Wenn es irgendeine Religion gibt,
die sich mit den Erfordernissen der
modernen Wissenschaft vereinbaren
lässt, dann ist es der Buddhismus.
Albert Einstein
Wer als Buddhist ausgebildet und geschult worden ist, sieht den Buddhismus nicht als eine Religion an. Sie oder er betrachtet ihn als eine Art Wissenschaft, eine Methode zur Erforschung unserer Erfahrungen mithilfe von Techniken, die eine bewertungsfreie und unvoreingenommene Untersuchung und Überprüfung unserer Handlungen und Reaktionen ermöglichen. Es ergibt sich dabei folgender Erkenntnisprozess: »Ah, so funktioniert mein Geist. Das muss ich tun, um Glück zu erfahren. Und dies sollte ich unterlassen, um Leid zu vermeiden.«
Der Buddhismus ist in seinem Wesen sehr praktischer Natur. Es geht darum, Dinge zu tun, die der heiteren Gelassenheit, dem Glück, dem Vertrauen und der Zuversicht förderlich sind, und Dinge zu unterlassen, die Sorge, Angst und Hoffnungslosigkeit heraufbeschwören. In der Essenz besteht die buddhistische Praxis nicht so sehr im Bemühen, unser Denken oder Verhalten zu ändern, um ein besserer Mensch zu werden; vielmehr geht es um die Erkenntnis, dass – ganz gleich, was wir über die Umstände denken mögen, die unser Leben bestimmen – wir schon gut, heil, ganz und vollkommen sind. Es geht um die Einsicht in das uns innewohnende Potenzial unseres Geistes. Mit anderen Worten, der Buddhismus befasst sich nicht so sehr damit, dass wir zu Gesundheit und Wohlbefinden gelangen, als vielmehr damit, dass wir zur Erkenntnis kommen, im Hier und Jetzt schon so heil und ganz, so gut, so im Kern gesund und wohlbefindlich zu sein, wie zu sein wir je hoffen können.
Das glauben Sie nicht, oder?
Nun ja, ich habe es lange auch nicht geglaubt.
Ich würde Ihnen zu Anfang gerne ein Geständnis machen, ein Geständnis, das sich aus dem Munde eines Menschen, der als wiedergeborener Lama gilt und in früheren Leben alle möglichen wunderbaren Dinge vollbracht haben soll, reichlich seltsam anhören mag: Schon in frühester Kindheit wurde ich von sehr starken Ängsten und Beklemmungszuständen heimgesucht. Sobald ich mich in der Nähe von mir unbekannten Menschen aufhielt, bekam ich Herzrasen und oft auch Schweißausbrüche. Es gab keinen Grund für dieses extreme Unbehagen. Ich lebte in einem wunderschönen Tal und war umgeben von einer liebevollen Familie und Dutzenden von Mönchen, Nonnen und anderen Menschen, die alle zutiefst damit befasst waren zu lernen, wie man inneren Frieden und Glück erweckt. Und doch begleiteten mich Angst und Beklemmung wie ein Schatten.
Als ich wohl so an die sechs Jahre alt war, erlebte ich hierbei zum ersten Mal eine gewisse Linderung. Hauptsächlich von kindlicher Neugier getrieben, machte ich mich damals daran, die das Tal umstehenden Hügel zu erklettern und die Höhlen zu erforschen, in denen Generationen von Dharma-Praktizierenden ihr Leben in Meditation verbracht hatten. Manchmal setzte ich mich in eine hinein und tat so, als ob ich meditierte. Natürlich hatte ich überhaupt keine Ahnung, wie man das macht. Ich saß bloß da und wiederholte ständig im Geiste Om Mani Peme Hung. Das ist ein Mantra (eine bestimmte Kombination von uralten Silben, die häufig wiederholt werden), das fast jeder Tibeter kennt, gleich ob er Buddhist ist oder nicht. Zuweilen rezitierte ich dieses Mantra stundenlang, ohne zu verstehen, was ich da machte. Dennoch stellte sich dann allmählich ein Gefühl von innerer Ruhe ein.
Obwohl ich drei Jahre lang in Höhlen gesessen und versucht hatte herauszufinden, wie man meditiert, nahmen meine Ängste und Panikattacken aber schließlich derart zu, dass man im Westen bei mir wohl eine ausgewachsene Angstneurose diagnostiziert hätte. Eine Weile erhielt ich einige informelle Anleitungen von meinem Großvater, einem großen Meditationsmeister, der es vorzog, über seine Verwirklichungen zu schweigen; doch dann nahm ich allen Mut zusammen und bat meine Mutter, sich an meinen Vater Tulku Urgyen Rinpoche zu wenden und ihm meine Bitte vorzutragen, ganz offiziell bei ihm lernen zu dürfen. Mein Vater willigte ein und unterwies mich in den folgenden drei Jahren in verschiedenen Meditationsmethoden.
Zunächst begriff ich nicht sehr viel. Ich versuchte, meinen Geist so zur Ruhe zu bringen, wie er es lehrte, aber mein Geist wollte nicht zur Ruhe kommen. Tatsache ist, dass ich in diesen ersten Jahren formaler Schulung feststellen musste, dass ich noch zerstreuter und abgelenkter war als zuvor. Mich ärgerte alles Mögliche: körperliches Unbehagen, Geräusche im Hintergrund, Konflikte mit anderen Leuten. Erst Jahre später wurde mir klar, dass ich mich gar nicht verschlechtert hatte; ich wurde nur einfach des ständigen inneren Gedankenstroms und der Empfindungen gewahr, die mir zuvor gar nicht speziell zu Bewusstsein gekommen waren. Nachdem ich gesehen habe, wie andere Menschen den gleichen Prozess durchmachten, weiß ich jetzt, dass dies eine allgemein übliche Erfahrung bei Leuten ist, die gerade erst lernen, wie man den eigenen Geist mithilfe der Meditation erforscht.
Obwohl ich kurze Momente der inneren Ruhe und Stille zu erfahren begann, suchten mich nach wie vor Furcht und Angst gleichsam wie Hungergeister heim – vor allem da ich alle paar Monate nach Indien ins Kloster Sherab Ling geschickt wurde, um dort inmitten von mir unvertrauten Mitschülern unter neuen Lehrern zu studieren. (Sherab Ling ist die Hauptresidenz des Zwölften Tai Situ Rinpoche, eines der größten heute lebenden Meister des tibetischen Buddhismus und einer meiner einflussreichsten Lehrer. Seine große Weisheit und Güte bei der Führung und Anleitung meiner eigenen Entwicklung bedeuten für mich eine Dankesschuld, die ich nie begleichen kann.) Anschließend wurde ich wieder nach Nepal geschickt, um meine Ausbildung unter der Anleitung meines Vaters fortzusetzen. So vergingen fast drei Jahre, in denen ich zwischen Indien und Nepal hin und her pendelte und formale Unterweisungen von meinem Vater und meinen Lehrern in Sherab Ling erhielt.
Einer der schrecklichsten Momente begab sich kurz vor meinem zwölften Geburtstag, als ich zu einem ganz speziellen Zweck nach Sherab Ling geschickt wurde. Es war ein Anlass, vor dem ich mich schon seit langer Zeit gefürchtet hatte – ich sollte als die Inkarnation des ersten Yongey Mingyur Rinpoche zeremoniell inthronisiert werden. Hunderte von Menschen wohnten dieser Zeremonie bei, und ich nahm stundenlang ihre Geschenke entgegen und erteilte ihnen Segen, so als wäre ich jemand wirklich Wichtiges und nicht nur ein schrecklich verängstigter zwölfjähriger Junge. Mit der Zeit wurde ich so bleich, dass mein neben mir stehender älterer Bruder Tsoknyi Rinpoche dachte, ich würde ohnmächtig werden.
Wenn ich auf diese Zeit und all die Güte zurückblicke, die mir von Lehrern erwiesen wurde, dann frage ich mich, wie ich denn dermaßen von Angst erfüllt gewesen sein konnte, wie es damals der Fall war. Im Nachhinein kann ich sehen, dass die Basis für meine Angst in der Tatsache zu finden war, dass ich die wahre Natur meines Geistes noch nicht wirklich erkannt hatte. Ich verfügte über ein grundlegendes intellektuelles Verständnis, aber nicht über die Art von direkter Erfahrung, die mich hätte erkennen lassen können, dass alle Angst, aller Schrecken oder alles Unbehagen, das ich empfand, ein Produkt meines eigenen Geistes war und dass mir die unerschütterliche Basis von heiterer Gelassenheit, Vertrauen, Zuversicht und Glück näher war als meine Augen.
Zeitgleich mit dem Beginn meiner formalen buddhistischen Ausbildung und Schulung ereignete sich noch etwas Wunderbares. Damals war es mir noch nicht klar, doch diese Wendung der Ereignisse sollte einen dauerhaften Einfluss auf mein Leben nehmen und meine persönliche Entwicklung beschleunigen. Ich wurde nach und nach in die Gedankenwelt und in die Entdeckungen der modernen Wissenschaft eingeführt – vor allem in den Bereich, der sich dem Studium der Natur und Funktion des Gehirns widmet.
EINE BEGEGNUNG AUF
GEISTIGER EBENE
Wir müssen uns erst hinsetzen, den
Geist erforschen und unsere Erfah-
rungen untersuchen, um zu sehen, was
hier wirklich vor sich geht.
Kalu Rinpoche: Den Pfad des Buddha gehen
Ich war noch ein Kind, als ich dem Biologen Francisco Varela begegnete, einem gebürtigen Chilenen, der später einer der berühmtesten Neurowissenschaftler des 20. Jahrhunderts werden sollte. Francisco war nach Nepal gekommen, um unter Anleitung meines Vaters – dessen Ruf eine ziemlich große Schar westlicher Schüler angezogen hatte – die buddhistischen Methoden zur Untersuchung und Schulung des Geistes zu studieren. Wenn wir nicht studierten oder praktizierten, sprach Francisco mit mir oft über die moderne Wissenschaft, vor allem über sein persönliches Spezialgebiet, die Struktur und Funktion des Gehirns. Natürlich achtete er darauf, seine Lektionen so zu halten, dass sie für einen neunjährigen Jungen verständlich waren. Als andere westliche Schüler meines Vaters mein wissenschaftliches Interesse bemerkten, begannen auch sie mir das beizubringen, was sie über die modernen Theorien in den Bereichen von Biologie, Psychologie, Chemie und Physik wussten. Es war ein bisschen so, als würde ich zwei Sprachen zugleich lernen: einerseits den Buddhismus, andererseits die moderne Wissenschaft.
Ich weiß noch, dass ich schon damals dachte, dass zwischen beiden anscheinend kein großer Unterschied besteht. Die Worte und Begriffe waren verschieden, aber die Bedeutung schien mir so ziemlich die gleiche zu sein. Nach einer Weile begann ich auch zu erkennen, dass die westlichen und die buddhistischen Wissenschaftler auf bemerkenswert ähnliche Weise an ihre Themen herangingen. Klassische buddhistische Texte beginnen mit einer Darlegung der theoretischen oder philosophischen Grundlage der Untersuchung, die gemeinhin mit »Basis« oder »Grundlage« bezeichnet wird; dann gehen sie über zum »Pfad«, das heißt zu verschiedenen Praxismethoden, und schließen ab mit der »Frucht«, so die übliche Bezeichnung, das heißt mit einer Analyse der Ergebnisse der persönlichen Experimente und mit Vorschlägen zu weiteren Studien. Westliche wissenschaftliche Untersuchungen folgen oft einer ähnlichen Struktur. Sie beginnen mit einer Theorie oder Hypothese, gefolgt von einer Erklärung der Methoden, mittels derer die Theorie überprüft wird, und schließen mit einer Analyse, die die Ergebnisse der Experimente mit der ursprünglichen Hypothese vergleicht.
Am meisten faszinierte mich bei meinem Simultanstudium der modernen Wissenschaft und buddhistischen Praxis der Fakt, dass der buddhistische Ansatz die Menschen eine introspektive oder subjektive Methode zu lehren vermag, mit der sie ihr volles Potenzial zum Glücklichsein erkennen und verwirklichen können; wohingegen die westliche Methode auf objektivere Art erklärt, warum und wie diese Lehren funktionieren. Für sich genommen vermitteln beide, die buddhistische wie die moderne Wissenschaft, außergewöhnliche Einsichten in die Mechanismen und Funktionsweisen des menschlichen Geistes. Zusammengenommen bilden sie ein vollständigeres und verständlicheres Ganzes.
Gegen Ende meines Hin-und-her-Pendelns zwischen Indien und Nepal erfuhr ich, dass im Kloster Sherab Ling mit einem Dreijahresretreat begonnen werden sollte.
Retreatmeister würde Saljay Rinpoche sein, einer meiner Hauptlehrer in Sherab Ling. Er galt als einer der höchstverwirklichten Meister des tibetischen Buddhismus seiner Zeit. Ein sanfter Mann mit leiser Stimme, der die erstaunliche Fähigkeit besaß, zum genau richtigen Zeitpunkt das genau Richtige zu sagen oder zu tun. Sicher haben sich schon manche von Ihnen zeitweilig im Umfeld von Personen mit einer ähnlichen Ausstrahlung und Wirkung aufgehalten, Menschen, die unendlich tiefgründige Unterweisungen erteilen können, ohne dass sie überhaupt irgendwie zu lehren scheinen. Allein die Art, wie sie sind, ist eine Lektion für unser ganzes Leben.
Da Saljay Rinpoche schon sehr alt war und dies vermutlich das letzte von ihm geleitete Retreat sein würde, wollte ich sehr gerne daran teilnehmen. Ich war jedoch erst 13 und galt damit als eigentlich zu jung, um die Härten eines Dreijahresretreats durchstehen zu können. Doch ich bat meinen Vater, sich einzuschalten und für mich einzutreten, und schließlich gab Tai Situ Rinpoche mir die Teilnahmeerlaubnis.
Bevor ich nun auf meine Erfahrungen während dieser drei Jahre zu sprechen komme, halte ich es für nötig, ein wenig auf die Geschichte des tibetischen Buddhismus einzugehen. Es könnte meines Erachtens zur Erklärung beitragen, warum ich auf dieses Retreat so erpicht war.
DIE BEDEUTUNG
DER TRADITIONSLINIE
Euer bloßes Wissen und euer trocke-
nes theoretisches Verständnis genü-
gen nicht ... Was hier erforderlich ist,
sind Erkenntnis und Gewissheit auf-
grund direkter Erfahrung.
Karmapa Wangtschug Dordsche
(der Neunte Gyalwang Karmapa):
Mahamudra – Ozean des wahren Sinnes
Die Methode der Geisteserforschung und des direkten Arbeitens mit dem Geist, die wir Buddhismus nennen, geht auf die Lehren eines jungen indischen Prinzen namens Siddhartha zurück. Nachdem er mit eigenen Augen das schreckliche Elend von Menschen gesehen hatte, die nicht in einer so privilegierten Umgebung lebten wie er, gab er die Sicherheit und den Komfort seines Zuhauses auf, um eine Lösung für das Problem des menschlichen Leidens zu finden. Dieses Leiden nimmt viele Formen an, angefangen bei der nagenden Flüsterstimme, dass wir glücklicher wären, »wenn nur« irgendein kleiner Aspekt unseres Lebens anders wäre, bis hin zu den Schmerzen des Krankseins und den Schrecken des Todes.
Siddhartha wurde ein Asket und durchwanderte Indien, um bei Lehrern zu lernen, die vorgaben, die von ihm gesuchte Lösung gefunden zu haben. Leider schien keine der Antworten, mit der sie aufwarteten, und keine der Praktiken, die sie ihn lehrten, vollständig auszureichen. So beschloss er, vom Ratsuchen im Außen ganz und gar Abstand zu nehmen und die Lösung für das Problem des Leidens da zu suchen, wo er dessen Ursprung zu vermuten begonnen hatte: im eigenen Geist. Er ließ sich in Indiens nordöstlicher Provinz Bihar an einem Ort namens Bodghaya im Schutze eines Baumes nieder und versenkte sich tiefer und tiefer in seinen Geist, entschlossen, die von ihm gesuchte Antwort zu finden oder aber bei diesem Versuch zu sterben.
Nach vielen Tagen und Nächten entdeckte er schließlich das, wonach er gesucht hatte: ein grundlegendes Gewahrsein, das unveränderlich, unzerstörbar und grenzenlos ist. Als er aus diesem Zustand tiefster Meditation wieder auftauchte, war er nicht mehr Siddhartha. Er war der Buddha, ein Wort aus dem Sanskrit, das »der Erwachte« bedeutet.
Erwacht war er zum vollen Potenzial seines eigenen Wesens, welches bis dahin durch etwas eingeschränkt worden war, das man üblicherweise als Dualismus bezeichnet – die Vorstellung von einem eigenständig existierenden und inhärent wirklichen »Selbst« oder »Ich«, das von einem augenscheinlich außerhalb dieses Selbst existierenden und inhärent wirklichen »Anderen« getrennt ist. Wie wir später durch Erkundung feststellen werden, ist diese dualistische Denkart kein »Charakterfehler« oder geistiger Defekt. Sie ist ein komplexer, zutiefst in die Struktur und Funktion des Gehirns eingebetteter Überlebensmechanismus, der sich – ebenso wie andere Mechanismen – mithilfe der Erfahrung verändern lässt.
Der Buddha gelangte durch introspektive Untersuchung und Überprüfung zur Einsicht in dieses Veränderungsvermögen. Die Art und Weise, wie sich auf Irrtum und Missverständnis beruhende Vorstellungen und Konzepte in den Geist einwurzeln, sowie die Methoden, diese zu durchschneiden, wurden nun Gegenstand seiner Unterweisungen in den folgenden 40 Jahren seines Lebens, in denen er Indien durchwanderte und Hunderte, vielleicht Tausende Schüler und Schülerinnen anzog. Und über 2500 Jahre später beginnen nun moderne Wissenschaftler mithilfe nach strengen Kriterien durchgeführter klinischer Forschungsstudien zu belegen, dass seine durch subjektive Untersuchung gewonnenen Einsichten erstaunlich akkurat sind.
Weil die Reichweite seiner Erkenntnisse und Wahrnehmungen die üblichen Vorstellungen der Menschen von sich selbst und dem Wesen der Realität bei Weitem überstieg, war der Buddha – wie viele andere große Lehrer vor und nach ihm – gezwungen, sein Wissen in Form von Gleichnissen, Beispielen, Rätseln und Metaphern zu übermitteln. Er musste sich der Worte bedienen. Und obwohl diese Worte schließlich in Sanskrit, Pali und anderen Sprachen niedergeschrieben wurden, wurden sie zudem auch immer mündlich von Generation zu Generation weitergegeben. Warum? Weil wir beim Hören der Worte des Buddha und der ihm nachfolgenden Meister, die die gleiche Freiheit erlangten, über ihre Bedeutung nachdenken und diese Bedeutung auf unser eigenes Leben anwenden müssen. Und wenn wir das tun, bewirken wir Veränderungen in der Struktur und in den Funktionsweisen unseres Gehirns – von denen viele auf den folgenden Seiten besprochen werden – und schaffen uns die gleiche Erfahrung von Freiheit, wie sie der Buddha machte.
In den Jahrhunderten nach Buddhas Tod breiteten sich seine Lehren nach und nach in vielen Ländern aus. Sie gelangten auch nach Tibet, das durch seine geographisch bedingte Absonderung von der ganzen übrigen Welt nachfolgenden Schüler- und Lehrergenerationen ein perfektes Umfeld bot, um sich ausschließlich dem Studium und der Praxis zu widmen. Die tibetischen Meister, die noch zu ihren Lebzeiten Erleuchtung erlangten und Buddhas wurden, gaben all ihre Erfahrungen und Erkenntnisse an ihre meistversprechenden Schüler weiter, die diese Weisheit wiederum an ihre eigenen Schüler weitergaben. Auf diese Weise baute sich in Tibet eine ungebrochene Linie der Übermittlung und Unterweisung auf, die sich auf die Lehren Buddhas gründete, wie sie von seinen frühen Anhängern getreulich bewahrt worden waren, sowie auf detaillierte Kommentare zu diesen ursprünglichen Lehrreden.
Doch die wirkliche Kraft und Macht der Traditionslinie des tibetischen Buddhismus, das, was ihr eine solche Reinheit und Stärke verleiht, liegt in der direkten Verbindung von Herz und Geist zwischen den Meistern und ihren Schülern begründet – jener Meister, die die Kernunterweisungen der Linie mündlich, und oft im Geheimen, an ihre Schüler weitergaben.
Da auch in Tibet selbst viele Gebiete durch Berge, Flüsse und Täler voneinander isoliert sind, war das Umherreisen und Vermitteln und Austauschen von Erkenntnissen für Meister und Schüler oft schwierig. Als Folge davon bildeten die Lehrtraditionen in verschiedenen Regionen leichte Unterschiede heraus. Gegenwärtig gibt es vier Hauptschulen oder Traditionslinien des tibetischen Buddhismus: Nyingma, Sakya, Kagyü und Gelug. Und obwohl diese zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Landstrichen Tibets ihre Entwicklung nahmen, vertreten sie alle die gleichen Grundprinzipien, Praktiken und Glaubensvorstellungen. Die Unterschiede sind hauptsächlich in der Terminologie und den oft äußerst subtilen Methoden des Studiums und der Praxis zu finden; wie man mir sagte, ist dies bei den verschiedenen Konfessionsgemeinschaften des Protestantismus ähnlich.
Die älteste dieser Traditionslinien, die der Nyingma, wurde zwischen dem 7. und frühen 9. Jahrhundert unserer Zeitrechnung begründet, als Tibet von Königen regiert wurde. Das tibetische Wort nyingma könnte man in etwa mit »die Alten« übersetzen. Leider setzte Langdarma, der letzte der tibetischen Könige, aus politischen und persönlichen Gründen eine gewaltsame Unterdrückung des Buddhismus in Gang. Und obwohl er nur vier Jahre regierte, bis er im Jahr 842 u.Z. ermordet wurde, blieb diese frühe Traditionslinie buddhistischer Unterweisung danach fast 150 Jahre lang eine Art »Untergrundbewegung«. Tibet machte in dieser Zeit massive politische Veränderungen durch und reformierte sich schließlich dahingehend, dass es nun eine Reihe von eigenständigen feudalen Königreichen gab, die eine lockere Föderation bildeten.
Diese politischen Veränderungen boten dem Buddhismus die Gelegenheit, seinen Einfluss langsam, still und leise wieder geltend zu machen. Indische Lehrer begaben sich nach Tibet, und interessierte Schüler nahmen die mühselige Überquerung des Himalajas auf sich, um direkt bei indischen buddhistischen Meistern zu lernen. Zu den ersten Lehrtraditionen, die in dieser Zeit in Tibet Wurzel fassten, gehört die Kagyü-Linie. Sie leitet ihren Namen vom tibetischen Begriff ka her, was grob übersetzt »Rede« oder »Unterweisung« bedeutet, und vom tibetischen gyü, was im Wesentlichen »Linie« meint. Die Tradition der Kagyü-Linie hat zur Grundlage, dass die Unterweisungen und Anleitungen von Meister zu Schüler mündlich weitergegeben werden, wodurch eine fast beispiellose Reinheit der Übermittlung gewährleistet wird.
Ihren Ursprung nahm die Kagyü-Tradition im Indien des 10. Jahrhunderts u.Z., als dort ein außergewöhnlicher Mann namens Tilopa zu seinem vollen Potenzial erwachte. Über mehrere Generationen hinweg wurden dann die von ihm erlangten Einsichten und die Praxismethoden, durch die er sie erlangt hatte, von Meister zu Schüler weitergegeben, bis sie schließlich auf Gampopa übergingen, einen brillanten Tibeter, der seine Tätigkeit als Arzt aufgegeben hatte, um sich den Lehren Buddhas zu widmen. Gampopa übermittelte alles, was er gelernt hatte, an vier seiner begabtesten Schüler, von denen jeder in verschiedenen Regionen Tibets seine eigene Schule begründete.
Einer dieser Schüler, Düsum Khyenpa (ein tibetischer Name, den man mit »der Seher der drei Zeiten« – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – übersetzen könnte), begründete das, was heute als Karma-Kagyü-Linie bekannt ist. Sie leitet ihren Namen vom Sanskritwort karma her, was in etwa mit »Handlung« oder »Aktivität« übersetzt werden kann. In der Karma-Kagyü-Tradition wird die gesamte Sammlung der Belehrungen, die mehr als hundert Bände philosophischer und praktischer Unterweisungen und Anleitungen umfasst, vom Oberhaupt der Linie, dem Karmapa, auf eine Handvoll Schüler mündlich übertragen. Einige dieser Schüler inkarnieren sich immer wieder in den nachfolgenden Generationen, um ganz speziell die Belehrungen in ihrer Gesamtheit auf die nächste Inkarnation des Karmapa zu übertragen. So werden diese unschätzbaren Unterweisungen in der reinen Form bewahrt und beschützt, wie sie vor über tausend Jahren gegeben wurden.
Es gibt in der westlichen Kultur nichts Vergleichbares für diese Art unmittelbarer und kontinuierlicher Übermittlung. Am nächsten kämen wir der Sache, wenn wir uns vorstellten, dass so jemand wie Albert Einstein an seine fähigsten Schüler heranträte und sagte: »Entschuldigt, aber ich werde jetzt alles, was ich jemals gelernt habe, in euer Gehirn kippen. Ihr bewahrt das für ein Weilchen auf. Wenn ich dann in 20 oder 30 Jahren in einem anderen Körper wiederkomme, ist es eure Aufgabe, alles, was ich euch gelehrt habe, wieder in das Gehirn eines Jugendlichen zu verbringen, den ihr nur durch die Erkenntnisse und Einsichten wiedererkennen könnt, die ich euch jetzt übermittle. Ach und übrigens, nur für den Fall, dass irgendetwas schiefgeht, müsst ihr alles, was ich euch jetzt lehren werde, an ein paar andere Schüler weitergeben, deren Qualitäten ihr auf der Grundlage dessen, was ich euch jetzt zeigen werde, erkennen könnt. Dies, um sicherzustellen, dass nichts verloren geht.«
Bevor er im Jahr 1981 verstarb, übermittelte der Sechzehnte Karmapa diese kostbare Sammlung der Lehren und Unterweisungen einigen seiner als »Herzenssöhne« bekannten Hauptschüler und betraute sie mit der Aufgabe, sie der nächsten Inkarnation des Karmapa zu übermitteln und überdies ihre intakte Bewahrung dadurch sicherzustellen, dass sie in ihrer Gesamtheit an andere außergewöhnliche Schüler weitergegeben wurde. Einer der bedeutendsten Herzenssöhne des Sechzehnten Karmapa, der Zwölfte Tai Situ Rinpoche, sah mich als einen vielversprechenden Schüler an und ermöglichte mir die Reisen nach Indien, damit ich bei den im Kloster Sherab Ling versammelten Meistern studieren konnte.
Wie bereits erwähnt, sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Linien sehr gering und beinhalten gewöhnlich nur ein paar kleinere Verschiedenheiten in der Terminologie und Methode des Studiums. So sind zum Beispiel in der Nyingma-Linie – unter deren Angehörigen mein Vater und einige andere meiner späteren Lehrer als besonders hoch verwirklichte Meister angesehen wurden – die Unterweisungen über die grundlegende Natur des Geistes mit dem Begriff Dzogchen belegt, ein tibetisches Wort, das »große Vollkommenheit« bedeutet. In der Kagyü-Tradition, der Linie, in der Tai Situ Rinpoche, Saljay Rinpoche und viele andere der in Sherab Ling versammelten Lehrer vorrangig ausgebildet worden waren, bezeichnet man die Unterweisungen über die Essenz des Geistes mit dem Sammelbegriff Mahamudra, ein Wort, das sich mit »großes Siegel« übersetzen lässt. Zwischen diesen beiden Lehrsammlungen und Lehransätzen bestehen nur sehr geringe Unterschiede, vielleicht mit Ausnahme der Tatsache, dass sich die Dzogchen-Lehren ein bisschen mehr auf das Kultivieren eines tiefen Verständnisses von der Sicht auf die grundlegende Natur des Geistes konzentrieren, während die Mahamudra-Lehren mehr auf die Meditationspraktiken ausgerichtet sind, die ein unmittelbares Erfahren der Natur des Geistes möglich machen und unterstützen.
In der heutigen Welt mit all ihren Flugzeugen, Autos und Telefonen können Lehrer und Schüler sehr viel leichter umherreisen, und die Unterschiede, die sich in der Vergangenheit zwischen den verschiedenen Lehrtraditionen herausgebildet haben mögen, haben nun an Bedeutung verloren. Eines allerdings hat sich nicht geändert, nämlich dass es ungemein wichtig ist, eine direkte Übermittlung der Lehren von jenen zu erhalten, die sie gemeistert haben. Durch die direkte Verbindung mit einem lebenden Meister wird etwas unglaublich Kostbares übertragen ; es ist, als ob etwas Lebendiges, Atmendes aus dem Herzen des Meisters in das Herz des Schülers weitergereicht würde. Und die im Dreijahresretreat übermittelten Lehren werden auf ebendiese direkte, unmittelbare Weise vom Meister an den Schüler oder die Schülerin weitergegeben, was vielleicht erklären mag, warum ich so sehr darauf erpicht war, an diesem Retreatprogramm in Sherab Ling teilzunehmen.
BEGEGNUNG MIT MEINEM GEIST
Das bloße Erkennen der Bedeutung
des Geistes umfasst alles Verstehen.
Jamgön Kongtrul: Wie die Mitte
des wolkenlosen Himmels
Ich würde ja gerne berichten, dass alles besser wurde, als ich erst einmal inmitten der anderen Teilnehmer am Dreijahresretreat sicher installiert war. Doch ganz im Gegenteil war mein erstes Jahr im Retreat eines der schlimmsten meines Lebens. Alle Angstsymptome, die ich je erlebt habe, schlugen voll zu – körperliche Verspannung, zugeschnürter Hals, Schwindelgefühl und Panikattacken, die beim Praktizieren in der Gruppe ganz besonders heftig wurden. Ich hatte, in westlichen Begriffen ausgedrückt, einen Nervenzusammenbruch.
Rückblickend kann ich sagen, dass ich im Grunde etwas durchmachte, das ich gerne als einen »Nervendurchbruch« bezeichne. Von den Ablenkungen des Alltagslebens völlig abgeschnitten, blieb mir nichts anderes übrig, als mich direkt mit meinem Geist zu konfrontieren – der mir zu jenem Zeitpunkt nicht gerade eine erfreuliche Szenerie bot. Mit jeder Woche, die verging, schien diese mentale und emotionale Landschaft, die ich mir da anschaute, immer noch furchterregender zu werden. Als sich das erste Retreatjahr schließlich dem Ende zuneigte, fand ich mich vor die Entscheidung gestellt, mich entweder die nächsten zwei Jahre in meinem Zimmer zu verkriechen oder aber die volle Wahrheit der Lektionen zu akzeptieren, die ich von meinem Vater und anderen Lehrern erlernt hatte: dass es sich bei allen Problemen, die ich erlebte, immer um in meinen Geist eingeprägte Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten handelte.
Ich beschloss, dem zu folgen, was ich gelehrt worden war.
Drei Tage lang blieb ich in meinem Zimmer und meditierte, wobei ich mich vieler Techniken bediente, die später in diesem Buch beschrieben werden. Allmählich begann ich zu erkennen, wie im Grunde schwach und flüchtig die Gedanken und Emotionen waren, die mich seit Jahren geplagt hatten, und wie das Sichfixieren auf kleine Probleme dazu führte, dass aus ihnen große Probleme wurden. Indem ich einfach nur still dasaß und beobachtete, wie rasch und in vielerlei Hinsicht unlogisch meine Gedanken und Emotionen kamen und gingen, begann ich auf unmittelbare Weise zu erkennen, dass diese nicht annähernd so dauerhaft oder real waren, wie es den Anschein hatte. Und als ich erst einmal von meinem Glauben an die Geschichte, die sie mir zu erzählen schienen, abließ, begann ich den »Autor« zu sehen, der sich dahinter verbarg – das unendlich weite, grenzenlos offene Gewahrsein, das die Natur oder das Wesen des Geistes selbst ist.
Die direkte Erfahrung der Natur des Geistes auch nur versuchsweise in Worte zu fassen, ist praktisch unmöglich. Bestenfalls lässt sich sagen, dass sie unermesslich friedvoll und praktisch unerschütterlich ist, wenn sie erst einmal durch Wiederholung stabilisiert worden ist. Es ist eine Erfahrung des absoluten Wohlseins, das alle physischen, emotionalen und mentalen Zuständen durchdringt und durchstrahlt – auch jene, die man normalerweise als unangenehm bezeichnen würde. Dieses von den Wechseln und Schwankungen im äußeren und inneren Erleben unabhängige Gefühl von Wohlsein, von Wohlergehen, ist eine der Möglichkeiten, am klarsten und deutlichsten zu verstehen, was Buddhisten mit »Glück« meinen. Und ich hatte das Glück, während meiner drei in Isolation verbrachten Tage flüchtig Einsicht darin zu erlangen.
Nach diesen drei Tagen verließ ich mein Zimmer und schloss mich wieder den Praxisübungen in der Gruppe an. Es bedurfte noch etwa zwei Wochen konzentrierter Praxis, um die Angstzustände, die mich meine ganze Kindheit lang begleitet hatten, zu überwinden und durch unmittelbare Erfahrung die Wahrheit dessen zu erkennen, was ich gelehrt worden war. Von da an habe ich nie wieder auch nur eine einzige Panikattacke erlebt. Das sich aus dieser Erfahrung ergebende Gefühl von innerem Frieden, Vertrauen und Wohlbefinden – auch unter Bedingungen, die man objektiv als stressig betrachten könnte – geriet niemals ins Wanken. Ich rechne mir diese innere Umwandlung nicht persönlich an, weil sie nur dadurch zustande kam, dass ich mir die Mühe machte, die von den mir Vorausgegangenen an mich weitergereichte Wahrheit praktisch anzuwenden.
Ich war 16, als ich aus dem Retreat herauskam; und zu meiner großen Überraschung ernannte Tai Situ Rinpoche mich sogleich zum Retreatmeister des nächsten Retreats, das kurz darauf beginnen sollte. So fand ich mich binnen weniger Monate wieder im Retreathaus, wo ich Belehrungen über die vorbereitenden und fortgeschrittenen Übungspraktiken der Kagyü-Linie gab und den neuen Retreatteilnehmern Zugang zur gleichen Linie direkter Übermittlung erteilte, die ich erhalten hatte. Und obwohl ich nun der Retreatmeister war, war es aus meiner Sicht eine wunderbare Gelegenheit, insgesamt fast sieben Jahre in Folge mit intensiver Retreatpraxis zu verbringen. Und dieses Mal gab es keinen einzigen Augenblick, den ich angstvoll zusammengekauert in meinem kleinen Kämmerchen verbrachte.
Als das zweite Retreat sich seinem Ende näherte, schrieb ich mich für ein Jahr an der Klosteruniversität Dzongsar ein, die sich ziemlich in der Nähe von Sherab Ling befindet. Der Vorschlag stammte von meinem Vater, und Tai Situ Rinpoche hatte bereitwillig zugestimmt. Und so hatte ich das große Glück, unter der direkten Anleitung des Universitätsleiters – Khenchen Kunga Wangchuk, eines großen Gelehrten, der erst kürzlich aus Tibet nach Indien gekommen war – meine Ausbildung in den philosophischen und wissenschaftlichen Disziplinen des Buddhismus weiterverfolgen zu können.
Der Lehrbetrieb an einer traditionellen Klosteruniversität unterscheidet sich sehr von dem einer modernen westlichen Universität. Da wählt man nicht seine Kurse aus oder sitzt in einem netten Seminarraum oder Auditorium, hört den Professoren zu, die ihre Ansichten darlegen oder spezielle Themen abhandeln, schreibt Seminararbeiten und legt schriftliche Prüfungen ab. In einer Klosteruniversität muss man eine riesige Anzahl buddhistischer Texte studieren, und fast jeden Tag gibt es »Quizveranstaltungen«, bei denen ein Student, dessen Name aus einem Gefäß gezogen wird, spontan einen Kommentar zur Bedeutung eines bestimmten Textabschnitts abgeben muss. Unsere »Examen« bestanden manchmal aus dem Abfassen eines schriftlichen Kommentars zu den Texten, die wir studiert hatten, und manchmal aus öffentlichen Debatten, bei denen die Lehrer unversehens auf einzelne Studenten deuteten und sie aufforderten, präzise Antworten auf unvorhersehbare Fragen zu den subtilen Punkten buddhistischer Philosophie zu liefern.
Am Ende meines ersten Studienjahrs in Dzongsar unternahm Tai Situ Rinpoche eine ganze Reihe von Reisen, um überall auf der Welt Belehrungen zu geben, und betraute mich mit der Aufgabe, unter seiner Leitung die alltäglichen Klosteraktivitäten zu beaufsichtigen sowie auch die Verantwortung für die Eröffnung der Shedra (Hochschule) auf dem Klostergelände zu übernehmen und dort in der Funktion eines Assistenzlehrers zu studieren und zu arbeiten. Darüber hinaus übertrug er mir auch noch die Leitung der nächsten Dreijahresretreats in Sherab Ling. Da ich ihm so viel schuldete, zögerte ich nicht, die Verantwortung für all das zu übernehmen. Wer war ich, seine Entscheidung infrage zu stellen, wenn er mir zutraute, diese Pflichten erfüllen zu können? Und natürlich hatte ich das Glück, in einem Zeitalter zu leben, in dem ich immer auf das Telefon zählen konnte, um seine direkten Instruktionen und Anleitungen entgegenzunehmen.
So vergingen vier Jahre, in denen ich die Angelegenheiten Sherab Lings beaufsichtigte, meine Ausbildung abschloss, in der neuen Shedra von Sherab Ling Belehrungen und den im Retreat befindlichen Schülern direkte Übertragungen gab.
Gegen Ende dieser vier Jahre reiste ich nach Bhutan, um von Nyoshul Khen Rinpoche, einem Dzogchen-Meister von ganz außergewöhnlicher Einsicht, Erfahrung und Fähigkeit, die direkte Übertragung der mündlich überlieferten Unterweisungen zu erhalten, die als Trekchö und Tögal bekannt sind – was sich in etwa mit »ursprüngliche Reinheit« und »spontanes Vorhandensein« übersetzen lässt. Diese Belehrungen werden immer nur einem Schüler auf einmal gegeben, und ich war mehr als überwältigt, dass ich ausgewählt worden war, diese direkte Übertragung zu erhalten. Neben Tai Situ Rinpoche, Saljay Rinpoche und meinem Vater betrachte ich Nyoshul Khen Rinpoche als einen der in meinem Leben einflussreichsten Lehrer.
Dass mir die Gelegenheit zuteil wurde, diese Übertragungen zu erhalten, lehrte mich auch indirekt eine außerordentlich wertvolle Lektion: Das Maß, in dem wir uns dem Wohlergehen anderer widmen, wird uns tausendfach mit Gelegenheiten entgolten, zu lernen und uns weiterzuentwickeln. Jedes freundliche Wort, jedes Lächeln, das wir jemandem schenken, der vielleicht einen schlechten Tag hatte, kommt auf völlig unerwarteten Wegen zu uns zurück. Wie und warum das geschieht, ist ein Thema, das wir später erkunden werden, da die Erklärung sehr viel mit Prinzipien der Biologie und Physik zu tun hat, über die ich einiges lernte, als ich in der Welt herumzureisen und mit den Meistern der modernen Wissenschaft in direkterer Weise zu arbeiten begann.
LICHT AUS DEM WESTEN
Oder nimm die Dunkelheit, die sich
über Tausende von Zeitaltern ange
sammelt hat – ihre geballte Finsternis
wird durch eine einzige Lampe ver
trieben
Tilopa: Mahamudra Upadesa. Essenzielle
Mahamudra-Unterweisungen am Ganges
Da ich in den Jahren nach meinem ersten Retreat ziemlich ausgelastet war, hatte ich nicht viel Zeit, die dramatischen Fortschritte in der Neurowissenschaft und den Kognitionswissenschaften zu verfolgen oder die komplexen Entdeckungen im Bereich der Physik zu verdauen, die Eingang in den akademischen Mainstream gefunden hatten. 1998 aber nahm mein Leben eine unerwartete Wendung, als mein Bruder Tsoknyi Rinpoche eine geplante Reise in die USA, wo er Belehrungen geben sollte, nicht unternehmen konnte und ich an seiner Stelle geschickt wurde. Es war mein erster langer Aufenthalt im Westen. Ich war 23 Jahre alt. Als ich das Flugzeug nach New York bestieg, wusste ich es noch nicht, aber die Menschen, denen ich anschließend auf dieser Tour begegnete, sollten für viele künftige Jahre die Richtung meines Denkens beeinflussen.
Sie schenkten mir großzügig ihre Zeit, versahen mich mit Bergen von Büchern, Artikeln, DVDs und Videos und führten mich so in die Gedankenwelt der modernen Physik und in die neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der neurowissenschaftlichen, kognitiven und verhaltenswissenschaftlichen Forschung ein. Ich war so begeistert, weil die wissenschaftliche Forschung, die sich mit den Auswirkungen einer buddhistischen Schulung befasste, so unglaublich breit gefächert und detailliert geworden war – und am wichtigsten, auch verständlich für Leute wie mich, die keine im westlichen Sinn ausgebildeten Wissenschaftler sind. Und da es mit meinen Kenntnissen der englischen Sprache zu diesem Zeitpunkt noch nicht allzu weit her war, bin ich den Menschen doppelt dankbar, die sich so viel Zeit nahmen, mir diese Informationen in Begriffen zu erläutern, die ich verstand. Zum Beispiel gibt es im Tibetischen keine Äquivalente für Begriffe wie »Zelle«, »Neuron« oder »DNS« – und die verbalen Verrenkungen, die manche Leute ausführen mussten, um mir diese Dinge begreiflich zu machen, waren oft so kompliziert, dass wir am Ende fast immer Lachanfälle bekamen.
Während ich mit meinen Studien innerhalb und außerhalb des Retreats beschäftigt war, hatte mein Freund Francisco Varela in Zusammenarbeit mit dem Dalai Lama an der Organisation von Dialogen zwischen modernen Wissenschaftlern und buddhistischen Mönchen und Gelehrten gearbeitet. Aus diesen Dialogen gingen die Konferenzen des »Mind and Life«-Instituts hervor, bei denen Experten auf verschiedenen Gebieten der modernen Wissenschaft und der buddhistischen Studien zu einem Gedankenaustausch über das Wesen und die Funktion des Geistes zusammenkamen. Ich hatte das Glück, an zwei dieser Konferenzen teilnehmen zu können; an der, die im März 2000 in Dharamsala in Indien stattfand, und an einer zweiten, die 2003 in den USA am MIT in Cambridge, Massachusetts, abgehalten wurde.
Bei der Konferenz in Dharamsala lernte ich eine Menge über die biologischen Mechanismen des Geistes. Doch erst die Konferenz am MIT – die sich mit den Wechselbeziehungen zwischen den buddhistischen introspektiven Erforschungsmethoden geistiger Erfahrung und dem objektiven Ansatz der modernen Wissenschaft beschäftigte – brachte mich zum Nachdenken darüber, wie sich das, was ich in den Jahren meiner buddhistischen Schulung gelernt hatte, Menschen beibringen ließ, die nicht unbedingt mit der buddhistischen Praxis oder den komplexen Feinheiten der modernen Wissenschaft vertraut waren.
Tatsache ist, dass sich im Verlauf dieser Konferenz am MIT eine Frage abzeichnete: Was würde passieren, wenn man die buddhistischen und westlichen Methoden kombinierte? Was konnte man lernen, wenn man die Informationen von Personen, die im detaillierten, subjektiven Beschreiben ihrer Erfahrungen geschult waren, mit den objektiven Daten von Apparaten zusammenbrachte, die winzigste Veränderungsvorgänge bei den Hirnaktivitäten maßen? Welche Fakten mochten die introspektiven Methoden der buddhistischen Praxis liefern, die westliche technologische Forschungsmethoden nicht liefern können? Welche Erkenntnisse würden die objektiven Beobachtungen klinischer Forschung buddhistischen Praktizierenden wohl anbieten können?
Am Ende der Konferenz war den Teilnehmern auf buddhistischer wie auf westlich wissenschaftlicher Seite nicht nur klar, dass beide enorm profitieren würden, wenn sie eine Möglichkeit der Zusammenarbeit finden konnten, sondern dass eine solche Zusammenarbeit auch für sich genommen eine große Chance zur Verbesserung menschlicher Lebensqualität bieten würde. Eric S. Lander, Ph.D., MIT-Professor für Molekularbiologie und Direktor des Whitehead Institute am MIT Center for Genome Research, wies in seiner Schlussbemerkung darauf hin, dass bei den buddhistischen Praxismethoden die Betonung darauf liegt, dass man zu höheren oder gesteigerten Gewahrseinsebenen gelangt; dass die moderne Wissenschaft hingegen sich bislang auf die Verfeinerung von Methoden konzentrierte, mit denen man geistig kranke Menschen wieder zu einem Zustand der Normalität verhelfen kann.
»Warum hier haltmachen?«, fragte er die Zuhörerschaft. »Warum sollten wir damit zufrieden sein, sagen zu können, dass wir nicht geistig krank sind? Warum sich nicht darauf konzentrieren, dass es uns immer besser und besser geht?«
Professor Landers Fragen veranlassten mich zum Nachdenken darüber, wie man den Menschen die Möglichkeit und Gelegenheit geben könnte, die Lektionen des Buddhismus und die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft auf ihre Alltagsprobleme anzuwenden. Wie ich in meinem ersten Retreatjahr auf die harte Tour lernte, reicht das theoretische Verständnis allein schlichtweg nicht aus, um die psychischen und biologischen Gewohnheiten zu überwinden, die üblicherweise so viel Herzenspein und Schmerz im Alltagsleben erzeugen. Wenn eine wirkliche Transformation stattfinden soll, muss die Theorie in der Praxis Anwendung finden.
Ich bin den buddhistischen Lehrern zutiefst dankbar, die mir in meinen frühen Schulungsjahren so profunde philosophische Einsichten und praktische Methoden der Anwendung übermittelten. Gleichermaßen bin ich aber auch den Wissenschaftlern verpflichtet, die so großzügig Zeit und Mühe auf mich verwandt haben; dadurch wurde es mir nicht nur möglich, alles, was ich gelernt hatte, neu zu beurteilen und so umzuformulieren, dass es Westlern vielleicht ein bisschen leichter zugänglich ist; ich konnte auch durch ausgedehnte Forschungen unter Laborbedingungen die Gültigkeit der Ergebnisse buddhistischer Praxis bestätigt bekommen.
Welches Glück wir doch haben, in diesem einzigartigen Moment der Menschheitsgeschichte am Leben zu sein, in dem die Zusammenarbeit von westlichen und buddhistischen Wissenschaftlern nahe davor steht, der ganzen Menschheit die Möglichkeit zu bieten, eine Ebene des Wohlergehens zu erreichen, die wir uns noch gar nicht vorstellen können! Mit der Niederschrift dieses Buches verbindet sich die Hoffnung, dass alle, die es lesen, den praktischen Nutzen erkennen, der in der Anwendung der Lektionen dieser außergewöhnlichen Zusammenarbeit liegt, und dass sie für sich selbst das Versprechen ihres vollen menschlichen Potenzials erfüllen werden.