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DAS WIE, WANN UND WO DES ÜBENS

Reines starkes Vertrauen ist etwas, das
es nach und nach aufzubauen gilt.

 

Der Zwölfte Tai Situ Rinpoche:
Tilopa. Some Glimpses of His Life

 

 

Eine der mir oft gestellten Fragen lautet: »Warum gibt es so viele Methoden, und welche ist die richtige für mich?«

Wenn Sie sich umsehen, werden Sie leicht erkennen, dass kein Mensch in seinem Naturell und seinen Fähigkeiten einem anderen völlig gleicht. Manche Leute kommen sehr gut mit Worten klar; sie verstehen problemlos verbale Anweisungen und können anderen unbefangen die Dinge verbal erklären. Andere hingegen sind mehr visuell veranlagt; sie begreifen am besten, wenn für die Erläuterungen Diagramme und Bilder verwendet werden. Manche Personen haben ein überdurchschnittlich gutes Hörvermögen, wohingegen andere über einen besser ausgeprägten Geruchssinn verfügen. Manche Menschen sind analytisch begabt, und das Ausarbeiten komplizierter mathematischer Formeln ist ihnen ein Leichtes.Andere sind im Grunde ihres Herzens Poeten und außerordentlich geschickt darin, sich und anderen die Welt mit Hilfe von Metaphern und Gleichnissen zu erklären.

 

 

 

WÄHLEN SIE DAS,
WAS FÜR SIE FUNKTIONIERT

 

Stell den Wachposten der Acht-
samkeit auf und ruhe.

 

Gyalwa Yang Gönpa

 

 

Unterschiedliche Umstände erfordern unterschiedliche Maßnahmen, weshalb es stets hilfreich ist, eine ganze Reihe von Optionen zur Verfügung zu haben. Das ist ein Prinzip, das praktisch für alle Aspekte des Lebens gilt. Zum Beispiel ist es bei geschäftlichen oder privaten Beziehungen in manchen Fällen besser, sich die Zeit zu nehmen und die eigenen Vorstellungen und Gedanken in einem Text zu formulieren, ihn zu überarbeiten und dann per E-Mail abzuschicken, wohingegen in anderen Fällen ein Anruf oder auch ein persönliches Treffen effektiver wäre.

Ähnlich hängt die »beste« Meditationstechnik stark von der speziellen Situation, vom persönlichen Naturell und von den gegebenen Fähigkeiten ab. Haben Sie es zum Beispiel mit Emotionen wie Traurigkeit, Wut oder Angst zu tun, könnte die Tonglen-Praxis der beste Ansatz sein. Manchmal funktioniert es aber auch besser, wenn Sie einfach die Emotion selbst zum Fokus einer elementaren Shiné-Praxis nehmen. Welche Technik sich für Sie am besten eignet, lässt sich oft nur durch Ausprobieren herausfinden. Kernpunkt ist, dass Sie die Methode wählen, die Sie am meisten anspricht, und dann eine Weile mit ihr arbeiten. Wollen Sie sich darin üben, den Geist zur Ruhe zu bringen, und sind Sie eher ein visueller Typ, dann versuchen Sie es eine Weile mit der Formmeditation. Gehören Sie zu den Menschen, die für körperliche Empfindungen sehr wach sind, dann versuchen Sie es mit dem »Körper-Scan« oder konzentrieren Sie sich auf den Atem. Probieren Sie das Arbeiten mit dem Mantra aus, wenn Sie eher dem verbalen Typ zuzurechnen sind. Die Technik spielt für sich genommen keine Rolle. Wichtig ist, dass Sie lernen, wie Sie den Geist zur Ruhe bringen – wie Sie mit ihm arbeiten, statt von ihm bearbeitet zu werden.

Aber da der Geist nun mal so aktiv ist, langweilt man sich leicht mit nur einer Methode. Haben Sie ein paar Tage, Wochen oder Monate mit einer bestimmten Praxis gearbeitet, kann Ihnen leicht mal der Gedanke kommen, O je, ich muss schon wieder meditieren . Sagen wir, Sie beginnen mit der Formmeditation. Eine Weile finden Sie das sehr nett, sehr beruhigend. Doch dann haben Sie sie eines Tages gründlich satt. Das ist in Ordnung. Sie brauchen nicht mehr über eine Form zu meditieren. Sie können es mit etwas anderem probieren, zum Beispiel mit der Meditation über hörbare Wahrnehmungen.

Eine Zeit lang erscheint Ihnen dieser Ansatz wirklich neu und aufregend. Sie denken vielleicht: Wow, noch nie zuvor habe ich mich so klar gefühlt! Doch nach einer Weile merken Sie, dass auch diese neue Technik Sie zu langweilen beginnt. Auch das ist in Ordnung. Wenn Sie diese Form von Meditation langweilt, können Sie es mit etwas Neuem probieren, zum Beispiel mit der Meditation über Gerüche oder mit dem Beobachten Ihrer Gedanken oder mit der Konzentration auf den Atem.

Wird nun klar, warum der Buddha so viele Zugangswege zur Meditation gelehrt hat? Er wusste schon weit vor der Erfindung von Fernsehen, Internet, Radio, MP3-Player und Telefon, wie ruhelos der menschliche Geist ist – und wie verzweifelt er auf Ablenkung aus ist. Also gab er uns für das Arbeiten mit dieser ruhelosen Natur unseres Geistes eine Menge Methoden an die Hand.

Ganz gleich welche Methode Sie wählen, es ist ausgesprochen wichtig, dass Sie bei jeder Sitzung zwischen dem Fokussieren eines Objekts und dem Ruhen des Geistes in objektloser Meditation abwechseln. Beim Arbeiten mit den Stützen für die Meditation geht es darum, dass Sie ein Maß an mentaler Stabilität entwickeln, das es Ihnen ermöglicht, sich Ihres Geistes bei seinem Wahrnehmen von Dingen gewahr zu sein. Wenn Sie den Geist nach einer Objektmeditation in objektloser Meditation ruhen lassen, erhalten Sie die Gelegenheit zu einer Integration Ihrer gemachten Erfahrungen. Das Hin-und-her-Wechseln zwischen diesen beiden Geisteszuständen verhilft Ihnen nach und nach zur Erkenntnis, dass alles Geschehen sehr eng mit Ihrem eigenen Gewahrsein verknüpft ist – ganz egal, in welcher Situation Sie sich befinden und ob es nun um Ihre eigenen Gedanken und Emotionen oder um eine scheinbar »da draußen« befindliche Person oder Situation geht.

 

 

 

LIEBER KURZ, ABER OFT

 

Sei ohne bemühte Aktivität.

 

Tilopa: Mahamudra Upadesa. Essenzielle
Mahamudra-Unterweisungen am Ganges

 

 

Eine formale Praxis zu beginnen ist eine der effektivsten Methoden, um den Fluss des schon lange bestehenden neuronalen Geschwätzes zu stoppen, das die Wahrnehmung von einem unabhängig oder inhärent existierenden »Selbst« oder »Ich« und von unabhängig oder inhärent existierenden »anderen« erzeugt. Wenn Sie sich regelmäßig Zeit für die formale Praxis nehmen, entwickeln Sie eine konstruktive Gewohnheit, die nicht nur die alten neuronalen Muster schwächt, sondern auch erfolgreich neue Muster aufbaut; Muster, die Sie erkennen lassen können, wie Ihr eigener Geist an Ihrer Wahrnehmungsweise teilhat.

Zwar können Sie zu jeder Tageszeit in formeller Weise üben, aber ich wurde gelehrt, dass der Morgen gleich nach dem Aufwachen nach einer guten Nachtruhe die beste Zeit dafür ist; dann ist der Geist am frischesten und entspanntesten und hat sich noch nicht auf den ganzen Alltagskram eingelassen. Wenn Sie sich die Zeit fürs Üben nehmen, bevor Sie das Haus verlassen und zur Arbeit gehen oder sich den Dingen widmen, die Sie zu erledigen haben, gibt das den Ton für den ganzen Tag vor und stärkt Sie zudem im Vorsatz, auch tagsüber immer wieder zu üben.

Doch manchen Menschen ist diese formale Praxis zu Beginn des Tages einfach nicht möglich, und wenn sie versuchen, die frühmorgendliche Meditation doch irgendwie in ihren Zeitplan zu quetschen, werden sie sie bald als lästige Pflicht ansehen. Sollte das auch bei Ihnen der Fall sein, dann wählen Sie unter allen Umständen einen für Sie bequemeren Zeitpunkt – vielleicht zur Mittagszeit, nach dem Abendessen oder vor dem Zubettgehen.

Es gibt keine unbedingt einzuhaltenden »Regeln« für die formale Praxis. Aber es gibt eine äußerst praktikable Richtschnur, die mein Vater allen seinen Schülern und Schülerinnen immer wieder auf so einprägsame Weise nahebrachte, dass wir sie uns leicht merken konnten: Lieber kurz, aber oft.

Als ich mit dem Unterrichten anfing, stellte ich fest, dass viele mit dem Meditieren eben erst beginnende Schüler und Schülerinnen dazu neigten, sich ein unrealistisches Ziel zu setzen. Sie glaubten, dass sie zum Meditieren so lange wie nur irgend möglich in perfekter Meditationshaltung dasitzen mussten. Also saßen sie da, versuchten sich in die Meditation »einzuklinken« und sich mit ihrer Willenskraft in einen Zustand heiterer Gelassenheit zu versetzen. Dieser Ansatz schien ein paar Sekunden lang auch zu funktionieren: Sie empfanden tatsächlich etwas geistige Ruhe. Aber der Geist ist immer in Bewegung, kaut immer neue Ideen durch, verarbeitet neue Wahrnehmungen und Empfindungen. Das ist sein Job. Bei der Meditation geht es darum, dass wir lernen, mit dem Geist zu arbeiten so wie er ist, und nicht um den Versuch, ihn in irgendeine Art buddhistische Zwangsjacke zu stecken.

Wir glauben, dass wir fleißig und gewissenhaft sind, wenn wir uns hinsetzen und stundenlang ohne Pause meditieren. Aber wirkliches eifriges und freudiges Bemühen bedeutet nicht, dass wir uns zur Überschreitung unserer natürlichen Grenzen zwingen. Es bedeutet ganz schlicht, dass wir unser Bestes tun, statt auf das Resultat unserer Bemühung fokussiert zu sein. Es bedeutet, dass wir einen Mittelweg zwischen allzu großer Entspannung und Verkrampfung finden.

In den Sutren gibt es noch eine andere Geschichte über einen meisterhaften Sitarspieler, der ein direkter Schüler Buddhas war. Der Buddha fand, dass dieser Mann ganz besonders schwer zu unterrichten war, weil sich sein Geist stets entweder in einem zu angespannten oder in einem zu lässigen Zustand befand. War er zu angespannt, konnte er nicht nur nicht meditieren, sondern sich noch nicht einmal auf die einfachen Gebete besinnen, die ihn der Buddha gelehrt hatte. Ließ er zu, dass sich sein Geist in einem allzu entspannten Zustand befand, hörte er mit dem Üben ganz auf und versank in Schlaf.

Schließlich fragte ihn der Buddha: »Was machst du, wenn du nach Hause kommst? Spielst du dein Musikinstrument?«

»Ja«, erwiderte der Schüler.

»Bist du gut darin?«, fragte der Buddha.

»Ja, tatsächlich bin ich einer der Besten in diesem Land«, war die Antwort.

»Und wie spielst du?«, erkundigte sich der Buddha. »Wie stimmst du dein Instrument? Sind die Saiten sehr straff oder sehr locker gespannt?«

»Nein«, erwiderte der Schüler. »Wenn ich die Saiten zu straff spanne, klingen die Töne wie tink tink tink. Wenn ich sie aber zu locker spanne, klingen die Töne wie blamp blamp blamp. Die Töne klingen nur richtig, wenn ich den Mittelweg finde und die Saiten weder zu straff noch zu locker spanne.«

Der Buddha lächelte und tauschte einen langen Blick mit dem Sitarspieler aus. Dann sagte er: »Und genau das musst du auch bei der Meditation tun.«

Diese Geschichte zeigt, wie wichtig es ist, übermäßigen Druck zu vermeiden, wenn wir mit der Meditationspraxis anfangen. In Anbetracht der wenigen Zeit, die die meisten Menschen heutzutage zur Verfügung haben, bedeuten 15 Minuten täglich, die man sich anfänglich für die formale Praxis reserviert, schon ein bedeutendes Engagement. Ob Sie diese nun in drei Sitzungen von jeweils fünf Minuten oder in fünf Sitzungen von jeweils drei Minuten aufteilen, spielt keine Rolle.

Vor allem zu Beginn ist es absolut wichtig, dass Sie beim Üben nicht irgendwie unter Zeitdruck geraten. Der beste Rat, den ich Ihnen hier geben kann, ist, die Sache so anzugehen, wie manche Leute es mit dem Fitnessstudio machen. Besser, man trainiert dort 15 Minuten als gar nicht. Und so sind auch 15 Minuten, die Sie auf das Üben verwenden können, besser als gar nichts. Manche Leute können nur 10 Pfund stemmen, andere hingegen locker 50. Stemmen Sie keine 50 Pfund, wenn Sie nur 10 stemmen können; sonst überanstrengen Sie sich und werden die Sache wahrscheinlich aufgeben. Und so wie Sie es mit dem Trainieren im Fitnessstudio machen, halten Sie es auch mit dem Üben bei der Meditation. Tun Sie Ihr Bestmögliches, überschreiten Sie nicht Ihre persönlichen Grenzen. Meditation ist kein Wettbewerb. Die 15 Minuten, die Sie locker auf die Meditationspraxis verwenden, werden sich am Ende vielleicht als nutzbringender erweisen als die Stunden, die manche Leute damit verbringen, sich allzu sehr anzustrengen und über längere Zeitphasen hinweg zu meditieren.

Tatsächlich hält man sich am besten an die Regel, weniger lang zu meditieren, als man glaubt, es tun zu können. Wenn Sie meinen, dass Sie vier Minuten lang üben können, hören Sie nach drei Minuten auf; wenn Sie meinen, dass Sie fünf Minuten üben können, hören Sie nach vier Minuten auf. Sie werden feststellen, dass Sie beim nächsten Mal ganz erpicht darauf sind, wieder mit dem Üben anzufangen. Der beste Anreiz ist der, dass Sie mehr wollen und nicht das Gefühl haben, Ihr Ziel erreicht zu haben.

Eine weitere Möglichkeit, diese kurzen Phasen formaler Praxis (zum Beispiel vier Minuten) noch rascher vergehen zu lassen, ist die, dass Sie für ein paar Momente Bodhicitta erzeugen – den Wunsch, zum Wohle anderer ein gewisses Maß an Verwirklichung zu erlangen. Machen Sie sich keine Sorgen darüber, ob Ihr Wunsch besonders stark ist oder nicht. Die Motivation allein reicht aus, und wenn Sie eine Weile lang damit gearbeitet haben, werden Sie wahrscheinlich allmählich feststellen, dass dieser Wunsch für Sie wirkliche Bedeutung gewonnen und einen zutiefst persönlichen Sinn bekommen hat.

Wenn Sie ein paar Augenblicke auf das Hervorbringen dieser offenen und liebevollen Geistes- und Herzenseinstellung verwandt haben, lassen Sie Ihren Geist ein paar Momente in objektloser Meditation ruhen. Das ist wichtig, ganz gleich mit welcher Methode Sie bei einer Sitzung arbeiten.

Über dem ruhigen Verweilen und dem Erzeugen von Bodhicitta ist nun mindestens schon eine Minute vergangen. Jetzt haben Sie gute eineinhalb Minuten Zeit, um mit der von Ihnen gewählten Praxis zu arbeiten, sei es nun die Fokussierung auf ein visuelles Objekt, auf einen Geruch oder einen Klang, das Betrachten Ihrer Gedanken oder Gefühle oder das Üben einer Form von Mitgefühlsmeditation. Lassen Sie anschließend Ihren Geist etwa eine halbe Minute lang in objektloser Shiné-Meditation ruhen.

Und am Ende Ihrer Praxis haben Sie immer noch etwa eine halbe Minute für die Praxis übrig, die man im Westen gemeinhin mit »Widmen des Verdienstes« übersetzt. Bei öffentlichen Belehrungen und auch bei privaten Gesprächen mit meinen persönlichen Schülern kommt häufig die Frage auf: »Warum sollen wir uns mit diesem abschließenden Schritt der Widmung des Verdienstes abgeben?«

Das Widmen des Verdienstes am Ende jeder Übung beinhaltet den Wunsch und die Bestrebung, dass jegliche psychische oder emotionale Kraft und Stärke, die wir uns durch die Praxis erworben haben, an andere weitergegeben werden möge. Und das ist nicht nur eine wundervoll kurze Mitgefühlsübung, sondern auch eine außerordentlich subtile Form, die »Unterscheidung« zwischen dem »Ich« und den »anderen« aufzulösen. Die Widmung des Verdienstes nimmt etwa 30 Sekunden in Anspruch, gleich ob Sie diese nun in Deutsch oder Tibetisch rezitieren. Im Deutschen kann sie etwa folgendermaßen lauten:

Mögen durch dieses Heilsame alle Wesen

die Ansammlung von Verdienst und ursprünglicher Bewusstheit vollenden,

und mögen sie die beiden wahren Körper erlangen,

die aus Verdienst und ursprünglicher Bewusstheit entstehen.

Es gibt die Theorie – für die zugegebenermaßen kein wissenschaftlicher Beweis vorliegt –, dass sich die Klangwellen des auf Tibetisch rezitierten Gebets über all die Jahrhunderte hinweg fortgesetzt haben und dass sich die Kraft des Gebets durch das Rezitieren in seiner Originalsprache verstärkt, weil sich die Schwingungen der Rezitation mit jenen uralten Schwingungen verbinden. Aus diesem Grund biete ich Ihnen eine annähernde Transliteration des tibetischen Textes an:

Ge-wa di-yi kye-wo kün
Sö-nam ye-she tsog dsog nä
Sö-nam ye-she lä dschung-wä
Dam-pa ku nyi tob-par shog.

Gleich ob Sie Ihre Übung in Tibetisch oder Deutsch beschließen wollen, für den Abschluss Ihrer Übung durch das Widmen von sönam gibt es einen sehr praktischen Grund. Der in der deutschsprachigen buddhistischen Terminologie mit »Verdienst« übersetzte tibetische Begriff sönam bedeutet »mentale Stärke« oder »die Fähigkeit, mentale Stärke zu entwickeln«. Wenn wir etwas Gutes tun, tendieren wir ganz natürlich zum Gedanken: Was für ein guter Mensch ich doch bin! Nun habe ich gerade meditiert. Nun habe ich mich gerade dem Ziel und der Hoffnung gewidmet, dass alle Wesen allerorten wahres Glück erfahren und von Leiden frei sein mögen. Was bekomme ich dafür? Wie wird sich dadurch mein Leben zum Besseren wenden? Was bringt es mir?

Mag sein, dass Ihnen nicht ganz genau diese Worte durch den Kopf gehen, aber wahrscheinlich etwas Ähnliches.

Und es stimmt, Sie haben etwas Gutes getan.

Das einzige Problem ist nur, dass eine solche Selbstgratulation das Gefühl des Unterschieds zwischen uns selbst und den anderen eher verstärkt. Gedanken wie »Ich habe etwas Gutes getan«, »Was für ein guter Mensch ich doch bin« oder »Mein Leben wird sich ändern« bestärken auf subtile Weise die Vorstellung, dass unser Ich oder Selbst von anderen Wesen getrennt existiert; und das wiederum untergräbt das Empfinden von Mitgefühl und das Gefühl von Vertrauen und Sicherheit, das Ihre Übung möglicherweise erzeugt hat.

Indem wir das Verdienst unserer Praxis allen Wesen widmen – mit anderen Worten, indem wir ganz bewusst die Vorstellung hervorbringen, dass jedes Wesen bewusst oder unbewusst den Wunsch nach Frieden und Zufriedenheit für alle fühlenden Wesen teilt –, lösen wir auf ganz subtile Weise die neuronale Gewohnheit auf, irgendwelche Unterschiede zwischen uns selbst und anderen wahrzunehmen.

 

 

 

DIE INFORMELLE PRAXIS

 

Besinne dich inmitten deiner
Arbeit auf das Erkennen der Es
senz des Geistes.

 

Tulku Urgyen Rinpoche: As It Is, Bd. 1

 

 

 

Manchmal kann man sich einfach nicht jeden Tag Zeit dafür nehmen, in formeller Weise zu üben. Vielleicht müssen Sie sich stundenlang auf ein sehr wichtiges geschäftliches Treffen vorbereiten oder an einem wichtigen Ereignis teilnehmen, zum Beispiel an einer Hochzeit oder Geburtstagsfeier. Manchmal haben Sie Ihren Kindern, Ihrem Partner oder Ihrer Ehefrau versprochen, etwas ganz Besonderes mit ihnen zu unternehmen. Manchmal sind Sie von all den Dingen, die Sie während der Woche tun mussten, so müde, dass Sie den Tag einfach nur im Bett oder vor dem Fernseher verbringen möchten.

Werden Sie nun zum schlechten Menschen, wenn Sie die formale Übung ein oder zwei Tage auslassen? Nein. Wird das alle Veränderungen, die sich durch Ihre bisherige formale Praxis ergeben haben, zunichte machen? Nein. Heißt das, dass Sie mit der Arbeit an Ihrem ungezähmten Geist wieder ganz von vorne anfangen müssen, wenn Sie ein oder zwei (oder drei) Tage lang nicht in formeller Weise üben? Nein.

Die formale Praxis ist eine großartige Sache, weil Ihnen das tägliche fünf-, zehn- oder 15-minütige Sitzen die Gelegenheit verschafft, eine Veränderung Ihrer Sichtweise einzuleiten. Aber die ersten Schüler Buddhas waren zumeist Bauern, Schafhirten und Nomaden. Sie mussten sich um ihre Felder und Tiere und Familien kümmern und hatten nicht viel Zeit, sich für eine formale Übung schön aufgerichtet im Lotossitz niederzulassen und ihr Gewahrsein auch nur fünf Minuten korrekt fokussiert zu halten. Irgendwo blökte immer ein Schaf oder weinte ein Baby oder rauschte jemand in ihr Zelt oder ihre Hütte, um ihnen mitzuteilen, dass ihre Ernte gleich durch einen plötzlichen Regenguss vernichtet werden würde.

Der Buddha verstand diese Probleme. Obwohl er in fantasievollen Geschichten über seine Geburt und sein Aufwachsen als der Sohn eines reichen Königs geschildert wird, der in einem prachtvollen Palast der Freuden heranwuchs, entstammte er in Wirklichkeit sehr viel bescheideneren Verhältnissen. Sein Vater war nur eines von mehreren Klanoberhäuptern der 16 Republiken, die sich dagegen wehrten, von der mächtigen indischen Monarchie vereinnahmt zu werden. Seine Mutter starb bei seiner Geburt; sein Vater zwang ihn im Teenageralter, zu heiraten und einen Erben zu zeugen. Und er wurde enterbt, als er von zu Hause weglief, um ein Leben zu führen, das vielleicht von einer tieferen Bedeutung erfüllt war als der des politischen Intrigierens und militärischen Planens.

Wenn wir von Buddha sprechen, reden wir also von einem Mann, der wusste, dass das Leben nicht immer die Möglichkeit oder Muße für das formale Üben bietet. Zu seinen größten Geschenken an die Menschheit gehört die Unterweisung, dass man zu jeder Zeit an jedem Ort meditieren kann. Tatsächlich besteht eines der Hauptziele buddhistischer Praxis darin, dass wir die Meditation in unseren Alltag integrieren. Jede alltägliche Aktivität lässt sich als Gelegenheit zum Meditieren nutzen. Während wir unserem Tagwerk nachgehen, können wir unsere Gedanken beobachten, unsere Aufmerksamkeit ein paar Momente lang auf sinnlichen Erfahrungen wie dem Schmecken, dem Riechen, der Wahrnehmung von Formen oder Klängen ruhen lassen oder für ein paar Sekunden auf dem wunderbaren Erleben, dass wir uns ganz einfach der sich in unserem Geist ereignenden Erfahrungen gewahr sind.

Beim informellen Üben ist es jedoch wichtig, dass man sich ein Ziel setzt – zum Beispiel 25 informelle Meditationssitzungen im Verlauf des Tages, die jeweils nicht länger als ein oder zwei Minuten dauern. Auch ist es hilfreich, wenn man die Sitzungen zählt. Die Mönche und Nomaden in der Dritten Welt benutzen dafür oft Gebetsketten. Die Menschen im Westen haben hier noch ganz andere Möglichkeiten, Taschenrechner, Taschencomputer und Organizer eingeschlossen. Sie können Ihre Sitzungen aber auch einfach auf einem Notizblock notieren. Hauptsache ist, dass Sie jede informelle Meditationssitzung zählen, damit Sie deren Anzahl mit dem gesetzten Ziel vergleichen können. Üben Sie zum Beispiel gerade objektlose Meditation, zählen Sie das als eins. Geht Ihnen dann die Konzentration verloren und machen Sie einen neuen Versuch, ist das zwei.

Eine solche Organisation Ihrer Meditationspraxis hat den Vorteil, dass sie sich überall durchführen lässt. Sie können am Strand, im Kino, bei der Arbeit, im Restaurant, im Auto oder in der Schule üben – solange Sie sich daran erinnern, dass schon Ihre Absicht zu meditieren Meditation ist. Ganz gleich, wie gut oder schlecht Sie Ihrer Meinung nach meditiert haben, wichtig ist, dass Sie stets Ihre Absicht zu meditieren zählen. Wenn Sie auf inneren Widerstand stoßen, denken Sie an die Geschichte von der alten Kuh, die beim Schlendern durch den Tag gemächlich Wasser lässt. Das sollte dann ein Lächeln auf Ihr Gesicht zaubern und Sie daran erinnern, dass das Üben ebenso leicht und notwendig ist wie der Gang zur Toilette.

Sobald Sie sich mit 25 kurzen Sitzungen pro Tag wohlfühlen, können Sie sich täglich 50 informelle Sitzungen vornehmen und sich dann allmählich auf 100 hochschrauben. Wichtig ist, sich einen Plan zu machen. Wenn Sie keinen Plan zu erfüllen haben, werden Sie das Üben ganz vergessen. Die paar Sekunden oder Minuten jeden Tag, in denen Sie sich erlauben, den Geist ruhen zu lassen oder ihn zu fokussieren, werden Ihnen bei seiner Stabilisierung helfen. Und wenn Sie dann schließlich die Möglichkeit haben, in formaler Weise zu üben, werden Sie nicht das Gefühl haben, mit einem völlig Fremden beim Abendessen zu sitzen. Ihnen werden Ihre Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen sehr viel vertrauter vorkommen, alten Freunden gleich, mit denen Sie sich hinsetzen, denen Sie zuhören und mit denen Sie ehrlich reden können.

Die informelle Praxis hat noch ein paar andere Vorteile. Erstens, wenn Sie die Praxis in Ihr Alltagsleben integrieren, entgehen Sie der Falle, dass Sie beim formalen Üben ruhig und friedlich sind und dann im Büro eine Kehrtwendung vollziehen und angespannt und ärgerlich werden. Zweitens, und das ist vielleicht noch wichtiger, das informelle Üben im Alltag löscht in Ihnen allmählich die nur allzu verbreitete irrige Vorstellung, dass Sie einen absolut ruhigen Ort finden müssen, um meditieren zu können.

Kein Mensch hat jemals einen solchen Ort gefunden. Ablenkungen gibt es überall, selbst auf einem Berggipfel. Sie mögen ja vielleicht über die relative Stille dort oben, verglichen mit dem Lärm in der Stadt oder im Büro, Erleichterung empfinden. Aber wenn der Geist allmählich zur Ruhe gelangt, werden Sie zweifellos leise Geräusche hören, zum Beispiel das Zirpen der Grillen, das Rascheln der Blätter, durch die der Wind fährt, Vögel und kleine Tiere, die herumpicken und herumschnüffeln, oder Wasser, das vom Felsgestein herabtropft – und plötzlich ist die große Stille, nach der Sie suchten, nicht mehr da. Und auch wenn Sie im Haus meditieren und alle Fenster und Türen schließen, werden Sie unvermeidlich von irgendetwas abgelenkt werden  – irgendwo juckt es Sie, Sie haben Rückenschmerzen, Sie müssen schlucken, der Wasserhahn tropft, eine Uhr tickt oder Sie hören Schritte im Stockwerk über Ihnen. Ganz egal, wohin Sie sich wenden, es werden sich immer Ablenkungen finden. Der größte Vorteil der informellen Praxis besteht darin, dass Sie mit diesen Ablenkungen umgehen lernen, ganz gleich, welche Form sie annehmen und wie irritierend sie sein mögen.

 

 

 

ÜBERALL UND JEDERZEIT

 

Verbinde alles, dem du begegnest, mit
Meditation.

 

Jamgön Kongtrul: Der große Pfad des Erwachens

 

 

Dessen eingedenk, sehen wir uns jetzt ein paar Möglichkeiten an, wie Sie in Ihrem Alltagsleben üben und sich auch das, was man normalerweise als Ablenkung betrachten würde, zunutze machen können, um den Geist zur Ruhe zu bringen. In den alten Texten nennt man das »das Leben zum Pfad nehmen«.

Einfach eine Straße entlangzugehen bietet möglicherweise eine großartige Gelegenheit zur Entwicklung von Achtsamkeit. Wie oft machen wir uns mit einem bestimmten Vorhaben auf den Weg, zum Beispiel, um Einkäufe zu erledigen oder eine Verabredung zum Mittagessen in einem Restaurant wahrzunehmen, um dann das Ziel zu erreichen, ohne eigentlich gemerkt zu haben, wie wir dorthin gekommen sind! Das ist ein klassisches Beispiel dafür, wie wir den verrückten Affen sich austoben lassen und alle möglichen Ablenkungen ausspinnen. Das hält uns nicht nur davon ab, den gegenwärtigen Moment in seiner ganzen Fülle zu erfahren, sondern beraubt uns auch der Gelegenheit, unser Gewahrsein zu fokussieren und zu trainieren. Hier besteht die Chance zur bewussten Entscheidung, unsere Aufmerksamkeit auf unsere Umgebung gerichtet zu halten. Schauen Sie sich die Gebäude an, an denen Sie vorbeikommen, die anderen Menschen auf dem Gehsteig, den Verkehr auf der Straße, die Bäume, die man vielleicht am Straßenrand gepflanzt hat. Wenn Sie dem, was Sie da sehen, Aufmerksamkeit schenken, wird der verrückte Affe ruhiger. Ihr Geist ist weniger aufgeregt, und Sie entwickeln allmählich das Gefühl von Ruhe und Gelassenheit.

Sie können Ihre Aufmerksamkeit auch auf die mit dem Gehen verbundenen Körperempfindungen richten, auf das Gefühl der Beinbewegungen, der Füße, die den Boden berühren, auf den Atemrhythmus oder Ihren Herzschlag. Das funktioniert sogar dann, wenn Sie es eilig haben. Tatsächlich ist es eine großartige Methode im Kampf gegen die Ängste, die sich im Allgemeinen einstellen, wenn wir in aller Eile an ein Ziel zu gelangen versuchen. Sie können rasch gehen, während Sie die Aufmerksamkeit auf Ihre Körperempfindungen oder die Menschen, Orte oder Dinge richten, an denen Sie unterwegs vorbeikommen. Denken Sie einfach nur: Jetzt gehe ich die Straße entlang … Jetzt sehe ich ein Gebäude … Jetzt sehe ich eine Person im T-Shirt und in Jeans … Jetzt berührt mein linker Fuß den Boden … Jetzt berührt mein rechter Fuß den Boden …

Wenn Sie Ihr Gewahrsein bewusst auf Ihre Aktivität richten, schwinden Ablenkung und Ängste allmählich dahin, und Ihr Geist wird friedlicher und entspannter. Und wenn Sie an Ihrem Ziel ankommen, befinden Sie sich in einer sehr viel offeneren Gemütsverfassung und besseren Ausgangsposition, um sich mit der nächsten Phase Ihrer Aktivitäten zu befassen.

Die gleiche Art Aufmerksamkeit können Sie auch hinterm Steuer oder bei Ihren alltäglichen Erfahrungen zu Hause oder am Arbeitsplatz walten lassen. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit einfach auf die verschiedenen Objekte in Ihrem Gesichtsfeld oder nutzen Sie Geräusche, Laute und Klänge als Stütze. Auch ganz einfache Dinge wie das Kochen und Essen bieten die Gelegenheit zum Üben. Schneiden Sie zum Beispiel Gemüse klein, können Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Form oder Farbe jedes Schnitzelchens richten oder auf die Laute der köchelnden Suppe oder der blubbernden Soße. Beim Essen halten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die von Ihnen wahrgenommenen Gerüche und Geschmäcker gerichtet. In all diesen Situationen können Sie auch alternativ objektlose Meditation üben und Ihren Geist einfach und offen, ohne Anhaftung oder Abneigung, im natürlichen Zustand ruhen lassen, während Sie Ihren Aktivitäten nachgehen.

Sie können sogar beim Schlafen oder Träumen meditieren. Sie können Ihren Geist beim Einschlafen entweder in objektloser Meditation oder Ihre Aufmerksamkeit auf dem Gefühl von Müdigkeit sacht ruhen lassen. Oder Sie verschaffen sich eine Gelegenheit, Ihre Träume in Meditationserfahrungen zu verwandeln, indem Sie sich beim Einschlafen einige Male still sagen: »Ich werde meine Träume als Träume erkennen, ich werde meine Träume als Träume erkennen, ich werde meine Träume als Träume erkennen.«

 

 

 

ZUM ABSCHLUSS

 

Wenn du anfängst, dich total nieder-
geschlagen und verzweifelt zu fühlen,
dann fängst du an dir selber zu helfen,
dann machst du dich in dir heimisch.

 

Chögyam Trungpa Rinpoche: Illusion’s Game

 

 

Meditation ist keine Praxis, bei er es »nur eine passende Größe für alle« gibt. Jedes Individuum stellt eine einmalige Kombination aus Naturell, Herkunft und Fähigkeiten dar. Das erkannte der Buddha und lehrte eine Vielfalt von Methoden, die Menschen in allen Lebenslagen und Lebenssituationen helfen können, zur Erkenntnis der Natur ihres Geistes und zur wahren Freiheit von den Geistesgiften der Unwissenheit, Anhaftung und Abneigung zu gelangen. So profan sich einige dieser Methoden auch ausnehmen mögen, sie stellen tatsächlich das Herzstück buddhistischer Praxis dar.

Buddhas Lehren besagen in ihrer Essenz, dass uns die formale Praxis zwar zur direkten Erfahrung von Leerheit, Weisheit und Mitgefühl verhelfen kann, solche Erfahrungen aber bedeutungslos sind, wenn wir sie nicht fruchtbringend auf jeden Aspekt unseres Alltagslebens anwenden können. Denn erst in der Konfrontation mit den Herausforderungen des Alltagslebens können wir wirklich ermessen, wie es um unsere Entwicklung von ruhiger Gelassenheit, Einsicht und Mitgefühl bestellt ist.

Also forderte der Buddha uns auf, die Übungsmethoden selber auszuprobieren. In einer seiner Sutren drängte er seine Schüler, seine Belehrungen in der Praxis zu testen und sie nicht einfach auf gut Glauben zu übernehmen.

So wie ihr Gold durch Brennen, Schneiden und Reiben prüfen würdet,

prüft der kluge Mönch auch meine Unterweisungen.

Unterzieht meine Lehren einer gründlichen Überprüfung,

nehmt sie nicht einfach guten Glaubens an.

Im gleichen Sinne bitte ich Sie, die Unterweisungen selbst auszuprobieren und festzustellen, ob sie für Sie funktionieren. Manche Übungen helfen Ihnen vielleicht, andere möglicherweise nicht. Eine oder mehrere Techniken sagen Ihnen vielleicht spontan zu, während andere unter Umständen erst ein wenig mehr Erfahrung erfordern. Manche von Ihnen stellen vielleicht sogar fest, dass Ihnen die buddhistische Meditationspraxis überhaupt nichts bringt. Das ist auch in Ordnung. Am wichtigsten ist, dass Sie eine Praxis finden und mit ihr arbeiten, die das Gefühl von Ruhe, Klarheit, Vertrauen und innerem Frieden erzeugt. Ist Ihnen das möglich, werden nicht nur Sie, sondern alle in Ihrem Umfeld davon profitieren; und das hat ja wohl jede wissenschaftliche oder spirituelle Praxis zum Ziel, oder? Nicht nur für uns selbst, sondern auch für künftige Generationen eine friedlichere, harmonischere, sanftere und zärtlichere Welt zu schaffen.