16

EIN INSIDE-JOB

Erleuchtung ist nur auf diesem einen
Weg möglich – aus dem Innern.

 

Der Zwölfte Tai Situ Rinpoche:
»A Commentary on the Aspiration Prayer
of Mahamudra, the Definitive Meaning«,
in Shenpen Ösel 2, Nr. 1 (März 1998)

 

 

Zu den großartigen Chancen meiner Lehrtätigkeit überall auf der Welt gehört die Möglichkeit, aus verschiedenen Sprachen dies und jenes aufzuschnappen. Es gibt da im Amerikanischen einen Ausdruck, der mir ausnehmend gut gefällt: der Inside-Job. Er bezieht sich auf eine bestimmte Art von Verbrechen, das in einer Firma von Angestellten dieser Firma begangen wird. Im Allgemeinen fühlen sich die beteiligten Personen sicher, weil sie über die firmeninternen Maßnahmen zur Verhinderung von Verbrechen alles zu wissen glauben. Allerdings stellt sich oft heraus, dass sie doch nicht alles wissen, und ihre Unternehmungen verraten sie schließlich.

Wenn wir uns von unseren geistigen Hemmnissen beherrschen lassen, ist das gewissermaßen ein »Inside-Job«. Der Schmerz, den wir empfinden, wenn wir etwas verlieren, an dem wir hängen, oder wenn wir mit etwas konfrontiert sind, das wir lieber vermieden hätten, resultiert direkt daraus, dass wir nicht alles wissen, was wir über unseren Geist wissen könnten oder sollten. Wir werden von unserer eigenen Unwissenheit eingeholt. Und wenn wir versuchen, uns mittels irgendwelcher äußeren Maßnahmen zu befreien – die einfach Widerspiegelungen jener dualistischen Ignoranz sind, die uns überhaupt erst in Schwierigkeiten geraten ließ –, dann führt das nur dazu, dass uns unser Gefängnis noch enger und fester umschließt.

Alles, was ich über die biologischen Prozesse des Denkens und Wahrnehmens gelernt habe, deutet darauf hin, dass es nur eine Möglichkeit gibt, sich aus diesem Gefängnis des Schmerzes zu befreien: Wir müssen dieselbe Art von Aktivität durchführen, die uns überhaupt da hineingebracht hat. Solange wir den Frieden nicht erkennen, der unserem Geist natürlich innewohnt, können wir nie dauerhafte Befriedigung in äußeren Objekten oder Aktivitäten finden.

Mit anderen Worten, Glücklichsein und Unglücklichsein sind beides »Inside-Jobs«.

 

 

 

ÜBERLEBEN ODER GEDEIHEN:
DAS IST HIER DIE FRAGE

 

Aus dem Heilsamen entstehen alle
Geisteszustände des Glücks.

 

Gampopa: Der kostbare Schmuck der Befreiung

 

 

Mir wurde schon im Kindesalter beigebracht, dass es zwei Arten von Glück gibt: das vergängliche und das dauerhafte Glück. Das vergängliche Glück ist wie Aspirin für den Geist, es verhilft zu ein paar Stunden Befreiung vom emotionalen Schmerz. Dauerhaftes Glück entsteht daraus, dass man die dem Leiden zugrunde liegenden Ursachen behandelt. Der Unterschied zwischen vergänglichem und dauerhaftem Glück ähnelt in vieler Hinsicht dem in Teil I besprochenen Unterschied zwischen emotionalen Zuständen und Eigenschaften oder Wesensmerkmalen. Genetisch gesehen, scheint der Mensch darauf programmiert zu sein, nach vergänglichen Glückszuständen statt nach dauerhaften Eigenschaften zu streben. Essen, Trinken, Sichlieben und andere Aktivitäten setzen Hormone frei, die physische und psychische Empfindungen des Wohlbefindens erzeugen. Auf das Überleben abzielende Aktivitäten spielen beim Freisetzen dieser Hormone eine wichtige Rolle, indem sie sicherstellen, dass wir als Individuen überleben und dass unsere Gene an künftige Generationen weitergegeben werden.

Jedoch ist die vergängliche Natur des Vergnügens, das wir bei solchen Aktivitäten empfinden, genetisch vorprogrammiert, wie man mir erklärte. Wenn Essen, Trinken, Sex und so weiter dauerhafte Empfindungen von Glück erzeugen könnten, würden wir alle diese Dinge nur ein Mal tun und uns dann zufrieden zurücklehnen, während sich andere den Aufgaben widmen, die mit dem Fortdauern der Spezies einhergehen. Strikt biologisch gesprochen, drängt uns der Überlebenstrieb stärker zum Unglücklichsein als zum Glücklichsein.

Das ist die schlechte Nachricht.

Die gute Nachricht ist, dass ein biologisches »Kuriosum« in der Struktur unseres Gehirns uns dazu befähigt, uns über viele unserer genetisch bedingten Neigungen hinwegzusetzen. Statt zwanghaft immer dieselben Aktivitäten zu wiederholen, um noch einmal einen vorübergehenden Glückszustand zu erleben, können wir uns tatsächlich darauf trainieren, dass wir eine dauerhaftere Erfahrung von innerem Frieden und Zufriedenheit erkennen, akzeptieren und darin ruhen. Dieses Kuriosum ist genau genommen der hochentwickelte Neokortex, der Bereich des Gehirns, der sich mit dem logischen und begrifflichen Denken und Erfassen beschäftigt.

Einen großen, komplex entwickelten Neokortex zu besitzen, hat natürlich auch seine Nachteile. Eine Menge Leute verstricken sich dermaßen im ewigen Abwägen des Für und Wider von allem, angefangen beim Beenden einer Beziehung bis hin zum richtigen Zeitpunkt, um in den Supermarkt zu gehen, dass sie nie zu einer Entscheidung gelangen. Aber die Fähigkeit, unter verschiedenen Optionen auswählen zu können, ist ein so unglaublicher Vorteil, dass er irgendwelche Nachteile bei Weitem aufwiegt.

 

 

 

DAS GEHIRN DIRIGIEREN

 

Das Feuerholz selbst ist nicht das Feuer.

 

Nagarjuna: Die Philosophie der Leere

 

 

Heutzutage wissen die meisten Leute, dass das Gehirn in zwei Hälften, die linke und die rechte, unterteilt ist. Jede Hälfte ist mehr oder weniger ein Spiegelbild der anderen und weist ihren jeweils eigenen Mandelkern, Hippocampus und einen großen Stirnlappen auf, der einen Großteil der rationalen Prozesse des Neokortex handhabt. Ich habe Leute beiläufig davon reden hören, dass sie mehr von der »linken« oder aber von der »rechten Gehirnhälfte« gesteuert sind. Damit ist einer gängigen Vorstellung zufolge gemeint, dass Menschen, bei denen die linke Gehirnhälfte aktiver ist, eher einen Hang zum Analytischen oder Intellektuellen haben, und Menschen, bei denen die rechte Gehirnhälfte aktiver ist, mehr zum Kreativen oder Künstlerischen neigen. Ich weiß nicht, ob das stimmt oder nicht. Ich habe aber gelernt, dass in den letzten paar Jahren durchgeführte Forschungen darauf hinweisen, dass beim Menschen und bei anderen hochentwickelten Wesen (wie etwa bei unserem Freund, dem verrückten Affen) die beiden Stirnlappen unterschiedliche Rollen beim Ausbilden und Erleben von Emotionen spielen.

Professor Richard Davidson präsentierte bei der »Mind and Life«-Konferenz 2001 in Dharamsala die Ergebnisse einer Studie, bei der man im »Waisman Laboratory for Brain Imaging and Behavior« in Madison, Wisconsin, Versuchspersonen Bilder vorgelegt hatte, die positive oder negative Emotionen auslösen sollten. Zum Beispiel das Bild von einer Mutter, die ihr Baby zärtlich an sich drückt, oder Bilder von Menschen, die Opfer von Verkehrsunfällen oder Verbrennungen waren. Dieses Experiment wurde im Laufe von zwei Monaten dreimal mit denselben Versuchspersonen durchgeführt, dazwischen lagen also jeweils mehrere Wochen. Die Ergebnisse zeigten ganz eindeutig eine gesteigerte Aktivität im linksseitigen Stirnlappenbereich der Versuchspersonen, wenn Bilder gezeigt wurden, die normalerweise mit positiven Emotionen wie Freude, Zärtlichkeit und Mitgefühl assoziiert werden. Bei Bildern, die negative Emotionen wie Angst, Ärger und Abscheu auslösten, wurde eine gesteigerte Aktivität im rechtsseitigen Bereich des Stirnlappens beobachtet.1

Mit anderen Worten, es deutet sehr viel darauf hin, dass positive Emotionen wie Glück, Mitgefühl, Neugier und Freude mit Aktivitäten im linksseitigen Bereich des Stirnlappens verknüpft sind, während negative Emotionen wie Wut, Angst, Eifersucht und Hass im rechtsseitigen Bereich des Stirnlappens erzeugt werden. Dass man diesen Zusammenhang erkannt hat, bedeutet einen großen Fortschritt im Verständnis der biologischen Grundlagen für das Glücklich- und Unglücklichsein und wird langfristig gesehen vielleicht eine Basis für die Entwicklung einer praktisch anwendbaren Wissenschaft vom Glück liefern. Für den Moment aber bietet es einen wichtigen Schlüssel, um die Ergebnisse der Studien verstehen zu können, mit deren Durchführung Professor Davidson und Professor Antoine Lutz dann später beginnen sollten. An diesen waren Personen beteiligt, die verschiedene Schulungsebenen der Meditation durchlaufen hatten, sowie Personen, die überhaupt keine Erfahrung mit Meditation hatten.

Die erste dieser Studien, die mir als »Pilotstudie« beschrieben wurde – das heißt, als eine Art Testprojekt, um den Wissenschaftlern bei der Entwicklung von klinischen Forschungsprojekten zu helfen, die dann anhand von spezifischeren Kriterien und Kontrollmechanismen durchgeführt werden sollten –, ging 2001 vonstatten. Testperson bei dieser Pilotstudie war ein Mönch, der sich über 30 Jahre lang unter der Anleitung einiger der größten Meister des tibetischen Buddhismus geschult hatte. Wichtig ist anzumerken, dass die Ergebnisse dieser Studie noch nicht als beweiskräftig angesehen werden können. Erstens braucht es natürlich einige Zeit, die Ergebnisse dieser Studie zu sichten und auszuwerten und einige unvorhergesehene technische Fragen zu klären. Zweitens hilft die Auswertung der Studienergebnisse den Wissenschaftlern, zwischen Informationen zu unterscheiden, die für die Forschungsstudien möglicherweise relevant sind und anderen, die eventuell irrelevant sind. Drittens gibt es in den Fällen, in denen man mit tibetischen Mönchen arbeitet, gewisse Sprachprobleme, die die klare Verständigung zwischen Testperson und Forschern oftmals beeinträchtigen. Und schließlich stößt man bei den Mönchen noch auf die bereits am Ende von Teil II erwähnte, auf das Samaya gegründete Zurückhaltung, wonach sie nur mit einem qualifizierten Lehrer und sonst niemandem über die Details ihrer Erfahrungen sprechen.

Die in Madison durchgeführte Pilotstudie zielte darauf ab, schlüssig herauszufinden, ob die Techniken der mentalen Disziplin, die die Versuchsperson in drei Jahrzehnten der Schulung erlernt hatte, objektiv messbare Veränderungen der Aktivität in verschiedenen Gehirnarealen bewirken konnten. Für die Zwecke dieses Experiments wurde der Mönch gebeten, verschiedene Meditationspraktiken auszuführen. Zu ihnen gehörten ruhiges Verweilen auf einem bestimmten Objekt, das Erzeugen von Bodhicitta und objektlose Shiné-Meditation. (Letztere bezeichnete der beteiligte Mönch als »offenen Zustand«, was ein einfaches Ruhen in der offenen Gegenwart des Geistes ohne Fokussierung auf ein bestimmtes Objekt meint.) Er wechselte zwischen einem 60 Sekunden lang anhaltenden neutralen Zustand und einer 60 Sekunden lang anhaltenden spezifischen Meditationspraxis hin und her.

Bei dieser Pilotstudie wurde das Gehirn des Mönches erst in einem funktionellen Magnetresonanztomographen gescannt, und dann folgten zwei Runden von EEG-Untersuchungen. Bei der ersten verwendete man 128 Sensoren und bei der zweiten sogar 256 Sensoren, weitaus mehr, als normalerweise in den Krankenhäusern verwendet werden, wo man nur die oberste Schicht des Gehirns abtastet. Die Fotos von diesen EEG-Experimenten, die ich sah, wirkten ausgesprochen lustig. Es sah aus, als seien Hunderte von Schlangen am Schädel des Mönches befestigt worden! Aber die von all diesen Schlangen gesammelten Informationen lieferten, als sie von den speziell hierfür entwickelten Computerprogrammen analysiert worden waren, eine Landkarte von den Aktivitäten in Regionen tief im Innern seines Gehirns.2

Obwohl die Computer Monate brauchten, um all die komplizierten Daten, die die verschiedenen Hirn-Scans geliefert hatten, zu analysieren, zeigten erste vorläufige Auswertungen, dass in ausgedehnten Netzwerken des Gehirns Veränderungen stattfanden, die zumindest auf eine Korrespondenz zwischen den Veränderungen in seiner Gehirnaktivität und den jeweils von ihm praktizierten Meditationstechniken schließen ließen. Im Gegensatz dazu verwiesen Scans, die bei Versuchspersonen ohne Meditationstraining vorgenommen wurden, auf eine etwas begrenztere Fähigkeit, ihre Gehirnaktivität während der Durchführung einer mentalen Aufgabe willentlich zu steuern.

Als ich kürzlich bei einem Aufenthalt in England über dieses Experiment sprach, erzählten mir mehrere Leute, dass Wissenschaftler am University College London mithilfe der MRI-Technologie (Kernspintomografie) einen Test mit Londoner Taxifahrern durchgeführt hatten. Londoner Taxifahrer müssen sich einer zwei bis vier Jahre dauernden Ausbildung unterziehen, die als »the Knowledge« bekannt ist, um das Navigieren im komplizierten Straßennetz dieser Stadt zu erlernen. Der Test zeigte bei ihnen eine signifikante Vergrößerung in der Hippocampusregion des Gehirns, einem Areal, das normalerweise mit dem räumlichen Gedächtnis assoziiert wird. Ganz einfach gesagt, bestätigt diese Studie die Vermutung, dass eine wiederholte Erfahrung die Struktur und Funktion des Gehirns tatsächlich verändern kann.

Die Fähigkeit, Gefühle und Empfindungen anderer erkennen zu können, ist spezifisch Säugetieren zu eigen, die mit dem limbischen System ausgestattet sind3 – eine Fähigkeit, die zweifellos manchmal mehr Probleme als Nutzen mit sich bringt. Wäre es nicht schön, wenn wir ganz einfach auf jede Situation schwarz-weiß reagieren könnten: töten oder getötet werden, fressen oder gefressen werden? Aber was für ein unglaublicher Verlust diese einfache Reaktion für die Existenz bedeuten würde!

Das limbische System unseres Gehirns gewährt uns die Fähigkeit, Liebe zu empfinden und zu spüren, dass wir geliebt werden. Es gestattet uns, Freundschaft zu erfahren und die grundlegenden Strukturen der Gesellschaft zu bilden, die uns ein größeres Maß an Sicherheit und Überlebenschancen bieten. Und das wiederum hilft sicherzustellen, dass unsere Kinder und Kindeskinder wachsen und gedeihen können. Das limbische System stattet uns mit der Fähigkeit aus, die subtilen Gefühle und Emotionen zu erzeugen und wertzuschätzen, die durch die Malerei, die Dichtung und die Musik hervorgerufen werden. Sicher, diese Fähigkeiten sind komplex und umständlich. Aber fragen Sie sich doch, wenn Sie das nächste Mal eine Ameise oder Küchenschabe über den Boden krabbeln sehen, ob Sie Ihr Leben unter den Bedingungen so simpler Dimensionen wie Angst oder Flucht leben möchten oder lieber mit den komplexeren und subtileren Gefühlen und Emotionen der Liebe, Freundschaft, des Verlangens und der Wertschätzung von Schönheit?

An der Entwicklung von Güte und Mitgefühl sind zwei unterschiedliche, wenngleich miteinander verbundene Funktionen des limbischen Systems beteiligt. Die erste besteht in dem, was Neurowissenschaftler als limbische Resonanz4 bezeichnet haben: die Fähigkeit, über den mimischen Ausdruck, Pheromone und körperliche oder muskuläre Haltungen den emotionalen Zustand anderer von Gehirn zu Gehirn zu erkennen. Es ist erstaunlich, wie rasch das limbische System diese subtilen Zeichen verarbeiten kann, sodass wir nicht nur den emotionalen Zustand anderer erkennen, sondern auch unsere eigenen körperlichen Reaktionen entsprechend darauf abstimmen können. Haben wir uns beim Beobachten unseres Geistes nicht darin geschult, die Aufmerksamkeit auf die Veränderungen und Verschiebungen zu richten, ereignet sich der Prozess der limbischen Resonanz in den meisten Fällen unbewusst. Dieses unmittelbare Anpassungsvermögen demonstriert ganz wunderbar die Beweglichkeit und Flexibilität des Gehirns.

Die zweite Funktion wird als limbische Umordnung bezeichnet, was einfach gesagt die Fähigkeit meint, die neuronalen Verschaltungen des limbischen Systems zu verändern oder umzubauen, entweder durch die unmittelbare Erfahrung mit einer Person wie etwa einem Lama oder einem Therapeuten, oder durch die direkte Interaktion mit einer Reihe von Instruktionen, die zum Beispiel mit der Reparatur eines Autos oder mit dem Aufbau einer Schaukel zu tun haben.5 Hinter der limbischen Umordnung steht das Grundprinzip, dass das neuronale Schaltsystem in dieser Gehirnregion ausreichend flexibel für eine Veränderung ist. Um uns eines ganz einfachen Beispiels zu bedienen, nehmen wir einmal an, dass Sie mit einem Freund über eine Person reden, in die Sie sich verliebt haben. Und der Freund sagt: »O mein Gott, nein! In genau diese Art Person hast du dich schon einmal verliebt, und erinnere dich, wie viel Schmerz und Leid dir diese letzte Beziehung eingebracht hat.« Es sind vielleicht nicht seine Worte, die Sie veranlassen, über das Weiterverfolgen dieser neuen Beziehung noch einmal nachzudenken, sondern eher sein Ton und Gesichtsausdruck, die Sie auf einer Ihnen nicht unbedingt bewussten Gewahrseinsebene registrieren.

Es scheint, dass die Meditation – vor allem über Mitgefühl – neue neuronale Verbindungen schafft, die die Kommunikation zwischen verschiedenen Gehirnbereichen erhöhen, was dann wissenschaftlich ausgedrückt zu einer »Hemisphärensynchronisation« führt.

Aus buddhistischer Sicht kann ich jedoch sagen, dass die Meditation über Mitgefühl eine sich erweiternde Einsicht in das Wesen jener Erfahrung fördert, die dem Sichlösen von der Gewohnheitstendenz des Geistes entspringt, zwischen dem Ich und anderen, zwischen Subjekt und Objekt zu unterscheiden, und zu einer Vereinigung der analytischen und intuitiven Aspekte des Bewusstseins führt, die sowohl außerordentlich angenehm wie auch ungeheuer befreiend ist.

Durch das Sichschulen in Güte und Mitgefühl gegenüber anderen wird es möglich, die Prozesse des limbischen Systems mit mehr Bewusstheit zu integrieren. Eine der Entdeckungen im Verlauf der ersten, von Professor Antoine Lutz und Professor Richard Davidson durchgeführten Hirnscan-Studien (an denen ich teilnahm) war die, dass die Meditation über ein auf niemanden im Besonderen gerichtetes Mitgefühl – eine Meditationspraxis, die sich auf die Einheit von Leere und Mitgefühl gründet – einen erheblichen Anstieg bei den sogenannten Gammawellen erzeugte: Fluktuationen in der von den EEG-Scans gemessenen elektrischen Hirnaktivität, die anzeigen, dass in einer großen Vielfalt von Gehirnregionen eine Integration von Informationen stattfindet.6 Eine Gammawelle ist eine Hirnwelle in einem sehr hohen Frequenzbereich, die oft mit Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Bewusstheit und mit der Art von »neuronaler Synchronie« assoziiert wird, über die wir in Teil I sprachen. Viele Neurowissenschaftler sind der Meinung, dass die Gammawellen der Aktivität entsprechen, die sich ergibt, wenn verschiedene Neuronen über große Gehirnbereiche hinweg auf spontan synchrone Art miteinander kommunizieren.

Erste Forschungsstudien deuten darauf hin, dass bei Personen, die schon lange Meditation praktizieren, spontan eine hohe Gammawellen-Aktivität auftritt, was darauf schließen lässt, dass das Gehirn während der Meditation in einen stabileren und umfassender integrierten Zustand gelangt. Da die Neurowissenschaft und die für ihre Forschung verfügbare Technologie noch etwas relativ Neues sind, können wir aber nicht definitiv behaupten, dass die Meditationspraxis zur erhöhten Kommunikation zwischen umfassenderen Gehirnbereichen führt. Dennoch scheint die erwähnte Studie über die Londoner Taxifahrer darauf hinzuweisen, dass eine wiederholte Erfahrung die Gehirnstruktur tatsächlich verändert. Und das bedeutet wiederum, dass die Fokussierung auf die Transparenz von Gedanken, Emotionen und Sinneserfahrungen sehr wohl damit verbundene Gehirnbereiche transformieren könnte.

 

 

 

DIE FRUCHT DES MITGEFÜHLS

 

Auch ein kleines erworbenes Verdienst
bringt großes Glück.

 

The Collection of Meaningful Expressions

 

 

Wie schon erwähnt, führt die Meditation des ruhigen Verweilens zur Aufladung unserer mentalen und emotionalen Batterien. Mitgefühl ist die mentale und emotionale »Technologie«, die sich der wieder aufgeladenen Batterien auf die rechte Weise bedient. Ich spreche hier von »rechter Weise«, weil immer die Möglichkeit besteht, dass man die durch die Shiné-Meditation erworbenen Fähigkeiten missbraucht, um die eigene mentale und emotionale Stabilität zu erhöhen und Macht über andere zu erlangen oder ihnen sogar Schaden zuzufügen. Doch normalerweise werden Mitgefühl- und Shiné-Meditation, nachdem man sich einige Erfahrung erworben hat, gemeinsam geübt. Diese Verbindung von Meditation über Mitgefühl und Shiné-Praxis wird nicht nur für Sie, sondern auch andere von Nutzen sein. Ein wirklicher Fortschritt auf dem Pfad beinhaltet das Bewusstsein darüber, dass man sich und anderen zugleich Nutzen bringt.

Mitgefühl ist eine wechselseitige Angelegenheit. Wenn Sie mentale und emotionale Stabilität entwickeln und diese Stabilität durch mitfühlendes Verständnis auf andere ausdehnen und mit ihnen auf freundliche, einfühlsame Art umgehen, werden Ihre eigenen Absichten und Zielsetzungen leichter und rascher Erfüllung finden. Warum? Wenn Sie andere mitfühlend behandeln  – im Verständnis, dass sie ebenso sehr nach Glück verlangen und Leiden und Unglück vermeiden möchten wie Sie –, dann fühlen sich die Menschen in Ihrem Umfeld von Ihnen angezogen und möchten Ihnen ebenso sehr helfen wie Sie ihnen. Sie hören Ihnen besser zu, entwickeln Vertrauen in Sie und respektieren Sie. Menschen, die vielleicht einmal Ihre Gegner waren, fangen an, Sie mit mehr Achtung und Rücksichtnahme zu behandeln, was Sie schwierige Aufgaben ungehinderter vollenden lässt. Konflikte lösen sich leichter auf, Sie kommen in Ihrer Karriere rascher voran, fangen neue Beziehungen ohne die üblichen Herzensqualen an und gründen vielleicht sogar eine Familie oder können bereits bestehende familiäre Beziehungen problemloser verbessern – das alles, weil Sie Ihre Batterien durch die Shiné-Meditation aufgeladen und diese »Ladung« durch die Entwicklung gütigerer, verständnisvollerer und einfühlsamerer Beziehung auf andere ausgedehnt haben. Die Praxis des Mitgefühls demonstriert in gewisser Weise die Wahrheit von der Interdependenz in Aktion, das heißt: Je aufgeschlossener und herzlicher Sie anderen gegenüber werden, desto aufgeschlossener und herzlicher werden diese Ihnen gegenüber.

Wenn das Mitgefühl in Ihrem Herzen zu erwachen beginnt, können Sie auch sich selbst gegenüber ehrlicher sein. Wenn Sie einen Fehler machen, können Sie ihn eingestehen und Schritte zu seiner Korrektur unternehmen. Gleichzeitig neigen Sie weniger dazu, bei anderen Leuten nach Fehlern zu suchen. Wenn jemand etwas Verletzendes tut, Sie anschreit oder schlecht behandelt, werden Sie (vermutlich mit einiger Überraschtheit) feststellen, dass Sie anders reagieren als sonst üblich.

Bei einer Lehrreise in Europa vor ein paar Jahren trat eine Frau auf mich zu, um mir ein Problem zu schildern, das sie mit ihrem Nachbarn hatte. Ihrer beider Häuschen standen ziemlich nahe beieinander und waren nur durch sehr schmale Gärten voneinander getrennt. Es schien, dass ihr Nachbar sie stets mit Kleinigkeiten ärgern wollte, Dinge in ihren Garten warf, ihre Pflanzen beschädigte und so weiter. Als sie ihn zur Rede stellte und fragte, warum er dies tue, gab er zur Antwort, dass es ihm großen Spaß mache, Leute zu ärgern.

Da sich diese kleinlichen Attacken immer weiter fortsetzten, wurde die Frau natürlich sehr wütend und konnte sich nicht enthalten, es ihm auf die gleiche kleinliche Weise heimzuzahlen. Allmählich eskalierte der »Gartenkrieg«, und die Feindseligkeiten zwischen den beiden Nachbarn nahmen zu. Die Frau ärgerte sich sehr darüber und fragte mich, was sie tun konnte, um das Problem zu lösen und in Frieden zu leben. Ich riet ihr, über Mitgefühl für ihren Nachbarn zu meditieren.

»Das habe ich schon probiert. Es hat nicht funktioniert«, sagte sie.

Nachdem wir ein bisschen über die Art ihrer Übung gesprochen hatten, erklärte ich ihr, dass die Meditation über Mitgefühl mehr beinhaltet als den Versuch, das Gefühl von Wärme oder Freundlichkeit für jemanden heraufzubeschwören, über den wir uns ärgern. Sie erfordert vielmehr ein gewisses analytisches Erforschen der Motive der anderen Person und den Versuch, Verständnis für deren Gefühle zu entwickeln – ein Verständnis, dass jedermann, so wie wir, das Grundverlangen hat, glücklich zu sein und nicht unglücklich zu werden.

Als ich im folgenden Jahr wieder nach Europa reiste, sprach die Frau mich nochmals an, und dieses Mal lächelte sie glücklich. Sie erzählte mir, dass sich alles geändert habe. Als ich sie fragte, was geschehen sei, erklärte sie: »Ich habe so geübt, wie wir es vor einem Jahr besprochen haben. Ich dachte darüber nach, was der Nachbar wohl empfand und was seine Motive waren  – und dass er ebenso wie ich einfach nur glücklich und nicht unglücklich sein wollte. Und nach einer Weile wurde mir plötzlich klar, dass ich keine Angst mehr vor ihm hatte. Ich merkte, dass mir nichts von dem, was er tat, irgendetwas anhaben konnte. Natürlich versuchte er es immer weiter, aber es machte mir alles im Grunde nichts mehr aus. Es war, als ob durch meine Meditation über Mitgefühl für ihn mein Selbstvertrauen gestärkt würde. Ich musste ihm nichts mehr heimzahlen oder wütend werden, weil mir alles, was er machte, ziemlich harmlos und unwichtig vorkam.

»Nach einer Weile«, so fuhr sie fort zu berichten, »geriet er in Verlegenheit. Als er erst einmal gemerkt hatte, dass er mich zu keinerlei Reaktion bewegen konnte, hörte er nicht nur auf, mich ärgern zu wollen, er wurde sogar, wenn er mich sah, ausgesprochen schüchtern. Und dann ging er schließlich von großer Schüchternheit zu großer Höflichkeit über. Eines Tages kam er an und entschuldigte sich für all diese ärgerlichen Dinge, die er getan hatte. Es schien, dass dadurch, dass ich über Mitgefühl für ihn meditiert und an Selbstvertrauen gewonnen hatte, allmählich auch er Selbstvertrauen entwickelte. Er musste nicht mehr beweisen, wie mächtig oder destruktiv er sein konnte.«

Die meisten von uns leben nicht als Einsiedler. Wir leben in einer wechselseitig bedingten, vernetzten Welt. Wenn Sie die Umstände Ihres eigenen Lebens verbessern möchten, dann sind Sie dabei auf die Hilfe anderer angewiesen. Ohne dieses Beziehungsgeflecht würden Sie kein Essen, kein Dach über dem Kopf, keinen Arbeitsplatz haben – Sie könnten noch nicht einmal im Café eine Tasse Kaffee bestellen! Sie können Ihre eigenen Lebensbedingungen also nur verbessern, wenn Sie mit anderen mitfühlend und einfühlsam umgehen.

Wenn Sie Ihr Verhältnis zur Welt und zu Ihrem Leben in dieser Weise betrachten, erkennen Sie, dass Güte und Mitgefühl etwas sehr, sehr Machtvolles sind.

Der andere große Vorteil der Entwicklung von Mitgefühl besteht darin, dass Sie durch das Verständnis für die Bedürfnisse, Ängste und Wünsche anderer auch sich selbst besser verstehen lernen – was Sie sich erhoffen, was Sie zu vermeiden wünschen und die Wahrheit über Ihre eigene Natur. Und das wiederum hilft beim Auflösen etwaiger Einsamkeitsgefühle oder eines niedrigen Selbstwertgefühls. Wenn Sie allmählich erkennen, dass sich jedermann nach Glück sehnt und vor dem Leiden und Unglücklichsein ängstigt, wird Ihnen auch allmählich klar, dass Sie mit Ihren Ängsten, Bedürfnissen und Wünschen nicht allein dastehen. Und wenn Ihnen das zu Bewusstsein gekommen ist, verlieren Sie Ihre Angst vor anderen – alle werden zu potenziellen Freunden, Brüdern oder Schwestern – weil wir alle die gleichen Ängste, die gleichen Sehnsüchte und die gleichen Ziele haben. Und dieses Verständnis macht es uns sehr viel leichter, mit anderen von Herz zu Herz zu kommunizieren.

Eines der besten Beispiele für diese Art von aufrichtiger und aufgeschlossener Kommunikation wurde mir von einem tibetischen Freund berichtet, der in New York als Taxifahrer arbeitet. Eines Tages bog er falsch in eine Einbahnstraße ab und fuhr mitten im Stoßverkehr in die falsche Richtung. Ein Polizeibeamter hielt ihn an, verpasste ihm einen Strafzettel und eine Gerichtsvorladung. Als mein Freund vor Gericht erschien, war vor ihm ein Mann an der Reihe, der sich schrecklich wütend gebärdete und alle anschrie, den Richter, den Polizeibeamten, der ihm seinen Strafzettel verpasst hatte, und die anwesenden Rechtsanwälte. Sein schockierendes Benehmen brachte ihm bei Gericht nicht viel Sympathie ein; er wurde verurteilt und musste schließlich eine hohe Geldstrafe zahlen.

Als mein Freund an der Reihe war, vor den Richter zu treten, entspannte er sich. Er lächelte, begrüßte den Polizeibeamten, der ihm den Strafzettel verpasst hatte, mit einem freundlichen »Guten Morgen« und erkundigte sich höflich nach seinem Befinden. Der Beamte war zunächst ein wenig verdutzt, erwiderte dann aber: »Danke. Es geht mir gut.« Mein Freund begrüßte den Richter gleichermaßen höflich. Als dann die Verhandlung begann, wollte der Richter wissen, warum er denn falsch in die Einbahnstraße abgebogen sei. Mein Freund erklärte wiederum sehr höflich, dass der Verkehr an jenem Tag so chaotisch war, dass ihm keine andere Wahl blieb. Der Richter wandte sich an den Polizeibeamten und fragte, ob das stimme, und der Polizeibeamte räumte ein, dass der Verkehr an jenem Tag wirklich schrecklich gewesen war und dass der Fehler meines Freundes unter diesen Umständen verständlich gewesen sei. Der Richter ließ die Anklage fallen, und mein Freund konnte gehen. Draußen in der Halle kam der Polizeibeamte auf ihn zu und sagte: »Das haben Sie sehr gut gemacht.«

Meinem Freund – und auch mir – diente diese Erfahrung bei Gericht als gutes Beispiel für die Vorteile der Übung von einfacher Freundlichkeit und Mitgefühl; dass man die Leute nicht als Gegner behandelt, sondern so, wie man selbst gerne behandelt werden möchte. Ganz gleich, welchen Stand Sie im Leben einnehmen – ob Sie nun Taxifahrer, einflussreicher Politiker oder Führungskraft auf höchster Konzernebene sind –, Ihre Chancen, glücklich zu sein, steigern sich erheblich, wenn Sie alle, denen Sie begegnen, als Freunde behandeln, als Menschen, die die gleichen Hoffnungen und Ängste haben wie Sie. Ein solches Verhalten führt zu einer sich steigernden Kettenreaktion. Wenn Sie die Einstellung oder Perspektive von nur einer Person positiv beeinflussen können, wird diese die Auswirkungen der Veränderung auf eine andere Person übertragen können. Wenn Sie die Einstellung von drei Personen verändern können und jede von ihnen die Einstellung von weiteren drei Personen verändert, haben Sie das Leben von zwölf Personen verändert. Und die Kettenreaktion wächst sich immer weiter und weiter aus.