Unermessliches Mitgefühl für alle
fühlenden Wesen, die als Gefangene
ihrer Illusionen leiden, bricht spon-
tan hervor.
Kalu Rinpoche: Die Grundlagen
der buddhistischen Meditation
Stellen Sie sich vor, Sie verbringen Ihr Leben in einem kleinen Zimmer mit nur einem verschlossenen und so schmutzigen Fenster, dass kaum Licht durchkommt. Wahrscheinlich würden Sie die Welt für einen ziemlich düsteren und trübseligen Ort halten, voller merkwürdig gestalteter Geschöpfe, die schreckenerregende Schatten auf Ihr verdrecktes Fenster werfen, wenn sie an Ihrem Zimmer vorübergehen. Aber nehmen wir mal an, dass Sie eines Tages etwas Wasser am Fenster verspritzen oder nach einem Gewitter etwas Regenwasser hereintröpfelt und Sie es mit einem Lappen oder einem Zipfel Ihres Hemdärmels wegwischen. Und damit löst sich auch etwas von dem Schmutz, der sich auf dem Fensterglas angesammelt hatte. Plötzlich dringt ein kleiner heller Lichtstrahl durch. Neugierig reiben Sie noch etwas mehr, und je mehr Dreck Sie entfernen, desto mehr Licht strömt herein. Vielleicht ist die Welt doch gar nicht so dunkel und trübselig, denken Sie nun. Vielleicht liegt es am Fenster.
Sie gehen zur Spüle, holen mehr Wasser (und vielleicht noch einige Lappen) und reiben und rubbeln, bis das gesamte Fenster von Staub und Schmutz befreit ist. Das Licht strömt voll herein, und Sie erkennen vielleicht zum ersten Mal, dass all diese merkwürdig geformten Schatten, die Sie jedes Mal beim Vorbeikommen in Angst und Schrecken versetzten, Menschen sind – so wie Sie! Und aus der Tiefe Ihres Bewusstseins steigt der instinktive Drang empor, gesellschaftliche Bande zu knüpfen – auf die Straße hinauszugehen und einfach bei ihnen zu sein.
In Wahrheit haben Sie gar nichts verändert. Die Welt, das Licht und die Leute waren immer da. Sie konnten sie nur nicht sehen, weil Ihre Sicht verdunkelt und getrübt war. Aber jetzt sehen Sie alles, und damit ist nun für Sie alles anders geworden!
Das nennen wir in der buddhistischen Tradition das Erwachen des Mitgefühls, der uns angeborenen Fähigkeit, uns mit den Erfahrungen von anderen zu identifizieren und sie zu verstehen.
DIE BIOLOGIE DES MITGEFÜHLS
Wer großes Mitgefühl hegt, erfährt
alle Lehren des Buddha, so als würde
er sie in der Hand halten.
Dharmasamgiti-Sutra
Das buddhistische Verständnis von Mitgefühl unterscheidet sich in gewisser Hinsicht ein wenig von dem, was man gewöhnlicherweise mit diesem Wort verbindet. Mitgefühl meint für Buddhisten nicht einfach, dass einem andere Leute leid tun. Der tibetische Begriff nying-je impliziert eine unmittelbare Ausdehnung des Herzens. »Liebe« käme nying-je wahrscheinlich am nächsten – aber es handelt sich um eine Art der Liebe ohne Anhaftung und ohne die geringste Erwartung, dafür irgendetwas zurückzubekommen. Mitgefühl im tibetischen Sinn ist das spontane Gefühl des Verbundenseins mit allen Lebewesen. Was du fühlst, fühle ich; was ich fühle, fühlst du. Es gibt keinen Unterschied zwischen uns.
Biologisch gesehen sind wir darauf programmiert, auf unsere Umwelt relativ einfach so zu reagieren, dass wir Bedrohungen für unser Überleben meiden und Gelegenheiten zur Verbesserung unseres Wohlergehens ergreifen. Wir brauchen nur ein Geschichtsbuch durchzublättern, um zu sehen, dass die Entwicklungsgeschichte der Menschheit häufig eine Geschichte der Gewalt ist, die mit dem Blut der Schwächeren geschrieben wurde.
Doch scheint es so zu sein, dass uns ebendiese biologische Programmierung, die uns zur Gewalt und Grausamkeit treibt, auch mit Emotionen ausstattet, die uns nicht nur an der Aggression hindern, sondern auch zu einem Handeln bewegen können, das sich im Dienste des anderen über den persönlichen Überlebensinstinkt hinwegsetzt. Mich beeindruckte eine Bemerkung des Harvard-Professors Jerome Kagan anlässlich seines Vortrags bei der Konferenz des »Mind and Life«-Instituts von 2003. Unser Überlebensinstinkt, so sagte er, hat uns neben unserem Hang zur Aggression »mit einer sogar noch stärkeren biologischen Veranlagung zu Freundlichkeit, Mitgefühl, Liebe und Fürsorge« ausgestattet.1
Man hat mir viele Geschichten über die zahlreichen Menschen erzählt, die im Zweiten Weltkrieg ihr Leben riskierten, um von den Nazis verfolgten europäischen Juden Zuflucht zu gewähren, und über die namenlosen Helden unserer Tage, die ihr eigenes Wohlergehen hintansetzen, um überall auf der Welt den Opfern von Kriegen, Hungersnöten und Tyrannei zu helfen. Darüber hinaus sind viele meiner westlichen Schüler und Schülerinnen Eltern, die ungeheuer viel Zeit und Energie opfern, um ihre Kinder geduldig zwischen Sportveranstaltungen, musikalischen Aktivitäten und anderen Ereignissen herumzuchauffieren und jeden Cent für deren Ausbildung zu sparen.
Solche Opfer scheinen auf der persönlichen Ebene Hinweis auf eine Reihe von biologischen Faktoren zu sein, die über persönliche Ängste und Wünsche hinausreichen. Die einfache Tatsache, dass wir Gesellschaften und Zivilisationen aufzubauen vermochten, die zumindest die Notwendigkeit des Schutzes und der Fürsorge für die Armen, Schwachen und Wehrlosen anerkennen, unterstützt die Schlussfolgerung von Professor Kagan, dass »ein ethisches Empfinden ein biologisches Merkmal unserer Spezies ist«.2
Seine Bemerkungen stehen fast völlig in Einklang mit der Essenz von Buddhas Lehren: Je klarer wir die Dinge so sehen, wie sie sind, desto mehr sind wir willens und fähig, unser Herz für andere Wesen zu öffnen. Wenn wir erkennen, dass andere Schmerz und Unglück erleiden, weil sie ihre wahre Natur nicht erkennen, sind wir spontan vom tiefen Wunsch bewegt, dass sie das gleiche Gefühl von Frieden und Klarheit erfahren mögen, das wir schon kennen lernen durften.
SICH DARÜBER EINIG SEIN,
DASS MAN UNEINS IST
Bittere Samenkörner bringen
bittere Früchte hervor.
Süße Samenkörner bringen
süße Früchte hervor.
Surata Sutra
Meiner Kenntnis nach entstehen die meisten Konflikte zwischen Leuten aus einem Verkennen der Motive des anderen. Wir haben alle unsere Gründe, zu tun, was wir tun, und zu sagen, was wir sagen. Je mehr wir uns vom Mitgefühl leiten lassen – einen Moment innehalten und versuchen zu erkennen, wovon die andere Person ausgeht –, desto weniger wahrscheinlich werden wir in einen Konflikt geraten. Und sollten doch Probleme entstehen, können wir effektiver mit ihnen umgehen, wenn wir tief Atem holen und mit aufgeschlossenem Herzen zuhören – sozusagen die Wogen glätten und unsere Meinungsverschiedenheiten so lösen, dass alle zufrieden sind und niemand am Ende der »Gewinner« oder »Verlierer« ist.
Zum Beispiel habe ich einen in Indien lebenden tibetischen Freund, dessen Hausnachbar einen äußerst bösartigen Hund hat. In Indien sind die Vorgärten der Häuser von sehr hohen Mauern umgeben, in die ein Tor eingelassen ist. Und in diesem Fall lagen die beiden Eingangstore, das meines Freundes und das des Nachbarn, dicht beieinander. Jedes Mal, wenn mein Freund das Haus verließ, kam der Hund bellend, knurrend und mit gesträubtem Fell aus dem Nachbartor geschossen – eine ziemlich beängstigende Erfahrung. Und als ob das nicht schlimm genug gewesen wäre, hatte sich der Hund auch noch angewöhnt, wiederum bellend und Zähne fletschend durch das Tor in den Garten meines Freundes einzudringen und dort schreckliche Unruhe zu stiften.
Mein Freund dachte lange darüber nach, wie er den Hund für sein schlechtes Benehmen bestrafen könnte. Schließlich kam ihm der Gedanke, das Eingangstor zu seinem Garten einen winzigen Spalt zu öffnen und obenauf ein paar kleine schwere Gegenstände locker aufzuhäufen. Wenn dann der Hund das nächste Mal das Tor aufstieß, würden die Gegenstände auf ihn herabfallen und ihm eine schmerzliche Lektion erteilen, die er nicht so bald vergessen würde.
Nachdem nun mein Freund eines Samstagmorgens seine Falle aufgebaut hatte, ließ er sich an einem der vorderen Fenster nieder und wartete darauf, dass der Hund in seinen Garten kam. Die Zeit verging, doch der Hund kam nicht. Nach einer Weile nahm sich mein Freund seine täglichen Gebetstexte vor und fing an sie zu rezitieren, wobei er immer mal wieder einen Blick auf den Garten warf. Der Hund tauchte immer noch nicht auf. Mein Freund kam zu den »Vier Unermesslichen«, einem sehr alten Wunschgebet, das mit folgenden Zeilen beginnt:
Mögen alle fühlenden Wesen Glück und die Ursachen des Glücks besitzen.
Mögen alle fühlenden Wesen getrennt sein vom Leid und den Ursachen des Leids.
Mitten beim Rezitieren dieses Gebets fiel ihm plötzlich ein, dass der Hund ja ein fühlendes Wesen war und er ihm durch seine Falle absichtlich Schmerz und Leid zufügen würde. Wenn ich das hier rezitiere, dann lüge ich, dachte er. Vielleicht sollte ich mit dem Rezitieren aufhören.
Aber das fühlte sich auch nicht richtig an, da die »Vier Unermesslichen« Bestandteil seiner täglichen Praxis waren. Er fing mit dem Gebet von vorne an und bemühte sich ernsthaft, Mitgefühl mit allen Hunden zu entwickeln. Aber dann hielt er wieder inne und dachte bei sich: Nein, dieser Hund ist wirklich schlimm. Er tut mir viel an. Ich will nicht, dass er von Leiden frei ist oder Glück erlangt.
Er dachte eine Weile über dieses Problem nach, bis ihm schließlich die Lösung kam. Er konnte ja ein kleines Wort im Gebetstext ändern. Und er fing an zu rezitieren:
Mögen MANCHE fühlende Wesen Glück und die Ursachen des Glücks besitzen.
Mögen MANCHE fühlende Wesen frei sein von Leid und den Ursachen des Leids.
Er war sehr zufrieden mit dieser Lösung. Und nachdem er seine Gebete gesprochen und sein Mittagessen verspeist hatte und auch nicht mehr an den Hund dachte, beschloss er, sich zu einem Spaziergang aufzumachen, bevor der Tag zu Ende war. In seiner Eile dachte er nicht mehr an die Falle, und als er das Tor aufmachte, fielen ihm all die aufgehäuften schweren Gegenstände auf den Kopf.
Das war ein schreckliches Erwachen, um das Mindeste zu sagen.
Doch als Folge seiner Schmerzen kam meinem Freund etwas sehr Wichtiges zu Bewusstsein. Indem er irgendwelche Wesen von der Möglichkeit, Glück und Freiheit von Leiden zu erlangen, ausgeschlossen hatte, hatte er sich auch selbst davon ausgeschlossen. Nachdem er erkannt hatte, dass er selbst zum Opfer seines Mangels an Mitgefühl geworden war, beschloss er, seine Taktik zu ändern.
Als er sich am nächsten Tag zu seinem Morgenspaziergang aufmachte, nahm er ein Häppchen Tsampa mit – eine Art Gemisch aus gemahlener Gerste, Salz, Tee und Butter, das Tibeter gewöhnlich zum Frühstück essen. Sobald er aus dem Tor trat, kam der Hund wie üblich bellend und knurrend angeschossen; aber statt ihn zu beschimpfen, warf mein Freund ihm einfach das Häppchen Tsampa hin. Der Hund hielt völlig verdutzt mitten im Bellen inne, fing das Stückchen auf und begann es zu zerkauen – immer noch knurrend und mit gesträubtem Fell, aber durch den angebotenen Nahrungsbissen von seiner Attacke abgelenkt.
Dieses kleine Spiel setzte sich in den nächsten Tagen fort. Mein Freund trat aus dem Tor, der Hund kam herbeigerannt und fing mitten im Bellen das ihm zugeworfene Häppchen Tsampa auf. Nach ein paar Tagen bemerkte mein Freund, dass der Hund beim Kauen zwar noch immer knurrte, jetzt aber auch mit dem Schwanz wedelte. Am Ende der Woche stürzte der Hund nicht mehr angriffsbereit auf ihn zu, sondern kam herbeigerannt, um meinen Freund zu begrüßen und glücklich auf eine Belohnung zu warten. Schließlich gedieh die Beziehung zwischen den beiden so weit, dass der Hund friedlich in den Garten meines Freundes getrottet kam, um neben ihm in der Sonne zu sitzen, während dieser seine täglichen Gebete rezitierte. Und mein Freund konnte nun ganz unbesorgt für das Glück und die Freiheit aller fühlenden Wesen beten.
Wenn wir erkennen, dass andere fühlende Wesen – Menschen, Tiere, ja sogar auch Insekten – so sind wie wir, dass auch ihre grundlegende Motivation darin besteht, Frieden zu erfahren und Leiden zu vermeiden, dann haben wir, wenn jemand Handlungen begeht oder Dinge sagt, die unseren Wünschen entgegenstehen, eine Basis für die Einsicht: »Na gut, diese Person (oder was auch immer) nimmt diese Haltung ein, weil sie wie ich glücklich sein und Leiden vermeiden möchte. Das ist ihr Hauptgrund. Sie ist nicht darauf aus, mich fertigzumachen; sie tut nur, was sie ihrer Meinung nach tun muss.«
Mitgefühl ist die spontane Weisheit des Herzens. Es ist immer bei uns. Es war immer bei uns und wird immer bei uns sein. Steigt es in uns auf, dann haben wir einfach gelernt zu erkennen, wie stark und ungefährdet wir in Wirklichkeit sind.