Anfänglich ist unser Geist nicht im-
stande, sehr lange stabil zu bleiben und
zu ruhen. Doch durch Beständigkeit
und Ausdauer entwickeln sich nach
und nach auch Ruhe und Stabilität.
Bokar Rinpoche: Meditation: Advice to Beginners
Wenn wir den Geist in Meditation friedlich ruhen lassen, können sich wunderbare Erfahrungen einstellen. Manchmal dauert es eine Weile, bis sie sich ereignen, und manchmal kommen sie schon bei der allerersten Sitzung zustande. Die üblichsten dieser Erfahrungen sind Glückseligkeit, Klarheit und nichtbegriffliches Gewahrsein oder Nichtdenken.
So wie ich es erklärt bekam, ist Glückseligkeit ein sowohl im Geist wie auch im Körper wahrgenommenes Gefühl von ungetrübtem Glück, Wohlbefinden und Leichtigkeit. Verstärkt sich diese Erfahrung noch, scheint alles, was man sieht, aus Liebe gemacht zu sein. Auch Empfindungen von körperlichem Schmerz sind von größerer Leichtigkeit und kaum mehr wahrnehmbar.
Klarheit ist das Empfinden, in die Natur der Dinge hineinsehen zu können, so als wäre alle Realität eine an einem strahlend sonnigen, wolkenlosen Tag in Licht getauchte Landschaft. Alles erscheint sehr klar und deutlich, und alles ergibt Sinn. Selbst störende Gedanken und Emotionen haben in dieser leuchtenden Landschaft ihren Platz.
Nichtbegriffliches Gewahrsein oder Nichtdenken ist eine Erfahrung der totalen Offenheit des Geistes. Das Gewahrsein ist dabei direkt und ungetrübt von begrifflichen Unterscheidungen wie »ich« und »andere«, Subjekt und Objekt oder irgendwelchen anderen Formen der Begrenzung. Es ist eine Erfahrung von reinem Bewusstsein, so grenzenlos und unendlich wie der Raum, ohne Anfang, Mitte oder Ende. Es ist, als würde man in einem Traum erwachen und erkennen, dass alle diese Traum-Erlebnisse vom Geist des Träumenden nicht getrennt sind.
Doch bekomme ich von Leuten, die mit dem Meditieren gerade erst anfangen, sehr häufig zu hören, dass sie dasitzen und nichts passiert. Manchmal haben sie ein äußerst kurzes, geringfügiges Gefühl von innerer Ruhe. Aber in den meisten Fällen fühlen sie sich auch nicht anders als vor oder nach ihrer Sitzung. Das kann wirklich frustrierend sein.
Manche Leute haben auch ein Gefühl der Desorientierung, so als befände sich ihre vertraute Welt der Gedanken, Emotionen und Empfindungen in einer leichten Schräglage – was angenehm oder unangenehm sein kann.
Wie schon früher erwähnt, ist, gleich ob Sie nun Glückseligkeit, Klarheit, Desorientiertheit oder gar nichts erfahren, die Absicht zu meditieren wichtiger als das, was beim Meditieren passiert.
Da die Achtsamkeit schon vorhanden ist, wird sich Ihr Gewahrsein davon durch das bloße Bemühen, mit ihr in Kontakt zu bleiben, weiterentwickeln. Wenn Sie Ihre Übung fortsetzen, werden Sie vielleicht nach und nach etwas fühlen, ein Empfinden von innerer Ruhe oder Geistesfrieden haben, das ein bisschen anders ist als Ihr normaler Bewusstseinszustand. Und wenn sich solche Erfahrungen bei Ihnen einzustellen beginnen, werden Sie intuitiv den Unterschied zwischen dem abgelenkten Geist und dem unabgelenkten Geist der Meditation verstehen.
Zu Anfang sind die meisten von uns überhaupt nicht imstande, den Geist für lange Zeit im bloßen Gewahrsein ruhen zu lassen. Wenn Sie dies nur für äußerst kurze Zeit können, ist das in Ordnung. Befolgen Sie einfach die an früherer Stelle gegebene Anweisung, diese kurze Entspannungsphase im Verlauf einer Sitzung viele Male zu wiederholen. Es bringt schon enormen Nutzen, wenn Sie den Geist auch nur einen Atemzug lang friedlich ruhen lassen. Wiederholen Sie es einfach nur immer und immer wieder.
Umstände und Bedingungen verändern sich fortwährend, und der wahre Frieden liegt in der Fähigkeit, sich den Veränderungen anzupassen. Nehmen wir zum Beispiel mal an, Sie sitzen da und konzentrieren sich ruhig auf Ihren Atem, und der Wohnungsnachbar über Ihnen wirft den Staubsauger an, oder in der Nachbarschaft beginnt plötzlich ein Hund zu bellen. Vielleicht tut Ihnen auch allmählich der Rücken weh, oder die Beine schmerzen, oder irgendwo juckt es Sie. Oder vielleicht steigt plötzlich aus unerfindlichen Gründen die Erinnerung an eine Auseinandersetzung auf, die Sie kürzlich hatten. Solche Sachen passieren ständig – und das ist ein weiterer Grund, warum der Buddha so viele Meditationspraktiken gelehrt hat.
Treten solche Ablenkungen ein, machen Sie sie einfach zum Bestandteil Ihrer Praxis. Verbinden Sie Ihr Gewahrsein mit der Ablenkung. Wenn Ihre Atempraxis vom Lärm eines bellenden Hundes oder eines Staubsaugers unterbrochen wird, wechseln Sie zur Meditation über hörbare Wahrnehmungen über und lassen Ihre Aufmerksamkeit auf den Lärmgeräuschen ruhen. Wenn Sie Schmerzen im Rücken oder in den Beinen spüren, richten Sie die Aufmerksamkeit auf den Geist, der den Schmerz fühlt. Juckt es Sie, dann kratzen Sie sich.
Wenn Sie je einmal die Gelegenheit haben, bei einer Belehrung oder Rezitationspraxis in einer buddhistischen Tempelhalle zu sitzen, werden Sie zweifellos bemerken, dass die Mönche unentwegt dabei sind sich zu kratzen, auf den Sitzkissen hin und her zu rutschen oder zu husten. Aber wenn die Mönche ihre Schulung ernst genug nehmen, werden sie sich vermutlich mit Achtsamkeit kratzen, die Sitzhaltung verändern und so weiter – dann werden sie ihre Achtsamkeit auf den Juckreiz lenken, auf das Gefühl, sich zu kratzen, und auf die Erleichterung, wenn sie sich genug gekratzt haben.
Werden Sie von starken Emotionen abgelenkt, dann können Sie versuchen, sich auf den Geist zu fokussieren, der die Emotion erfährt. Oder Sie können es mit der Tonglen-Praxis probieren und Ihre Gefühle – Wut, Traurigkeit, Eifersucht, Begehren – als Basis für die Praxis nutzen.
Am anderen Ende der Skala stellt eine ganze Reihe mir bekannter Leute fest, dass sie beim Üben schläfrig werden oder ihr Bewusstsein dumpf wird. Es kostet sie unendliche Mühe, die Augen offenzuhalten und ihre Achtsamkeit auf ihr Tun gerichtet zu halten. Der Gedanke, es für diesen Tag gut sein zu lassen und sich ins Bett zu legen, erscheint ausgesprochen verführerisch.
Für den Umgang mit dieser Situation stehen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung. Eine ist ganz einfach eine Variante der auf körperliche Empfindungen gerichteten Achtsamkeit. Sie lassen Ihre Aufmerksamkeit auf dem Gefühl von Dumpfheit oder Schläfrigkeit ruhen. Mit anderen Worten, Sie nutzen Ihre Dumpfheit, statt von ihr benutzt zu werden. Und wenn Sie nicht sitzen bleiben können, legen Sie sich hin, aber halten auch dabei Ihr Rückgrat so gerade wie möglich.
Ein anderes Hilfsmittel besteht darin, dass Sie den Blick nach oben richten. Dazu brauchen Sie weder den Kopf noch das Kinn anzuheben, nur der Blick wendet sich nach oben. Das führt oft dazu, dass das Bewusstsein wach wird. Das Absenken des Blicks hat hingegen oft eine beruhigende Wirkung, wenn der Geist erregt ist.
Wenn keines dieser Mittel gegen Dumpfheit oder Zerstreutheit hilft, empfehle ich den Schülern oft, eine Pause einzulegen. Machen Sie einen Spaziergang, erledigen Sie irgendetwas in der Wohnung, machen Sie eine Körperübung, lesen Sie ein Buch oder arbeiten Sie im Garten. Es hat keinen Sinn, sich zum Meditieren zu zwingen, wenn Geist und Körper nicht mitmachen wollen. Wenn Sie mit Gewalt gegen Ihren Widerstand vorzugehen versuchen, wird Ihnen schließlich der ganze Gedanke ans Meditieren zuwider, und Sie beschließen, es ganz sein zu lassen und Ihr Glück in einer vorübergehenden Attraktion zu finden. In solchen Zeiten nehmen sich dann sämtliche Fernsehkanäle äußerst vielversprechend aus.
FORTSCHREITENDE STADIEN
DER MEDITATIONSPRAXIS
Erlaube den getrübten Wassern deiner
Gedanken, sich zu klären.
Tilopa: Mahamudra Upadesa. Essenzielle
Mahamudra-Unterweisungen am Ganges
Als ich zum ersten Mal zu meditieren begann, stellte ich mit Entsetzen fest, dass ich mehr Gedanken, Gefühle und Empfindungen wahrnahm als zu der Zeit, bevor ich mit dem Üben angefangen hatte. Mein Geist schien mir eher noch aufgeregter als friedlicher zu werden. »Mach dir keine Sorgen«, sagten meine Lehrer. »Es ist einfach so, dass du dir der Aktivitäten mehr bewusst wirst, die die ganze Zeit vor sich gingen, ohne dass du es bemerkt hast.«
Die Erfahrung eines Wasserfalls
Sie erklärten diese Erfahrung anhand des Vergleichs mit einem Wasserfall, der durch das Tauwetter im Frühling plötzlich anschwillt. Wenn die Wasser der Schneeschmelze die Berge hinabfließen, wird alles mögliche Zeug mitgerissen. Es mögen Hunderte von Felsbrocken, Steinen und anderen Elementen vom Wasser mitgeschwemmt werden, aber man kann sie unmöglich alle sehen, weil das Wasser so schnell vorbeirauscht und allen möglichen Unrat aufrührt, der das Wasser trübt; und man kann von all dem mentalen und emotionalen Unrat sehr leicht abgelenkt werden.
Sie lehrten mich ein kurzes Gebet, das als Dorje Chang Tungma bekannt ist und das ich als sehr hilfreich empfand, wenn mein Geist von Gedanken, Emotionen und Empfindungen überschwemmt zu werden schien. Grob übersetzt lautet ein Teil dieses Gebets so:
Der Körper der Meditation, so heißt es, ist Nichtzerstreutheit.
Vom Geist wahrgenommene Gedanken sind in sich nichts.
Möge mir der Segen zuteil werden, der ich
in der Essenz aufsteigender Gedanken natürlich ruhe,
im Geist zu ruhen, wie er von Natur aus ist.
Beim Arbeiten mit den vielen Schülern in aller Welt machte ich die Beobachtung, dass Leute, die mit dem Meditieren anfangen, oft als Erstes die »Wasserfall-Erfahrung« machen. Es gibt mehrere übliche Reaktionen darauf, und ich habe sie alle durchexerziert. In gewisser Hinsicht schätze ich mich glücklich, weil ich ein größeres Einfühlungsvermögen in meine Schüler und Schülerinnen entwickeln konnte, da ich alle diese Stadien durchmachte. Doch damals schien mir der »Wasserfall« eine schreckliche Tortur zu sein.
Die erste Reaktion beinhaltet den Versuch, den Wasserfall zu stoppen, indem man sich ganz bewusst um ein Abblocken der Gedanken, Gefühle und Empfindungen bemüht, um so das Gefühl von innerer Ruhe, Offenheit und Frieden zu erzeugen. Das ist ein kontraproduktiver Versuch, weil er zum Gefühl von mentaler oder emotionaler Angespanntheit führt, das sich schließlich vor allem im Oberkörper als physischer Druck manifestiert. Die Augäpfel rollen nach oben, die Ohren stehen unter Spannung, Nacken und Schultern sind anormal verspannt. Ich nenne diese Praxisphase gerne die »regenbogengleiche« Meditation, weil die Ruhe nach dem Abblocken des »Wasserfalls« so illusionär und flüchtig ist wie ein Regenbogen.
Wenn Sie vom Versuch, ein künstliches Gefühl von innerer Ruhe herzustellen, ablassen, werden Sie sich mit der »ungeschminkten« Form der »Wasserfall-Erfahrung« konfrontiert sehen. Dann wird Ihr Geist von den verschiedensten Gedanken, Gefühlen und Empfindungen fortgetragen, um deren Blockierung Sie sich vielleicht vorher bemüht hatten. Das ist im Allgemeinen die in Teil II beschriebene »Hoppla«-Erfahrung – bei der Sie den Versuch machen, Ihre Gedanken, Gefühle und Empfindungen zu beobachten, um dann von ihnen mitgerissen zu werden. Sie bemerken, dass Sie fortgeschwemmt werden, und versuchen sich mit aller Kraft wieder dahinzubringen, dass Sie das Geschehen in Ihrem Geist einfach nur beobachten. Ich nenne das die »Haken«-Meditationsform, bei der Sie versuchen, Ihre Erfahrungen an die Angel zu bekommen und ein gewisses Bedauern verspüren, wenn Sie sich stattdessen von ihnen haben mitzerren lassen.
Es gibt zwei Möglichkeiten für den Umgang mit der »Haken-Situation«. Ist Ihr Bedauern, dass Sie sich von den Ablenkungen haben mitreißen lassen, wirklich sehr stark, dann lassen Sie den Geist einfach sanft auf der Erfahrung von Bedauern ruhen. Ansonsten lassen Sie die Ablenkungen ziehen und Ihr Gewahrsein in der Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks ruhen. Sie könnten zum Beispiel die Aufmerksamkeit auf Ihre körperlichen Empfindungen richten: Vielleicht ist Ihr Kopf ein bisschen heiß, schlägt das Herz ein wenig rascher oder sind Nacken und Schultern ein bisschen verspannt. Lassen Sie Ihr Gewahrsein einfach auf diesen oder anderen sich im gegenwärtigen Moment ereignenden Wahrnehmungen und Erfahrungen ruhen. Sie können auch, wie in Teil I und II besprochen, versuchen, mit bloßem Gewahrsein im Strom des Wasserfalls selbst zu ruhen.
Wie immer wir damit umgehen, die »Wasserfall-Erfahrung« liefert uns eine wichtige Lektion. Sie lehrt uns, vorgefasste Vorstellungen von der Meditation fallen zu lassen. Unsere der Meditationspraxis entgegengebrachten Erwartungen stellen oft die größten Hindernisse dar. Wichtig ist, dass Sie einfach der Vorgänge in Ihrem Geist so gewahr werden, wie sie sind.
Eine andere Möglichkeit ist die, dass Ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen zu schnell kommen und gehen, als dass Sie sie erfassen könnten. Es ist, als ob jeder Gedanke, jedes Gefühl oder jede Empfindung ein Wassertropfen wäre, der in einen großen Teich fällt und sofort von ihm absorbiert wird. Das ist an sich eine sehr gute Erfahrung. Es ist eine Art objektlose Meditation, die beste Form der Praxis des ruhigen Verweilens. Machen Sie sich also keine Vorwürfe, wenn Sie nicht jeden »Tropfen« auffangen können – beglückwünschen Sie sich vielmehr, weil Sie spontan in einen Meditationszustand eingetreten sind, von dem die meisten Menschen finden, dass er schwer zu erreichen ist.
Wenn Sie ein Weilchen so geübt haben, werden Sie feststellen, dass sich der Ansturm der Gedanken, Emotionen und Empfindungen allmählich verlangsamt und es möglich wird, die Erfahrungen und Wahrnehmungen klarer auszumachen und zu unterscheiden. Sie waren schon die ganze Zeit da, aber einfach nicht zu sehen, weil, wie auch beim echten Wasserfall, die rapide Strömung zu viel Schmutz und Sedimente aufgewirbelt hat. Durch die Meditation setzen sich allmählich die Gewohnheitstendenzen und Ablenkungen, die den Geist normalerweise trüben und verschleiern, und Sie können nach und nach die Aktivitäten sehen, die die ganze Zeit unterhalb der normalen Bewusstseinsschwelle vor sich gingen.
Es kann aber sein, dass Sie nun immer noch nicht jeden Gedanken, jedes Gefühl oder jede Wahrnehmung in ihrem Vorbeiziehen beobachten können, sondern nur einen flüchtigen Eindruck erhaschen – so ähnlich, wie wenn Sie den Bus knapp verpassen, wie an früherer Stelle beschrieben. Auch das ist okay. Das Gefühl, die Beobachtung eines Gedankens oder einer Empfindung gerade verpasst zu haben, ist ein Zeichen von Fortschritt. Es ist ein Hinweis darauf, dass sich Ihr Bewusstsein schärft, um Spuren von Bewegungen zu erhaschen, so wie ein Detektiv Spuren und Anhaltspunkte zu entdecken beginnt.
Wenn Sie weiter üben, werden Sie feststellen, dass Sie jeder Erfahrung, so wie sie sich ereignet, klarer gewahr werden. Meine Lehrer bedienten sich zur Beschreibung dieses Phänomens des Vergleichs mit einer im stürmischen Wind flatternden Fahne. Je nach Windrichtung bewegt und verändert sie sich fortwährend. Ihre Bewegungen sind wie die Ereignisse, die durch Ihren Geist flitzen, wohingegen der Fahnenmast für Ihr natürliches Gewahrsein steht: Er ist gerade und stabil, unveränderlich und fest im Boden verankert. Er bewegt sich nicht, ganz gleich wie stürmisch der Wind weht und die Fahne in die eine oder andere Richtung peitscht.
Die Erfahrung eines sanft dahinfließenden Stroms
Wenn Sie weiterüben, werden Sie unausweichlich feststellen, dass Sie die Bewegungen der Ihren Geist durchziehenden Gedanken, Emotionen und Empfindungen klar ausmachen und unterscheiden können. An diesem Punkt haben Sie begonnen, von der »Wasserfall-Erfahrung« zur »Strom-Erfahrung«, wie sie meine Lehrer nannten, überzugehen, bei der sich die Dinge zwar noch immer bewegen, nun aber auf langsamere und sanftere Weise. Eines der ersten Zeichen dafür, dass Sie in die »Strom-Phase« der Meditationserfahrung eingetreten sind, besteht darin, dass Sie gelegentlich mühelos in einen Zustand meditativen Gewahrseins gelangen; dass sich Ihr Gewahrsein ganz natürlich mit jedem Geschehen in Ihrem Innern oder Ihrem Umfeld verbindet. Und bei der formalen Praxis machen Sie deutlichere Erfahrungen von Glückseligkeit, Klarheit und nichtbegrifflichem Gewahrsein.
Manchmal treten diese drei Erfahrungszustände simultan auf, und manchmal tritt einer von ihnen stärker als die anderen beiden hervor. Sie haben vielleicht das Empfinden, dass Ihr Körper leichter wird und weniger angespannt ist. Sie stellen vielleicht fest, dass Ihre Wahrnehmungen deutlicher und insofern in gewisser Weise »transparenter« werden, als sie sich nicht mehr so schwer oder bedrückend anfühlen wie in der Vergangenheit. Gedanken und Gefühle scheinen nicht mehr so viel Macht zu haben; sie sind vom »Saft« des meditativen Gewahrseins durchdrungen und scheinen mehr vorübergehende Eindrücke denn absolute Fakten zu sein. Sie werden feststellen, dass Ihr Geist ruhiger und gelassener wird, wenn Sie »im Strom mitschwimmen«. Sie nehmen seine Bewegungen nicht mehr so ernst, und als Folge davon erleben Sie spontan ein stärkeres Gefühl der Zuversicht und Offenheit, das durch Begegnungen, Erfahrungen oder Orte, an die Sie sich begeben, nicht erschüttert wird. Mögen solche Erfahrungen auch kommen und gehen, Sie werden doch allmählich die Schönheit der Welt rings um Sie her wahrnehmen und empfinden.
Wenn diese Dinge sich zu ereignen beginnen, werden Sie nunmehr auch winzige Lücken zwischen den einzelnen Erfahrungen wahrnehmen. Diese Lücken oder Pausen werden zunächst nur äußerst kurz sein – lediglich flüchtige Eindrücke von nichtbegrifflichem Gewahrsein oder erfahrungsloser Wahrnehmung. Aber mit der Zeit und mit zunehmender Beruhigung des Geistes werden diese Pausen länger und länger. Das ist der Kern der Shiné-Praxis: die Fähigkeit, die Lücken zwischen den Gedanken, Emotionen und anderen mentalen Ereignissen wahrzunehmen und in ihnen zu ruhen.
Die Erfahrung eines Sees
Bei der »Strom-Erfahrung« hat Ihr Geist möglicherweise immer noch seine Aufs und Abs. Wenn Sie das nächste Stadium erreichen, das meine Lehrer die »See-Erfahrung« nannten, fühlt sich Ihr Geist allmählich sehr glatt, weit und offen an, wie ein unbewegter See. Sie sind wirklich ganz ohne Aufs und Abs glücklich. Sie sind voller Zuversicht, Sie sind stabil und befinden sich mehr oder weniger in einem fortwährenden Zustand meditativen Gewahrseins, selbst im Schlaf. Sie mögen immer noch Probleme in Ihrem Leben haben – negative Gedanken, starke Emotionen und so weiter –, aber diese werden nun, statt Hindernisse zu sein, zu weiteren Gelegenheiten, Ihr meditatives Gewahrsein zu vertiefen; einem Läufer vergleichbar, der die Herausforderung annimmt, noch einen weiteren Kilometer zu laufen, um eine Mauer des Widerstands zu durchbrechen und noch größere Stärke und Fähigkeit zu erwerben.
Gleichzeitig beginnt Ihr Körper die Leichtigkeit und Lichtheit der Glückseligkeit zu empfinden, und Ihre Klarheit verstärkt sich, sodass alle Ihre Wahrnehmungen von klarerer, fast transparenter Qualität sind, Widerspiegelungen in einem Spiegel gleich. Während der verrückte Affe in der Phase der »Strom-Erfahrung« immer noch ein paar Probleme schaffen kann, hat er sich, wenn Sie das »See-Stadium« erreichen, in den Ruhestand begeben.
Im Buddhismus vergleicht man das Durchschreiten dieser drei Stadien traditionsgemäß mit einem Lotos, der sich aus dem Schlamm erhebt. Die Lotospflanze erwächst anfänglich aus dem Schlamm und den Ablagerungen auf dem Grund eines Sees oder Teichs, doch wenn sich dann ihre Blüten auf der Wasseroberfläche entfalten, sind keinerlei Spuren von Schlamm an ihnen zu entdecken; ja, die Blütenblätter scheinen Schmutz direkt abzustoßen. Und wenn sich Ihr Geist in die »See-Erfahrung« hinein entfaltet, finden sich in Ihnen keine Spuren mehr von Anhaften oder Anklammern, keine mit Samsara verbundenen Probleme. Es könnte sogar sein, dass Sie wie die großen Meister alter Zeiten erhöhte Wahrnehmungsfähigkeiten entwickeln, zum Beispiel die der Hellsichtigkeit oder Telepathie. Wenn Sie solche Erfahrungen machen, sollten Sie sich allerdings am besten nicht damit brüsten oder mit irgendjemandem darüber sprechen, außer mit Ihrem Lehrer oder sehr engen Schülern und Schülerinnen Ihres Lehrers oder Ihrer Lehrerin.
Gemäß der buddhistischen Tradition sprechen die Leute nicht viel über ihre eigenen Erfahrungen und Verwirklichungen, weil das leicht zu einem übermäßigen Stolz darauf führt und dazu, dass man sie missbraucht, um Einfluss oder weltliche Macht über andere Menschen zu erlangen, was für einen selbst und andere schädlich ist. Aus diesem Grund beinhaltet die Schulung in Meditation das Gelübde oder die Verpflichtung – samaya im Sanskrit –, die durch die Meditationspraxis erlangten Fähigkeiten nicht zu missbrauchen: eine Verpflichtung ähnlich den Verträgen, keine Atomwaffen einzusetzen. Der Bruch dieses Gelübdes hat zur Folge, dass man alle Verwirklichungen und Fähigkeiten wieder verliert, die man durch die Praxis erworben hat.
DAS VERWECHSELN VON ERFAHRUNG
UND VERWIRKLICHUNG
Trenne dich von sämtlichen Bindun-
gen. Gib alles Festhalten auf.
Karmapa Wangtschug Dordsche:
Mahamudra – Ozean des wahren Sinnes
Obschon man die »See-Erfahrung« als die Krone der Shiné-Praxis betrachten kann, bedeutet sie doch nicht die Verwirklichung oder volle Erleuchtung. Sie ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg dahin, aber nicht der allerletzte Schritt. Verwirklichung beinhaltet die volle Erkenntnis der eigenen Buddhanatur, der Basis von Samsara und Nirvana: Sie ist frei von Gedanken, Emotionen und phänomenalen Erfahrungen des Sinnesbewusstseins und des Geistbewusstseins; frei von dualistischen Wahrnehmungen von einem Ich und anderen, Subjekt und Objekt; sie ist unendlich in ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten, ihrer Weisheit und ihrem Mitgefühl.
Mein Vater erzählte mir einmal eine Geschichte aus der Zeit, da er noch in Tibet lebte. Einer seiner Schüler, ein Mönch, begab sich hinauf in eine Berghöhle, um dort zu meditieren. Eines Tages schickte er meinem Vater eine dringliche Botschaft, dass er ihn doch bitte aufsuchen solle. Als mein Vater bei ihm ankam, erzählte der Mönch ganz aufgeregt: »Ich habe die volle Erleuchtung erlangt. Ich kann fliegen. Ich weiß es. Aber da Sie mein Lehrer sind, brauche ich Ihre Erlaubnis.«
Mein Vater erkannte, dass der Mönch nur einen flüchtigen Einblick in seine wahre Natur gewonnen und nur eine vorübergehende Erfahrung gemacht hatte und sagte ihm ganz unverblümt: »Vergiss es. Du kannst nicht fliegen.«
»Doch, doch«, erwiderte der Mönch aufgeregt. »Wenn ich von hier oben hinunterspringe« –
»Nein«, fiel ihm mein Vater ins Wort.
So debattierten sie lange herum, bis der Mönch schließlich nachgab und sagte: »Na gut, wenn Sie es sagen, dann werde ich es nicht versuchen.«
Da es schon bald Mittagszeit war, bot er meinem Vater eine Mahlzeit an. Und nachdem er meinen Vater bedient hatte, verließ der Mönch die Höhle. Kurz darauf vernahm mein Vater ein eigenartiges Plumpsgeräusch, und dann ertönte von weit unterhalb der Höhle ein Jammerschrei: »Bitte helfen Sie mir! Ich habe mir das Bein gebrochen!«
Mein Vater kletterte zur Stelle hinab, wo der Mönch lag, und sagte: »Du hast gesagt, du bist erleuchtet. Wo ist denn jetzt deine Erleuchtung?«
»Vergessen Sie meine Erleuchtung!«, jammerte der Mönch. »Ich habe Schmerzen!«
Mein stets mitfühlender Vater trug den Mönch in seine Höhle hinauf, schiente sein Bein und gab ihm zur Heilung der Verletzung etwas tibetische Medizin. Aber es war eine Lektion, die der Mönch nie vergaß.
Wie mein Vater achteten auch meine anderen Lehrer immer sorgsam darauf, den Unterschied zwischen momentaner Erfahrung und echter Verwirklichung deutlich zu machen. Die Erfahrung verändert sich fortwährend so wie Wolken am Himmel. Die Verwirklichung – das stabile Gewahrsein von der wahren Natur unseres Geistes – ist wie der Himmel selbst, ein unveränderlicher Hintergrund, vor dem die sich wandelnden Erfahrungen auftreten.
Um Verwirklichung zu erlangen, ist es ganz wichtig, dass Sie eine allmähliche Entwicklung Ihrer Praxis zulassen und mit ganz kurzen Zeitphasen mehrere Male am Tag beginnen. Die sich in kleinen Schritten vollziehenden Erfahrungen von innerer Ruhe, heiterer Gelassenheit und Klarheit, die Sie dabei machen, werden Sie ganz natürlich dazu inspirieren, die Übungsphasen länger auszudehnen. Zwingen Sie sich nicht zum Meditieren, wenn Sie zu müde oder zu abgelenkt sind. Und weichen Sie dem Üben nicht aus, wenn Ihnen die leise innere Stimme sagt, dass es Zeit ist, sich zu sammeln und zu fokussieren.
Wichtig ist auch, dass Sie alle Empfindungen von Glückseligkeit, Klarheit und nichtbegrifflichem Gewahrsein, die Sie vielleicht erfahren, wieder loslassen. Diese Zustände sind sehr schöne Erfahrungen und klare Zeichen dafür, dass Sie eine tiefgehende Verbindung mit der wahren Natur Ihres Geistes hergestellt haben. Aber sie bringen möglicherweise auch die Versuchung mit sich, an ihnen festhalten und sie andauern lassen zu wollen. Es ist in Ordnung, wenn man sich an sie erinnert und sie wertschätzt, aber wenn Sie den Versuch machen, sich an sie zu klammern oder sie zu wiederholen, werden Sie am Ende enttäuscht und frustriert werden. Ich weiß das, weil ich dieselbe Versuchung verspürt und die Frustration erlebt habe, wenn ich ihr nachgab. Jedes Aufleuchten von Glückseligkeit, Klarheit oder nichtbegrifflichem Gewahrsein ist eine spontane Erfahrung des Geistes, so wie er in diesem bestimmten Augenblick ist.
Wenn Sie an einer Erfahrung wie Glückseligkeit oder Klarheit festzuhalten versuchen, verliert sie ihre Lebendigkeit und Spontaneität; sie wird zu einem Konzept, zu einer abgestorbenen Erfahrung. Ganz gleich, wie sehr Sie sich anstrengen, sie dauern zu lassen, sie wird sich allmählich verflüchtigen. Wenn Sie sie später wiederherzustellen versuchen, bekommen Sie vielleicht einen gewissen Geschmack von dem, was Sie gefühlt und empfunden haben, aber es wird nur eine Erinnerung und nicht die unmittelbare Erfahrung selbst sein.
Die wichtigste Lektion, die ich erlernte, war, nicht an meinen positiven, friedvollen Erfahrungen anzuhaften. Wie alle geistigen Erfahrungen kommen und vergehen Glückseligkeit, Klarheit und nichtbegriffliches Gewahrsein ganz spontan. Man hat sie nicht erzeugt, man hat sie nicht verursacht, und man kann sie nicht kontrollieren. Sie sind ganz einfach natürliche Qualitäten des eigenen Geistes. Wenn sich solche überaus positiven Erfahrungen ereignen, so wurde ich gelehrt, soll man genau dann aufhören, bevor die Empfindungen schwächer werden. Wenn ich, sobald Glückseligkeit, Klarheit oder irgendeine andere wundervolle Erfahrung eintrat, mit dem Üben aufhörte, hielten die Auswirkungen entgegen meinen Erwartungen sehr viel länger an, als wenn ich an den Erfahrungen festzuhalten versuchte. Ich stellte auch fest, dass ich dann beim nächsten Mal, wenn es wieder ans Üben ging, sehr viel erpichter darauf war.
Noch wichtiger war die folgende Entdeckung: Wenn ich meine Meditationspraxis beendete, sobald ich so etwas wie Glückseligkeit, Klarheit oder nichtbegriffliches Gewahrsein erfuhr, war dies eine großartige Übung, um die Gewohnheit des dzinpa oder des Anklammerns abzulegen. Dass man nach einer wunderbaren Erfahrung greifen oder sich an sie klammern möchte, ist eine der wirklichen Gefahren der Meditation, weil man so leicht denkt, dass sie ein Zeichen von Verwirklichung ist. Doch in den meisten Fällen handelt es sich nur um eine vorübergehende Phase, um einen flüchtigen Einblick in die wahre Natur des Geistes, der sich so leicht wieder verdunkelt, wie Wolken die Sonne verdecken. Wenn dieser kurze Augenblick reinen Gewahrseins vorbei ist, muss man sich wieder mit den üblichen Zuständen von Dumpfheit, Zerstreutheit oder Aufgeregtheit abgeben, mit denen der Geist konfrontiert ist. Wir erlangen größere Stärke und machen mehr Fortschritte, wenn wir mit diesen Zuständen arbeiten, als wenn wir versuchen, an Erfahrungen von Glückseligkeit, Klarheit und nichtbegrifflichem Gewahrsein festzuhalten.
Lassen Sie sich von Ihrer eigenen Erfahrung führen und inspirieren. Genießen Sie die Sicht während Ihres Reisens auf dem Pfad. Die Sicht ist Ihr eigener Geist, und weil Ihr Geist schon erleuchtet ist, werden Sie schließlich auch erkennen, dass der Ort, den Sie erreichen wollen, der Ort ist, an dem Sie bereits sind.