Wende dich vom Verlangen und Seh-
nen ab! Reiße das Anhaften mit der
Wurzel aus!
Jamgön Kongtrul: Das Licht der Gewissheit
Es war einmal vor langer Zeit in Indien ein Kuhhirte, der die meiste Zeit seines Lebens mit dem Beaufsichtigen der Kühe seines Herrn verbracht hatte. Als er schließlich an die 60 Jahre alt war, kam ihm die Erkenntnis: »Das ist eine langweilige Arbeit. Jeden Tag das Gleiche. Die Kühe auf die Weide treiben, ihnen beim Grasen zuschauen und sie dann wieder nach Hause führen. Was soll ich denn daraus wohl lernen?« Nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte, beschloss er, seine Arbeit aufzugeben und zu lernen, wie man meditiert, um sich wenigstens von der Monotonie des Samsara zu befreien.
Er nahm also seinen Abschied und machte sich auf den Weg in die Berge. Eines Tages kam er zu einer Höhle und sah darin einen Mahasiddha sitzen. Dieser Anblick stimmte den Kuhhirten sehr froh, und er trat näher und bat ihn, ihn das Meditieren zu lehren. Der Meister willigte ein und gab ihm elementare Unterweisungen, wie man meditiert und sich dabei der Gedanken als Stütze bedient. Nachdem er die Belehrungen erhalten hatte, ließ sich der Kuhhirte in einer nahe gelegenen Höhle nieder und begann mit dem Üben.
Wie die meisten von uns stieß er sofort auf Probleme. In all den Jahren als Kuhhirte hatte er seine Kühe sehr lieb gewonnen, und wenn er nun zu meditieren versuchte, wie der Mahasiddha es ihn gelehrt hatte, waren die einzigen Gedanken und Bilder, die ihm kamen, die an seine ehemaligen Schützlinge. Er bemühte sich sehr, diese Gedanken loszuwerden, aber die Kühe tauchten immer wieder auf; und je mehr er sich anstrengte, desto klarer wurde ihr Bild.
Schließlich begab er sich völlig erschöpft zum Meister und erzählte ihm, dass er schreckliche Mühe habe, seinen Anweisungen Folge zu leisten. Als der Mahasiddha ihn fragte, was denn das Problem sei, erklärte der Kuhhirte ihm die Sachlage.
»Das ist kein Problem«, erklärte der Meister. »Ich kann dich eine andere Methode lehren. Man nennt sie die Kuh-Meditation.«
»Was?«, fragte der Kuhhirte höchst erstaunt.
»Ich meine das im Ernst«, erwiderte der Mahasiddha. »Du brauchst nichts weiter zu tun, als die Bilder von den Kühen, die du im Geiste siehst, zu beobachten. Beobachte sie, wenn du sie auf die Weide führst, wenn sie grasen und wenn du sie wieder zum Bauernhof zurückbringst. Was auch immer an Gedanken über die Kühe in dir in Erscheinung tritt, beobachte sie einfach nur.«
Der Kuhhirte kehrte in seine Höhle zurück, setzte sich nieder und begann entsprechend den neuen Anweisungen zu üben. Und weil er nun nicht versuchte, seine Gedanken loszuwerden, machte er dieses Mal ohne Probleme Fortschritte. Er begann sich sehr glücklich und innerlich im Frieden zu fühlen. Er vermisste seine Kühe nicht. Und sein Geist wurde ruhiger, ausgeglichener und gefügiger.
Nach einiger Zeit suchte er den Mahasiddha wieder auf. »Okay«, sagte er, »die Kuh-Meditation habe ich nun abgeschlossen. Was mache ich als Nächstes?«
»Sehr gut«, erwiderte der Meister. »Nachdem du jetzt gelernt hast, wie du deinen Geist zur Ruhe bringst, werde ich dich die zweite Ebene der Kuh-Meditation lehren. Hier sind die Anweisungen: Stell dir in der Meditation deinen eigenen Körper als eine Kuh vor.«
Der Kuhhirte begab sich wieder in seine Höhle und begann wie angewiesen zu üben, indem er dachte, Okay, jetzt bin ich eine Kuh. Ich habe Hörner und Hufe, ich mache Muuuh, ich fresse Gras … Und als er so seine Praxis in dieser Art fortsetzte, bemerkte er, dass sein Geist noch friedvoller und glücklicher wurde als zuvor. Als er das Gefühl hatte, auch diese Praxis gemeistert zu haben, ging er zum Meister zurück und fragte, ob es auch eine dritte Anweisungsebene gäbe.
»Ja«, sagte der Mahasiddha bedächtig, »auf der dritten Ebene der Kuh-Meditation musst du dich darauf konzentrieren, dass du Hörner hast.«
Der Kuhhirte kehrte in seine Höhle zurück und machte sich daran, die Anweisungen seines Lehrers auszuführen. Er konzentrierte sich ausschließlich auf den Gedanken, dass er Hörner habe. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die Größe der Hörner, auf ihren Sitz, ihre Farbe, ihr Gewicht zu beiden Seiten des Kopfes. Nachdem er ein paar Monate so geübt hatte, stand er eines Morgens auf, um zum Wasserlassen vor die Höhle zu treten. Aber da merkte er, dass er mit irgendetwas gegen die Höhlenwände stieß und nicht ins Freie gelangen konnte. Er tastete mit den Händen, um herauszubekommen, was das für ein Hindernis war, und musste zu seinem Erstaunen feststellen, dass ihm an seinem Kopf zwei sehr lange Hörner gewachsen waren. Schließlich gelang es ihm, seitwärts gedreht die Höhle zu verlassen, und er rannte voller Schrecken zu seinem Lehrer.
»Schau nur, was passiert ist!«, schrie er. »Du hast mir diese Kuh-Meditation gegeben, und jetzt sind mir Hörner gewachsen! Das ist ja grauenvoll. Das ist ja ein Alptraum!«
Der Mahasiddha lachte fröhlich. »Nein, das ist ganz wunderbar!«, rief er. »Du hast die dritte Ebene der Kuh-Meditation gemeistert! Jetzt musst du die vierte Ebene praktizieren. Du musst denken: ›Jetzt bin ich keine Kuh und habe keine Hörner.‹«
Der Kuhhirte kehrte pflichtgemäß in seine Höhle zurück und übte die vierte Ebene der Kuh-Meditation, indem er den Gedanken aufrechterhielt: Jetzt habe ich keine Hörner, jetzt habe ich keine Hörner, jetzt habe ich keine Hörner … Und nachdem er ein paar Tage so geübt hatte, wachte er eines Morgens auf und entdeckte, dass er seine Höhle wieder, ohne anzuecken, verlassen konnte. Die Hörner waren verschwunden.
Überrascht rannte er zum Meister und verkündete: »Schau, ich habe keine Hörner mehr! Wie kommt denn das? Als ich dachte, ich habe Hörner, traten sie in Erscheinung. Als ich dachte, ich habe keine Hörner, verschwanden sie. Warum?«
»Die Hörner traten auf und verschwanden aufgrund der Art und Weise, wie du deinen Geist ausgerichtet hast«, gab der Mahasiddha zur Antwort. »Der Geist ist sehr machtvoll. Er kann Erfahrungen sehr real erscheinen lassen, und er kann sie unwirklich erscheinen lassen.«
»Oh«, sagte der Kuhhirte.
Der Meister erklärte weiter: »Hörner sind nicht die einzigen Dinge, die entsprechend der Ausrichtung deines Geistes erscheinen und verschwinden. Alles ist so. Dein Körper, andere Menschen – die ganze Welt. Ihre Natur ist Leerheit. Nichts existiert als absolute Wirklichkeit, es existiert nur in der Wahrnehmung deines Geistes. Wenn du das erkennst, hast du die wahre Sicht. Erst musst du deinen Geist befrieden und zur Ruhe bringen, dann lernst du, wie man die Dinge klar sieht. Das ist die fünfte Ebene der Kuh-Meditation – du lernst, ruhige Gelassenheit und die wahre Sicht im Gleichgewicht zu halten.«
Wieder kehrte der Kuhhirte in seine Höhle zurück und meditierte dort mit ruhiger Gelassenheit und in der wahren Sicht verweilend. Nach ein paar Jahren wurde er selbst ein Mahasiddha, sein Geist war ruhig und still und frei vom Kreislauf des Samsara-Leidens geworden.
Es gibt nicht mehr so viele Kuhhirten auf der Welt, obwohl die vielleicht ein friedlicherer Ort wäre, wenn es noch mehr von ihnen gäbe. Wenn Sie sich trauen, können aber auch Sie so wie dieser alte Kuhhirte üben und sich dafür ein anderes Objekt aussuchen – ein Auto zum Beispiel. Nach ein paar Jahren Auto-Meditation könnten Sie schließlich wie der alte Kuhhirte ein großer Meister werden. Natürlich müssten Sie bereit sein, ein paar Jahre darauf zu verwenden, dass Ihnen Scheinwerfer, Türen, Sitzgurte und vielleicht auch ein Kofferraum wachsen; und dann müssen Sie lernen, alles wieder zum Verschwinden zu bringen. Und während des Übens könnten Sie Mühe mit dem Benutzen des Lifts in Ihrem Bürogebäude haben; und auch Ihre Mitarbeiter könnten Sie vielleicht für ein bisschen merkwürdig halten, wenn Sie auf ihre Fragen nicht mit Worten, sondern mit Hupen antworten.
Ich mache natürlich Witze. Es gibt sehr viel leichtere Möglichkeiten des Arbeitens mit Gedanken, als die Technik zu lernen, wie man sich Hörner oder Rücklichter wachsen lässt.
SICH GEDANKEN ZUNUTZE MACHEN
Wenn Gedanken auftauchen, betrachte diese nicht als Fehler, sei dir ihrer offenen Natur bewusst, und lasse sie unberührt.
Götsampa, The Highest Continuum
Auch wenn Sie mit Ihren fünf Sinnen Freundschaft geschlossen und gelernt haben, wie man Sinneswahrnehmungen zur Unterstützung der Meditation einsetzt, können Sie noch weiterhin einige Schwierigkeiten im Umgang mit dem »verrückten Affen« haben – jenem Geistbewusstsein, das so gerne herumhüpft, Verwirrung stiftet, Zweifel sät und Unsicherheit erzeugt. Selbst wenn Sie lernen, wie man im schlichten Gewahrsein der Sinnesempfindungen ruht, wird der verrückte Affe stets nach neuen Wegen suchen, die Ruhe, Klarheit und Offenheit zu stören, die Sie erlangt haben mögen. Dies zum Beispiel dadurch, dass er Ihnen eine andere und beunruhigende Interpretation der Dinge anbietet – sozusagen das psychische Äquivalent für das Herumschmeißen mit Kissen und Verschlingen der auf dem Altar aufgestellten Opfergaben. So schwierig es auch sein mag, damit umzugehen, die Tatsache, dass der verrückte Affe eingreift und stört, ist an sich nichts »Schlechtes«; es handelt sich einfach um eingewurzelte neuronale Muster, die sich zu behaupten suchen. Der verrückte Affe ist im Grunde eine neurologisch einprogrammierte Reaktion auf Bedrohungen für das Überleben des Menschen. Warum nicht damit arbeiten, statt wütend zu werden? Warum nicht Dankbarkeit gegenüber einer Aktivität entwickeln, die uns geholfen hat zu überleben?
Haben Sie das Arbeiten mit den Sinnen gelernt, dann müssen Sie es allerdings mit dem verrückten Affen selbst aufnehmen und die von ihm erzeugten Gedanken und Emotionen als Stütze für das Befrieden und Beruhigen des Geistes nutzen. Und haben Sie mit diesen Gedanken und Emotionen zu arbeiten begonnen, dann werden Sie nach und nach eine ganz neue Dimension der Freiheit von uralten, auf das Überleben ausgerichteten Mustern entdecken. Der Prozess fängt damit an, dass Sie sich bei jedem Gedanken, den Sie denken, und bei jedem Gefühl, das Sie fühlen, fragen, ob es sich um einen Fakt oder um eine Gewohnheit handelt.
Häufig sind die ersten Lektionen unseres Lebens auch die wichtigsten. »Schau nach links und rechts, bevor du über die Straße gehst.« »Nimm keine Süßigkeiten von Fremden an.« »Spiel nicht mit Zündhölzern herum.« Kinder bekommen diese Mahnungen aus gutem Grund immer wieder von ihren Eltern zu hören; und so wichtig diese Anweisungen für Kinder auch sind, sie scheinen sie doch immer wieder zu vergessen. Menschen gehen ihrer Natur nach Risiken ein. So lernen wir. Aber manche Lektionen können tödlich enden und andere dauerhaften Schmerz verursachen. Deshalb müssen wir auch noch als Erwachsene die Lektionen wiederholen, die wir als Kinder erlernten, und die Anweisungen an unsere Kinder weitergeben. Gewisse Lektionen brauchen einfach die Wiederholung.
Sehen Sie es mir also bitte nach, wenn ich hier ein paar Mal etwas wiederhole, was ich schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt meiner formalen Ausbildung lernte. Das Denken ist die natürliche Aktivität des Geistes. Bei der Meditation geht es nicht darum, dass du deine Gedanken abstellst. Meditation ist einfach ein Prozess, bei dem du den Geist in seinem natürlichen Zustand ruhen lässt; ein Zustand, in dem der Geist für die Gedanken, Emotionen und Empfindungen, so wie sie in Erscheinung treten, offen und ihrer ganz natürlich gewahr ist. Der Geist ist wie ein Fluss; und wie bei einem Fluss macht es keinen Sinn, seinem Fließen Einhalt zu gebieten. Da könnten Sie ebenso gut auch versuchen, Ihren Herzschlag zum Stillstand zu bringen oder Ihre Lungen vom Atmen abzuhalten. Was für einen Sinn sollte das haben?
Das heißt nun aber nicht, dass Sie ein Sklave all dessen sein müssen, was Ihr Geist produziert. Wenn Sie das Wesen und den Ursprung Ihrer Gedanken nicht verstehen, werden Sie von Ihren Gedanken benutzt. Doch als der Buddha das Wesen seines Geistes erkannte, kehrte er diesen Prozess um. Er zeigte uns, wie wir uns unsere Gedanken zunutze machen können, statt dass sie sich uns zunutze machen.
Als ich unter der Anleitung meines Vaters mit meiner formalen Ausbildung begann, war ich zunächst sehr nervös. Ich dachte, er würde ganz bestimmt sehen, wie aktiv mein Geist war, und wie viele verrückte Gedanken ihn jede Sekunde durchzogen; und dass er mich wegschicken würde, weil ich für das Lernen ungeeignet war. In einem Punkt hatte ich Recht. Er sah, wie verrückt mein Geist war. Aber ich hatte nicht Recht mit der Vorstellung, dass ich, was die Meditation anging, ein schlechter Lernkandidat sei.
Wie seinen anderen Schülern und Schülerinnen sagte er auch mir, dass es egal ist, wie viele Gedanken einem beim Meditieren durch den Kopf gehen. Wenn es binnen einer Minute hundert Gedanken sein sollten, hat man hundert Stützen für die Meditation. »Was für ein Glück du hast!«, pflegte er zu sagen. »Wenn der verrückte Affe in deinem Kopf überall herumspringt, dann ist das wunderbar! Beobachte ihn einfach beim Herumhüpfen. Jeder Hüpfer, jeder Gedanke, jede Ablenkung ist wie jedes Objekt der Sinneswahrnehmungen eine Stütze für die Meditation. Wenn du merkst, dass du mit einer Menge Ablenkungen zu kämpfen hast, kannst du jede Ablenkung als Meditationsobjekt nehmen. Und wenn du das tust, hören sie auf, Ablenkungen zu sein und werden zu Stützen deiner Meditationspraxis.«
Aber er ermahnte uns auch, nicht an jedem aufkommenden Gedanken festhalten zu wollen. Was immer uns durch den Kopf ging, wir sollten einfach nur sein Kommen und Gehen beobachten, leicht und ohne Anhaftung, so wie wir uns darin geübt hatten, unsere Aufmerksamkeit sacht auf Formen, Klängen oder Gerüchen ruhen zu lassen.
Das Beobachten der Gedanken ist ein bisschen so, wie wenn man rennt, um den Bus noch zu erwischen. Wenn man an der Bushaltestelle ankommt, fährt der Bus gerade ab, und man muss auf den nächsten Bus warten. Ähnlich findet sich zwischen den einzelnen Gedanken oft eine Pause oder Lücke – vielleicht nur für einen Sekundenbruchteil, aber dennoch, die Lücke existiert. Diese Lücke ist die Erfahrung der vollkommenen Offenheit des Geistes in seinem natürlichen Zustand. Dann steigt ein neuer Gedanke auf, und wenn er verschwindet, ergibt sich wieder eine Lücke. Dann kommt wieder ein Gedanke und geht wieder, gefolgt von einer weiteren Lücke.
So setzt sich der Beobachtungsprozess der Gedanken immer weiter fort: Gedanken gefolgt von Lücken, gefolgt von Gedanken, gefolgt von Lücken. Wenn Sie mit dieser Übung fortfahren, werden die Lücken allmählich länger und länger, und Ihre Erfahrung des friedlichen Ruhens des Geistes wird unmittelbarer. Es gibt also zwei grundlegende Geisteszustände – mit Gedanken und ohne Gedanken – und beide sind Stützen für die Meditation.
Anfangs gerät die auf die Gedanken gerichtete Aufmerksamkeit immer wieder ins Wanken. Das ist okay. Wenn Sie feststellen, dass sich Ihr Geist auf Wanderschaft befindet, dann seien Sie dieses Herumwanderns einfach gewahr. Sogar Tagträume können zu einer Stütze für die Meditation werden, wenn Sie sie mit Ihrem Gewahrsein sacht durchdringen.
Und wenn Sie sich plötzlich daran erinnern: Hoppla, ich sollte doch meine Gedanken beobachten, ich sollte mich doch auf eine Form konzentrieren, ich sollte doch auf Töne lauschen, ich sollte doch meine Gedanken beobachten, dann lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit einfach wieder auf das zurück, worauf sie an sich gerichtet sein sollte. Das große Geheimnis dieser »Hoppla«-Momente besteht darin, dass sie in ihnen für Bruchteile von Sekunden Ihre grundlegende Natur erfahren.
Es wäre schön, wenn Sie an jedem »Hoppla«, das Sie erleben, dranbleiben könnten. Aber das können Sie nicht. Wenn Sie es versuchen, verhärtet es sich zu einem Konzept – zu einer Vorstellung darüber, was dieses »Hoppla« bedeuten soll. Die gute Nachricht ist, dass Sie, je mehr Sie üben, vermutlich auch desto mehr »Hopplas« erleben werden. Und nach und nach sammeln sich diese »Hopplas« an, bis eines Tages das »Hoppla« zu einem natürlichen Geisteszustand wird, zur Entlassung aus den Gewohnheitsmustern neuronalen Geschwätzes, die Ihnen erlaubt, sich jeden Gedanken, jedes Gefühl und jede Situation in totaler Freiheit und Offenheit anzusehen.
Das »Hoppla« ist etwas Wunderbares.
Versuchen Sie jetzt mit diesem »Hoppla« zu üben, indem Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre Gedanken als Stützen für die Meditation gerichtet halten. Wie bei jeder anderen Praxis ist es auch hier wichtig, dass Sie Ihren Geist zunächst für ein paar Momente im objektlosen Gewahrsein ruhen lassen, bevor Sie mit dem Beobachten Ihrer Gedanken beginnen. Versuchen Sie nicht allzu lange zu üben, aber nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit dafür.
Lassen Sie als Erstes Ihren Geist eine Minute lang friedlich ruhen …
Lassen Sie dann, vielleicht zwei Minuten lang, den Geist Ihrer Gedanken gewahr werden …
Und lassen Sie den Geist wieder eine Minute lang friedlich ruhen …
Wenn Sie fertig sind, fragen Sie sich, wie diese Erfahrung für Sie war. Gab es eine Menge »Hopplas«? Konnten Sie Ihre Gedanken sehr klar erkennen? Oder waren sie verschwommen und undeutlich? Oder lösten sie sich einfach in Luft auf, sobald Sie versuchten, Ihr Augenmerk darauf zu richten?
Wenn ich diese Praxis bei öffentlichen Unterweisungen lehre und hinterher die Leute zu ihren Erfahrungen befrage, bekomme ich eine Menge unterschiedlicher Antworten. Manche berichten, dass ihre Gedanken, wenn sie sie zu beobachten versuchen, ganz schön hinterlistig sind. Sie verschwinden sofort oder treten nicht sehr klar hervor. Andere erzählen, dass ihre Gedanken sehr massiv und klar werden, dass sie als Worte in ihrem Bewusstsein in Erscheinung treten und dass sie ihnen ohne große Anhaftung oder Störung beim Kommen und Gehen zusehen können.
Und jetzt werde ich Ihnen ein großes Geheimnis anvertrauen: Es gibt kein Geheimnis! Beide beschriebenen Extreme – und alles dazwischen – sind Meditationserfahrungen. Wenn Sie vor Ihren Gedanken Angst haben, dann geben Sie ihnen Macht über Sie, weil sie so massiv und real zu sein scheinen, so wahr. Und je mehr Sie sich vor ihnen fürchten, desto mächtiger scheinen sie zu sein. Aber wenn Sie anfangen, Ihre Gedanken zu beobachten, schwindet allmählich die Macht, die Sie ihnen geben. Und das kann auf zweierlei Weise geschehen:
Wie schon erwähnt, werden Sie, wenn Sie Ihre Gedanken sehr genau beobachten, vielleicht bemerken, dass sie sehr rasch erscheinen und verschwinden und dass dazwischen kleine Lücken entstehen. Zunächst mag die Pause zwischen dem einen und dem nächsten Gedanken nicht sehr lang sein; aber mit einiger Übung werden die Pausen länger und länger, und Ihr Geist beginnt friedlicher und offener in objektloser Meditation zu verweilen.
In anderen Fällen wird die einfache Praxis des Beobachtens der Gedanken zu so etwas wie dem Anschauen eines Kino- oder Fernsehfilms. Es mögen auf der Kinoleinwand oder auf dem Bildschirm eine Menge Dinge vor sich gehen, aber Sie befinden sich nicht wirklich mitten im Film, oder? Zwischen Ihnen und dem, was Sie beobachten, ist ein bisschen Raum. Und wenn Sie sich im Beobachten Ihrer Gedanken üben, können Sie tatsächlich die Erfahrung machen, dass zwischen Ihnen und Ihren Gedanken ebenfalls ein klein wenig Raum ist. Dieser Raum wird nicht etwa von Ihnen erzeugt, denn er war schon immer da; Sie erlauben sich nur, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Durch Ihr Gewahrsein von diesem Raum können Sie anfangen, das Beobachten der Gedanken tatsächlich zu genießen, ohne von diesen vereinnahmt oder kontrolliert zu werden – und das auch dann, wenn es sich um furchterregende oder unheimliche Gedanken handeln sollte. Lassen Sie einfach zu, dass sie sich auf ihre Art ausagieren, so wie Erwachsene Kindern beim Spielen zuschauen – wenn sie Sandburgen bauen, mit Plastiksoldaten Kämpfe ausfechten oder andere Spiele spielen. Die Kinder sind ganz in ihre Aktivitäten vertieft, aber die Erwachsenen schauen einfach zu und lachen liebevoll über die Ernsthaftigkeit, mit der die Kleinen bei der Sache sind.
Gleich welche Erfahrungen Sie machen, es ist alles okay; und zweifellos werden diese Erfahrungen auch im Laufe Ihrer Praxis variieren. Manchmal werden Sie Ihre Gedanken sehr genau beobachten, sehen, wie sie kommen und gehen, und die Lücken dazwischen bemerken. Und manchmal werden Sie ihnen einfach aus dieser kleinen Distanz heraus zusehen. Die Meditation ist eine sehr viel einfachere Angelegenheit, als die meisten Leute denken: Was immer an Erfahrung Sie auch machen, solange Sie sich der Vorgänge bewusst und gewahr sind, ist es Meditation!
Es findet nur dann ein Wechsel von der Meditation zu etwas anderem statt, wenn Sie versuchen, das Erlebte oder Wahrgenommene zu kontrollieren oder zu verändern. Doch wenn Sie sich diesen Versuch ins Gewahrsein rufen, ist auch das Meditation.
Natürlich sehen manche Menschen überhaupt keine Gedanken; ihr Geist schaltet einfach nur auf Mattscheibe. Auch das ist in Ordnung. Es ist Ihr Geist, mit dem Sie arbeiten, und niemand kann darüber Urteile fällen; niemand kann Ihre Erfahrung benoten. Die Meditation ist ein einzigartiger, ganz persönlicher Vorgang, und Menschen machen hierbei nie ganz genau die gleichen Erfahrungen. Wenn Sie weiter üben, werden Sie zweifellos feststellen, dass sich auch Ihre eigenen Erfahrungen mitunter täglich und mit jeder Praxissitzung ändern. Manchmal werden Ihre Gedanken sehr klar und leicht zu beobachten sein; ein andermal wiederum scheinen sie vage und schwer fassbar zu sein. Und manchmal merken Sie beim Üben, dass Ihr Geist dumpf oder wie benebelt ist. Auch das ist okay. Dieses Gefühl von Dumpfheit ist kaum mehr als eine Kette von Neuronen, die in Reaktion auf Ihre Absicht zu meditieren miteinander schnattern, und Sie können diese Dumpfheit, oder was auch immer Sie fühlen, einfach nur beobachten.
Beobachtung – der Vorgang, dass Sie Ihre reine Aufmerksamkeit auf das gerichtet halten, was Sie gerade in einem bestimmten Augenblick wahrnehmen und erfahren – ist Meditation. Selbst das neuronale Geschwätz, das sich als der Gedanke »Ich weiß nicht, wie man meditiert« manifestiert, kann als Meditationsstütze dienen, solange Sie ihn beobachten.
Solange Sie Ihr Gewahrsein oder die Achtsamkeit aufrechterhalten, ist Ihre Praxis Meditation, ganz gleich was in ihrem Verlauf geschieht. Wenn Sie Ihren Gedanken zusehen können, ist das Meditation. Wenn Sie Ihren Gedanken nicht zusehen können, ist das auch Meditation. Alle diese Erfahrungen können als Stütze für die Meditation dienen. Wesentlich ist, dass Sie das Gewahrsein aufrechterhalten, gleich was für Gedanken, Emotionen oder Empfindungen auftreten. Wenn Sie sich daran erinnern, dass das Gewahrsein von allem, was sich ereignet, Meditation ist, dann wird diese zu einer sehr viel leichteren Angelegenheit, als Sie vielleicht gedacht haben.
MIT NEGATIVEN GEDANKEN ARBEITEN
Was für Gedanken auch aufsteigen,
versuche nicht ihnen Einhalt zu ge-
bieten.
Karmapa Wangtschug Dordsche:
Mahamudra – Ozean des wahren Sinnes
Vor allem wenn das Meditieren für Sie Neuland ist, kann es ziemlich schwierig sein, mit bloßem Gewahrsein Gedanken zu beobachten, die sich auf unangenehme Erfahrungen beziehen – insbesondere solche, die sich mit starken Emotionen wie Eifersucht, Wut, Angst oder Neid verbinden. Diese unangenehmen Gedanken können so kraftvoll und beharrlich sein, dass man sich leicht in ihnen verfängt und ihnen nachhängt. Ich kann die vielen Menschen gar nicht an den Fingern und Zehen abzählen, die dieses Problem schon mit mir diskutiert haben. Es entsteht vor allem im Zusammenhang mit Gedanken an heftige Auseinandersetzungen in der eigenen Familie oder am Arbeitsplatz oder an irgendeinem anderen Ort, den sie nicht vergessen können. Tag für Tag kehren sie zurück zu ihren Vorstellungen in Verbindung mit dem, was da gesagt oder getan wurde, und verfangen sich in Gedanken darüber, wie schrecklich diese andere Person war, was sie damals hätten sagen können oder sollen und wie sie es diesem Menschen gerne heimzahlen würden.
Am besten arbeiten Sie mit solchen Gedanken, indem Sie einen Schritt zurücktreten und den Geist eine Minute lang in objektloser Shiné-Meditation ruhen lassen. Richten Sie dann Ihre Aufmerksamkeit auf jeden Gedanken und die um ihn kreisenden Vorstellungen, beobachten Sie beides ganz direkt ein paar Minuten lang, so als würden Sie den Blick auf die Form oder Farbe eines Gegenstandes gerichtet halten. Lassen Sie dann den Geist wieder in objektloser Meditation ruhen, und richten Sie anschließend Ihre Aufmerksamkeit erneut auf die gleichen Gedanken; wechseln Sie zwischen beiden Zuständen hin und her.
Wenn Sie so mit negativen Gedanken arbeiten, geschehen zwei Dinge (keine Sorge, keines davon bedeutet, dass Sie sich Hörner wachsen lassen!): Erstens, wenn Sie im Gewahrsein ruhen, beruhigt sich Ihr Geist allmählich. Zweitens werden Sie feststellen, dass Ihre auf bestimmte Gedanken oder Geschichten gerichtete Aufmerksamkeit kommt und geht, so wie es auch beim Arbeiten mit Stützen der Fall ist, die auf Formen, Klängen und anderen Sinneswahrnehmungen basieren. Und wenn der betreffende Gedanke oder die Geschichte dann immer wieder von anderen Dingen unterbrochen wird – Zusammenlegen der Wäsche, Einkaufen, Vorbereitung auf eine Konferenz –, lockert sich allmählich der Griff, mit dem die unangenehmen Gedanken und Vorstellungen Ihren Geist umklammert halten. Sie fangen an zu erkennen, dass diese gar nicht so stabil und dauerhaft oder so mächtig sind, wie es zunächst schien. Sie sind eher wie ein Besetztzeichen am Telefon – ärgerlich vielleicht, aber nichts, womit Sie nicht fertig werden könnten.
Ein solches Arbeiten mit unangenehmen Gedanken lässt diese zum Pluspunkt für die mentale Stabilität werden statt zur Belastung – so als würden Sie beim Trainieren im Fitnessstudio noch ein weiteres Gewicht an die Stange hängen. Sie bauen auf psychischer Ebene Muskeln auf, um mit immer umfassenderen Ebenen von Stress fertig zu werden.
SICH EMOTIONEN ZUNUTZE MACHEN
Man braucht sich seinen Emotionen
nicht völlig ausgeliefert zu fühlen.
Kalu Rinpoche: Geflüsterte Weisheit
Da Emotionen den Hang zu großer Intensität und Ausdauer haben, können sie als Meditationsstütze sogar noch nützlicher sein als Gedanken. Mein Vater und meine anderen Lehrer prägten mir ein, dass es drei Grundkategorien von Emotionen gibt: positive, negative und neutrale.
Positive Emotionen – wie Liebe, Mitgefühl, Freundschaft und Loyalität – stärken den Geist, bauen Vertrauen und Zuversicht auf und fördern unsere Fähigkeit, anderen hilfebedürftigen Wesen beizustehen. Der tibetische Begriff gewa im Zusammenhang mit solchen Emotionen und den mit ihnen verbundenen Handlungen wird im Deutschen heute meist mit »heilsam« übersetzt, zuweilen aber auch mit »tugendhaft«. Doch ist mit dieser Art von Emotionen und Handlungen nichts Moralisches assoziiert. Gewa im Sinne der ursprünglichen etymologischen Bedeutung des Wortes Tugend, nämlich Tauglichkeit und Kraft, ist mehr als effektive, machtvolle Heilkraft zu verstehen.
Negative Emotionen wie Angst, Wut, Traurigkeit, Eifersucht, Kummer oder Neid, in den Übersetzungen oft als »unheilsame« Emotionen (im Tibetischen mi-gewa) bezeichnet, haben die Tendenz, den Geist zu schwächen, Vertrauen und Zuversicht zu untergraben und die Angst zu steigern.
Mehr oder weniger neutrale Gefühle bestehen im Grunde aus gemischten Reaktionen. Es handelt sich um die Art von Gefühlen, wie wir sie vielleicht einem Bleistift, einem Stück Papier oder einem Gabelstapler entgegenbringen. So sehr wir uns auch ins Zeug legen, für einen Bleistift positive oder negative Gefühle aufzubringen, ist wirklich schwer!
Die Methode, Emotionen als Meditationsstütze zu nutzen, unterscheidet sich je nach Art der von Ihnen erfahrenen Emotion. Wenn es sich um eine positive, Ihren Geist stärkende Emotion handelt, können Sie sich auf das Gefühl und das Objekt des Gefühls konzentrieren. Wenn Sie zum Beispiel Liebe für ein Kind empfinden, können Sie die Aufmerksamkeit auf dem Kind und Ihrer empfundenen Liebe ruhen lassen. Wenn Sie Mitgefühl für eine Person empfinden, die in Schwierigkeiten steckt, können Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die hilfebedürftige Person und das Empfinden von Mitgefühl gerichtet halten. Auf diese Weise wird das Objekt Ihrer Emotion zur Stütze für die Emotion selbst, während die Emotion als Stütze für das Gewahrwerden des Objekts dient, das die Emotion hervorruft.
Im Gegensatz dazu wird die Aufmerksamkeit, die Sie auf ein mit negativen Emotionen besetztes Objekt gerichtet halten, eher zur Verstärkung der Vorstellung führen, dass die betreffende Person, Situation oder Sache an und für sich schlecht oder von Übel ist. Ganz gleich, wie sehr Sie sich um die Entwicklung von Mitgefühl, Vertrauen oder irgendein anderes positives Gefühl bemühen, Ihr Bewusstsein wird das Objekt fast automatisch mit der negativen Emotion in Verbindung bringen: »Huch, das ist wirklich übel. Kämpf dagegen. Mach, dass es verschwindet. Oder lauf weg.«
In solchen Fällen besteht die konstruktivere Methode darin, dass Sie, ähnlich wie beim Arbeiten mit negativen Gedanken, Ihre Aufmerksamkeit einfach auf der Emotion selbst und nicht auf deren Objekt ruhen lassen. Blicken Sie einfach auf die Emotion, ohne sie intellektuell zu analysieren. Versuchen Sie nicht an ihr festzuhalten und blocken Sie sie auch nicht ab. Beobachten Sie sie einfach nur. Dann wird sie Ihnen nicht mehr so gewaltig oder machtvoll vorkommen, wie es anfänglich der Fall war.
Ich wendete die gleiche Methode während meines ersten Retreatjahrs an, als mich meine Befürchtungen und Ängste in der Gegenwart anderer Menschen dazu zwangen, mich in die Isolation meines Zimmers zurückzuziehen. Als ich erst einmal anfing, meine Ängste einfach nur zu beobachten, erkannte ich allmählich, dass sie keine massiven, unauflöslichen Monster waren, die ich niemals bezwingen konnte; vielmehr handelte es sich um eine Reihe kleiner, flüchtiger Empfindungen und Bilder, die so rasch in meinem Gewahrsein aufstiegen und wieder daraus verschwanden, dass sie nur den Anschein erweckten, etwas Festes und in sich Geschlossenes zu sein. (Ganz ähnlich, so sollte ich später entdecken, wie eine wirbelnde Masse subatomarer Teilchen den Anschein erweckt, etwas Unteilbares und Festes zu sein.) Und nachdem ich meine Angst in dieser Weise beobachtet hatte, kam mir der Gedanke: Hmm, das ist interessant. Diese Angst ist ja doch gar nicht so groß und mächtig. Genau genommen ist sie ziemlich harmlos. Sie ist nur ein Haufen vorübergehender Empfindungen, die in Erscheinung treten, ein oder zwei Sekunden herumlungern und dann einfach wieder verschwinden.
Das ergab sich natürlich nicht über Nacht. Ich musste ein paar Wochen in diese Vorgänge und Prozesse total vertieft bleiben, ähnlich wie ein besessener Naturwissenschaftler, der von einem Experiment vollkommen in Anspruch genommen ist. Außerdem hatte ich den Vorteil, mich auf einige Ausbildungs- und Schulungsjahre stützen zu können.
Aber ich ging aus dieser Erfahrung mit neuer Dankbarkeit und Wertschätzung für all die verschiedenen Methoden hervor, die der Buddha vor so vielen Jahrhunderten bereitgestellt hatte, um Menschen, die er nie persönlich kennenlernen würde, beim Überwinden solcher Schwierigkeiten zu helfen. Und als ich später mehr über die Struktur und Funktionsweise des Gehirns und die Erkenntnisse der modernen Physik über die Natur der Realität erfuhr, war ich sogar in noch stärkerem Maße beeindruckt von den Parallelen zwischen den von Buddha durch Introspektion entwickelten Techniken und den durch objektive Beobachtung gewonnenen Erklärungen, warum diese funktionieren.
Doch manchmal ist ein mit einer negativen Emotion verbundenes Objekt – gleich ob es sich nun um eine Person, einen Ort oder ein Ereignis handelt – einfach zu klar und deutlich präsent, um es ignorieren zu können. In diesem Fall sollten Sie unter keinen Umständen versuchen, es abzublocken. Nutzen Sie es. Lassen Sie Ihre Aufmerksamkeit auf der Form, dem Geruch, dem Geschmack oder irgendeiner der anderen Sinneswahrnehmungen ruhen, so wie Sie es nun schon zu tun gelernt haben. Auf diese Weise kann das Objekt der Emotion selbst zu einer sehr kraftvollen Meditationsstütze werden.
Diese Form der Übung ist von Nutzen, wenn Sie mit den in Teil I beschriebenen geistigen Grundhemmnissen direkt zu arbeiten beginnen. Als ich in die Thematik der geistigen Hemmnisse eingeführt wurde, dachte ich: O weh, ich bin mit Makeln behaftet. Ich bin unwissend und verblendet. Ich habe eine Menge Anhaftungen und Abneigungen. Ich werde den Rest meines Lebens im Unglück verbringen. Aber dann hörte ich einen alten Spruch. Ich weiß nicht, ob es stimmt oder nicht, aber man sagt: »Der Pfau frisst Gift, und das von ihm verspeiste Gift verwandelt sich in wunderschöne Federn.«
Da ich den größten Teil meiner frühen Jahre als kleines Angstbündel verbracht habe, weiß ich, wie ungeheuer stark geistige Hemmnisse sein können. Ich habe 13 Jahre lang gedacht, dass ich sterben würde – und es manchmal auch erhofft, nur um endlich von meiner Angst befreit zu sein. Erst als ich ins Retreat ging und mich diesen Hemmnissen und Behinderungen ganz direkt stellen musste, erfuhr und erkannte ich, dass Unwissenheit, Anhaftung und Abneigung das mir gegebene Arbeitsmaterial waren, das sich, so wie das Gift, das der Pfau frisst, als eine Quelle großen Segens erwies.
Jedes geistige Hemmnis ist im Grunde die Basis von Weisheit. Wenn wir uns in unseren Hemmnissen verfangen oder versuchen, sie zu unterdrücken, werden wir uns am Ende nur noch mehr Probleme bereiten. Sehen wir sie uns aber stattdessen direkt an, werden die Dinge, von denen wir befürchteten, dass sie uns umbringen würden, allmählich in die stärksten Stützen für die Meditation umgewandelt, die wir uns überhaupt erhoffen können.
Geistige Hemmnisse sind keine Feinde. Sie sind unsere Freunde.
Diese Wahrheit ist schwer zu akzeptieren. Aber denken Sie immer, wenn Sie vor ihr zurückschrecken, an den Pfau. Gift schmeckt nicht sehr gut. Aber wenn Sie es schlucken, verwandelt es sich in Schönheit.
Wir werden uns also in unserer letzten Praxislektion die meditativen Gegenmittel anschauen, die wir einsetzen können, wenn wir uns mit den Erfahrungen konfrontiert sehen, die uns die größte Angst machen oder die wir als extrem unangenehm empfinden. Und wir werden bei der Untersuchung dieser Praxisübungen zur Erkenntnis gelangen, dass das Maß, in dem wir von einer Erfahrung abgestoßen, in Angst versetzt oder scheinbar geschwächt werden, dem Maß entspricht, in dem wir durch eine solche Erfahrung stärker, zuversichtlicher, vertrauensvoller, offener und befähigter werden können, die unendlichen Möglichkeiten unserer Buddhanatur anzunehmen.