Eine Ansammlung von Teilen erzeugt
die Vorstellung von einem Gefährt.
Samyuttanikaya
Eine der ersten Lektionen, die ich als Buddhist erlernte, war die, dass jedes fühlende Wesen – das heißt, jedes Geschöpf, das mit einem Gewahrseinssinn ausgestattet ist, und sei er auch noch so rudimentär – sich über drei grundlegende Aspekte oder Merkmale definieren lässt: Körper, Sprache und Geist. Körper bezieht sich natürlich auf den sich ständig verändernden physischen Teil unseres Wesens. Er wird geboren, wächst heran, wird krank, altert und stirbt schließlich. Sprache (in der deutschsprachigen buddhistischen Terminologie auch »Rede« genannt) bezieht sich nicht nur auf unsere Fähigkeit zu sprechen, sondern auch auf all die verschiedenen Signale, die wir in Form von Tönen, Worten, Gestik, Mimik und sogar auch Pheromonen austauschen, jenen von Säugetieren abgesonderten chemischen Stoffen, die auf subtile Weise das Verhalten und die Entwicklung anderer Säugetiere beeinflussen. Die Sprache ist wie der Körper ein vergänglicher Aspekt unseres Erlebens. Alle Botschaften, die wir über Worte und andere Zeichen austauschen, kommen und gehen zu ihrer Zeit. Und wenn der Körper stirbt, stirbt die Sprachfähigkeit mit ihm.
Geist ist schwerer zu beschreiben. Er ist kein »Ding«, auf das wir so leicht deuten, das wir so leicht identifizieren können wie den Körper oder das Sprachvermögen. So gründlich und eingehend wir auch nachforschen, wir vermögen nicht wirklich ein bestimmtes Objekt ausfindig zu machen, das wir als den Geist bezeichnen könnten. Hunderte, wenn nicht gar Tausende Bücher wurden geschrieben als Versuch, diesen schwer fassbaren Aspekt unseres Seins zu beschreiben. Und trotz aller Zeit und Mühe, die darauf verwandt wurden herauszufinden, was der Geist ist und wo er sich befindet, konnte kein Buddhist – und auch kein westlicher Wissenschaftler, was das angeht – ein für alle Mal sagen: »Aha, ich habe den Geist gefunden! Er befindet sich in diesem Teil des Körpers, so und so sieht er aus, und so und so funktioniert er.«
Bestenfalls haben Jahrhunderte der Nachforschung die Erkenntnis erbracht, dass sich der Geist an keinem spezifischen Ort befindet, dass er keine spezifische Gestalt, Form, Farbe oder andere fassbare Qualitäten aufweist, wie wir sie anderen fundamentalen Aspekten zuschreiben können wie etwa dem Sitz des Herzens oder der Lunge, dem Kreislauf und den Bereichen, die so lebensnotwendige Funktionen wie die Regulierung des Metabolismus kontrollieren. Wie viel einfacher wäre es, wenn wir sagen könnten, dass so etwas frustrierend Undefinierbares wie der Geist gar nicht existiert! Wie viel leichter wäre es, wenn wir ihn einfach ins Reich der Fantasie oder der Gespenster, Kobolde und Feen abschieben könnten!
Aber wie könnte irgendwer realistischerweise die Existenz des Geistes in Abrede stellen? Wir denken. Wir fühlen. Wir merken es, wenn unser Rücken schmerzt oder die Füße eingeschlafen sind. Wir wissen, wann wir müde oder hellwach, glücklich oder traurig sind. Dass wir ein Phänomen nicht genau lokalisieren oder definieren können, bedeutet nicht, dass es nicht existiert. Es bedeutet nur, dass wir noch nicht ausreichende Informationen gesammelt haben, um ein arbeitsfähiges Modell erstellen zu können.
Wir können uns einer einfachen Analogie bedienen und das wissenschaftliche Verständnis vom Geist mit unserer eigenen Akzeptanz von so etwas Einfachem wie dem elektrischen Strom vergleichen. Um den Lichtschalter zu bedienen oder den Fernseher einzuschalten, brauchen wir kein detailliertes Wissen über Schaltkreise oder elektromagnetische Energie zu haben. Wenn das Licht nicht angeht, wechseln wir die Glühbirne aus. Wenn der Fernseher nicht funktioniert, überprüfen wir das Kabel oder die Verbindung zur Satellitenschüssel. Das heißt, wir müssen vielleicht eine durchgebrannte Glühbirne ersetzen oder die Kabel des Fernsehers fester in die Buchsen stecken oder eine durchgebrannte Sicherung ersetzen. Schlimmstenfalls müssen wir einen Fachmann kommen lassen. Aber hinter all diesen Aktionen steht das Grundverständnis oder der Glaube, dass Elektrizität an sich funktioniert.
In Hinblick auf das Wirken des Geistes beobachten wir eine ähnliche Situation. Die moderne Wissenschaft konnte viele Zellstrukturen und zellulare Prozesse ausmachen, die zu den intellektuellen, emotionalen und sensorischen Ereignissen beitragen, die wir mit dem Funktionieren des Geistes oder des Bewussteins in Verbindung bringen. Aber bislang konnte sie noch nichts entdecken, was auch nur annähernd »den Geist« selbst ausmacht. Tatsache ist: Je genauer die Wissenschaftler die geistige Aktivität erforschen, desto stärker nähern sie sich dem buddhistischen Verständnis an, wonach der Geist ein sich ständig entwickelndes und entfaltendes Ereignis ist und keine eindeutige, eigenständige Entität.
In den älteren Übersetzungen buddhistischer Texte wurde der Versuch gemacht, den Geist als eine Art »Ding« oder »Stoff« zu bestimmen, welcher jenseits der Grenzen des gegenwärtigen wissenschaftlichen Verständnisvermögens existiert. Aber diese unkorrekten Übersetzungen basierten auf den früher im Westen vertretenen Grundannahmen, dass sich alle Erfahrungen schließlich auf irgendeinen Aspekt von körperlicher Funktion zurückführen lassen. Die neueren Übertragungen klassischer buddhistischer Texte zeigen ein Verständnis, das dem modernen wissenschaftlichen Konzept vom »Geist« sehr viel näher kommt, wonach dieser eine Art sich ständig entwickelndes Ereignis ist, das durch die Interaktion von neurologischen Gewohnheiten und den unvorhersehbaren Elementen unmittelbarer Erfahrung in Erscheinung tritt.
Buddhisten und moderne Wissenschaftler sind sich einig, dass der Geist das Merkmal ist, wodurch sich alle fühlenden – oder bewussten – Wesen von anderen Organismen wie etwa Gräsern oder Bäumen unterscheiden, und schon gar von Dingen, die wir nicht unbedingt als etwas Lebendiges ansehen würden wie zum Beispiel Steine, Bonbonpapier oder Zementblöcke. Im Kern ist der Geist der allerwichtigste Aspekt aller Geschöpfe, denen das »Fühlen« gemeinsam ist. Auch ein Regenwurm hat einen Geist. Zugegeben, er ist vielleicht nicht so komplex entwickelt wie der des Menschen; aber dann hat die Einfachheit auch wiederum etwas für sich. Ich habe noch nie von einem Regenwurm gehört, der die ganze Nacht aufgeblieben ist und sich Sorgen über die Entwicklung des Aktienmarktes gemacht hat.
Ein weiterer Punkt, in dem sich Buddhisten und die meisten modernen Wissenschaftler einig sind, ist der, dass der Geist der wichtigste Aspekt in der Natur fühlender Wesen ist. In gewissem Sinn ist er der Marionettenspieler, wohingegen der Körper und die verschiedenen Kommunikationsformen von »Sprache« nur seine Marionetten sind.
Sie können diese Vorstellung von der Rolle des Geistes einmal selbst überprüfen. Was ist es, das ein Jucken erkennt und Sie veranlasst, sich an der Nase zu kratzen? Kann der Körper von sich aus das Jucken erkennen? Weist der Körper sich selbst an, die Hand zu heben und seine Nase zu kratzen? Kann der Körper überhaupt zwischen Jucken, Hand und Nase unterscheiden? Oder nehmen wir das Beispiel von Durst. Wenn Sie durstig sind, ist es der Geist, der als Erstes den Durst als Durst erkennt, Sie dazu drängt, um ein Glas Wasser zu bitten, Ihre Hand anleitet, das Glas entgegenzunehmen und zum Mund zu führen, und Ihnen dann sagt, dass Sie das Wasser herunterschlucken sollen. Der Geist ist es, der das Vergnügen der Befriedigung eines körperlichen Bedürfnisses registriert.
Er ist immer gegenwärtig und aktiv, auch wenn wir ihn nicht sehen können. Er ist die Quelle unserer Fähigkeit, den Unterschied zwischen einem Gebäude und einem Baum, zwischen Regen und Schnee, zwischen einem klaren und einem bewölkten Himmel erkennen zu können. Aber weil der Besitz von Geist eine so fundamentale Bedingung unseres Erfahrungsvermögens ist, halten ihn die meisten von uns für selbstverständlich. Wir halten uns nicht damit auf, uns zu fragen, was es ist, das da denkt, ich möchte essen; ich möchte gehen; ich möchte sitzen. Wir fragen uns nicht: »Befindet sich der Geist im Körper oder jenseits davon? Nimmt er irgendwo seinen Anfang, existiert er irgendwo und hört er irgendwo auf? Hat er eine Gestalt oder Farbe? Gibt es ihn überhaupt, oder handelt es sich nur um eine willkürliche Aktivität von Gehirnzellen, die mit der Zeit die Kraft einer Gewohnheit angesammelt haben?« Wenn wir jedoch all die verschiedenen Arten und Ebenen von Schmerz, Leiden und Unbehagen, die wir im Alltag erleben, durchdringen wollen und die Tatsache, dass wir einen Geist haben, in ihrer umfassenden Bedeutung begreifen möchten, dann müssen wir doch versuchen, uns den Geist anzuschauen und seine Hauptmerkmale und Eigenschaften auszumachen.
Die Prozedur ist eigentlich sehr einfach. Sie erscheint nur zunächst schwierig, weil wir so sehr daran gewöhnt sind, auf die Welt »da draußen« zu blicken, eine Welt, die so voller interessanter Objekte und Erfahrungen zu sein scheint. Wenn wir unseren Geist betrachten, ist das so, als versuchten wir unseren Hinterkopf zu sehen, ohne einen Spiegel zu Hilfe zu nehmen.
Ich möchte jetzt einen ganz einfachen Test vorschlagen. Er soll das Problem aufzeigen, das entsteht, wenn wir unseren Geist so zu betrachten versuchen, wie wir normalerweise die Dinge zu verstehen suchen. Keine Bange. Sie können bei diesem Test nicht durchfallen, und Sie brauchen auch keinen wischfesten Stift, um irgendwelche Formulare auszufüllen.
Hier also der Test: Wenn Sie sich das nächste Mal zum Mittagessen oder Abendessen niederlassen, dann fragen Sie sich: »Was ist es, das denkt, dass dieses Essen gut – oder nicht so gut – schmeckt? Was ist es, das den Essvorgang erkennt?« Die unmittelbare Antwort darauf scheint offensichtlich zu sein: »Mein Gehirn.« Aber wenn wir uns das Gehirn tatsächlich einmal aus der Sicht der modernen Wissenschaft ansehen, stellen wir fest, dass die Antwort doch nicht ganz so einfach ist.
WAS GEHT DA DRINNEN VOR SICH?
Alle Phänomene sind Projektio-
nen des Geistes.
Der Dritte Gyalwang Karmapa,
Wishes of Mahamudra
Warum müssen wir, wenn wir nichts weiter als glücklich sein wollen, irgendetwas über das Gehirn wissen? Können wir nicht einfach glücklich machende Gedanken denken, uns vorstellen, dass unser Körper von weißem Licht erfüllt ist, oder an allen Wänden Bilder von Häschen und Regenbogen aufhängen und es dabei bewenden lassen? Nun … vielleicht.
Leider gehört zu den Haupthindernissen, auf die wir stoßen, wenn wir den Geist untersuchen wollen, oftmals die tief sitzende und häufig unbewusste Überzeugung, dass »wir nun mal so geboren sind, wie wir sind, und nichts tun können, um irgendetwas daran zu ändern«. Ich erfuhr das gleiche pessimistische Vergeblichkeitsgefühl in meiner Kindheit und habe es bei meiner Arbeit mit Menschen überall auf der Welt ständig widergespiegelt gesehen. Ohne dass wir auch nur einmal bewusst über sie nachdenken, blockiert die Vorstellung, nichts an unserem Geist oder Bewusstsein ändern zu können, jeden Versuch, es auch nur mal zu probieren.
Ich sprach mit Menschen, die einräumten, dass sie ihren Versuch, mithilfe von Affirmationen, Gebeten oder Visualisierungen etwas zu ändern, schon nach ein paar Tagen oder Wochen wieder aufgaben, weil sie keine sofortigen Resultate erkennen konnten. Funktionieren ihre Gebete und Affirmationen nicht, lassen sie den Gedanken an ein Arbeiten mit dem Geist wieder gänzlich fallen und halten die Sache für einen Werbetrick, um den Buchverkauf anzukurbeln.
Zu den Vorteilen, die damit einhergehen, dass man in der buddhistischen Mönchsrobe und mit einem beeindruckenden Titel versehen in der Welt umherreist und lehrt, gehört, dass Leute, die einem normalen Sterblichen wohl kaum Zeit schenken würden, überaus glücklich sind, mit einem zu reden, so als wäre man tatsächlich wichtig genug, um ernst genommen zu werden. Und bei meinen rund um den Globus geführten Unterhaltungen mit Wissenschaftlern stellte ich zu meinem Erstaunen fest, dass in Wissenschaftskreisen fast einhellig die Ansicht vertreten wird, dass die strukturelle Beschaffenheit des Gehirns tatsächlich wirkliche Veränderungen in den alltäglichen Wahrnehmungen und Erfahrungen zulässt.
Im Verlauf der letzten zehn Jahre habe ich bei meinen Gesprächen mit Neurowissenschaftlern, Biologen und Psychologen eine Menge äußerst interessanter Vorstellungen und Gedanken zu hören bekommen. Manche davon stellten Gedanken, mit denen ich aufwuchs, infrage; andere bestätigten, was ich gelernt hatte, wenn auch aus anderer Perspektive. Ob wir nun einer Meinung waren oder nicht, als Wertvollstes nahm ich aus diesen Gesprächen die folgende Erkenntnis mit: Wenn wir uns die Zeit nehmen und zumindest ein partielles Verständnis von der Struktur und Funktion des Gehirns erlangen, liefert uns dies eine fester begründete Basis, um aus wissenschaftlicher Sicht verstehen zu können, wie und warum die Techniken, die ich als Buddhist erlernte, tatsächlich funktionieren.
Eine der für mich interessantesten Metaphern für das Gehirn entstammt einer Aussage von Dr. Robert B. Livingston, Gründer und Vorsitzender des Department of Neurosciences an der Universität von Kalifornien in San Diego. Er verglich bei der ersten Konferenz des Mind and Life-Instituts im Jahr 1987 das Gehirn mit einer von gut eingestimmten und sehr disziplinierten Musikern vorgetragenen Symphonie.1 Wie ein Symphonieorchester besteht das Gehirn aus Gruppen von »Musikern«, die zusammenarbeiten, um bestimmte Resultate hervorzubringen, etwa Bewegungen, Gedanken, Gefühle, Erinnerungen und körperliche Wahrnehmungen, so erklärte er. Und obgleich sich diese Resultate ziemlich simpel ausnehmen mögen, wenn man jemanden gähnen, blinzeln, niesen oder den Arm heben sieht, ergeben die schiere Anzahl von an solchen einfachen Aktionen beteiligten »Musikern« und die Bandbreite ihrer Interaktionen ein erstaunlich komplexes Bild.
Um Dr. Livingstons Aussagen besser verstehen zu können, musste ich Leute um Hilfe bitten. Ich brauchte ihren Beistand, um die Informationen in dem Berg von Büchern, Zeitschriften und anderen Materialien, die man mir bei meinen ersten Reisen im Westen in die Hand drückte, begreifen zu können. Eine Menge davon war extrem technisch gehalten, und als ich darum rang, all das zu verstehen, empfand ich ein gewaltiges Mitgefühl für angehende Wissenschaftler und Medizinstudenten.
Zum Glück konnte ich ausführlich mit Leuten reden, die auf diesen Gebieten bewanderter sind als ich und die mir den ganzen Wissenschaftsjargon in einfache, für mich verständliche Begriffe übersetzten. Ich hoffe, dass die von ihnen aufgebrachte Zeit und Mühe für sie genauso hilfreich war wie für mich. Nicht nur erweiterte sich mein englischer Wortschatz ungemein, ich begann auch die Arbeitsweise des Gehirns so zu verstehen, dass es für den »gesunden Menschenverstand« einen Sinn ergab. Und als ich zunehmend mehr über die wesentlichen Einzelheiten begriff, wurde mir auch eines klarer: Menschen, die nicht innerhalb der buddhistischen Tradition aufgewachsen sind, brauchen unbedingt ein elementares Verständnis vom Wesen und der Rolle der »Musiker«, von denen Dr. Livingston sprach, wenn sie begreifen wollen, wie und warum die buddhistischen Meditationstechniken auf rein physiologischer Ebene tatsächlich funktionieren.
Auch war es für mich faszinierend, aus wissenschaftlicher Sicht zu erfahren, was sich in meinem Gehirn abgespielt hatte, das mir die Entwicklung von einem von Angst- und Panikattacken gequälten Kind zu einem Menschen ermöglicht hatte, der in der ganzen Welt umherreisen und ohne die geringste Spur von Angst vor Hunderten von Menschen sitzen kann, die gekommen sind, ihn lehren zu hören. Ich kann eigentlich nicht recht erklären, warum ich so sehr darauf erpicht bin, die physischen Hintergründe der Veränderungen, die sich nach Jahren des Praktizierens einstellen, zu verstehen, wo sich doch so viele meiner Lehrer und Zeitgenossen mit dem Stattfinden einer solchen Bewusstseinsveränderung zufrieden geben. Vielleicht war ich in einem früheren Leben Mechaniker.
Aber kommen wir auf das Gehirn zurück: Sehr einfach und für jedermann verständlich ausgedrückt, scheint der Großteil der Hirnaktivität auf eine ganz spezielle Kategorie von Zellen zurückzuführen zu sein, die man Neuronen nennt. Es sind sehr gesellige Zellen, die äußerst gerne schwatzen. In gewisser Hinsicht sind sie wie unartige Schulkinder, die sich ständig Zettel zuschieben und miteinander flüstern – nur dass es bei den heimlichen Unterhaltungen zwischen den Neuronen hauptsächlich um Sinneswahrnehmungen, Bewegung, Problemlösung, das Schaffen von Erinnerungen und das Erzeugen von Gedanken und Emotionen geht.
Diese schwatzhaften Zellen sehen so ähnlich aus wie Bäume, die einen Stamm, Axon genannt, und Verästelungen aufweisen. Diese stehen in Kontakt mit anderen Verästelungen und Nervenzellen, die sich durch das Muskel- und Hautgewebe, die lebenswichtigen Organe und die Sinnesorgane erstrecken, an die sie Botschaften senden und von denen sie Botschaften empfangen. Diese Botschaften werden über die Synapsen weitergegeben – so nennt man die winzigen Lücken oder Spalte zwischen den einander nächststehenden Verästelungen. Der konkrete Transport dieser über die synaptische Spalte hinwegfließenden Botschaften erfolgt in Form von chemischen Molekülen, Neurotransmitter genannt. Und die von ihnen erzeugten elektrische Signale lassen sich mit einem EEG messen.
Manche dieser Neurotransmitter sind heutzutage ziemlich bekannt: Zum Beispiel das Serotonin, das seinen Einfluss bei Depressionen geltend macht; das Dopamin, ein chemischer Stoff, der mit dem Empfinden von Vergnügen in Verbindung gebracht wird; und das Epinephrin, besser als Adrenalin bekannt, ein chemischer Stoff, der oft in Reaktion auf Stress, Angst und Furcht produziert wird, aber auch für die Aufmerksamkeit und Wachsamkeit entscheidend ist. Aktionspotenzial ist der wissenschaftliche Begriff für die Übermittlung eines elektrochemischen Signals von einem Neuron zum anderen – ein Begriff, der für mich so seltsam klang wie vielleicht der Begriff Leere für andere Leute, die nie buddhistisch geschult wurden.
An sich wäre das Wissen um die Aktivität der Neuronen in Hinblick auf das Leiden oder Glücklichsein nicht besonders wichtig, gäbe es da nicht ein paar bedeutsame Details. Wenn Neuronen eine Verbindung herstellen, bilden sie eine Art festes Band, einer alten Freundschaft ähnlich. Sie nehmen die Gewohnheit an, sich immer die gleiche Art von Botschaften zuzuschieben, so wie auch alte Freunde dazu neigen, sich gegenseitig in ihren Beurteilungen von Menschen, Ereignissen und Erfahrungen zu bestärken. Dieses Bonding, dieses Eingehen einer innigen Verbindung, ist die biologische Grundlage für vieles von dem, was wir mentale Gewohnheiten nennen, jene automatisch ablaufenden Reaktionen auf bestimmte Arten von Leuten, Orten und Dingen.
Um ein sehr einfaches Beispiel anzuführen: Wenn ich in sehr jungen Jahren von einem Hund in Angst und Schrecken versetzt worden wäre, hätte sich in meinem Hirn eine Reihe neuronaler Verbindungen oder Verschaltungen herausgebildet, die einerseits mit den körperlichen Empfindungen von Angst und andererseits mit der Vorstellung, Hunde machen Angst, korrespondieren. Beim nächsten Anblick eines Hundes hätten die gleichen Neuronen ihre Verbindungen wieder aktiviert und angefangen miteinander zu plappern, um mich daran zu erinnern, dass Hunde Angst machen. Und mit jedem weiteren Mal würde das Geplapper immer noch lauter und überzeugender werden, bis eine so eingefahrene Routine daraus wird, dass mein Herz schon allein beim Gedanken an einen Hund heftig zu klopfen anfängt und ich einen Schweißausbruch bekomme.
Aber nehmen wir mal an, ich würde eines Tages einen Freund besuchen, der einen Hund hat. Zu Anfang fürchte ich mich vielleicht, wenn ich ihn, sobald ich an die Tür klopfe, bellen höre und das Tier dann herausgestürzt kommt, um mich zu beschnüffeln. Aber nach einer Weile hätte sich der Hund an mich gewöhnt und würde kommen und sich zu meinem Füßen oder in meinem Schoß niederlassen und vielleicht anfangen, mich zu belecken – so glücklich und liebevoll, dass ich ihn schließlich von mir schieben muss.
Im Hirn des Hundes hat Folgendes stattgefunden: Eine Reihe neuronaler Verbindungen, die mit meinem Geruch und all den Empfindungen assoziiert sind, die ihm sagen, dass sein Herrchen mich mag, hat ein Muster gebildet, das so viel bedeutet wie »He, dieser Typ ist cool!« In meinem Hirn hat mittlerweile ein neuer Satz neuronaler Verbindungen, der mit angenehmen physischen Empfindungen assoziiert ist, miteinander zu schwatzen begonnen, und ich fange an zu denken, »He, vielleicht sind Hunde ganz nett!« Und mit jedem Besuch bei meinem Freund würde dieses neue Muster bestärkt und das alte geschwächt werden – und schließlich käme ich dahin, mich vor Hunden gar nicht mehr so sehr zu fürchten.
In neurowissenschaftlichen Begriffen bezeichnet man die Fähigkeit, alte neuronale Verbindungen durch neue zu ersetzen, als neuronale Plastizität. Der tibetische Begriff für diese Fähigkeit ist lä-su-rung-wa, was man in etwa mit »Biegsamkeit« oder »Geschmeidigkeit« übersetzen könnte. Sie können den einen oder anderen Begriff benutzen und sich in jedem Fall schrecklich intelligent anhören. Auf der rein zellularen Ebene bedeutet das unterm Strich, dass wiederholte Erfahrung die Arbeitsweise des Gehirns verändern kann. Und das ist das Warum, das hinter dem Wie der buddhistischen Belehrungen steht, die sich mit dem Ausräumen von mentalen, dem Unglücklichsein förderlichen Gewohnheiten befassen.
DREI GEHIRNE IN EINEM
Buddhaschaft hat drei Aspekte oder
»Körper«.
Gampopa, Der kostbare Schmuck der Befreiung
Inzwischen sollte klar geworden sein, dass das Gehirn nicht ein vereinzelter Gegenstand ist und sich die Frage »Was ist es, das denkt, dass dieses Essen gut – oder nicht so gut – schmeckt?« nicht so einfach beantworten lässt, wie es zunächst den Anschein hatte. Selbst so relativ elementare Aktivitäten wie Essen und Trinken beinhalten den Austausch Tausender, sorgfältig koordinierter, sich im Sekundenbruchteil ereignender elektrochemischer Signale zwischen Millionen von Zellen, die im Gehirn und im ganzen Körper verteilt sind. Und es gilt noch eine zusätzliche Komplexitätsebene in Betracht zu ziehen, bevor wir mit unserer Besichtigungstour des Gehirns zu Ende kommen.
Die Milliarden Neuronen im menschlichen Hirn gehören von ihrer Funktion her drei verschiedenen Schichten an, deren Entwicklung jeweils über Hunderttausende von Jahren in Anspruch nahm, in denen die Spezies sich weiterentwickelte und zunehmend komplexe Überlebensmechanismen aneignete. Die erste und älteste dieser Schichten, die man den Hirnstamm nennt, besteht aus einer knollenförmigen Gruppe von Zellen, die direkt oben aus dem Rückenmark hervorgeht. Diese Schicht wird auch als Reptiliengehirn bezeichnet, weil sie insgesamt dem Gehirn vieler Reptilienarten ähnelt. Der Hauptzweck des Reptiliengehirns besteht in der Regulierung so elementarer automatisierter Funktionen wie der Atmung, des Stoffwechsels, Herzschlags und Kreislaufs.
Das Reptiliengehirn kontrolliert auch die »Schreckreaktion« oder den so genannten Kampf- oder Flucht-Impuls: eine automatische Reaktion, die uns zwingt, jede unerwartete Begegnung oder jedes unerwartete Ereignis als mögliche Bedrohung zu deuten – zum Beispiel ein lautes Geräusch, einen unvertrauten Geruch, etwas, das uns am Arm entlangkrabbelt oder zusammengerollt in einer dunklen Ecke liegt. Das Adrenalin beginnt ohne bewussten Befehl unseren Körper zu durchströmen, der Herzschlag beschleunigt sich, die Muskeln spannen sich an. Wird die Bedrohung als größer wahrgenommen, als dass wir sie überwinden könnten, rennen wir. Glauben wir, sie besiegen zu können, kämpfen wir. Es lässt sich leicht erkennen, wie stark sich eine solche automatische Reaktion auf das Überleben auswirkt.
Die meisten Reptilienarten neigen eher zum Kampf als zur Kooperation und verfügen über keine angeborene Fähigkeit, ihre Jungen zu nähren und aufzuziehen. Normalerweise kümmert sich das weibliche Reptil nicht weiter um seine Eier, nachdem es sie abgelegt hat. Wenn die Jungen ausschlüpfen, verfügen sie zwar über die Instinkte und Fähigkeiten ihrer erwachsenen Artgenossen, sind aber körperlich noch tollpatschig und verletzlich und müssen zusehen, wie sie allein zurechtkommen. Viele von ihnen überleben die ersten Stunden ihres Daseins nicht. Und während sie der Sicherheit des Habitats zusteuern, das für sie ihre natürlichste Umwelt bedeutet – wie zum Beispiel im Fall der Meeresschildkröten der Ozean –, werden sie von anderen Tieren getötet und gefressen, und das oft genug von Angehörigen ihrer eigenen Spezies. Tatsächlich ist es gar nicht ungewöhnlich, dass gerade geschlüpfte Reptilien von ihren Eltern getötet werden, die in ihrer Beute nicht ihre eigene Nachkommenschaft erkennen.
Mit der evolutionären Entstehung neuer Wirbeltierarten, wie zum Beispiel der Vögel und Säugetiere, ging auch eine erstaunliche Entwicklung in der Gehirnstruktur einher. Im Gegensatz zu den Reptilien sind die Neugeborenen dieser Arten nicht ausreichend entwickelt, um selbst für sich sorgen zu können; sie bedürfen bis zu einem gewissen Grad der elterlichen Fürsorge. So bildete sich allmählich eine zweite Gehirnschicht heraus, um dieser Notwendigkeit Rechnung zu tragen und um das Überleben der Spezies sicherzustellen. Diese als limbisches System (oder limbischer Lappen) bezeichnete Schicht umgibt den Hirnstamm wie eine Art Helm und beinhaltet eine Reihe einprogrammierter neuraler Verbindungen, die den Impuls zur Fürsorge stimulieren – das heißt, Nahrung für die Jungen herbeizuschaffen, sie zu beschützen und über das Spiel und andere Übungen die wesentlichen Überlebensfähigkeiten zu lehren.
Diese differenzierten neuralen Pfade statteten die neuen Tierarten auch mit der Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen einer größeren Bandbreite von Emotionen aus, als sie die bloße Alternative von Kampf oder Flucht bietet. So können zum Beispiel Säugetiereltern nicht nur die spezifischen Laute ihrer eigenen Jungen ausmachen, sondern auch unterscheiden, um was es geht – Not, Vergnügen, Hunger und so weiter. Außerdem sorgt das limbische System für ein umfassenderes und subtileres Vermögen, die Absichten anderer Tiere an deren Körperhaltung, Bewegungsart, Gesichtsausdruck, Augenstellung und auch an feinen Gerüchen oder Pheromonen »abzulesen«. Aufgrund ihrer Fähigkeit, diese verschiedenen Signalarten zu verarbeiten, können Säugetiere und Vögel sich auch flexibler an veränderte Umstände anpassen und ein Fundament für das Lernen und Erinnern legen.
Das limbische System weist ein paar bemerkenswerte Strukturen und Fähigkeiten auf, die wir uns später genauer ansehen werden, wenn wir uns der Rolle der Emotionen zuwenden. Zwei seiner Strukturen verdienen jedoch eine besondere Erwähnung. Da ist zum einen der Hippocampus, der seinen Sitz im Temporallappen (Schläfenlappen) hat – das heißt, gleich hinter den Schläfen. (Eigentlich haben wir zwei Hippocampi, einen in jeder Gehirnhälfte.) Er spielt beim Schaffen neuer Erinnerungen an unmittelbar erlebte Ereignisse eine entscheidende Rolle und liefert einen räumlichen, intellektuellen – und zumindest bei Menschen – verbalen Kontext, der unseren emotionalen Reaktionen Bedeutung verleiht. Menschen, die in dieser Gehirnregion physischen Schaden genommen haben, haben Schwierigkeiten mit dem Erzeugen von neuen Erinnerungen. Sie können sich an alles erinnern bis hin zum Moment, in dem der Hippocampus verletzt wurde; ab diesem Zeitpunkt jedoch vergessen sie binnen weniger Augenblicke jede Begegnung und jedes Ereignis. Dies ist auch eine der ersten Gehirnregionen, die im Fall der Alzheimer-Krankheit und auch anderer Geisteskrankheiten wie Schizophrenie, schwere Depression und manische Depression betroffen sind.
Der andere bedeutsame Bestandteil des limbischen Systems ist die Amygdala oder der Mandelkern, ein kleines, mandelförmiges neuronales Gebilde ganz unten im limbischen System, direkt über den Hirnstamm. Wie beim Hippocampus haben wir auch hier zwei von diesen kleinen Organen, eines in der rechten, das andere in der linken Gehirnhälfte. Der Mandelkern spielt für unsere Fähigkeit, Emotionen zu fühlen sowie emotionale Erinnerungen zu erzeugen, eine ganz entscheidende Rolle. Forschungen haben ergeben, dass seine Beschädigung oder Entfernung den Verlust von fast allen Formen emotionalen Reaktionsvermögens, einschließlich so elementarer Impulse wie Angst oder Empathie, zur Folge hat und man auch nicht mehr imstande ist, soziale Beziehungen einzugehen oder zu erkennen.2
Wir werden uns den Aktivitäten des Mandelkerns und Hippocampus noch näher zuwenden, wenn wir eine praktisch anwendbare Wissenschaft vom Glück zu definieren versuchen. Weil der Mandelkern mit dem vegetativen Nervensystem verknüpft ist, jenem Bereich des Hirnstamms, der die Reaktionen von Muskeln, Herz und Drüsen automatisch regelt, und mit dem Hypothalamus, einem neuronalen Gebilde im untersten Bereich des limbischen Systems, das das Adrenalin und andere Hormone in der Blutbahn freisetzt, sind die von ihm geschaffenen emotionalen Erinnerungen außerordentlich machtvoll und mit wichtigen biologischen und biochemischen Reaktionen verbunden.
Tritt ein Ereignis ein, das eine starke biologische Reaktion verursacht – zum Beispiel das Freisetzen einer großen Menge von Adrenalin oder anderer Hormone –, dann schickt der Hippocampus ein Signal zum Hirnstamm, wo es in Form eines Musters gespeichert wird. Als Folge davon können sich viele Menschen ganz genau erinnern, wo sie waren und was um sie herum vorging, als sie zum Beispiel die Nachricht von der Ermordung Präsident Kennedys oder vom Spaceshuttle-Unglück zum ersten Mal hörten oder Bilder davon sahen. Auf die gleiche Art lassen sich auch Muster von Ereignissen und Erfahrungen speichern, die uns sehr viel persönlicher betreffen und außerordentlich positiv oder negativ besetzt sind.
Weil solche Erinnerungen und die damit assoziierten Muster so machtvoll sind, können sie durch spätere Ereignisse, die eine gewisse – zuweilen sehr minimale – Ähnlichkeit mit dem originalen Erinnerungsanlass aufweisen, leicht wieder ausgelöst werden. Diese Anlage zu starken Erinnerungsreaktionen ist ganz offensichtlich von großem Nutzen, wenn es angesichts lebensbedrohlicher Umstände ums Überleben geht. Sie lässt uns Nahrungsmittel erkennen und meiden, die uns krank machen, oder hilft uns, einer Konfrontation mit besonders aggressiven Tieren oder Angehörigen unserer eigenen Spezies aus dem Wege zu gehen. Aber sie kann auch unsere Wahrnehmung von gewöhnlicheren Ereignissen trüben oder verzerren.
Zum Beispiel können in Kindern, die von ihren Eltern oder anderen Erwachsenen regelmäßig gedemütigt und kritisiert worden sind, im Erwachsenenalter beim Umgang mit Autoritätspersonen unangemessen vehemente Gefühle von Angst, Groll, Feindseligkeit oder andere unerfreuliche Emotionen aufkommen. Solche verzerrten oder verqueren Reaktionen sind oft das Ergebnis der lockeren Assoziationsmethode, auf die sich der Mandelkern zur Auslösung einer Erinnerungsreaktion stützt. Ein signifikantes Element in einer gegenwärtigen Situation, das einem Element einer Erfahrung aus der Vergangenheit ähnelt, kann die Stimulierung der ganzen, in der ursprünglichen Erfahrung gespeicherten Bandbreite von Gedanken, Emotionen und hormonellen oder muskulären Reaktionen bewirken.
Die Aktivitäten des limbischen Systems – oder »emotionalen Gehirns«, wie es manchmal genannt wird – werden in großem Maße vom Neokortex ausgeglichen und ergänzt, der dritten und jüngsten Schicht des Gehirns. Sie ist den Säugetieren spezifisch zu eigen und sorgt für die Fähigkeit, logisch denken, Vorstellungen entwickeln, planen und emotionale Reaktionen fein abstimmen zu können. In den meisten Säugetieren ist diese Schicht ziemlich dünn. Wer aber je einer Katze zugesehen hat, die herauszufinden versucht, wie sich eine geschlossene Tür öffnen lässt, oder einem Hund, der lernt, wie er einen Türgriff manipulieren kann, hat den Neokortex eines Tieres in Aktion gesehen.
Bei Menschen und anderen höher entwickelten Säugetieren hat sich dieser Neokortex zu einer sehr viel größeren und komplizierteren Struktur entwickelt. Die meisten von uns haben gewöhnlich dieses Gebilde mit seinen vielen Wölbungen und Furchen vor Augen, wenn sie sich das Gehirn vorstellen. Tatsache ist, dass wir uns ohne diese Wölbungen und Furchen das Gehirn überhaupt nicht vorstellen könnten, da uns unser großer Neokortex mit unserem Vorstellungs- und Fantasievermögen versieht sowie mit der Fähigkeit, Symbole zu erschaffen, zu verstehen und zu handhaben. Des Weiteren verdanken wir ihm unser Vermögen zur Sprache, zum Schreiben, zur Mathematik, Musik und Kunst. Er ist der Sitz unserer rationalen Aktivitäten, zu denen auch das Lösen von Problemen, das Analysieren, Urteilen, Kontrollieren von Impulsen und die Fähigkeiten gehören, Information zu strukturieren, aus vergangenen Erfahrungen und Fehlern zu lernen und mit anderen mitzufühlen.
Allein schon die Erkenntnis, dass sich das menschliche Gehirn aus drei Schichten zusammensetzt, ist erstaunlich genug. Aber noch faszinierender ist die Tatsache, dass ganz gleich, für wie modern, hoch entwickelt oder kultiviert wir uns halten, das Erzeugen von nur einem einzigen Gedanken eine Reihe komplexer Interaktionen zwischen allen drei Schichten des Gehirns – dem Hirnstamm, dem limbischen System und dem Neokortex – erfordert. Außerdem scheint es so zu sein, dass jeder Gedanke, jede Empfindung oder Erfahrung eine andere Reihe von Interaktionen beinhaltet, an denen oft Gehirnregionen beteiligt sind, die bei einer anderen Art von Gedanken nicht aktiviert werden.
DER FEHLENDE DIRIGENT
Der Geist sitzt nicht im Kopf.
Francisco J. Varela, »Steps to a Science of
Inter-Being«, in The Psychology of Awakening,
hrsg. von S. Batchelor, G. Claxton und G. Watson
Doch eine Frage machte mir immer noch zu schaffen. Wenn das Gehirn mit einer Symphonie und ihren Orchestermusikern vergleichbar ist, wie Dr. Livingston sagte, sollte es dann nicht auch einen Dirigenten geben? Sollte da nicht ein objektiv identifizierbares Teil oder ein Organ vorhanden sein, das alles leitet und dirigiert? Wir haben ja doch sicher das Gefühl, dass es da so etwas geben müsste – oder beziehen uns zumindest darauf, wenn wir zum Beispiel sagen: »Ich habe mich entschieden« oder »In meinem Geist herrscht totale Leere« oder »Ich muss den Verstand verloren haben.«
Aus meinen Gesprächen mit Neurowissenschaftlern, Biologen und Psychologen habe ich erfahren, dass die moderne Wissenschaft lange nach einem solchen »Dirigenten« gesucht und eine Unmenge Mühe und Anstrengung in die Hoffnung investiert hat, irgendeine Zelle oder Zellgruppe ausfindig zu machen, die die Regie über das Empfinden, die Wahrnehmung, das Denken und andere Formen von mentaler Aktivität innehat. Doch bislang ließ sich selbst mit der höchstentwickelten verfügbaren Technologie noch kein Beweis für einen Dirigenten entdecken. Es gibt kein einzelnes Areal – kein winziges »Selbst« oder »Ich« im Gehirn, von dem man sagen könnte, dass es für die Koordinierung der Kommunikation zwischen den verschiedenen Musikern verantwortlich ist.
So haben Neurowissenschaftler heutzutage ihre Suche nach einem »Dirigenten« aufgegeben und widmen sich nun dem Erforschen der Prinzipien und Mechanismen, nach denen Milliarden von im ganzen Gehirn verteilten Neuronen ihre Aktivität harmonisch koordinieren können, ohne einer zentralen Leitstelle zu bedürfen. Diese »globale« oder »aufgeteilte« Art des Verhaltens könnte man mit der Art und Weise vergleichen, in der sich eine Gruppe von Jazzmusikern spontan koordiniert. Wenn Jazzmusiker improvisieren, spielt vielleicht jeder von ihnen eine etwas andere Phrase, aber irgendwie bringen sie trotzdem ein harmonisches Zusammenspiel zustande.
Der Gedanke eines im Gehirn angesiedelten »Ichs« oder »Selbst« beruhte in vielerlei Hinsicht auf dem Einfluss der klassischen Physik, die sich traditionellerweise auf die Erforschung der Gesetze konzentriert hatte, die für örtlich definierte Objekte gelten. Legt man diese herkömmliche Sichtweise zugrunde, dann müsste der Geist, wenn er eine Auswirkung hat – zum Beispiel auf die Gefühle und Emotionen –, auch irgendwo lokalisierbar sein. Doch in der modernen Physik ist diese ganze Vorstellung von beständigen, aus fester Materie bestehenden Entitäten ins Wanken geraten. Jedes Mal, wenn wieder jemand das vorstellbar winzigste Element der Materie ausfindig gemacht hat, entdeckt ein anderer, dass es sich aus noch winzigeren Teilchen zusammensetzt. Und mit jedem neuen Forschungsschritt wird es immer noch schwieriger, ein grundlegendes materielles Element endgültig auszumachen.
Angenommen, man könnte das Gehirn in immer kleinere und noch kleinere Stückchen bis hinunter zur subatomarsten Ebene zerlegen, dann fragt sich doch, wenn man die Sache logisch betrachtet, wie jemand mit Sicherheit ein einziges dieser Stückchen präzise als den Geist identifizieren kann. Wie sollte es möglich sein, da jede Zelle aus vielen kleineren Teilchen besteht, die ihrerseits aus noch kleineren Teilchen bestehen, eines als den Geist zu erkennen?
Zu ebendiesem Punkt kann der Buddhismus vielleicht eine neue Sichtweise beisteuern, eine, die möglicherweise die Grundlage für neue Wege in der wissenschaftlichen Forschung bilden kann. Der tibetisch-buddhistische Begriff für Geist ist sem, ein Wort, das man mit »das, was weiß« übersetzen könnte. Dieser einfache Begriff kann uns die buddhistische Sicht auf den Geist besser verstehen lassen. Ihr zufolge ist der Geist nicht so sehr ein spezifisches Objekt, sondern vielmehr eine Fähigkeit, die es uns ermöglicht, unsere Erfahrungen und Wahrnehmungen zu erkennen und über sie nachzudenken. Der Buddha lehrte zwar, dass das Gehirn in der Tat die physische Stütze für den Geist darstellt, aber ihm war auch sehr an der Erklärung gelegen, dass der Geist selbst nicht etwas ist, das man sehen, berühren oder auch nur mit Worten definieren kann. So wie das physische Organ des Auges nicht mit dem Sehen und das physische Organ des Ohres nicht mit dem Hören gleichzusetzen ist, ist das Gehirn auch nicht identisch mit dem Geist.
Eine der ersten Lektionen, die mein Vater mich lehrte, war die, dass Buddhisten den Geist nicht als eine eigenständige Entität betrachten, sondern als sich fortwährend entfaltende Erfahrung. Ich kann mich noch entsinnen, wie seltsam mir dieser Gedanke zunächst vorkam, während ich da inmitten von Schülern aus der ganzen Welt im Unterrichtsraum seines Klosters in Nepal saß. So viele von uns hockten derart dicht zusammengedrängt in diesem winzigen Raum, dass kaum Platz war, sich irgendwie zu bewegen. Aber durch die Fenster blickte ich auf die gewaltige Weite der Berge und Wälder. Und da saß mein Vater, sehr ruhig, gelassen und beherrscht, der Hitze nicht achtend, die von so vielen Menschen erzeugt wurde, und sagte, dass das, was wir für unsere Identität halten – »mein Geist«, »mein Körper«, »mein Ich« – in Wirklichkeit eine Illusion ist, die von einem unaufhörlichen Strom von Gedanken, Emotionen, Empfindungen und Wahrnehmungen erzeugt wird.
Ich weiß nicht, ob es die schiere Kraft seiner eigenen Erfahrung war, die er ausstrahlte, während er sprach, oder der physische Kontrast, einerseits zwischen anderen Schülern eingeklemmt auf der Bank zu sitzen, andererseits durchs Fenster auf offene weite Räume zu schauen, oder ob es an beidem lag – jedenfalls machte in diesem Augenblick etwas »Klick«, wie man im Westen sagt. Ich machte die Erfahrung der Freiheit vom Unterscheiden zwischen einem Denken in Begriffen von »mein« Geist oder »mein« Ich und der Möglichkeit, einfach Sein zu erfahren, so weit und offen wie die Endlosigkeit der Berge und des Himmels jenseits der Fenster.
Als ich später in den Westen kam, hörte ich, wie eine ganze Reihe Psychologen das Erfahren von »Geist« oder »geistigem Bewusstsein« oder »Ich« mit dem Betrachten eines Films verglich. Wenn wir uns einen Film ansehen, erklärten sie, scheinen wir, während die Einzelbilder durch den Projektor laufen, einen kontinuierlichen Fluss von Klang und Bewegung zu erleben. Diese Erfahrung würde jedoch ganz erheblich anders ausfallen, wenn wir die Gelegenheit hätten, uns den Film Einzelbild für Einzelbild anzusehen.
Mein Vater brachte mir damals bei, mir meinen Geist auf genau die gleiche Art anzusehen. Wenn ich jeden Gedanken, jedes Gefühl, jede Empfindung, die mir durchs Bewusstsein strichen, beobachtete, löste sich die Illusion von einem begrenzten Ich oder Selbst auf und wurde durch ein Gewahrsein ersetzt, das sehr viel ruhiger, weiträumiger und gelassener ist. Da Erfahrung die neuronale Struktur des Gehirns verändert, wie ich von anderen Wissenschaftlern lernte, können wir, wenn wir den Geist auf diese Weise beobachten, das zellulare Geschwätz verändern, das unsere Erfahrung von unserem »Ich« beständig aufrechterhält.
ACHTSAMKEIT
Immer und immer wieder den Geist be-
trachtend, der nicht betrachtet wer-
den kann, kann man die Bedeutung
deutlich sehen, genau so, wie sie ist.
Der Dritte Gyalwang Karmapa: The Aspiration
of the Mahamudra of True Meaning
Der Schlüssel – das Wie der buddhistischen Praxis – liegt darin, dass man einfach in einem nackten Gewahrsein der Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen, so wie sie sich ereignen, zu ruhen lernt. Dieses sanfte Gewahrsein ist in der buddhistischen Tradition als Achtsamkeit bekannt, was wiederum ein einfaches Ruhen in der natürlichen Klarheit des Geistes meint. Wenn ich mir, wie beim Beispiel mit dem Hund, meiner gewohnheitsmäßigen Gedanken, Wahrnehmungen und Empfindungen bewusst werde, statt von ihnen mitgerissen zu werden, schwindet allmählich deren Macht über mich. Ich erlebe ihr Kommen und Gehen lediglich als eine natürliche Funktion meines Geistes, so wie Wellen ganz natürlich auf dem See plätschern oder auf dem Ozean wogen. Und letztlich passierte genau das, als ich allein in meinem Retreatkämmerchen saß und versuchte, der Angst Herr zu werden, die mich meine ganze Kindheit lang so gepeinigt hatte. Allein durch das Anschauen der Vorgänge in meinem Geist veränderte sich das, was vor sich ging.
Sie können gleich jetzt mithilfe einer einfachen Übung einen Vorgeschmack von ebendieser Freiheit der natürlichen Klarheit bekommen. Setzen Sie sich aufrecht hin, atmen Sie normal und werden Sie gewahr, wie Ihr Atem einströmt und ausströmt. Während Sie sich in dieses einfache Gewahrsein von Einatmen und Ausatmen hinein entspannen, werden Sie wahrscheinlich Hunderte von Gedanken bemerken, die Ihnen durch den Kopf gehen. Von manchen können Sie sich leicht lösen, andere hingegen ziehen Sie vielleicht in lange Gedankengänge hinein. Sobald Sie merken, dass Sie einem Gedanken nachjagen, konzentrieren Sie sich einfach wieder auf Ihren Atem. Machen Sie das etwa eine Minute lang.
Am Anfang sind Sie vielleicht von dieser Unmenge und Vielfalt von Gedanken überrascht, die durch Ihr Gewahrsein strömen einem Wasserfall gleich, der über eine steile Klippe in die Tiefe rauscht. Eine solche Erfahrung signalisiert keinen Misserfolg. Sie ist ein Zeichen für Erfolg. Sie haben zu erkennen begonnen, wie viele Gedanken Ihnen gewöhnlich durch den Kopf gehen, ohne dass Sie sie überhaupt bemerken.
Sie stellen vielleicht auch fest, dass Sie sich in einen bestimmten Gedankengang verfangen, ihm folgen und alles andere ignorieren. Dann erinnern Sie sich plötzlich daran, dass Sie ja bei dieser Übung Ihre Gedanken beobachten sollten. Statt sich nun Asche aufs Haupt zu streuen, kehren Sie einfach zur Konzentration auf Ihren Atem zurück.
Wenn Sie bei dieser Praxis bleiben, werden Sie feststellen, dass die Gedanken und Gefühle zwar kommen und gehen, die natürliche Klarheit des Geistes aber nie gestört oder unterbrochen wird. Um ein Beispiel anzuführen: Auf einer Reise nach Neuschottland besuchte ich einmal ein Retreathaus, das ziemlich nahe am Ozean liegt. Das Wetter am Tag meiner Ankunft war perfekt. Der Himmel war wolkenlos und der Ozean von einem tiefen, klaren Blau – wunderschön anzusehen. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, sah der Ozean jedoch wie eine dicke, schlammige Suppe aus. Ich fragte mich: »Was ist mit dem Ozean passiert? Gestern war er so klar und blau und heute ist er plötzlich so dreckig.« Ich ging zum Strand und konnte keinen offensichtlichen Grund für diese Veränderung erkennen. Es war kein Schlamm im Wasser oder am Strand. Dann blickte ich zum Himmel auf, sah, dass er von dicken, grünlich dunklen Wolken bedeckt war, und merkte, dass die Farbe der Wolken die Farbe des Ozeans verändert hatte. Das Wasser selbst, so zeigte sich beim genauen Hinsehen, war immer noch sauber und klar.
Der Geist ist in vielerlei Hinsicht wie der Ozean. Die »Farbe« ändert sich von Tag zu Tag oder Augenblick zu Augenblick, spiegelt sozusagen die Gedanken, Gefühle und so weiter wider, die darüber hinwegziehen. Aber der Geist selbst verändert sich nie, wie der Ozean: Er ist immer sauber und klar, ganz gleich, was er widerspiegelt.
Die Übung der Achtsamkeit mag Ihnen zunächst ziemlich schwer vorkommen, aber es geht auch nicht darum, dass Sie damit gleich Erfolg haben. Was Ihnen gegenwärtig unmöglich zu sein scheint, wird durch die Übung leichter. Es gibt nichts, woran Sie sich nicht gewöhnen können. Denken Sie nur an all die unerfreulichen Dinge, die Sie schon als normal akzeptiert haben, zum Beispiel, dass Sie sich durch den dichten Verkehr kämpfen oder mit einem schlecht gelaunten Verwandten oder Mitarbeiter abgeben müssen. Achtsam zu werden beinhaltet einen allmählichen Prozess, bei dem Sie neue neuronale Verbindungen herstellen und das Geschwätz zwischen alten unterbinden. Es verlangt, dass Sie geduldig einen Schritt nach dem anderen tun und immer wieder in ganz kurzen Phasen üben.
Es gibt einen alten tibetischen Spruch: »Wenn du dich abhetzt, kommst du nicht in Lhasa an. Geh gemächlich und du wirst dein Ziel erreichen.« Dieser Spruch entstammt den Zeiten, als die Menschen Osttibets nach Lhasa pilgerten, in die in der zentralen Region des Landes gelegene Hauptstadt. Pilger, die dort schnell ankommen wollten, gingen so rasch sie konnten, wurden aber wegen des hohen Tempos, das sie sich auferlegt hatten, müde und erschöpft oder krank und mussten wieder umkehren. Die Pilger, die gemächlich reisten, über Nacht ihr Zeltlager aufschlugen, die Geselligkeit genossen und dann am nächsten Tag ihren Weg fortsetzten, kamen schließlich schneller in Lhasa an.
Die Erfahrung folgt der Absicht. Wo wir auch sind, was wir auch tun, wir müssen nur unsere Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen als etwas Natürliches erkennen. Wir erkennen die Erfahrung und Wahrnehmung einfach an, ohne sie abzulehnen oder anzunehmen, und lassen sie vorbeigehen. Wenn wir das beibehalten, werden wir allmählich Situationen handhaben können, die wir vormals als schmerzlich, Angst einflößend oder sehr traurig empfanden. Wir entdecken in uns eine Zuversicht, die weder in Arroganz noch in Stolz wurzelt. Uns wird klar, dass wir immer behütet, immer sicher und immer zu Hause sind.
Erinnern Sie sich an den kleinen Test, um den ich Sie bat? Daran, dass Sie sich beim nächsten Mal, wenn Sie sich zum Mittag- oder Abendessen niederlassen, fragen sollen: »Was ist es, das denkt, dass dieses Essen gut – oder nicht so gut – schmeckt? Was ist es, das den Essvorgang erkennt?« Das schien sich einmal ziemlich leicht beantworten zu lassen. Aber jetzt ergibt sich die Antwort nicht mehr so leicht, oder?
Dennoch hätte ich gerne, dass Sie es beim nächsten Mittag- oder Abendessen noch einmal damit versuchen. Wenn die Antworten, die Ihnen kommen, verwirrend und widersprüchlich sind, ist das gut. Verwirrung, so wurde ich gelehrt, ist der Anfang des Verstehens, das erste Stadium des Sichlösens vom neuronalen Geschwätz, das uns an ganz bestimme Vorstellungen darüber, wer wir sind und wozu wir fähig sind, kettete.
Mit anderen Worten, Verwirrung ist der erste Schritt auf dem Pfad zu wirklichem Wohlergehen.