Das Gesetz von Ursache und
Wirkung muss euch zu tiefster
Überzeugung werden.
Patrul Rinpoche: Die Worte
meines vollendeten Lehrers
Ein wirklich gutes wissenschaftliches Experiment führt zu ebenso vielen Fragen wie Antworten. Und eine der großen Fragen, die sich durch die Studie mit den geschulten Meditierenden ergab, war, ob deren Fähigkeit, den Geist zu lenken, aus solchen Faktoren wie ähnliche genetische Veranlagung, gemeinsames Umfeld, gleicher kultureller Hintergrund oder ähnliche Ausbildung hervorging. Mit anderen Worten, können normale Leute, die nicht von Kindheit an im speziellen Umfeld eines tibetisch-buddhistischen Klosters ausgebildet worden sind, vom Üben irgendwelcher buddhistischer Meditationstechniken profitieren?
Weil die klinische Forschung in Zusammenarbeit mit buddhistischen Meditationsmeistern noch in den Kinderschuhen steckt, kann es noch lange dauern, bis wir solche Fragen mit absoluter Sicherheit beantworten können. Was sich aber sagen lässt, ist, dass der Buddha Hunderten, ja wahrscheinlich Tausenden von ganz normalen Leuten – Bauern, Schafhirten, Königen, Händlern, Soldaten, Bettlern und auch ganz gewöhnlichen Kriminellen – beibrachte, ihren Geist so zu lenken, dass sich in ihrer Physiologie subtile Veränderungen einstellten. Durch diese Veränderungen wurde es ihnen allen möglich, sich über ihre biologische und soziale Konditionierung hinwegzusetzen und einen dauerhaften Glückszustand zu erlangen. Wäre das, was er lehrte, ohne Wirkung geblieben, würde kein Mensch seinen Namen kennen, gäbe es keine als Buddhismus bekannte Tradition und würden Sie dieses Buch nicht in Händen halten.
AKZEPTIEREN SIE IHR POTENZIAL
Die Ursache, die bindet, ist
auch der Pfad, der befreit.
Karmapa Wangtschug Dordsche:
Mahamudra – Ozean des wahren Sinnes
Sie müssen nicht unbedingt ein besonders netter Mensch sein, um mit dem »Inside-Job« des Glücklichseins anfangen zu können. Einer der größten tibetisch-buddhistischen Meister aller Zeiten war ein Mörder. Jetzt wird er als Heiliger betrachtet, und Bildnisse von ihm zeigen ihn stets, wie er eine Hand hinter sein Ohr hält und auf die Gebete der gewöhnlichen Leute hört.
Sein Name war Milarepa. Er wurde als einziges Kind eines reichen Ehepaares im 10. Jahrhundert geboren. Als sein Vater unerwartet starb, eignete sein Onkel sich den Besitz der Familie an und zwang Milarepa und seine Mutter zu einem Leben in Armut – eine Veränderung der Lebensumstände, die von den beiden nicht sehr enthusiastisch aufgenommen wurde. Von den anderen Verwandten setzte sich keiner für sie ein; zu jener Zeit war es einfach das Schicksal der Witwen und Kinder, dass sie sich den Entscheidungen der Männer in der Familie zu beugen hatten.
Als Milarepa alt genug war, so wird die Geschichte erzählt, schickte ihn seine Mutter zu einem Magier in die Lehre, damit er ein paar schwarzmagische Künste lernte, um dann an seinen Verwandten Rache nehmen zu können. Von seiner Wut und seinem Wunsch, seiner Mutter eine Freude zu machen, angestachelt, meisterte Milarepa die Kunst der schwarzen Magie. Dann sprach er am Tag der Hochzeit seines Vetters einen Bann aus, der das Haus seines Onkels einstürzen ließ und 35 Familienmitglieder auf einen Schlag ums Leben brachte.
Ob sich Milarepa nun der Magie oder anderer Mittel bediente, um seine Familie umzubringen, sei dahingestellt. Die Tatsache bleibt bestehen, dass er seine Verwandten tötete und danach von schrecklichen Schuld- und Reuegefühlen geplagt wurde. Wenn es Ihnen vielleicht schon eine schlaflose Nacht bereitet, weil Sie jemandem eine Lüge erzählt haben, dann stellen Sie sich einmal Ihre Gefühle vor, wenn Sie 35 Familienmitglieder ermordet haben.
Um für sein Verbrechen zu büßen, ging Milarepa von zu Hause fort, um von nun an sein Leben dem Wohlergehen anderer zu widmen. Er begab sich in den Süden Tibets, um der Schüler eines Mannes namens Marpa zu werden. Marpa war dreimal nach Indien gereist, um dort die Essenz der Lehren Buddhas zu sammeln und nach Tibet zurückzubringen. Er war in vieler Hinsicht ein ganz normaler Mann – ein »Haushälter«, wie man im Buddhismus sagt. Das heißt, er hatte Frau und Kinder, besaß einen Bauernhof und war mit den täglichen Angelegenheiten beschäftigt, den Hof zu bestellen und mit der Familie zurechtzukommen. Aber er war auch dem Dharma hingegeben, und diese Hingabe verlieh ihm großen Mut. Von Tibet aus den Himalaja zu überqueren, um nach Indien zu gelangen, ist keine leichte Sache, und die meisten Leute kommen bei diesem Versuch ums Leben. Seine Reisen geschahen jedoch gerade zur rechten Zeit, denn bald nach seiner letzten Reise wurde Indien von Angreifern erobert. Alle buddhistischen Bibliotheken und Klöster wurden zerstört, und die meisten Mönche und Lehrer, die die Lehren Buddhas bewahrt und weitergegeben hatten, wurden umgebracht.
Marpa hatte sein ganzes Wissen, das er aus Indien zurückgebracht hatte, an seinen ältesten Sohn Dharma Dode weitergegeben. Doch der kam bei einem Reitunfall ums Leben. Und noch während er sich von diesem Verlust zu erholen suchte, sah Marpa sich nach einem Erben für die Belehrungen um, die er in Indien erhalten hatte. Er warf einen Blick auf Milarepa und sah in ihm den Mann, der hatte, was es brauchte, um diese Belehrungen nicht nur in all ihren Details meistern, sondern sie auch in ihrer Essenz begreifen und an die nächste Generation weitergeben zu können. Warum? Weil Milarepas Herz ob seiner Tat völlig gebrochen und seine Reue so tief war, dass er bereit war, alles zu tun, um es wiedergutzumachen.
Allein durch Erfahrung war Milarepa zur Erkenntnis einer der fundamentalsten Lehren des Buddha gelangt: Alles, was du denkst, alles, was du sagst, und alles, was du tust, wird dir als deine eigene Erfahrung zurückgespiegelt. Wenn du jemandem Schmerz bereitest, erfährst du zehnmal schlimmeren Schmerz. Wenn du das Glück und Wohlergehen anderer förderst, erfährst du zehnfach das gleiche Glück. Wenn dein Geist gelassen und ruhig ist, werden die Menschen in deinem Umfeld ein ähnliches Maß an Ruhe und Gelassenheit erfahren.
Dieses Wissen ist nun schon seit langer Zeit vorhanden und wurde von den verschiedenen Kulturen auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck gebracht. Selbst Heisenbergs berühmtes Prinzip der Unschärferelation erkennt eine enge Verbindung zwischen innerer Erfahrung und physischer Manifestation an. Die wirklich spannende Entwicklung unserer Zeit ist die, dass die moderne Technologie den Forschern allmählich die Demonstration dieses Prinzips in Aktion ermöglicht. Sie fangen nun an, objektive Beweise dafür zu liefern, dass es zu einem höheren Maß an Glücksgefühl führt, wenn man den Geist zu beruhigen lernt und eine mitfühlendere Einstellung entwickelt. Sie zeigen uns, dass dadurch die Struktur und Funktion des Gehirns in einer Weise verändert wird, die sicherstellt, dass dieses Glücksgefühl über die Zeit hinweg konstant bleibt.
Um die Auswirkungen der buddhistischen Meditationspraxis an Normalsterblichen zu testen, entwarfen Richard Davidson und seine Kollegen ein Experiment, an dem Angestellte eines Unternehmens im amerikanischen Mittelwesten beteiligt waren.1 Ziel war festzustellen, ob diese Techniken helfen konnten, die psychischen und physischen Auswirkungen von Stress am Arbeitsplatz zu verringern. Sie luden die Angestellten des Unternehmens zur Teilnahme an einem Meditationskurs ein, und nachdem man zunächst ein paar Blutuntersuchungen und EEG-Tests vorgenommen hatte, wurden die Teilnehmer willkürlich in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe sollte sofort geschult werden, und die andere, die Kontrollgruppe, sollte ihre Schulung bekommen, nachdem die Resultate der ersten Gruppe gründlich analysiert worden waren. Der Meditationskurs wurde über einen Zeitraum von zehn Wochen gegeben und von Dr. Jon Kabat-Zinn, Professor für Medizin an der University of Massachusetts und Gründer der Stress Reduction Clinic am dortigen Memorial Medical Center, durchgeführt.
Nach Beendigung dieses Meditationstrainings setzten Davidson und sein Team ihre Beobachtungen und Beurteilungen der Versuchsteilnehmer mehrere Monate lang fort. Drei oder vier Monate nach dem Ende des Trainings begannen die EEG-Tests einen allmählichen und signifikanten Anstieg der elektrischen Aktivität im Bereich des linken Stirnlappens anzuzeigen, die Region, die mit positiven Emotionen assoziiert wird. In dieser drei- oder viermonatigen Phase begannen auch die Versuchsteilnehmer selbst zu berichten, dass sie weniger Stress, mehr Ruhe und Gelassenheit und ein generelles Gefühl von mehr Wohlbefinden bei sich wahrnahmen.
Aber die Versuche hatten ein noch interessanteres Ergebnis.
GLÜCKLICHER GEIST,
GESUNDER KÖRPER
Die außergewöhnlichen körperlichen,
sprachlichen und geistigen Anlagen
eines Menschen geben ihm die einzig-
artige Fähigkeit, einen konstruktiven
Handlungsweg zu verfolgen.
Jamgön Kongtrul: Das Licht der Gewissheit
Buddhisten und moderne Wissenschaftler sind sich weitgehend darin einig, dass die geistige Verfassung einer Person gewisse Auswirkungen auf ihren Körper hat. Um ein ganz alltägliches Beispiel anzuführen: Wenn Sie tagsüber eine heftige Auseinandersetzung mit jemandem hatten oder in der Post eine Benachrichtigung vorfanden, dass Ihnen demnächst der Strom abgestellt wird, weil Sie die Rechnung nicht bezahlt haben, dann werden Sie wohl in der Nacht nicht allzu gut schlafen. Oder wenn Sie eine geschäftliche Präsentation vor sich haben oder mit Ihrem Chef über ein Problem sprechen müssen, dann sind Ihre Muskeln vielleicht verspannt, und Sie verspüren Übelkeit im Magen oder bekommen plötzlich heftige Kopfschmerzen.
Bis vor Kurzem gab es nur wenige wissenschaftliche Beweise dafür, dass zwischen der geistigen Verfassung und der körperlichen Erfahrung einer Person eine Verbindung besteht. Richard Davidsons Forschungsstudie mit den Unternehmensangestellten war sorgfältig geplant worden, sodass das Ende des Meditationstrainings mit der alljährlichen Grippeimpfung zusammenfiel, für die das Unternehmen stets sorgte. Nachdem noch einmal Blutproben von den beteiligten Versuchspersonen genommen worden waren, ergaben die Untersuchungen, dass die Leute, die am Meditationstraining teilgenommen hatten, ein signifikant höheres Maß an Grippeantikörpern aufwiesen als die, die kein Training erhalten hatten. Mit anderen Worten, die Personen, bei denen sich eine messbare Veränderung in der Aktivität im linken Stirnlappenbereich gezeigt hatte, wiesen auch eine Verbesserung ihres Immunsystems auf.
Ergebnisse dieser Art stellen einen gewaltigen Fortschritt im Bereich der modernen Wissenschaft dar. Viele Wissenschaftler, mit denen ich gesprochen habe, hegten schon lange die Vermutung, dass zwischen Geist und Körper eine Verbindung besteht. Aber vor dieser Studie hatte es noch keinen so klaren Beweis für diese Verbindung gegeben.2
Die Wissenschaft hat sich im Verlauf ihrer langen und bemerkenswerten Geschichte fast ausschließlich auf die Dinge konzentriert, die in Geist und Körper schief laufen, statt auf die, die richtig laufen. Doch seit Kurzem hat sich hier der Wind leicht gedreht, und nun scheinen in modernen Wissenschaftskreisen viele Leute die Chance zu bekommen, sich auch die Anatomie und Physiologie von gesunden und glücklichen Menschen genauer anzusehen.
Eine ganze Reihe von Projekten hat in den letzten Jahren gezeigt, dass zwischen positiven mentalen Zuständen und dem Rückgang im Risiko oder in der Intensität verschiedener körperlicher Krankheiten ein sehr enger Zusammenhang besteht. Zum Beispiel initiierte Dr. Laura D. Kubzansky, Dozentin an der Harvard School of Public Health, eine Studie, bei der man über einen Zeitraum von zehn Jahren die Krankengeschichte von etwa 1300 Männern verfolgte.3 Es handelte sich hierbei vor allem um Armeeveteranen, die Zugang zu einer medizinischen Versorgung hatten, wie sie nicht viele Menschen genießen. Daher waren ihre Krankengeschichten ziemlich vollständig belegt und über einen so langen Zeitraum hinweg leicht zu verfolgen. Da »Glücklichsein« und »Unglücklichsein« etwas weit gefasste Begriffe sind, konzentrierte sich Dr. Kubzansky auf ganz spezifische Manifestationen dieser Gefühle, nämlich auf Optimismus und Pessimismus. Diese Charakteristika sind durch einen standardisierten Persönlichkeitstest4 definiert, wonach Optimismus mit dem Glauben an eine zufriedenstellende Zukunft gleichgesetzt wird, weil die betreffende Person davon ausgeht, dass sie eine gewisse Kontrolle über den Ausgang wichtiger Ereignisse hat; Pessimismus wird mit der Überzeugung gleichgesetzt, dass die Probleme, die man erfährt, unvermeidlich sind, weil man keine Kontrolle über sein Schicksal hat.
Nachdem man Faktoren wie Alter, Geschlecht, sozioökonomischer Status, Fitness, Alkoholgenuss und Rauchen statistisch abgeglichen hatte, stellte man fest, dass das Vorkommen von irgendwelchen Formen einer Herzerkrankung bei den als Optimisten eingestuften Personen um fast 50 Prozent geringer war als bei den als Pessimisten eingestuften Personen. »Ich bin eine Optimistin«, sagte Dr. Kubzansky kürzlich bei einem Interview, »aber solche Ergebnisse hatte ich nicht erwartet«.5
Eine andere Studie, die von Dr. Laura S. Richman, Psychologiedozentin an der Duke University, durchgeführt wurde, untersuchte die körperlichen Auswirkungen von zwei anderen positiven Gefühlen, die mit Glücklichsein assoziiert werden: Hoffnungsfreudigkeit und Neugier.6 Hierbei willigten fast 1050 Patienten einer Poliklinik in die Teilnahme ein, indem sie einen Fragebogen zu ihren Gefühlszuständen, ihrem körperlichen Verhalten und anderen informativen Dingen wie Einkommen und Ausbildungsgrad beantworteten.
Dr. Richman und ihr Team verfolgten die medizinischen Daten dieser Patienten zwei Jahre lang. Nachdem wiederum statistische Abgleichungen hinsichtlich der oben erwähnten Faktoren vorgenommen worden waren, stellten sie fest, dass ein höheres Maß an Hoffnungsfreudigkeit und Neugier mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit einherging, unter Diabetes, hohem Blutdruck und Infektionen der Atemwege zu leiden. Im typisch vorsichtig gewählten Wissenschaftsjargon, der auf ein Herunterspielen sensationeller Behauptungen abzielt, gelangte Dr. Richmans Team zu dem Schluss, dass die Ergebnisse darauf hindeuten, dass »positive Emotionen eine Schutzrolle bei der Entwicklung von Krankheiten spielen könnten«.7
DIE BIOLOGIE DER GLÜCKSELIGKEIT
Die Stütze ist der unübertroffene,
kostbare menschliche Körper.
Gampopa: Der kostbare Schmuck der Befreiung
Das Witzige am Geist ist: Wenn man eine Frage stellt und dann still lauscht, kommt die Antwort gewöhnlich zum Vorschein. Ich habe daher keine Zweifel, dass die Entwicklung der Technologie zur Untersuchung der Auswirkungen des Geistes auf den Körper etwas mit dem wachsenden Interesse zu tun hat, mit dem die modernen Wissenschaftler nun die Beziehung zwischen Geist und Körper erforschen. Bisher haben sie ziemlich vorsichtige Fragen gestellt, und die Antworten, die sie erhielten, waren provokant, aber nicht gerade überwältigend beweiskräftig. Weil die wissenschaftliche Erforschung des Glücks und seiner Merkmale und Eigenschaften noch relativ jung ist, müssen wir eine gewisse Unsicherheit und Ungewissheit einkalkulieren. Wir müssen ihr Zeit für ihre Wachstumsschmerzen lassen.
Inzwischen haben die Wissenschaftler Verbindungen herzustellen begonnen, die ihnen möglicherweise helfen können, objektive Erklärungen für die Effektivität buddhistischer Schulung beizubringen. Zum Beispiel ergaben die Blutproben, die Richard Davidson von den Versuchspersonen seiner Studie nahm, dass die Personen, die eine mit positiven Emotionen assoziierte Aktivität im Stirnlappenbereich aufwiesen, auch einen niedrigeren Kortisonlevel hatten. Kortison ist ein Hormon, das von den Nebennieren in Reaktion auf Stress ausgeschüttet wird.8 Da es zu einer Unterdrückung der Funktion des Immunsystems tendiert, kann man von einem gewissen Zusammenhang ausgehen, wenn jemand, der sich mehr oder weniger zuversichtlich, glücklich und imstande fühlt, ein gewisses Maß an Kontrolle über sein Leben auszuüben, ein stärkeres, gesünderes Immunsystem hat. Wer sich im Gegensatz dazu generell unglücklich, nicht in Kontrolle über sein Leben und von äußeren Umständen abhängig fühlt, tendiert auch zu einem höheren Kortisonlevel, was wiederum das Immunsystem schwächen und uns für alle möglichen körperlichen Krankheiten anfälliger machen kann.
WAS NÜTZT UNS
DIE ERKENNTNIS DER LEERE?
Du wirst selbst zur lebendigen Lehre;
du wirst selbst lebendiger Dharma.
Chögyam Trungpa: Illusion’s Game
Jede der in Teil II beschriebenen Meditationspraktiken kann helfen, das Gefühl, »die Kontrolle verloren zu haben«, zu mindern; denn durch das geduldige Beobachten der Gedanken, Emotionen und Empfindungen, die wir in jedem Moment erleben und wahrnehmen, erwächst allmählich die Erkenntnis, dass diese nichts inhärent Wirkliches sind. Wenn jeder unserer Gedanken oder jedes unserer Gefühle tatsächlich ein etwas inhärent Wirkliches wären, bräche unser Gehirn wahrscheinlich unter der schieren Last der angehäuften Masse zusammen.
»Durch die Praxis«, so sagte einmal einer meiner Schüler, »habe ich gelernt, dass Gefühle keine wirklichen Fakten sind. Sie kommen und gehen je nach meiner momentan ruhelosen oder ruhigen und gelassenen Verfassung. Wären sie die wahre Wirklichkeit, würden sie sich nicht mit meiner persönlichen Situation ständig verändern.«
Das Gleiche gilt für Gedanken, Wahrnehmungen und körperliche Empfindungen, die nach buddhistischer Lehre allesamt ein momentaner Ausdruck der grenzenlosen Möglichkeit der Leere sind. Sie sind wie Menschen, die in einem Flughafen herumlaufen, alle unterwegs zu einem anderen Ziel. Wenn Sie sie nach ihrem Vorhaben fragten, würden sie sagen, dass sie »nur auf der Durchreise« sind.
Und wie kann nun die Erkenntnis der Leere den Stress, der zu physischer Krankheit beiträgt, mindern? An früherer Stelle haben wir uns anhand des speziellen Beispiels von einem Auto angesehen, wie sich die Leere mit unserer Erfahrung von Träumen vergleichen lässt. Das im Traum wahrgenommene Auto ist kein »wirkliches« Auto im herkömmlichen Sinn, das aus verschiedenen materiellen Teilen besteht und in einer Fabrik zusammengesetzt wurde; dennoch scheint uns für die Dauer des Traums unser Herumfahren im Auto eine sehr reale Erfahrung zu sein. Wir genießen das »reale« Vergnügen, den Wagen zu fahren und ihn stolz unseren Freunden und Nachbarn vorzuführen; und wir sind sehr real »unglücklich«, wenn wir in einen Unfall verwickelt werden. Aber das Auto in unserem Traum existiert nicht wirklich, oder? Unsere Erlebnisse beim Herumfahren mit dem Auto kommen uns nur deshalb real vor, weil wir in der tiefen Unwissenheit des Träumens befangen sind.
Doch gewisse Konventionen der Erfahrung bestärken uns auch in unseren Träumen darin, dass wir die Traumerlebnisse als Realität akzeptieren. Träumen wir zum Beispiel von einem Wasserfall, so fließt das Wasser im Allgemeinen von oben nach unten. Träumen wir von einem Feuer, lodern die Flammen aufwärts. Und wenn sich unser Traum in einen Alptraum verwandelt – wenn wir zum Beispiel in einen Unfall verwickelt werden oder von einem hohen Gebäude springen oder durch ein Feuer laufen müssen –, kommt uns das Leiden, das wir im Traum erfahren, sehr real vor.
Lassen Sie mich Ihnen also eine Frage stellen, die vielleicht ein bisschen schwerer zu beantworten ist als einige der Fragen, die ich Ihnen bisher gestellt habe: Mit welcher Methode könnten Sie sich, ohne aufzuwachen, von diesem Leiden im Traumzustand befreien?
Ich habe diese Frage schon viele Male bei öffentlichen Belehrungen gestellt und eine Reihe verschiedener Antworten erhalten. Manche waren sehr komisch, wie zum Beispiel der Vorschlag, eine hellsichtige Haushälterin einzustellen, die unseren Schmerz instinktiv wahrnehmen, sich in den Traum einklinken und uns durch unsere Schwierigkeiten geleiten kann.
Ich weiß nicht, wie viele hellsichtige Haushälterinnen für so einen Job zur Verfügung stünden oder ob sich ihre Anstellungschancen erhöhten, wenn sie auf ihren Personalbögen als besondere Zusatzqualifikation Hellsichtigkeit vermerkten.
Andere meinten, dass mehr Meditation im Wachzustand die Chancen auf angenehme Träume automatisch erhöht. Leider kann ich nicht sagen, dass dies bei den Leuten, die ich überall auf der Welt getroffen und gesprochen habe, je der Fall war. Wiederum andere meinten, wenn man im Traum von einem hohen Gebäude springen muss, könnte man ja plötzlich entdecken, dass man fliegen kann. Ich weiß nicht, wie oder warum das passieren sollte, aber es scheint mir doch ein ziemlich riskanter Vorschlag zu sein.
Ganz selten gab jemand zur Antwort, dass die bestmögliche Lösung die sei, im Traum zu erkennen, dass man nur träumt. Meinen bisherigen Erfahrungen nach ist das die beste Antwort. Wenn Sie im Traumgeschehen erkennen können, dass Sie nur träumen, können Sie im Traum alles tun, was Sie wollen. Sie können von einem hohen Gebäude springen, ohne sich zu verletzen. Sie können durchs Feuer laufen, ohne sich zu verbrennen. Sie können über Wasser gehen, ohne zu versinken. Und wenn Sie Ihr Traumauto fahren und einen Unfall haben, können Sie unversehrt davonkommen.
Doch der Punkt ist der, dass Sie auch im Wachzustand erstaunliche Dinge vollbringen können, wenn Sie sich im Erkennen der Leerheit aller Phänomene schulen. Die meisten Menschen sind im Wachzustand den gleichen Täuschungen von Begrenztheit und Eingeschlossenheit unterworfen wie im Traumzustand. Aber wenn Sie jeden Tag auch nur ein paar Minuten auf das Beobachten und Überprüfen Ihrer Gedanken und Wahrnehmungen verwenden, werden Sie sich allmählich der Erkenntnis bewusst und auf sie vertrauen, dass Ihre alltäglichen Erfahrungen gar nicht so massiv und unveränderlich sind, wie Sie einst dachten. Das neuronale Geschwätz, das Sie vordem als Wahrheit akzeptierten, wird nach und nach einer Veränderung unterzogen, und dementsprechend wird sich auch die Kommunikation zwischen Ihren Gehirnzellen und den Zellen Ihrer Sinnesorgane verändern. Denken Sie daran, dass dieser Wandel fast immer langsam vor sich geht. Sie müssen die Möglichkeit einräumen, dass sich die Transformation gemäß Ihrer persönlichen Natur in ihrem eigenen Tempo vollzieht. Wenn Sie versuchen, den Prozess zu beschleunigen, werden Sie bestenfalls enttäuscht werden; im schlimmsten Fall könnten Sie sich selber schaden (so würde ich Ihnen zum Beispiel nicht raten, durchs Feuer zu laufen, wenn Sie erst ein paar Tage über die Leerheit meditiert haben).
Für die Geduld, den Eifer und den Fleiß, deren es bedarf, um das eigene volle Potenzial, die eigene Buddhanatur, wirklich zu erkennen, fällt mir kein besseres Beispiel ein als der allererste Film der Matrix-Reihe, den viele von Ihnen wahrscheinlich schon vor mir gesehen haben. Dieser Film beeindruckte mich nicht nur, weil sich die konventionelle Realität, die alle in der Matrix gefangenen Leute erleben, schließlich als Illusion entpuppt. Er beeindruckte mich auch, weil der Hauptprotagonist Neo trotz all seines Trainings und der ihm zur Verfügung stehenden Ausrüstung eine Weile braucht, bis er zur Erkenntnis gelangt, dass die persönlichen Begrenzungen, die er fast sein ganzes Leben lang als Realität akzeptiert hat, tatsächlich nur Projektionen seines Geistes sind. Als er sich zum ersten Mal mit diesen Begrenzungen auseinandersetzen muss, hat er Angst, und da konnte ich mich problemlos mit ihm identifizieren. Obwohl er Morpheus als seinen Führer und Lehrer hatte, konnte er doch nur schwer glauben, über welche Fähigkeiten er wirklich verfügte. Ebenso konnte ich nur schwer an die Wahrheit meiner eigenen Natur glauben, als sie mir zum ersten Mal von Meistern enthüllt wurde, die das volle Potenzial ihrer wahren Natur konkret unter Beweis gestellt hatten. Erst am Ende des Films, als Neo eigenständig die Erfahrung machen muss, dass die Lektionen, die man ihn gelehrt hatte, die Wahrheit sind, kann er fliegen, Gewehrkugeln in der Luft abfangen und Begebenheiten sehen, bevor sie sich ereignen.
Und doch musste er all diese Dinge auf allmähliche Art lernen. Erwarten Sie also nicht, dass Sie schon nach zwei oder drei Tagen Meditation übers Wasser wandeln oder fliegen können. Sehr wahrscheinlich werden Sie als erste Veränderung ein höheres Maß an Offenheit, Zuversicht und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber wahrnehmen und zudem feststellen, dass Sie die Gedanken und Motive anderer Leute in Ihrem Umfeld rascher als früher erkennen können. Das ist keine geringe Leistung; das ist der Anfang von Weisheit.
Wenn Sie weiter üben, werden sich all die wunderbaren Qualitäten Ihrer wahren Natur nach und nach enthüllen. Sie werden erkennen, dass Ihre essenzielle Natur weder beschädigt noch zerstört werden kann. Sie werden lernen, die Gedanken und Motive anderer zu »lesen«, noch bevor diese selbst sie verstehen. Sie werden klarer in die Zukunft schauen und die Konsequenzen Ihrer Handlungen und der Handlungen der Menschen in Ihrem Umfeld voraussehen können. Und vor allem wird Ihnen klar werden, dass Ihre wahre Natur, trotz Ihrer persönlichen Ängste und ganz gleich, was mit Ihrem physischen Körper geschieht, in ihrem Kern unzerstörbar ist.