13

MITGEFÜHL: DAS HERZ DES GEISTES ÖFFNEN

Wann immer euer Blick auf andere
fällt, schaut sie mit einem offenen,
liebevollen Herzen an.

 

Shantideva: Anleitungen auf
dem Weg zur Glückseligkeit

 

 

Da wir allesamt in einer Gemeinschaft von Menschen auf einem einzigen Planeten leben, müssen wir das Zusammenarbeiten lernen. In einer Welt ohne Mitgefühl ist ein Kooperieren nur dadurch möglich, dass es uns von außen aufgezwungen wird: durch die Kräfte von Polizei und Armee und durch Gesetze und Waffen, die ihnen die nötige Durchsetzungskraft verleihen. Könnten wir jedoch lernen, von Liebe und Güte geprägtes Wohlwollen und Mitgefühl füreinander zu entwickeln – durch die spontane Einsicht, dass alles, was wir zu unserem eigenen Nutzen tun, auch anderen von Nutzen sein muss, und umgekehrt –, dann bräuchten wir keine Gesetze oder Armeen, Polizeikräfte, Gewehre oder Bomben mehr. Mit anderen Worten, wenn wir ein aufgeschlossenes, großmütiges und mitfühlendes Herz entwickeln, ist das die beste Form von Sicherheit, die wir uns selber bieten können.

Ich habe einige Leute sagen hören, dass die Welt ein ausgesprochen langweiliger Ort wäre, wenn alle Menschen gütig, freundlich und mitfühlend wären. Alle wären sie dann wie Schafe, würden nur müßig herumlungern und hätten nichts zu tun. Nichts könnte der Wahrheit ferner sein. Ein mitfühlender Geist ist ein gewissenhafter und emsiger Geist. Die Probleme dieser Welt nehmen kein Ende: Jeden Tag verhungern Tausende Kinder; Menschen werden in Kriegen hingeschlachtet, von denen noch nicht einmal etwas in den Zeitungen steht; giftige Gase bauen sich in der Atmosphäre auf und bedrohen unsere Existenz. Aber so weit brauchen wir gar nicht zu schauen, um auf Leiden zu stoßen. Wir sehen es überall in unserem unmittelbaren Umfeld: Mitarbeiter, die eine schmerzliche Scheidung durchmachen; Verwandte, die mit einer körperlichen oder geistigen Krankheit zurechtkommen müssen; Freunde, die ihren Arbeitsplatz verloren haben; und Tausende von Tieren, die jeden Tag getötet werden, weil sie nicht erwünscht sind oder sich verirrt haben oder ausgesetzt worden sind.

Wenn Sie wirklich sehen möchten, wie aktiv ein mitfühlender Geist sein kann, dann zeige ich Ihnen hier eine simple Übung, die vielleicht nicht mehr als fünf Minuten dauert. Nehmen Sie ein Blatt Papier und einen Stift zur Hand und notieren Sie zehn Probleme, die Sie gerne gelöst sähen. Es spielt keine Rolle, ob es um globale oder mehr oder weniger häusliche Probleme geht. Sie brauchen sich auch keine Lösungen auszudenken. Schreiben Sie einfach diese Liste.

Dieser ganz einfache Akt wird Ihre Einstellung erheblich verändern. Er wird das natürliche Mitgefühl Ihres wahren Geistes erwecken.

 

 

 

DIE BEDEUTUNG VON GÜTE
UND MITGEFÜHL

 

Wenn wir eine Liste von Menschen er-
stellen sollten, die wir nicht mögen,
würden wir eine Menge über die As-
pekte von uns selbst herausfinden,
denen wir uns nicht stellen können.

 

Pema Chödron: Beginne, wo du bist

 

 

Kürzlich äußerte einer meiner Schüler, dass er die Begriffe »Güte« und »Mitgefühl« kalt fände. Sie klängen so distanziert und akademisch, zu sehr nach einer intellektuellen Übung, Mitleid mit anderen Menschen zu empfinden. »Warum können wir nicht ein einfacheres, direkteres Wort wie zum Beispiel ›Liebe‹ nehmen?«, fragte er.

Es gibt eine ganze Reihe guter Gründe, warum Buddhisten hier die Begriffe »Güte« und »Mitgefühl« und nicht etwa den Begriff »Liebe« verwenden. Das Wort »Liebe« ist äußerst eng mit den mentalen, emotionalen und physischen Reaktionen verbunden, die mit dem Begehren und Verlangen einhergehen. Damit ist eine gewisse Gefahr gegeben, dass dieser Aspekt eines Sichöffnens des Geistes die im Wesentlichen dualistische Täuschung von der Existenz eines Ich und eines Anderen noch verstärkt: »Ich liebe dich« oder »ich liebe das.« Da ist ein Gefühl von Abhängigkeit vom geliebten Objekt, und es liegt eine Betonung auf dem persönlichen Nutzen, der sich mit dem Lieben und Geliebtwerden verbindet. Natürlich gibt es auch Beispiele für eine Liebe, etwa die Elternliebe, die über den persönlichen Vorteil hinausreicht und den Wunsch, einem anderen von Nutzen zu sein, mit einschließt. Die meisten Eltern wären sich wohl darin einig, dass die Liebe, die sie für ihre Kinder empfinden, mehr Opfer als persönlichen Lohn bedeutet.

Doch im Großen und Ganzen fungieren hier die Begriffe »Güte« und »Mitgefühl« als linguistische »Stoppzeichen«. Sie lassen uns innehalten und über unsere Beziehungen zu anderen nachdenken. Aus buddhistischer Sicht bedeutet »Güte« das Bestreben, dass alle anderen fühlenden Wesen – auch die, die wir nicht mögen – die gleiche Freude und Freiheit erfahren mögen, die auch wir anstreben; die Erkenntnis, dass wir alle die gleiche Art Wünsche und Bedürfnisse haben: das Verlangen, unser Leben in Frieden führen zu können und keine Angst vor Schmerz oder Verletzung haben zu müssen. So gesehen empfindet auch die Ameise oder Küchenschabe die gleiche Art Bedürfnisse und Ängste wie der Mensch. Als fühlende Wesen sind wir alle gleich, sind wir alle verwandt. So verstanden beinhaltet »Güte« auch die Herausforderung, dieses Bewusstsein und Gewahrsein von unser aller Verwandtschaft oder Gemeinsamkeit auf einer emotionalen, ja sogar körperlichen Ebene zu entwickeln und es nicht bloß bei einem intellektuellen Konzept zu belassen.

Mitgefühl bedeutet, dass diese Fähigkeit, ein anderes fühlendes Wesen als der eigenen Person gleichwertig anzusehen, noch weitergeführt wird. Es meint ganz wörtlich ein »Mit-Fühlen« und baut auf der Erkenntnis auf, dass das, was ein anderer fühlt, auch ich fühle. Alles, was jemanden verletzt, verletzt auch mich. Alles, was einem anderen hilft, hilft auch mir. In der buddhistischen Terminologie bedeutet Mitgefühl die vollständige Identifikation mit anderen und die aktive Bereitschaft, ihnen in jeder Weise zu helfen.

Betrachten wir die Dinge einmal von der praktischen Seite. Wer wird eigentlich verletzt, wenn Sie zum Beispiel jemanden anlügen? Sie. Sie müssen die Bürde auf sich nehmen, sich an Ihre Lüge stets genau zu erinnern, müssen Ihre Spuren verwischen und vielleicht ein ganzes Lügennetz spinnen, damit die erste Lüge nicht aufgedeckt wird. Oder nehmen wir mal an, Sie stehlen etwas aus Ihrem Büro oder irgendwo anders, und sei es auch nur so etwas Geringfügiges wie ein Stift. Denken Sie an die vielen großen und kleinen Aktionen, die Sie unternehmen müssen, um Ihr Tun zu verschleiern. Und trotz aller Energie, die Sie in dieses Verheimlichen stecken, werden Sie fast unausweichlich erwischt. Sie können unmöglich jedes kleine Detail vertuschen. Und am Ende haben Sie nur eine Menge Mühe und Zeit vergeudet, die Sie besser für etwas Konstruktiveres verwenden hätten.

Mitgefühl ist im Grunde die Erkenntnis, dass alles und jedes eine Widerspiegelung von allem und jedem ist. Ein uralter Text, das Avatamsaka-Sutra, beschreibt das Universum als unendliches Netz, das durch den Willen des hinduistischen Gottes Indra zur Entstehung gebracht wurde. An jedem Knotenpunkt dieses unendlichen Netzes befindet sich ein wunderbar glänzender Edelstein mit unendlich vielen Facetten, und in jeder einzelnen Facette spiegeln sich alle Facetten aller anderen Edelsteine dieses Netzes. Da das Netz selbst, die Zahl der Edelsteine und der Facetten eines jeden Edelsteins unendlich ist, ist auch die Zahl der Spiegelungen unendlich. Wenn sich irgendetwas an irgendeinem Edelstein dieses unendlichen Netzes verändert, verändern sich auch alle anderen Edelsteine in diesem Netz.

Die Geschichte von Indras Netz bietet eine poetische Erklärung für die zuweilen mysteriösen Verbindungen, die wir bei scheinbar nicht zusammenhängenden Ereignissen beobachten. Kürzlich habe ich von Seiten mehrerer Schüler gehört, dass sich eine Menge moderner Wissenschaftler seit langer Zeit mit der Frage nach den Verbindungen – oder Verschränkungen, wie es bei den Physikern heißt – zwischen den Teilchen befassen, die für den menschlichen Geist oder ein Mikroskop nicht so ohne weiteres wahrnehmbar sind. Experimente mit subatomaren Teilchen, die im Verlauf der letzten Jahrzehnte durchgeführt wurden, lassen anscheinend den Schluss zu, dass alles, was einmal irgendwie miteinander verbunden war, diese Verbundenheit für immer beibehält.

Wie bei den Edelsteinen in Indras Netz wirkt sich alles, was eines dieser winzigen Teilchen tangiert, automatisch auf ein anderes aus, ganz gleich, wie weit beide durch Zeit oder Raum voneinander getrennt sein mögen. Und da eine der gegenwärtigen Theorien der modernen Physik die Annahme zur Grundlage hat, dass zu Beginn des Urknalls, aus dem unser Universum entstand, alle Materie in einem einzigen Punkt vereint war, ist es theoretisch möglich – wenn auch bisher noch nicht bewiesen –, dass alles, was sich auf ein Teilchen in unserem Universum auswirkt, sich auch auf alle anderen auswirkt.

Die tief greifende wechselseitige Verbundenheit von allem mit allem, auf die die Geschichte von Indras Netz verweist und die derzeit nur in der modernen wissenschaftlichen Theorie ihre Entsprechung findet, könnte sich sehr wohl eines Tages als wissenschaftlich bewiesener Fakt erweisen. Und diese Möglichkeit hat wiederum eine transformierende Auswirkung auf den Gedanken der Kultivierung von Mitgefühl; sie macht aus einer netten Idee eine Angelegenheit, die unser Leben von Grund auf verändert. Allein dadurch, dass Sie Ihren Standpunkt oder Ihre Betrachtungsweise ändern, können Sie nicht nur Ihr eigenes Erleben, sondern auch die Welt verändern.

 

 

 

LANGSAM VORGEHEN

 

Sei frei von jedwedem Greifen
nach Erfahrung.

 

Karmapa Wangtschug Dordsche:
Mahamudra – Ozean des wahren Sinnes

 

 

Man muss langsam vorgehen, wenn man sich in Güte und Mitgefühl schulen will. Sonst passiert es leicht, dass man allzu schnell allzu viel auf sich nimmt – eine Tendenz, vor der ich zu Beginn meines entsprechenden Ausbildungsabschnitts durch eine Geschichte gewarnt wurde. Sie betrifft Milarepa, der weithin als einer der größten erleuchteten Meister Tibets gilt und hauptsächlich durch spontan verfasste Lieder und Gedichte lehrte. Milarepa reiste zu seinen Lebzeiten sehr viel umher, und so kam er eines Tages in ein Dorf, wo er sich niedersetzte, um zu singen. Einer der Dörfler hörte sein Lied und war völlig hingerissen von der Idee, alles aufzugeben, woran er hing, als Einsiedler zu leben und so schnell wie möglich Erleuchtung zu erlangen, um in den ihm verbleibenden Jahren möglichst vielen Menschen auf der Welt zu helfen.

Als er Milarepa von seinem Vorhaben erzählte, gab der ihm sanft den Rat, doch besser erst einmal noch eine Weile zu Hause zu bleiben und auf allmählichere Weise mit dem Üben von Mitgefühl zu beginnen. Aber der Mann hörte nicht auf ihn und bestand auf seinem Vorhaben. Er eilte nach Hause und begann sogleich fieberhaft damit, seine ganze Habe wegzugeben, auch sein Haus. Nachdem er ein paar notwendige Dinge in ein Tuch geknotet hatte, machte er sich auf den Weg in die Berge, fand eine Höhle und ließ sich darin nieder, um zu meditieren, ohne je zuvor geübt oder sich die Zeit genommen zu haben, es zu lernen. Nach drei Tagen war der arme Mann hungrig, erschöpft und fror. Nachdem er fünf Tage lang nichts gegessen und unter beschwerlichen Umständen zugebracht hatte, wollte er nach Hause gehen, aber er genierte sich. Ich habe so großes Aufhebens davon gemacht, dass ich alles verlassen und nur noch meditieren will, dachte er. Was werden die Leute denken, wenn ich schon nach fünf Tagen zurückkomme?

Doch am Ende des siebten Tages konnte er Hunger und Kälte nicht länger ertragen und kehrte in sein Dorf zurück. Verlegen machte er bei all seinen Nachbarn die Runde und fragte, ob sie etwas dagegen hätten, ihm seine Sachen zurückzuerstatten. Sie gaben ihm alles wieder, was er weggegeben hatte, und nachdem er sich wieder eingerichtet hatte, suchte er ziemlich gedemütigt Milarepa auf und bat ihn um vorbereitende Anweisungen für die Meditation. Er folgte dem allmählichen Pfad, den Milarepa ihn lehrte, wurde schließlich ein Meditierender von tiefer Weisheit und großem Mitgefühl und konnte vielen anderen wirklich von Nutzen sein.

Die Moral von der Geschichte ist natürlich, dass man der Versuchung widerstehen soll, übereilig mit der Praxis anzufangen und sofortige Resultate zu erwarten. Da sich unsere dualistische Sichtweise vom »Ich« und den »anderen« auch nicht über Nacht entwickelt hat, können wir nicht davon ausgehen, dass wir sie auf der Stelle überwinden. Begeben wir uns allzu eilfertig auf den Weg des Mitgefühls, enden wir bestenfalls wie der Dörfler, der sich vorschnell von seiner ganzen Habe trennte. Schlimmstenfalls werden wir am Schluss unseren karitativen Akt bereuen und uns damit ein geistiges Hindernis schaffen, zu dessen Überwindung wir vielleicht Jahre brauchen werden.

Auf diesen Punkt wurde ich von meinem Vater und meinen anderen Lehrern wiederholte Male nachdrücklich hingewiesen. Wenn Sie sich auf einen allmählichen Weg begeben, wird sich Ihr Leben vielleicht nicht gleich morgen oder in der nächsten Woche oder in einem Monat ändern. Aber wenn Sie dann im Verlauf eines Jahres oder vieler Jahre zurückblicken, werden Sie einen Unterschied erkennen. Sie werden sich von liebevollen und unterstützenden Gefährten umgeben sehen. Wenn Sie mit anderen Menschen in Konflikt geraten, werden Ihnen deren Worte und Handlungen nicht mehr so bedrohlich vorkommen wie ehedem. Schmerzen und Leiden, die Sie zuweilen fühlen und erfahren mögen, werden ein Maß annehmen, das sich sehr viel besser handhaben und mit dem sich sehr viel leichter leben lässt, und vielleicht werden die Schmerzen und Leiden sogar angesichts dessen, was andere Ihrer Bekannten durchmachen müssen, in ihrer Bedeutung schrumpfen.

Der allmähliche Pfad, den ich in Bezug auf die Entwicklung von Mitgefühl für andere lernte, beinhaltet drei »Ebenen«. Eine jede von ihnen muss einige Monate lang geübt werden – ähnlich wie Schüler mathematische Grundkenntnisse erlernen –, bevor man zu den höheren Ebenen übergehen kann. Auf der Ebene eins lernt man, wie man eine freundlich gütige oder mitfühlende Einstellung zu sich selbst und anderen nahestehenden Wesen entwickelt. Auf der Ebene zwei konzentriert man sich auf die Entwicklung von unermesslicher Güte und unermesslichem Mitgefühl, die sich auf alle Wesen erstrecken. Ebene drei ist als Bodhicitta (Erleuchtungsgeist) bekannt und wird noch einmal in zwei Arten oder Ebenen unterteilt: das absolute und das relative Bodhicitta. Unter absolutem Bodhicitta versteht man die spontane Erkenntnis, dass alle fühlenden Wesen bereits vollständig erleuchtet sind, ganz gleich wie sie handeln oder in Erscheinung treten. Gewöhnlich muss man ziemlich lange üben, um zu dieser Ebene spontaner Erkenntnis zu gelangen. Relatives Bodhicitta beinhaltet das Kultivieren des starken Wunsches, dass alle fühlenden Wesen von Leiden vollkommen frei sein mögen. Man kultiviert diesen Wunsch dadurch, dass man ihre wahre Natur erkennt und Handlungen zur Verwirklichung dieses Wunsches unternimmt.

 

 

 

EBENE EINS

 

Denkt an den Gefangenen nicht als
jemand anderen, versetzt euch an sei-
ne Stelle.

 

Patrul Rinpoche: Die Worte
meines vollkommenen Lehrers

 

 

Die Meditation über Güte und Mitgefühl weist viel Ähnlichkeit mit den bereits besprochenen Shiné-Praxisübungen auf. Der Hauptunterschied besteht in der Wahl des Objekts, auf dem wir unsere Aufmerksamkeit ruhen lassen, und in den Methoden, derer wir uns hierbei bedienen. Eine der wichtigsten Lektionen, die ich in den Jahren meiner formalen Ausbildung lernte, war die, dass – sobald ich das Mitgefühl abblockte, das ja eine natürliche Eigenschaft meines Geistes ist – ich mich unausweichlich klein, verletzlich und verängstigt fühlte.

Wir verfallen so leicht auf den Gedanken, dass wir die Einzigen sind, die leiden, wohingegen andere Menschen gegenüber dem Schmerz irgendwie immun sind; so als wären sie mit einem bestimmten Wissen über das Glücklichsein zur Welt gekommen, das uns durch ein kosmisches Versehen nie zuteil wurde. Wenn wir so denken, lassen wir unsere Probleme sehr viel größer erscheinen, als sie wirklich sind.

Wie alle habe auch ich mich dieser Überzeugung schuldig gemacht und als Folge davon zugelassen, dass ich mich isoliert fühlte, in die Falle des dualistischen Denkens ging und mein schwaches, verletzliches und ängstliches Ich an allen anderen auf der Welt maß, die ich allesamt für sehr viel mächtiger, glücklicher und ungefährdeter hielt. Die Macht, die, wie ich mir weismachte, andere Menschen über mich besaßen, wurde zu einer schrecklichen Bedrohung für mein eigenes Wohlbefinden. Ich glaubte, dass ein anderer jederzeit einen Weg finden konnte, das, was ich an Sicherheit oder Glück zu erlangen vermocht hatte, zu unterminieren.

Nachdem ich nun Jahre mit vielen Menschen gearbeitet habe, bin ich zur Erkenntnis erlangt, dass ich nicht der Einzige bin, der so gedacht und gefühlt hat. Irgendein Teil unseres alten Reptiliengehirns schätzt sofort ein, ob wir uns einem Freund oder Feind gegenübersehen. Diese Wahrnehmung dehnt sich allmählich auch auf unbelebte Objekte aus, bis uns alles – ein Computer, eine durchgebrannte Glühbirne, das blinkende Licht des Anrufbeantworters – irgendwie bedrohlich vorkommt.

Als ich jedoch die Mitgefühlsmeditation zu praktizieren begann, stellte ich fest, dass mein Gefühl, allein und isoliert zu sein, allmählich abnahm und mein ganz persönliches Empfinden von Befähigung nach und nach zunahm. Wo ich ehedem nur Probleme sah, begann ich nun Lösungen zu erkennen. Und da, wo ich einst mein Glück für wichtiger gehalten hatte als das Glück anderer, konnte ich nun das Wohlergehen anderer als Grundlage für meinen eigenen Geistesfrieden wahrnehmen.

So wie ich es gelehrt wurde, beginnt das Entwickeln von Güte und Mitgefühl damit, dass wir uns selbst wertschätzen lernen. Das ist ein schwieriges Unterfangen, vor allem für Menschen, die in einer Gesellschaft groß geworden sind, in der man gemeinhin auf den persönlichen Schwächen von jemandem herumreitet und die persönlichen Stärken gar nicht erwähnt. Das ist kein speziell westliches Problem. Mir rettete in meinem ersten Retreatjahr die Entwicklung einer mitfühlenden Einstellung mir selbst gegenüber buchstäblich das Leben. Ich hätte mein Zimmer nie verlassen können, wenn ich nicht mit meiner wahren Natur ins Reine gekommen wäre, tief ins Innere meines Geistes geblickt und dort die wahre Macht statt der Verletzlichkeit gesehen hätte, die ich dort immer vermutet hatte.

Die Erinnerung daran, dass das Sanskritwort für »Mensch« purusha ist, was im Wesentlichen »etwas, das Macht besitzt« bedeutet, gehört zu den Dingen, die mir halfen, als ich dort allein in meinem Zimmer saß. Ein Mensch zu sein heißt Macht zu haben; speziell die Macht, alles zu erreichen, was wir wollen. Und was wir wollen, lässt sich letztlich auf den elementaren biologischen Drang zurückführen, glücklich zu sein und Schmerz zu vermeiden.

Somit bedeutet das Entwickeln von Güte und Mitgefühl zunächst, dass wir uns selbst zum Objekt unserer Meditation nehmen. Die leichteste Methode ist eine Art Variante der schon beschriebenen »Scan-Praxis«. Für die formale Praxis nehmen Sie so gut wie möglich die Sieben-Punkte-Haltung ein. Ansonsten richten Sie einfach Ihr Rückgrat gerade auf, halten den restlichen Körper entspannt und ausbalanciert und lassen den Geist sich einfach im Zustand bloßen Gewahrseins entspannen.

Nachdem Sie den Geist für einige Momente in objektloser Meditation haben ruhen lassen, führen Sie eine rasche »ScanÜbung« durch, bei der Sie Ihren physischen Körper nach und nach einer Beobachtung unterziehen. Dabei machen Sie sich sanft bewusst, wie wundervoll es ist, überhaupt einen Körper zu haben, und zudem auch einen Geist, der ihn zu scannen vermag. Erwecken Sie in sich die Einsicht, wie großartig diese elementaren Fakten Ihrer Existenz tatsächlich sind, wie überaus glücklich Sie sich schätzen können, dass Sie über diese herrlichen Geschenke eines Körpers und Geistes verfügen! Verweilen Sie einen Augenblick lang bei dieser Erkenntnis und führen Sie dann sacht den Gedanken ein: Wie schön wäre es, wenn ich mich immer dieses Gefühls von grundlegendem Gutsein erfreuen könnte. Wie schön wäre es, wenn ich immer dieses Wohlbefinden und all die Ursachen genießen könnte, die dazu führen, dass man sich glücklich, gut und im inneren Frieden fühlt.

Lassen Sie dann Ihren Geist offen und entspannt ruhen. Versuchen Sie nicht, diese Übung länger als drei Minuten aufrechtzuerhalten, wenn es sich um eine formale Praxis handelt. Und sollten Sie üben, während Sie einen Flur oder eine Straße entlanggehen oder Ihr Auto lenken, dann lassen Sie es bei ein paar Sekunden bewenden. Es ist äußerst wichtig, dass Sie nur kurze Sitzungen abhalten und den Geist anschließend ruhen lassen. Kurze Praxissitzungen, gefolgt von Ruhephasen, sorgen dafür, dass sich dieses neue Gewahrsein stabilisieren kann. Im Westen würde man – wissenschaftlich – sagen, dass Sie Ihrem Gehirn die Möglichkeit zum Aufbau neuer Muster verschaffen, ohne dass sich ständig das alte neuronale Geschwätz einschaltet. Einfach gesagt, wenn Sie öfter einmal eine Pause beim Üben machen, geben Sie sich die Chance, die Auswirkungen Ihrer Übung in Gestalt eines Stroms positiver Gefühle zu genießen.

Haben Sie sich mit Ihrem eigenen Verlangen nach Glück erst einmal etwas vertraut gemacht, können Sie dieses Gewahrsein sehr viel leichter auf andere fühlende Wesen ausdehnen – auf Menschen, Tiere und sogar auch Insekten. Die Praxis von Güte und Mitgefühl beinhaltet im Wesentlichen das Kultivieren der Erkenntnis, dass sich alle lebenden Geschöpfe heil und ganz, ungefährdet und glücklich fühlen wollen. Sie brauchen sich eigentlich nur in Erinnerung zu rufen, dass sich im Geist von irgendjemand anderem im Prinzip das Gleiche abspielt wie in dem Ihren. Wenn Sie sich das vergegenwärtigen, wird Ihnen klar, dass es keinen Grund gibt, sich vor irgendjemandem oder irgendetwas zu fürchten. Ängstigen Sie sich, dann nur aus dem einzigen Grund, dass Sie es verabsäumt haben zu erkennen, dass Ihr Gegenüber so wie Sie ist: ein Geschöpf, das nur glücklich und von Leiden frei sein möchte.

In den klassischen buddhistischen Texten wird gelehrt, dass wir unseren Fokus als Erstes auf unsere Mutter richten sollen, die uns die allerhöchste Güte erwiesen hat, indem sie uns in ihrem Körper ausgetragen, zur Welt gebracht und oft unter großen persönlichen Opfern in den ersten Lebensjahren mit ihrer Fürsorge und Pflege am Leben erhalten hat. Ich weiß, dass viele Menschen im Westen nicht immer eine zärtliche und liebevolle Beziehung zu ihren Eltern haben – und in einem solchen Fall ist es nicht sehr praktisch, die Mutter oder den Vater zum Objekt Ihrer Meditation zu nehmen. Es ist völlig akzeptabel, wenn Sie sich dann auf ein anderes Objekt konzentrieren, zum Beispiel auf eine besonders freundliche Verwandte oder einen Lehrer, eine enge Freundin oder ein Kind. Manche Menschen konzentrieren sich auch auf ihr Haustier. Das Objekt Ihrer Wahl spielt hier keine große Rolle. Wichtig ist, dass Sie Ihre Aufmerksamkeit sanft auf jemandem oder etwas ruhen lassen, für den, die oder das Sie ein bedingungsloses Gefühl von Zärtlichkeit oder Herzenswärme empfinden.

Wenn Sie eine formale Praxis von Güte und Mitgefühl beginnen wollen, nehmen Sie zunächst entweder die Sieben-Punkte-Haltung ein; oder (wenn Sie zum Beispiel im Bus oder Zug sitzen) Sie richten zumindest das Rückgrat gerade auf, während der Körper ansonsten ganz natürlich, ruhig und entspannt bleibt. Haben Sie die richtige Haltung eingenommen, ist der nächste Schritt wie bei jeder Meditationspraxis der, dass Sie Ihren Geist ein paar Augenblicke im natürlichen Zustand ruhen lassen und einfach alles loslassen, worüber Sie vielleicht gerade nachgedacht haben. Lassen Sie Ihren Geist einfach einen großen Seufzer der Erleichterung tun.

Nach ein paar Augenblicken objektloser Meditation richten Sie dann Ihr Gewahrsein sanft auf das Wesen, für das Sie am leichtesten Zärtlichkeit, Zuneigung oder Anteilnahme empfinden können. Seien Sie nicht überrascht, wenn in Ihnen das Bild von jemand oder etwas anderem sehr viel stärker aufsteigen sollte als das des eigentlich ausgewählten Objekts. Das passiert oft ganz spontan. Einer meiner Schüler wollte sich bei seiner formalen Praxis auf seine Großmutter konzentrieren, die in seinen jungen Jahren sehr lieb zu ihm gewesen war; stattdessen aber kam ihm immer wieder das Bild eines Kaninchens vor Augen, das er als Kind besessen hatte. Das ist nur ein Beispiel für die sich behauptende natürliche Weisheit des Geistes. Mit diesem Kaninchen verband sich für ihn eine Menge rührender Erinnerungen, und als er sich ihnen schließlich ergab, fiel ihm diese Praxis ziemlich leicht.

Sie werden vielleicht feststellen, dass Ihr Geist manchmal ganz spontan Erinnerungen an ein besonders schönes Erlebnis produziert statt des abstrakteren Bildes der Person, die Sie zu Ihrem Meditationsobjekt gewählt haben. Auch das ist in Ordnung. Der wichtige Punkt beim Kultivieren von Güte und Mitgefühl ist der, dass Sie die Erfahrung eines echten Gefühls von Herzenswärme, Zärtlichkeit oder Zuneigung machen.

Lassen Sie dann im Weiteren dieses Gefühl von Herzenswärme oder Zuneigung in Ihren Geist einsinken, so wie ein Samenkorn in die Erde eingepflanzt wird, und wechseln Sie ein paar Minuten lang zwischen dieser Erfahrung und dem einfachen Ruhen des Geistes in objektloser Meditation hin und her. Während Sie zwischen diesen beiden Geisteszuständen hin- und herpendeln, lassen Sie in sich den Wunsch entstehen, dass das Objekt Ihrer Meditation das gleiche Gefühl von Offenheit und Herzenswärme erleben möge, das Sie für sie, ihn oder es empfinden.

Wenn Sie das eine Weile lang praktiziert haben, sind Sie bereit, ein bisschen tiefer zu gehen. Fangen Sie an wie zuvor, nehmen Sie eine angemessene Körperhaltung ein, lassen Sie Ihren Geist ein paar Momente in objektloser Meditation ruhen und vergegenwärtigen Sie sich dann das Objekt Ihrer Praxis von Güte und Mitgefühl. Haben Sie sich auf Ihr Meditationsobjekt eingestellt, gibt es mehrere Möglichkeiten, wie Sie weiter vorgehen können. Die erste besteht darin, dass Sie sich die von Ihnen ausgewählte Person in einem Zustand großen Schmerzes oder Kummers vorstellen. Sollte sich die betreffende Person schon real in einer solchen Situation befinden, brauchen Sie Ihren Geist natürlich nur auf deren gegenwärtige Lage zu richten. In jedem Fall wird das Bild, das Sie sich vor Augen halten, ganz natürlich ein tiefes Gefühl von Liebe und Verbundenheit erzeugen und den tiefen Wunsch erwecken zu helfen. Der Gedanke, dass ein Wesen, an dem Ihnen sehr gelegen ist, Schmerz erleidet, kann Ihnen das Herz brechen. Aber ein gebrochenes Herz ist ein offenes Herz. Und jeder Anlass, der Ihnen das Herz bricht, bietet die Gelegenheit, dass Sie von Liebe und Mitgefühl durchströmt werden.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass Sie Ihre Aufmerksamkeit sanft auf der von Ihnen gewählten Person ruhen lassen und sich dabei fragen: »Wie sehr möchte ich glücklich sein? Wie sehr möchte ich Schmerz oder Leiden vermeiden?« Lassen Sie Ihre Gedanken zu diesen Punkten eine möglichst spezifische Richtung einschlagen. Würden Sie zum Beispiel, wenn Sie gerade irgendwo festsitzen, wo es stickig und heiß ist, sich nicht lieber an einen kühleren und luftigeren Ort begeben? Würden Sie, wenn Sie körperliche Schmerzen haben, nicht wollen, dass Ihnen der Schmerz genommen wird?

Lenken Sie, während Sie über Ihre Antworten nachdenken, allmählich Ihre Aufmerksamkeit auf das von Ihnen gewählte Individuum und stellen Sie sich vor, wie es sich in der gleichen Situation fühlen würde. Ein Praktizieren dieser Art öffnet nicht nur Ihr Herz für andere Wesen, sondern löst auch Ihre Identifikation mit dem von Ihnen möglicherweise momentan empfundenen Schmerz oder Unbehagen auf.

Das Kultivieren von Güte und Mitgefühl gegenüber Personen, die Sie schon kennen und an denen Ihnen sehr gelegen ist, ist nicht sehr schwierig. Auch wenn Sie sie gerade mal erwürgen könnten, weil sie so dumm oder starrsinnig sind, lieben Sie sie im Grunde Ihres Herzens doch. Ein bisschen schwieriger wird es schon, wenn Sie das gleiche Gefühl von Herzenswärme und Verbundenheit auf die ausdehnen sollen, die Sie nicht kennen – und noch schwieriger wird es, wenn Sie dieses Gewahrsein auf die richten, die Sie ganz entschieden nicht ausstehen können.

Ich hörte vor einiger Zeit einmal die Geschichte von einem Mann und einer Frau, die vor etwa 40 oder 50 Jahren in China lebten. Sie hatten eben erst geheiratet, und als die Braut in das Haus ihres Ehemanns übersiedelte, begann sie sich sofort mit ihrer Schwiegermutter wegen einer Reihe kleiner Dinge, die die Haushaltsführung betrafen, herumzustreiten. Ihre Meinungsverschiedenheiten eskalierten mit der Zeit immer mehr, bis die junge Frau und die Schwiegermutter sich nicht einmal mehr ansehen konnten. Die junge Frau betrachtete ihre Schwiegermutter als alte Hexe, die sich dauernd einmischte, während die Schwiegermutter in ihrer Schwiegertochter ein arrogantes Kind sah, das keinen Respekt vor älteren Menschen hatte.

Es gab eigentlich keinen Grund für diese Eskalation von Wut und Zorn. Aber schließlich wurde die junge Frau auf ihre Schwiegermutter so böse, dass sie beschloss, etwas zu unternehmen und sie aus dem Weg zu schaffen. Sie ging zu einem Arzt und bat ihn um Gift, das sie ihrer Schwiegermutter ins Essen mischen konnte.

Nachdem der Arzt sich die Klagen der jungen Frau angehört hatte, willigte er ein, ihr etwas Gift zu verkaufen. »Aber wenn ich dir etwas Starkes geben würde, das sofort wirkt, würden alle sofort mit dem Finger auf dich zeigen und sagen, dass du deine Schwiegermutter vergiftet hast«, warnte er. »Und sie würden auch herausfinden, dass du das Gift von mir gekauft hast, und das wäre für uns beide nicht gut. Ich werde dir also ein ganz leichtes Gift geben, das nur sehr allmählich wirkt, und daher wird sie nicht gleich sterben.«

Er wies sie auch an, ihre Schwiegermutter unterdessen ausgesprochen nett zu behandeln. »Serviere ihr jede Mahlzeit mit einem Lächeln«, riet er ihr. »Sag ihr, dass du hoffst, dass ihr das Essen schmeckt, und frag sie, ob du ihr noch irgendetwas bringen könntest. Sei sehr bescheiden und liebenswürdig, dann wird dich niemand verdächtigen.«

Die junge Frau war einverstanden und nahm das Gift mit. Noch an diesem Abend begann sie, es ins Essen ihrer Schwiegermutter zu mischen, und servierte ihr dann überaus höflich die Mahlzeit. Nachdem sie ein paar Tage derart respektvoll behandelt worden war, begann die Schwiegermutter ihre Meinung über die Frau ihres Sohnes zu ändern. Vielleicht ist sie doch gar nicht so arrogant, dachte sie. Vielleicht habe ich mich in Bezug auf sie geirrt. Und ganz allmählich begann auch sie ihre Schwiegertochter freundlicher zu behandeln, machte ihr hie und da Komplimente über ihre Kochkünste und ihre Haushaltsführung und tauschte mit ihr sogar ein bisschen Tratsch und lustige Geschichten aus.

Und mit der Änderung der Einstellung und des Verhaltens der alten Frau änderte sich natürlich auch das der jungen Frau. Nach ein paar Tagen begann sie zu denken: Vielleicht ist meine Schwiegermutter gar nicht so schlimm, wie ich dachte. Eigentlich scheint sie sogar ziemlich nett zu sein.

Das ging etwa einen Monat lang so weiter, bis die beiden Frauen tatsächlich sehr gute Freundinnen wurden. Sie kamen allmählich derart gut miteinander aus, dass die junge Frau die Mahlzeiten ihrer Schwiegermutter nicht mehr vergiftete. Und dann begann sie sich Sorgen zu machen, weil ihr klar wurde, dass sie bereits so viel Gift in deren Mahlzeiten getan hatte, dass sie sehr wahrscheinlich daran sterben würde.

Sie suchte den Arzt auf und sagte: »Ich habe einen Fehler begangen. Meine Schwiegermutter ist eigentlich eine wirklich nette Person. Ich hätte sie nicht vergiften sollen. Bitte helfen Sie mir aus der Patsche und geben Sie mir ein Gegengift.«

Der Arzt saß nach diesen Worten einen Augenblick lang ganz still da. »Es tut mir sehr leid«, erwiderte er dann, »da kann ich dir nun nicht helfen. Es gibt kein Gegengift.«

Da regte sich die junge Frau schrecklich auf, fing an zu weinen und schwor, dass sie sich umbringen würde.

»Warum willst du dich umbringen?«, fragte der Arzt.

»Weil ich eine so nette Person vergiftet habe, und jetzt muss sie sterben«, gab sie zur Antwort. »Deshalb sollte ich mir mein Leben nehmen und mich für meine schreckliche Tat bestrafen.«

Wieder saß der Arzt einen Moment lang still da, dann begann er zu kichern.

»Warum lachen Sie denn?«, wollte die junge Frau wissen.

»Weil du dir wirklich gar keine Sorgen machen musst«, erwiderte der Arzt. »Es gibt kein Gegengift, weil ich dir überhaupt kein Gift gegeben habe. Du hast von mir nichts weiter als ein harmloses Kraut bekommen.«

Ich mag diese Geschichte, weil sich in ihr auf so einfache Weise zeigt, wie leicht sich eine ganz natürliche Veränderung einer Erfahrungssituation ergeben kann. Zunächst hassten sich die junge Braut und die Schwiegermutter. Jede dachte, die andere sei einfach schrecklich. Doch als sie erst einmal anfingen, einander anders zu behandeln, sahen sie sich allmählich auch in einem anderen Licht. Jede betrachtete die andere als einen im Grunde guten Menschen, und schließlich wurden sie enge Freundinnen. Sie hatten sich als Menschen gar nicht wirklich verändert, sie hatten lediglich ihre Sichtweise geändert.

Das Nette an solchen Geschichten ist, dass sie uns zur Einsicht zwingen, dass unsere anfänglichen Eindrücke von anderen falsch oder irreführend sein können. Es gibt keinen Grund, sich wegen solcher Fehler schuldig zu fühlen. Sie sind bloß das Resultat von Unwissenheit. Und glücklicherweise hat uns der Buddha eine Meditationspraxis zur Verfügung gestellt, die uns nicht nur die Mittel an die Hand gibt, solche Fehler wiedergutzumachen, sondern sie auch künftig zu vermeiden. Diese Praxis ist als das »Tauschen mit anderen« bekannt, was schlicht gesagt bedeutet, dass man sich an die Stelle eines anderen versetzt, den, die oder das man nicht besonders mag.

Obschon die Praxis des Tauschens mit anderen jederzeit und überall ausgeübt werden kann, ist es doch hilfreich, wenn man sie sich in ihren Grundlagen durch die formale Praxis aneignet. Das formale Üben gleicht ein bisschen dem Aufladen eines Handyakkus. Ist er vollständig aufgeladen, können Sie Ihr Handy lange Zeit an vielerlei Orten unter den mannigfaltigsten Umständen benutzen. Doch irgendwann ist der Akku leer und muss wieder aufgeladen werden. Der Hauptunterschied zwischen dem Aufladen eines Akkus und dem Entwickeln von Güte und Mitgefühl besteht letztlich darin, dass die durch die formale Praxis eingeübte Gewohnheit, auf andere Wesen mitfühlend zu reagieren, ein neuronales Netzwerk aufbaut, das sich ständig selbst aufrechterhält und seine »Ladung« nicht mehr verliert.

Der erste Schritt für diese Übung ist wie immer das Einnehmen der richtigen Körperhaltung. Dann lassen Sie den Geist ein paar Augenblicke lang im natürlichen Zustand ruhen. Danach vergegenwärtigen Sie sich jemanden oder etwas, den oder das Sie nicht mögen. Urteilen Sie nicht über Ihre Gefühle. Geben Sie sich selbst die vollständige Freiheit, diese Gefühle zu fühlen. Wenn Sie alle Urteile und Rechtfertigungen fallen lassen, werden Sie ein gewisses Maß an Offenheit und Klarheit erfahren.

Der nächste Schritt besteht darin, dass Sie sich eingestehen, dass diese Gefühle – Ärger, Wut, Groll, Eifersucht oder Verlangen  – für sich genommen die Quelle des von Ihnen empfundenen Schmerzes oder Unbehagens sind. Nicht das Objekt Ihrer Gefühle ist die Ursache für Ihren Schmerz, sondern Ihre eigene, mental erzeugte Reaktion auf das Subjekt oder den Gegenstand Ihrer Gefühle.

So haben Sie vielleicht Ihre Aufmerksamkeit auf jemanden gerichtet, der etwas zu Ihnen gesagt hat, das sich grausam, kritisch oder verächtlich anhörte – oder auf jemanden, der Ihnen eine glatte Lüge erzählt hat. Lassen Sie sich jetzt zur Einsicht gelangen, dass nichts weiter passiert ist, als dass jemand Laute ausgestoßen hat und Sie sie gehört haben. Wenn Sie auch nur ein bisschen in der Meditation des ruhigen Verweilens auf der Grundlage von Tönen und Lauten geübt sind, wird Ihnen vermutlich dieser Aspekt des »Tauschens mit anderen« vertraut vorkommen.

An diesem Punkt stehen Ihnen nun drei Optionen offen. Die erste und wahrscheinlichste ist die, dass Sie sich von Ärger, Wut, Schuldgefühlen oder Groll vereinnahmen lassen.

Die zweite (sehr unwahrscheinliche) ist die, dass Sie denken: Ich hätte mehr Zeit auf das Meditieren über hörbare Wahrnehmungen verwenden sollen.

Die dritte Option ist die, dass Sie sich vorstellen, die Person zu sein, die die von Ihnen als schmerzhaft empfundenen Dinge gesagt oder getan hat. Fragen Sie sich, ob den Worten oder dem Tun dieser Person wirklich der Wunsch zugrunde lag, Sie zu verletzen oder zu kränken, oder ob sie vielleicht nur versucht hat, auf diese Weise ihren eigenen Schmerz zu lindern oder ihre Ängste loszuwerden.

In vielen Fällen kennen Sie die Antwort schon. Vielleicht haben Sie mitbekommen, was ein anderer über die Gesundheit oder private Beziehung oder berufliche Gefährdung der betreffenden Person sagte. Aber auch wenn Ihnen keine näheren Einzelheiten über deren Situation bekannt sind, wissen Sie doch aus Ihrer Übungspraxis zur Entwicklung von Mitgefühl sich selbst und anderen gegenüber, dass hinter dem Verhalten eines Menschen letztlich nur ein mögliches Motiv steht: das Verlangen, sich sicher oder glücklich zu fühlen. Und wenn Leute etwas Verletzendes sagen oder tun, dann deshalb, weil sie sich nicht sicher oder glücklich fühlen. Mit anderen Worten, sie haben Angst.

Und Sie wissen, wie es ist, wenn man Angst hat.

Diese Erkenntnis oder Einsicht in Bezug auf einen anderen ist die Essenz des »Tauschens mit anderen«.

Eine andere Variante dieser Praxis besteht darin, dass Sie einen »neutralen« Fokus wählen – jemanden oder etwas, den, die oder das Sie nicht direkt kennen, aber dessen Leiden Sie sich bis zu einem gewissen Grad vorstellen können. Das könnte ein Kind in einem fremden Land sein, das verdurstet oder verhungert, oder ein Tier, das in einer Eisenfalle festsitzt und verzweifelt sein Bein durchnagt, um zu entkommen. Diese Wesen Ihres »neutralen« Fokus erfahren alle möglichen Arten von Leiden, über die sie keine Kontrolle haben, vor denen sie sich nicht schützen oder aus denen sie sich nicht befreien können. Doch der Schmerz, den sie erleiden, und ihr verzweifeltes Verlangen, sich von diesem Schmerz zu befreien, sind sehr leicht nachvollziehbar, weil wir alle das gleiche Grundverlangen haben. Sie können sich also deren Gemütsverfassung vorstellen, auch wenn Sie diese Wesen nicht kennen, und können ihre Angst und ihren Schmerz als Ihre eigene Angst und Ihren eigenen Schmerz erleben. Ich garantiere Ihnen, dass aus Ihnen kein altes, langweiliges, faules Schaf wird, wenn Sie Ihr Mitgefühl in dieser Weise auf die, die Sie nicht mögen, oder auf die, die Sie nicht kennen, ausdehnen.

 

 

 

EBENE ZWEI

 

Mögen alle Wesen glücklich sein und
die Ursachen von Glück besitzen.

 

Die Vier Unermesslichen

 

 

Es gibt eine spezielle Meditationspraxis, die uns beim Erzeugen von unermesslicher Güte und unermesslichem Mitgefühl helfen kann. Im Tibetischen heißt diese Praxis Tonglen, was man mit »Senden und Nehmen« oder »Geben und Nehmen« übersetzen könnte.

An sich handelt es sich beim Tonglen um eine ziemlich leichte Praxis, die nur ein einfaches Koordinieren von Visualisation und Atmen erfordert. Der erste Schritt besteht wieder in der Erkenntnis, dass andere Wesen nicht weniger nach Glück verlangen und Leiden vermeiden möchten als wir. Sie brauchen keine bestimmten Wesen zu visualisieren, obwohl Sie, wenn es Ihnen hilft, zunächst mit einer bestimmten Visualisation beginnen können. Schließlich aber erstreckt sich die Praxis des Gebens und Nehmens über die hinaus, die Sie sich vor Augen führen können, und schließt alle fühlenden Wesen mit ein – auch Tiere, Insekten und Bewohner anderer Dimensionen, über die wir nichts wissen oder die wir nicht sehen können.

Wie man mich lehrte, geht es im Wesentlichen darum, sich in Erinnerung zu rufen, dass das Universum von einer grenzenlosen Anzahl von Wesen bevölkert ist, und den Gedanken zu hegen: So wie ich mir wünsche, glücklich zu sein, wünschen sich alle Wesen das auch. So wie ich mir wünsche, Leiden zu vermeiden, wünschen sich alle Wesen das auch. Ich bin nur eine Person, wohingegen die Zahl der anderen Wesen unendlich ist. Das Wohlergehen dieser unendlichen Zahl ist wichtiger als das von nur einer Person. Und wenn Sie diese Gedanken in Ihrem Bewusstsein kreisen lassen, werden Sie allmählich merken, dass Sie tatsächlich aktiv den Wunsch hegen, dass andere von Leiden frei sein mögen.

Nehmen Sie zunächst die richtige Körperhaltung ein und lassen Sie den Geist für ein paar Augenblicke im natürlichen Zustand ruhen. Setzen Sie dann Ihren Atem ein, um Ihr ganzes Glück allen fühlenden Wesen zu schicken und deren Leiden in sich aufzunehmen. Stellen Sie sich beim Ausatmen vor, dass alles Glück und alles Positive, das Sie sich in Ihrem Leben erworben haben, in Form von reinem Licht aus Ihnen hinausströmt, sich auf alle Wesen ausdehnt, sich in ihnen auflöst, alle ihre Bedürfnisse erfüllt und all ihr Leiden beseitigt. Sobald Sie mit dem Ausatmen beginnen, stellen Sie sich vor, dass das Licht alle Wesen unmittelbar berührt und sich, wenn Sie das Ausatmen beenden, bereits in den Wesen aufgelöst hat. Beim Einatmen stellen Sie sich vor, dass Sie den Schmerz und die Leiden aller fühlenden Wesen in Form von dunklem, rauchigem Licht durch Ihre Nasenlöcher in sich aufnehmen und es in Ihrem Herzen auflösen.

Während Sie mit dieser Übung fortfahren, stellen Sie sich weiterhin vor, dass alle Wesen von ihrem Leiden befreit werden und von Glückseligkeit erfüllt sind. Wenn Sie das einige Augenblicke lang geübt haben, lassen Sie den Geist ganz einfach ruhen. Nehmen Sie dann die Übung wieder auf, wechseln Sie zwischen Phasen des Tonglen und geistiger Ruhe ab.

Wenn es Ihnen beim Visualisieren hilft, können Sie mit ganz gerade aufgerichtetem Körper sitzen, die Hände zu lockeren Fäusten schließen und sie auf den Oberschenkeln ruhen lassen. Öffnen Sie dann beim Ausatmen die Hände, sodass die Finger gestreckt sind, und schieben Sie sie in Richtung Knie, wobei Sie sich vorstellen, dass das Licht hinausströmt zu allen fühlenden Wesen. Beim Einatmen lassen Sie die Hände wieder zurückgleiten, schließen sie wieder zu lockeren Fäusten, so als ob Sie auf diese Weise das dunkle Licht der Leiden anderer in sich aufnähmen und in sich auflösten.

Im Universum finden sich so viele verschiedene Arten von Geschöpfen, dass man sich unmöglich alle vorstellen, geschweige denn allen und jedem direkte, unmittelbare Hilfe anbieten kann. Aber durch die Tonglen-Praxis öffnen Sie Ihr Bewusstsein für unendlich viele Geschöpfe und wünschen ihnen Wohlergehen. Das Ergebnis ist, dass Ihr Geist allmählich klarer, ruhiger, fokussierter wird und sein Gewahrsein zunimmt und dass Sie die Fähigkeit entwickeln, anderen sowohl direkt wie indirekt auf unzählige Arten und Weisen zu helfen.

Ein altes tibetisches Volksmärchen veranschaulicht die Vorteile der Entwicklung dieser Art allumfassenden Mitgefühls. Ein Nomade, der seine Tage mit dem Umherstreifen in den Bergen zubrachte, hatte keine Schuhe und daher ständig Schmerzen, die durch den steinigen, mit Dornen überwucherten Boden verursacht wurden. Schließlich begann er bei seinen Streifzügen die Häute von toten Tieren zu sammeln, sie auf den Bergpfaden auszulegen und über die Steine und Dornen zu breiten. Das Problem war nur, dass er, auch wenn er sich große Mühe gab, allenfalls ein paar hundert Quadratmeter bedecken konnte. Schließlich kam ihm der Gedanke, dass er schmerzlos Tausende von Kilometern dahinwandern konnte, wenn er sich aus nur ein paar kleinen Häuten ein Paar Schuhe anfertigte. Indem er einfach seine Füße mit Leder bedeckte, bedeckte er die ganze Erde mit Leder.

Wenn wir unsererseits versuchen wollten, mit jedem Konflikt, mit jeder Emotion und mit jedem negativen Gedanken, so wie sie auftauchen, fertig zu werden, würden wir dem Nomaden gleichen, der versuchte, die Erde mit Leder zu bedecken. Wenn wir aber stattdessen an der Entwicklung eines liebevollen und friedfertigen Geistes arbeiten, können wir auf alle Probleme in unserem Leben die gleiche Lösung anwenden.

 

 

 

EBENE DREI

 

Ein Mensch, der die Kraft echten Mit-
gefühls erweckt hat, wird sehr befä-
higt sein, auf physischer, verbaler und
mentaler Ebene für das Wohlergehen
anderer zu arbeiten.

 

Jamgön Kongtrul: Das Licht der Gewissheit

 

 

Man könnte die Bodhicitta-Praxis, die Übung des Erleuchtungsgeistes, für geradezu magisch halten. Magisch in dem Sinn, dass andere Menschen, wenn wir mit ihnen so umgehen, als wären sie bereits vollkommen erleuchtet, meist auf positivere, vertrauensvollere und friedlichere Weise reagieren, als sie es vielleicht sonst getan hätten. In Wirklichkeit ist aber nichts Magisches an diesem Prozess. Wir betrachten und reagieren hier auf Menschen ganz einfach auf der Ebene ihres vollen Potenzials, und diese reagieren nach bestem Vermögen auf die gleiche Weise.

Wie schon erwähnt, gibt es zwei Aspekte von Bodhicitta, das absolute und das relative Bodhicitta. Absolutes Bodhicitta ist die direkte Einsicht in die Natur des Geistes. Im absoluten Bodhicitta oder im total erwachten Geist gibt es keine trennende Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen dem Ich und dem anderen; alle fühlenden Wesen werden spontan als vollkommene Manifestationen der Buddhanatur erkannt. Jedoch sind nur sehr wenige Menschen zu einer sofortigen Erfahrung von absolutem Bodhicitta fähig. Ich war es gewiss nicht. Wie die meisten Leute musste ich mich auf dem allmählicheren Pfad des relativen Bodhicitta üben.

Dass man im Zusammenhang mit diesem Pfad von »relativ« spricht, hat mehrere Gründe. Erstens: Sein Bezug zum absoluten Bodhicitta ist der, dass er das gleiche Ziel verfolgt: die direkte Erfahrung der Buddhanatur oder des erwachten Geistes. Um uns einer Analogie zu bedienen: Das absolute Bodhicitta ist wie das oberste Stockwerk eines Gebäudes, während das relative Bodhicitta mit den unteren Stockwerken vergleichbar ist. Alle Stockwerke sind Bestandteil desselben Gebäudes, aber jedes der unteren Stockwerke steht in relativer Beziehung zum obersten Stockwerk. Wenn Sie das oberste Stockwerk erreichen wollen, müssen Sie alle unteren Stockwerke passieren.

Zweitens: Wenn wir den Zustand von absolutem Bodhicitta erreicht haben, gibt es keinen Unterschied mehr zwischen den fühlenden Wesen: Jedes Lebewesen wird als vollkommene Manifestation der Buddhanatur begriffen. Bei der Praxis des relativen Bodhicitta hingegen arbeiten wir immer noch im Rahmen einer Beziehung zwischen Subjekt und Objekt oder zwischen dem Ich und anderen. Und schließlich sagen viele große Lehrer, wie zum Beispiel Jamgön Kongtrul in seinem Buch Das Licht der Gewissheit, dass die Entwicklung des absoluten Bodhicitta vom Entwickeln des relativen Bodhicitta abhängig ist.1

Mit dem Entwickeln von relativem Bodhicitta verbinden sich stets zwei Aspekte: das Bestreben und die Anwendung. Das Bodhicitta des Bestrebens beinhaltet, dass wir den starken, tief im Herzen empfundenen Wunsch kultivieren, alle fühlenden Wesen auf die Ebene zu bringen, auf der sie ihre Buddhanatur erkennen können. Wir beginnen mit dem Gedanken: Ich möchte das vollständige Erwachen erlangen, um allen fühlenden Wesen zu helfen, denselben Zustand zu erreichen. Das Bodhicitta der Bestrebung konzentriert sich auf die Frucht oder das Resultat der Praxis. In gewissem Sinn ist das so, als ob man sich auf das Ziel konzentriert, alle an einen bestimmten Zielort zu befördern – zum Beispiel nach London, Paris oder Washington, D.C. Im Falle des Bodhicitta des Bestrebens ist der »Zielort« natürlich das totale Erwachen des Geistes oder das absolute Bodhicitta. Das Bodhicitta der Anwendung – in den klassischen Texten findet sich oft der Vergleich mit dem konkreten Unternehmen von Schritten, um am Zielort anzukommen – konzentriert sich auf den Pfad, auf dem man das Ziel des Bodhicitta des Bestrebens erreicht: die Befreiung aller fühlenden Wesen von allen Formen des Leidens durch das Erkennen ihrer Buddhanatur.

Wie schon gesagt, betrachten wir beim Üben des relativen Bodhicitta andere fühlende Wesen immer noch aus leicht dualistischer Sicht, so als stünde ihre Existenz in relativer Beziehung zu der unseren. Wenn wir aber die Motivation in uns erzeugen, nicht nur uns selbst, sondern alle fühlenden Wesen auf die Ebene der vollständigen Erkenntnis der Buddhanatur zu heben, geschieht etwas Merkwürdiges: Die dualistische Sichtweise von einem »Ich« und einem »anderen« löst sich ganz allmählich auf, und wir nehmen an Weisheit und Kraft zu, um anderen sowie auch uns selbst helfen zu können.

Als Herangehensweise an das Leben bedeutet die Kultivierung von relativem Bodhicitta, verglichen mit unserer üblichen Umgangsweise mit anderen, gewiss eine Verbesserung, obschon sie ein gewisses Maß an Arbeit erfordert. Es ist ja so leicht, andersdenkende Menschen zu verurteilen, nicht wahr? Die meisten von uns tun dies so locker und gedankenlos, wie sie eine Mücke, eine Küchenschabe oder eine Fliege zerquetschen. Die Essenz der Entwicklung von relativem Bodhicitta besteht in der Erkenntnis, dass der Wunsch, ein Insekt zu erschlagen, und der Impuls, eine andersdenkende Person zu verurteilen, im Grunde dasselbe sind. Das ist unsere tief ins Reptiliengehirn eingebettete instinktive Reaktion, zu kämpfen oder zu fliehen; oder um es etwas direkter zu sagen: Es ist unsere Krokodilsnatur.

Somit besteht der erste Schritt beim Entwickeln von relativem Bodhicitta in einer Entscheidung: Möchte ich lieber ein Krokodil oder ein Mensch sein?

Sicher, ein Krokodil zu sein hat seine Vorteile. Krokodile sind im Austricksen ihrer Feinde und im einfachen Überleben ganz hervorragend. Aber sie können nicht lieben oder die Erfahrung machen, geliebt zu werden. Sie haben keine Freunde. Sie erleben nie die Freuden, Kinder großzuziehen. Sie bringen der Kunst oder Musik nur eine äußerst geringe Wertschätzung entgegen. Sie können nicht lachen. Und viele von ihnen enden als Schuhe.

Wenn Sie mit der Lektüre dieses Buches bis hierher vorgedrungen sind, bestehen gute Chancen, dass Sie kein Krokodil sind. Aber wahrscheinlich haben Sie ein paar Leute getroffen, die sich wie Krokodile benehmen. Der erste Schritt beim Entwickeln von relativem Bodhicitta besteht darin, dass Sie Ihre Abscheu vor krokodilsähnlichen Menschen aufgeben und ihnen gegenüber ein gewisses Mitgefühl entwickeln, weil diese nicht erkennen, wie viel ihnen von der Schönheit und vom Reichtum des Lebens entgeht. Wenn Sie dieses Mitgefühl entwickeln können, wird es Ihnen sehr viel leichter fallen, das relative Bodhicitta auf alle fühlenden Wesen auszudehnen – auch auf echte Krokodile und andere Geschöpfe, die Sie vielleicht ärgern, ängstigen oder anekeln. Wenn Sie nur mal einen Augenblick darüber nachdenken, wie viel diese Geschöpfe verpassen, wird sich Ihr Herz fast automatisch für sie öffnen.

Das Bodhicitta des Bestrebens und das Bodhicitta der Anwendung sind im Grunde wie die zwei Seiten einer Münze. Das eine kann es ohne das andere nicht geben. Das Bodhicitta des Bestrebens bedeutet, dass wir die uneingeschränkte Bereitschaft kultivieren, allen lebenden Wesen zu helfen, damit sie den Zustand vollständigen Glücks und vollständiger Freiheit von Schmerz und Leiden erlangen. Ob Sie tatsächlich in der Lage sind, sie zu befreien, tut nichts zur Sache. Wichtig ist Ihre Absicht. Das Bodhicitta der Anwendung beinhaltet die Aktivitäten, die erforderlich sind, um Ihre Absicht auszuführen. Wenn Sie den einen Aspekt üben, stärken Sie Ihre Fähigkeit, den anderen zu kultivieren.

Das Bodhicitta der Anwendung können Sie auf vielerlei Weisen üben: zum Beispiel indem Sie Ihr Bestes tun, um sich des Stehlens, Lügens, Tratschens zu enthalten und nichts zu sagen oder zu tun, das Menschen vorsätzlich Schmerz bereitet; indem Sie sich anderen gegenüber großzügig verhalten, Streit schlichten, sanft und ruhig sprechen, statt »auszuflippen«; indem Sie sich über Gutes freuen, das anderen widerfährt, statt sich von Neid oder Eifersucht überwältigen zu lassen. Ein solches Verhalten ist eines der Mittel, wie Sie Ihre Meditationserfahrungen auf alle Aspekte des Alltagslebens ausdehnen können.

Es gibt keine größere Inspiration, nichts Mutigeres als die Absicht und den Vorsatz, alle Wesen durch die Einsicht in ihre wahre Natur zur vollkommenen Freiheit und zum vollständigen Wohlergehen zu führen. Ob Sie diesen Vorsatz völlig verwirklichen können, ist unwichtig. Schon allein die Absicht hat große Kraft, und wenn Sie mit ihr arbeiten, wird Ihr Geist stärker werden; Ihre geistigen Hemmnisse werden sich mindern; Sie werden geschickter darin, anderen Wesen zu helfen; und indem Sie das tun, erschaffen Sie die Ursachen und Bedingungen für Ihr eigenes Wohlergehen.