie brauchen nichts weiter zu tun, als im Gewahrsein von Ihrem Geist zu ruhen, der seinen Geschäften nachgeht; Sie sehen mit einer Art kindlicher Unschuld zu, mit einem Gefühl, das besagt: »Wow! Schau dir bloß mal an, wie viele Gedanken, Empfindungen und Emotionen dir da jetzt durchs Gewahrsein ziehen!«

In gewisser Weise gleicht die objektlose Shiné-Praxis einem Schauen in die unermessliche Weite des Alls, statt dass wir den Blick auf die sich durchs Universum bewegenden Galaxien, Sterne und Planeten fokussieren. So wie Galaxien, Sterne und Planeten durch den Raum des Alls ziehen, findet ein Kommen und Gehen von Gedanken, Emotionen und Empfindungen im Gewahrsein statt. Und wie der Raum nicht von den Objekten definiert wird, die sich in ihm bewegen oder ihn durchqueren, wird auch das Gewahrsein nicht von den Gedanken, Emotionen, Wahrnehmungen und so weiter definiert oder begrenzt, die sich in ihm zeigen. Das Gewahrsein ist einfach da. Und die objektlose Shiné-Praxis beinhaltet, dass man ganz einfach in diesem »Da-Sein« von Gewahrsein ruht. Manche Menschen finden diese Praxis ziemlich leicht; andere finden sie sehr schwierig. Das ist mehr eine Sache des persönlichen Naturells als eine der Fähigkeit oder des Geschicks.

Die Anweisungen sind einfach. Wenn Sie in formeller Weise üben, nehmen Sie am besten die Sieben-Punkte-Haltung ein, so gut Sie eben können. Ist das nicht möglich – weil Sie zum Beispiel gerade hinterm Steuer sitzen oder eine Straße entlanggehen  –, richten Sie nur einfach Ihr Rückgrat gerade auf und halten den Körper entspannt und ausbalanciert. Dann lassen Sie Ihren Geist sich im Zustand des bloßen Gewahrseins der Gegenwart entspannen.

Es werden Ihnen unvermeidlich alle möglichen Gedanken, Empfindungen und Gefühle durch den Kopf gehen. Das ist zu erwarten, da Sie in dieser Praxis nicht geschult sind. Das ist so ähnlich, wie wenn Sie im Fitnessstudio mit einem Training zum Muskelaufbau beginnen. Am Anfang können Sie nur ein paar Pfund schwere Gewichte heben und die Übungen nur wenige Male wiederholen. Aber wenn Sie dabeibleiben, werden Sie feststellen, dass Sie allmählich schwerere Gewichte heben und die Übungen auch öfter durchführen können.

Ebenso lernt man auch nur durch einen allmählichen Prozess, wie man meditiert. Am Anfang können Sie vielleicht immer nur ein paar Sekunden still bleiben, bevor Gedanken, Emotionen und Empfindungen hochkommen. Grundsätzlich gilt die Anweisung, dass Sie diesen Gedanken und Emotionen nicht nachgehen, sondern einfach nur aller Dinge, die durch Ihr Gewahrsein ziehen, so gewahr sind, wie sie sind. Was immer es ist, fokussieren Sie sich nicht darauf, und versuchen Sie auch nicht, es zu unterdrücken. Beobachten Sie nur einfach, wie es kommt und geht.

Wenn Sie erst einmal anfangen, einem Gedanken nachzugehen, verlieren Sie den Kontakt mit dem Hier und Jetzt und beginnen sich alle möglichen Fantasien, Urteile, Erinnerungen und andere Szenarien vorzustellen, die unter Umständen mit der Realität des gegenwärtigen Moments gar nichts zu tun haben. Und je öfter Sie zulassen, dass Sie sich in diesem geistigen Umherschweifen verfangen, desto leichter werden Sie von der Offenheit des gegenwärtigen Augenblicks wegdriften.

Das Ziel der Shiné-Meditation ist es, langsam und allmählich diese Gewohnheit zu durchbrechen und in einem Zustand gegenwärtigen Gewahrseins zu verweilen – offen für alle Möglichkeiten des gegenwärtigen Augenblicks. Kritisieren oder verurteilen Sie sich nicht, wenn Sie feststellen, dass Sie Ihren Gedanken nachgehen. Die Tatsache, dass Sie sich dabei erwischt haben, wie Sie ein vergangenes Ereignis noch einmal durchlebt oder etwas in die Zukunft projiziert haben, reicht aus, um Sie zum gegenwärtigen Augenblick zurückzubringen und in Ihrem Meditationsvorsatz zu bestärken. Der entscheidende Faktor beim Üben ist Ihre Absicht zu meditieren.

Wichtig ist auch, dass Sie langsam vorgehen. Mein Vater achtete sehr darauf, alle seine neuen Schüler und Schülerinnen, mich eingeschlossen, darauf hinzuweisen, dass am Anfang die effektivste Herangehensweise die ist, den Geist viele Male am Tag nur für ganz kurze Phasen ruhen zu lassen. Ansonsten riskiert ihr, so sagte er, dass ihr es satt bekommt oder von euren Fortschritten enttäuscht seid und schließlich ganz aufgebt. In den alten Texten steht zu lesen: »Tropfen um Tropfen – so füllt sich eine Tasse.«

Stecken Sie sich, wenn Sie noch ganz am Anfang stehen, also kein allzu hohes Ziel, indem Sie sich etwa vornehmen, 20 Minuten lang zu meditieren. Peilen Sie eine Minute oder auch nur eine halbe Minute an – nutzen Sie diese wenigen Sekunden, in denen Sie willens und bereit sind, ja vielleicht sogar dringlich wünschen, sich eine Auszeit vom täglichen Trott zu nehmen und Ihren Geist zu beobachten, statt sich in Tagträumen zu verlieren. Wenn Sie auf diese Weise – »immer ein Tropfen auf einmal«  – praktizieren, werden Sie feststellen, dass Sie sich nach und nach von den mentalen und emotionalen Beschränkungen befreien, die die Quelle von Erschöpfung, Enttäuschung, Ärger, Wut und Verzweiflung sind; und Sie werden in sich eine unbegrenzte Quelle der Klarheit, Weisheit, des eifrigen und gewissenhaften Bemühens, des inneren Friedens und des Mitgefühls entdecken.