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DIE GABE DER KLARHEIT

Alle Phänomene sind Ausdrucksformen des Geistes.

 

Der Dritte Gyalwang Karmapa: Song
of Karmapa: The Aspiration of the
Mahamudra of True Meaning

 

 

Obwohl wir für unser Verständnis von der grenzenlosen Natur des Geistes die Leerheit mit dem Raum vergleichen, handelt es sich doch um keine perfekte Analogie. Der Raum hat – zumindest soweit wir wissen – kein Bewusstsein. Aus buddhistischer Sicht sind jedoch Leerheit und Gewahrsein untrennbar. Man kann die Leerheit ebenso wenig vom Gewahrsein trennen, wie man die Nässe vom Wasser oder die Hitze vom Feuer trennen kann. Mit anderen Worten, unsere wahre Natur ist in ihrem Potenzial nicht nur unbegrenzt, sie ist auch von vollkommener Bewusstheit, von vollkommenem Gewahrsein.

In der buddhistischen Terminologie ist dieses spontane Gewahrsein als Klarheit oder als das klare Licht des Geistes bekannt. Der Bewusstheitsaspekt des Geistes macht es möglich, dass wir die fortwährend aus der Leerheit hervorgehende grenzenlose Vielfalt der Gedanken, Gefühle, Empfindungen und Erscheinungen erkennen und unterscheiden können. Die Klarheit ist auch dann in Aktion, wenn wir nicht bewusst aufmerksam sind; wenn wir zum Beispiel plötzlich denken, ich muss was essen, ich muss gehen, ich muss bleiben. Ohne dieses klare Licht des Geistes würden wir nicht denken, nicht fühlen, würden wir nichts wahrnehmen können. Wir wären nicht imstande, unseren eigenen Körper zu erkennen oder das Universum oder irgendetwas, das darin in Erscheinung tritt.

 

 

 

NATÜRLICHES GEWAHRSEIN

 

Geist und Erscheinungen sind wahr-
lich wie Feuer und Wärme.

 

Orgyenpa, zitiert in Karmapa:
Mahamudra – Ozean des wahren Sinnes

 

 

Meine Lehrer beschrieben dieses klare Licht des Geistes als selbst-leuchtend oder selbst-erhellend, wie eine Kerzenflamme sowohl selbst Licht als auch eine Quelle des Lichts ist. Die Klarheit ist von Anfang an Teil des Geistes, ein natürliches Gewahrsein. Man kann sie zum Beispiel nicht so entwickeln, wie man durch Körpertraining Muskeln aufbaut. Wir haben nichts weiter zu tun, als sie wahrzunehmen, einfach nur die Tatsache zu bemerken, dass wir gewahr sind. Das Problem ist natürlich, dass diese Klarheit und dieses natürliche Gewahrsein so sehr Bestandteil unserer alltäglichen Erfahrungswelt sind, dass sie sich schwer erkennen lassen. Es ist, als wollten wir versuchen unsere Augenwimpern zu sehen, ohne einen Spiegel zu Hilfe zu nehmen.

Wie kann man sie also erkennen?

Dem Buddha zufolge sollte man meditieren – aber nicht unbedingt so, wie die meisten Menschen es verstehen.

Die hier angewandte Meditationsform ist wiederum eine Art »Nichtmeditation«. Sie brauchen sich auf nichts zu fokussieren und nichts zu visualisieren. Manche meiner Schüler und Schülerinnen nennen das »Bio-Meditation – Meditation ohne Zusätze«.

Wie bei anderen Übungen, die mich mein Vater lehrte, beginnen Sie damit, dass Sie sich gerade aufgerichtet hinsetzen, normal atmen und Ihren Geist allmählich zur Ruhe kommen lassen. »Wenn euer Geist zur Ruhe gekommen ist«, so wies mein Vater uns an, die wir in seinem kleinen Unterrichtsraum in Nepal saßen, »dann werdet einfach all der Gedanken, Gefühle und Empfindungen gewahr, die ihn durchziehen. Und während ihr zuschaut, wie sie vorüberziehen, fragt euch einfach: ›Besteht ein Unterschied zwischen dem Geist und den Gedanken, die ihn durchziehen? Besteht irgendein Unterschied zwischen dem Denkenden und den Gedanken, die der Denkende wahrnimmt? ‹ Behaltet diese Fragen im Kopf, während ihr etwa drei Minuten lang eure Gedanken beobachtet, dann beendet die Übung.«

Da saßen wir also, manche zappelten herum, andere waren angespannt, aber alle konzentrierten wir uns darauf, unseren Geist zu beobachten und uns dabei zu fragen, ob es irgendeinen Unterschied zwischen den Gedanken und dem Denkenden gibt.

Da ich noch ein Kind war und die meisten anderen Schüler und Schülerinnen Erwachsene waren, dachte ich natürlich, dass sie ihre Sache sehr viel besser machten als ich. Aber während ich zusah, wie diese Gedanken über die eigene Unzulänglichkeit meinen Geist durchzogen, entsann ich mich der Anweisungen, und etwas Komisches passierte. Für nur einen Augenblick nahm ich Einsicht darin, dass diese Gedanken, nicht so gut zu sein wie die anderen Schüler, einfach nur Gedanken waren und dass diese Gedanken keine feststehenden, unveränderlichen Realitäten waren, sondern einfach nur Bewegungen des Geistes, der diese Gedanken dachte. Natürlich verflüchtigte sich diese Erkenntnis gleich wieder, kaum dass ich sie hatte, und ich fuhr fort, mich mit den anderen Schülern zu vergleichen. Aber dieser kurze Augenblick der Klarheit war nachhaltig.

Als wir geendet hatten, erklärte mein Vater, dass es bei dieser Übung darum ging, zu erkennen, dass es in Wirklichkeit keinen Unterschied gibt zwischen dem Geist, der denkt, und den Gedanken, die in ihm kommen und gehen. Der Geist selbst und die im Geist aufkommenden, verweilenden und verschwindenden Gedanken, Emotionen und Empfindungen sind alle gleichermaßen Ausdrucksformen der Leerheit – das heißt, der mit offenem Ausgang versehenen Möglichkeit, dass sich alles ereignen kann. Wenn der Geist kein »Ding« ist, sondern ein Ereignis, dann sind alle Gedanken, Gefühle und Empfindungen, die in dem auftreten, was wir als den Geist betrachten, ebenfalls Ereignisse. Und während wir in der Erfahrung zu ruhen beginnen, dass Geist und Gedanken voneinander so untrennbar sind wie die beiden Seiten einer Medaille, begreifen wir allmählich die wahre Bedeutung von der Klarheit als einem unendlich weiten Gewahrseinszustand.

Viele Leute meinen, Meditation bedeutet, dass man in einen ungewöhnlich lebendigen, intensiven Bewusstseinszustand gelangt, wie man ihn noch nie zuvor erlebt hat. Sie setzen sich selbst geistig unter Druck mit Gedanken wie: Ich muss eine höhere Bewusstseinsebene erreichen … ich sollte etwas ganz Wunderbares sehen, so was wie Regenbogenlichter oder Bilder von den reinen Bereichen … ich sollte in der Dunkelheit leuchten.

Das nennt man sich zu sehr anstrengen, und glauben Sie mir, ich hab’s gemacht so wie eine Menge anderer Leute auch, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt habe.

Vor nicht allzu langer Zeit begegnete ich jemandem, der sich zu sehr anstrengte und sich damit Probleme schuf. Ich saß im Flughafen von Delhi und wartete darauf, an Bord eines Flugzeugs gehen zu können, das mich nach Europa bringen sollte, als ein Mann auf mich zutrat und fragte, ob ich ein buddhistischer Mönch sei. Ich bejahte. Dann fragte er mich, ob ich wisse, wie man meditiert, und als ich erwiderte, dass ich es wisse, fragte er: »Wie ist Ihre Erfahrung damit?«

»Gut«, sagte ich.

»Sie finden es nicht schwierig?«

»Nein, gar nicht«, erwiderte ich.

Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Für mich ist Meditation so schwer«, erklärte er. »Nach 15 Minuten oder so wird mir schwindlig. Und wenn ich versuche, noch länger durchzuhalten, muss ich mich sogar manchmal übergeben.«

Ich sagte, dass sich das für mich so anhörte, als sei er dabei zu angespannt, und dass er vielleicht versuchen sollte, sich beim Üben mehr zu entspannen.

»Nein«, erwiderte der Mann. »Wenn ich versuche, mich zu entspannen, wird mir noch schwindliger.«

Er schien ein merkwürdiges Problem zu haben, und da er offensichtlich an dessen Lösung aufrichtig interessiert war, bat ich ihn, sich mir gegenüberzusetzen und zu meditieren, während ich ihn beobachtete. Nachdem er sich auf dem gegenüberliegenden Sitz niedergelassen hatte, versteiften sich seine Arme, Beine und seine Brust auf dramatische Weise. Seine Augen traten hervor, sein Gesicht verzog sich zu einer schrecklichen Grimasse, seine Augenbrauen rückten nach oben, und sogar seine Ohren schienen vom Kopf wegzustreben. Sein Körper war so angespannt, dass er zu zittern begann.

Ich dachte, dass mir allein schon vom Zusehen schwindlig werden könnte, und sagte: »Okay, hören Sie bitte auf.«

Er entspannte seine Muskeln, die Grimasse verschwand von seinem Gesicht, und seine Augen, Ohren und Augenbrauen kehrten in den Normalzustand zurück. Er sah mich erwartungsvoll und Rat suchend an.

»Also gut«, sagte ich. »Nun werde ich meditieren, und Sie beobachten mich, so wie ich Sie beobachtet habe.«

Ich saß auf meinem Sitz, so wie ich normalerweise sitze: Das Rückgrat gerade aufgerichtet, die Muskeln entspannt, die Hände ruhen locker im Schoß; der Blick ist ohne besondere Anstrengung noch vorne gerichtet, während mein Geist mit reinem Gewahrsein auf dem gegenwärtigen Moment ruht. Ich beobachtete, wie der Mann mich betrachtete und sein Blick von meinem Kopf bis zu meinen Zehen, von den Zehen wieder bis hinauf zum Kopf und dann vom Kopf noch einmal hinunter bis zu den Zehen wanderte. Dann kam ich einfach wieder aus der Meditation heraus und erklärte ihm, dass ich auf diese Weise meditierte.

Nach einem Augenblick nickte er langsam und sagte: »Ich glaube, ich kapiere.«

In diesem Augenblick wurde verkündet, dass wir nun an Bord unseres Flugzeugs gehen konnten. Da wir in verschiedenen Abteilungen saßen, gingen wir getrennt an Bord, und ich sah ihn während des ganzen Fluges nicht.

Nach der Landung entdeckte ich ihn wieder unter den aussteigenden Passagieren. Er winkte und kam auf mich zu. Dann sagte er: »Wissen Sie, ich habe versucht so zu üben, wie Sie es mir gezeigt haben, und ich konnte während des ganzen Fluges meditieren, ohne dass mir schwindlig wurde. Ich glaube, dass ich nun endlich verstehe, was es heißt, sich in der Meditation zu entspannen. Ich danke Ihnen so sehr!«

Es ist sicher möglich, auch einige intensive Erfahrungen zu machen, wenn Sie sich zu sehr anstrengen, aber die typischeren Resultate lassen sich in drei allgemeinen Arten der Erfahrung zusammenfassen. Die erste ist die, dass der Versuch, aller Ihnen durch den Geist sausenden Gedanken, Gefühle und Empfindungen gewahr zu sein, schlichtweg anstrengend ist und Ihr Geist infolgedessen müde oder dumpf wird. Die zweite ist die, dass der Versuch, jeden Gedanken, jede Emotion und Empfindung zu beobachten, ein Gefühl von Unruhe oder Erregung erzeugt. Die dritte ist die, dass Sie entdecken, dass Ihr Geist zur Mattscheibe wird: Alle von Ihnen beobachteten Gedanken, Emotionen, Gefühle oder Wahrnehmungen ziehen so rasch vorbei, dass sie Ihrem Gewahrsein ganz einfach entgehen. In all diesen Fällen mögen Sie verständlicherweise zum Schluss gelangen, dass die Meditation nicht die großartige Erfahrung ist, die Sie sich eigentlich vorgestellt hatten.

Tatsächlich geht es bei der Meditationspraxis im Kern darum, dass Sie alle Ihre Erwartungen in Bezug auf die Meditation aufgeben. Alle Qualitäten Ihres natürlichen Geistes – Friede, Offenheit, Entspanntheit und Klarheit – sind in Ihrem Geist, so wie er ist, vorhanden. Sie müssen nichts anderes tun. Sie müssen Ihr Gewahrsein nicht verlagern oder verändern. Sie brauchen, während Sie Ihren Geist beobachten, nur die Qualitäten zu erkennen, die er bereits hat.

 

 

 

DIE DUNKELHEIT ERHELLEN

 

Du kannst einen hell erleuchteten
und einen schattigen Bereich nicht genau
voneinander trennen, sie liegen so eng
beieinander.

 

Tulku Urgyen Rinpoche: As It Is, Band 1

 

 

 

Die Klarheit des Geistes verstehen zu lernen, ist ein allmählicher Prozess, so wie es auch das Entwickeln der Bewusstheit oder des Gewahrseins der Leere ist. Zunächst kapieren Sie den Hauptpunkt, werden langsam vertrauter damit und üben sich dann einfach weiter in der Erkenntnis. In manchen Texten findet sich für diese langsame Gangart des Erkenntnisprozesses der Vergleich mit einer alten Kuh beim Wasserlassen – eine hübsche, bodenständige Beschreibung, die uns davon abhält, ihn für etwas schrecklich Schwieriges oder Abstraktes zu halten. Wenn Sie aber kein tibetischer Nomade oder nicht zufällig auf einem Bauernhof groß geworden sind, leuchtet Ihnen dieser Vergleich vielleicht nicht unmittelbar ein, weshalb ich ihn erläutern möchte. Eine alte Kuh pinkelt nicht mit einem explosiven, kraftvollen Strahl, sondern im gemächlichen, stetigen Fluss. Es kommt zu Anfang vielleicht nicht gleich so viel heraus, und es ist auch nicht so rasch beendet. Vielleicht läuft sie sogar unterdessen ein paar Meter und setzt ihr Grasen fort. Aber wenn es dann vorbei ist – was für eine Erleichterung!

Wie die Leere lässt sich auch die wahre Natur der Klarheit unmöglich vollständig definieren, ohne sie dabei in eine Art Konzept umzuwandeln, das Sie in einer mentalen Schublade ablegen können mit dem Gedanken: Okay, ich hab’s, mein Geist ist klar, und was jetzt? Die Klarheit in ihrer reinen Form muss erfahren werden. Und wenn Sie sie erfahren, dann gibt es kein »Und was jetzt?«. Sie kapieren einfach.

Wenn Sie bedenken, wie schwer sich etwas beschreiben lässt, das sich im Wesentlichen jeder Beschreibung entzieht, können Sie wahrscheinlich bis zu einem gewissen Grad die Herausforderung nachvollziehen, vor der der Buddha gestanden haben muss, als er seinen Schülern die Natur des Geistes zu erklären versuchte. Diese waren zweifellos Leute wie wir; sie hielten Ausschau nach klaren, eindeutigen Definitionen, die sie intellektuell einordnen konnten, was sie dann für den Moment mit Stolz darüber erfüllte, dass sie klüger und sensibler waren als der Rest der Welt.

Um diese Falle zu vermeiden, entschied sich der Buddha dafür, das Unbeschreibliche mithilfe von Metaphern und Geschichten zu beschreiben, wie wir bereits wissen. Und um uns eine Möglichkeit zu geben, die Klarheit in Begriffen unseres Alltagslebens zu verstehen, bediente er sich derselben Analogie, die er auch zur Beschreibung der Leere benutzte, der des Traumes.

Er bat uns, uns die absolute Dunkelheit des Schlafes vorzustellen: Unsere Augen sind geschlossen, die Vorhänge zugezogen, wir sinken in einen Geisteszustand des totalen Nichts. Doch in dieser Dunkelheit, so erklärte er, beginnen allmählich Formen und Erfahrungen in Erscheinung zu treten. Wir begegnen Menschen  – manche sind uns vertraut, andere sind Fremde. Wir finden uns an bekannten Orten wieder oder an Orten, die wir uns eben gerade vorgestellt haben. Die Ereignisse, die wir erleben, können ein Widerhall von Dingen sein, die wir im Wachzustand erlebten, oder auch völlig neue Dinge, die wir uns noch nie zuvor vorgestellt haben. In unseren Träumen sind alle Erfahrungen möglich, und das Licht, das die verschiedenen Leute, Orte und Ereignisse in der Dunkelheit des Schlafes erhellt und unterscheidbar macht, ist ein Aspekt der reinen Klarheit des Geistes.

Der Hauptunterschied zwischen dem Traumbeispiel und der wirklichen Klarheit besteht darin, dass die meisten von uns beim Träumen immer noch einen Unterschied machen zwischen dem Ich und den anderen, den Orten und den erlebten Ereignissen. Wenn wir die Klarheit wirklich erfahren, nehmen wir keinen solchen Unterschied mehr wahr. Der natürliche Geist ist unteilbar. Es ist nicht so, als würde ich die Klarheit hier und Sie die Klarheit dort drüben erfahren. Die Klarheit ist wie die Leere unendlich: Sie hat keine Grenzen, keinen Anfang und kein Ende. Je weiter und tiefer wir in der Untersuchung unseres Geistes vordringen, desto weniger wird es möglich, eine klare Unterscheidung zu treffen, wo unser Geist endet und der Geist der anderen anfängt.

Wenn dieser Vorgang allmählich einsetzt, weicht das Gefühl vom Unterschied zwischen dem »Ich« und dem »anderen« einem sanfteren, fließenderen Identifikationsgefühl mit anderen Wesen und unserer Umwelt. Und durch dieses neue Identifikationsgefühl erkennen wir allmählich, dass die Welt vielleicht doch kein so furchterregender Ort ist: Die Feinde sind gar keine Feinde, sondern Leute wie wir, die sich nach Glück sehnen und nach bestem Wissen und Können danach trachten. Und wir begreifen, dass alle über das Einsichtsvermögen, die Weisheit und das Verständnis verfügen, um über augenscheinliche Unterschiede hinauszusehen und Lösungen zu finden, die nicht nur uns selbst, sondern allen Wesen um uns herum zum Wohl gereichen.

 

 

 

ERSCHEINUNG UND ILLUSION

 

Sieht man das Bedeutungsvolle als be-
deutungsvoll und das Bedeutungslose
als bedeutungslos, dann ist man zu
wahrem Verstehen fähig.

 

Dhammapada

 

 

 

Doch der Geist ist wie ein Magier auf der Bühne. Er kann uns Dinge sehen lassen, die gar nicht wirklich da sind. Die meisten von uns sind ganz gefesselt von den Illusionen, die unser Geist erzeugt, und wir ermuntern uns geradezu zu immer noch haarsträubenderen Fantasien. Mit ihrer Dramatik werden diese zur Sucht und erzeugen das, was manche meiner Schüler einen »Adrenalinstoß« oder ein »High« nennen, durch das wir oder unsere Probleme uns überlebensgroß erscheinen – auch wenn die Situation, wodurch dies entsteht, beängstigend sein mag.

So wie wir dem Trick des Magiers Beifall spenden, wenn er ein Kaninchen aus dem Hut zieht, schauen wir uns auch Horrorfilme an, lesen Krimis, lassen uns auf schwierige Beziehungen ein und streiten uns mit unseren Chefs und Mitarbeitern herum. Wir genießen auf seltsame Art die mit solchen Erfahrungen verbundene Spannung – was vielleicht mit der ältesten Schicht unseres Gehirns zu tun hat, mit dem Reptiliengehirn. Indem sie unsere Empfindung von einem »Ich« verstärken, das gegen die »anderen« antritt, bestätigen sie unser Selbstgefühl, das, wie wir im vorhergehenden Kapitel sahen, selbst nur eine Erscheinung ohne inhärente Wirklichkeit ist.

Einige Kognitionspsychologen, mit denen ich gesprochen habe, verglichen den menschlichen Geist mit einem Filmprojektor. So wie der Projektor Bilder auf eine Leinwand wirft, projiziert der Geist Sinnesphänomene auf eine bestimmte Art von Kognitionsleinwand – einen Kontext, den wir für die »Außenwelt« halten –, während er Gedanken, Gefühle und Empfindungen auf eine andere Art von Leinwand oder Kontext projiziert, den wir unsere Innenwelt oder unser »Ich« nennen.

Das kommt einer buddhistischen Sicht auf die absolute und relative Wirklichkeit nahe. Die absolute Wirklichkeit ist die Leere, ein Zustand, in dem Wahrnehmungen intuitiv als ein unendlicher und vergänglicher Fluss von möglichen Erfahrungen erkannt werden. Wenn wir Wahrnehmungen als bloße flüchtige, durch Umstände bedingte Ereignisse zu erkennen beginnen, lasten sie nicht mehr so schwer auf uns, und die ganze dualistische Struktur vom »Ich« und »anderen« beginnt sich aufzulösen. Die relative Wirklichkeit ist die Summe der Erfahrungen, die aus der irrtümlichen Vorstellung entstehen, dass alles, was wir wahrnehmen, für sich und aus sich selbst heraus Wirklichkeit besitzt.

Doch die Gewohnheit zu denken, dass die Dinge »da draußen« in der Welt oder »hier drinnen« existieren, lässt sich nur schwer aufgeben. Es bedeutet, dass wir von allen uns lieben Illusionen Abstand nehmen und erkennen, dass alles, was wir projizieren, alles, was wir für das »andere« halten, in Wirklichkeit ein spontaner Ausdruck unseres eigenen Geistes ist. Es bedeutet, von unseren Vorstellungen über die Wirklichkeit Abschied zu nehmen und stattdessen den Fluss der Wirklichkeit so zu erfahren, wie er ist. Doch dabei müssen wir uns von unseren Wahrnehmungen nicht völlig lösen. Wir brauchen uns nicht in die Einsamkeit einer Höhle oder einer Hütte in den Bergen zurückzuziehen. Wir können unsere Wahrnehmungen genießen, ohne uns aktiv auf sie einzulassen; wir können sie so betrachten, wie wir Objekte, die wir in einem Traum wahrnehmen, betrachten. Ja, wir können lernen, die Vielfalt der sich uns präsentierenden Erfahrungen zu bestaunen und zu bewundern.

Dadurch, dass wir den Unterschied zwischen Erscheinung und Illusion erkennen, können wir uns auch das Eingeständnis erlauben, dass manche unserer Wahrnehmungen falsch oder von Vorurteilen bestimmt sein könnten und dass unsere Vorstellungen davon, wie die Dinge sein sollten, sich bis zu einem solchen Grad verhärtet haben könnten, dass wir nur noch unseren eigenen Standpunkt sehen. Als ich die Leerheit und Klarheit meines Geistes zu erkennen begann, wurde mein Leben viel reicher und intensiver. Als ich erst einmal meine Vorstellungen davon, wie die Dinge sein sollten, abgestreift hatte, war ich frei, auf meine Erfahrungen als genau das, was sie im Hier und Jetzt sind und was ich im Hier und Jetzt bin, zu reagieren.

 

 

 

DIE EINHEIT VON KLARHEIT UND LEERE

 

Unsere wahre Natur verfügt über un
erschöpfliche Eigenschaf ten.

 

Maitreya: Mahayana Uttaratantra Shastra

 

 

Es heißt, dass der Buddha 84 000 Methoden lehrte, um den Menschen auf verschiedenen Verständnisebenen zu helfen, die Macht und Kraft des Geistes zu erkennen. Ich habe sie nicht alle studiert, kann also nicht beschwören, dass diese Zahl genau stimmt. Vielleicht hat er auch 83 999 oder 84 001 Methoden gelehrt. Die Essenz seiner Unterweisungen lässt sich jedoch auf einen einzigen Satz reduzieren: Der Geist ist die Quelle aller Erfahrung, und indem wir die Ausrichtung des Geistes ändern, können wir die Qualität all dessen, was wir erfahren und wahrnehmen, verändern. Wenn wir unseren Geist transformieren, wird auch alles, was wir erfahren, transformiert. Das ist so, als würden wir zum Beispiel eine Brille mit gelb getönten Gläsern aufsetzen: Plötzlich ist alles, was wir sehen, gelb. Setzen wir eine Brille mit grün getönten Gläsern auf, ist alles, was wir sehen, grün.

So gesehen kann Klarheit als der kreative Aspekt des Geistes verstanden werden. Alles, was wir wahrnehmen, nehmen wir durch die Kraft unseres Gewahrseins wahr. Die kreative Fähigkeit unseres Geistes ist wahrhaft grenzenlos. Dieser kreative Aspekt ist die natürliche Konsequenz der Einheit von Klarheit und Leere. Im Tibetischen ist dies als magagpa oder »Ungehindertheit« bekannt. Magagpa wird auch manchmal mit »Kraft« oder »Fähigkeit« übersetzt, aber die Bedeutung ist die gleiche: die Freiheit des Geistes, alles zu erfahren, was es auch sei.

In dem Maße, wie Sie die wahre Kraft Ihres Geistes wahrnehmen und anerkennen können, können Sie auch allmählich mehr Kontrolle über Ihre Erfahrungen ausüben. Schmerz, Traurigkeit, Angst, Sorge und all die anderen Formen von Leiden behindern Ihr Leben nicht mehr so gewaltig wie vordem. Erfahrungen, die einst Hindernisse zu sein schienen, werden nun zu Gelegenheiten, um Ihr Verständnis von der ungehinderten Natur des Geistes zu vertiefen.

Wir alle erfahren im Verlauf unseres Lebens vielerlei Schmerzen und Freuden. Die meisten dieser Empfindungen scheinen eine Art körperliche Grundlage zu haben. Eine Massage, ein gutes Essen, ein warmes Bad werden gewöhnlich als körperlich angenehme Erfahrungen empfunden. Sich die Finger zu verbrennen, eine Spritze zu bekommen oder an einem heißen Tag in einem Auto ohne Klimaanlage im Stau festzusitzen, gelten als körperlich unangenehm. Doch ob Sie diese Dinge nun als schmerzlich oder angenehm erleben, hängt tatsächlich nicht von den eigentlichen körperlichen Empfindungen ab, sondern davon, wie Sie sie wahrnehmen.

Manche Leute können zum Beispiel überhaupt keine Hitze oder Kälte ertragen. Sie sagen, sie würden sterben, wenn sie an einem heißen Tag nach draußen gehen müssten. Sie würden sich extrem unwohl fühlen, wenn sie auch nur ein paar Tropfen Schweiß vergössen. Im Winter können sie es nicht ertragen, wenn auch nur ein paar Schneeflocken auf ihrem Kopf landen. Aber wenn ihnen der Arzt ihres Vertrauens sagt, dass ein täglicher zehnminütiger Saunaaufenthalt ihre körperliche Verfassung sehr verbessern würde, folgen sie häufig seinem Rat und geben sich freiwillig einer Erfahrung hin, ja bezahlen sogar noch dafür, die sie ehedem keinesfalls ertragen hätten. Dann sitzen sie in der Sauna und denken: Wie schön, ich schwitze! Das ist wirklich gut! Das machen sie, weil sie sich erlaubt haben, in ihrer mentalen Wahrnehmung von Hitze und Schweiß eine Änderung vorzunehmen. Hitze und Schweiß sind einfach Phänomene, denen sie nun andere Bedeutungen zugeschrieben haben. Und wenn ihnen der Arzt weiterhin erzählt, dass eine kalte Dusche nach der Sauna ihren Kreislauf wunderbar in Schwung bringt, werden sie auch lernen, die Kälte hinzunehmen, ja sie sogar schließlich erfrischend finden.

Psychologen bezeichnen eine solche Art von Transformation oft als »kognitive Umstrukturierung«. Indem man einer Erfahrung mit Intention begegnet und ihr Aufmerksamkeit widmet, kann man den schmerzvollen oder unerträglichen Kontext der Bedeutung einer Erfahrung in einen erträglichen oder angenehmen Kontext umwandeln. Mit der Zeit stellt diese kognitive Umstrukturierung neue neuronale Verbindungen im Gehirn her, vor allem im limbischen System, wo die meisten Empfindungen von Schmerz und Lust erkannt und verarbeitet werden.

Wenn unsere Wahrnehmungen tatsächlich durch vergangene Erfahrungen und gegenwärtige Erwartungen konditionierte mentale Konstrukte sind, dann werden die Objekte unserer Aufmerksamkeit und das Wie unseres Wahrnehmens zu wichtigen Faktoren bei der Bestimmung unserer Erfahrung. Und je stärker wir glauben, dass etwas wahr ist, desto wahrscheinlicher wird es in unserer Erfahrungswelt wahr werden. Wenn wir also glauben, dass wir schwach, dumm oder inkompetent sind, werden wir uns als schwach, dumm oder inkompetent erleben, ganz gleich, welche Qualitäten wir in Wirklichkeit haben und wie anders uns unsere Freunde und Mitarbeiter sehen mögen.

Was passiert, wenn Sie anfangen, Ihre Erfahrungen als Ihre eigenen Projektionen zu erkennen? Was passiert, wenn Sie anfangen, Ihre Angst vor den Menschen in Ihrem Umfeld und vor den Umständen, die Sie bisher als Bedrohung empfanden, zu verlieren? Nun, aus einer Warte gesehen – nichts. Aus einer anderen Warte gesehen – alles.