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ZUM GLEICHGEWICHT FINDEN

Lasse den Geist völlig offen, ohne an
irgendetwas festzuhalten.

 

Götsampa: Radiant Jewel Lamp

 

 

Nun verlassen wir für eine Weile den Bereich von Wissenschaft und Theorie und wenden uns der praktischen Anwendung zu, die man im Buddhismus als den Pfad bezeichnet. Zu Beginn möchte ich gerne eine Geschichte erzählen, die ich vor langer Zeit hörte. Sie handelt von einem Mann, der in seiner Jugend ein exzellenter Schwimmer war und sich nun im Alter nach einer ihn nicht minder ansprechenden Herausforderung umsah. Er beschloss, Mönch zu werden, und dachte, dass er so wie er einst die Wogen des Ozeans gemeistert hatte, nun auch die Wogen seines Geistes meistern würde. Er fand einen Lehrer, den er achtete und respektierte, legte seine Gelübde ab und begann mit der Übung der Unterweisungen, die er von seinem Lehrer bekommen hatte. Wie es oft der Fall ist, fiel ihm das Meditieren nicht leicht, und so wandte er sich an seinen Lehrer und fragte ihn um Rat.

Dieser bat ihn, sich hinzusetzen und zu meditieren, damit er sich seine Praxis ansehen könne. Nachdem er ihn eine Weile beobachtet hatte, sah er, dass sich der alte Schwimmer zu sehr anstrengte. Daher riet er ihm, sich zu entspannen. Doch der Mann vermochte sogar dieser einfachen Anweisung nur schwer Folge zu leisten. Wenn er sich zu entspannen versuchte, schweifte sein Geist ab, und sein Körper sackte in sich zusammen. Wenn er die Konzentration zu halten versuchte, spannte er Körper und Geist zu stark an. Schließlich fragte ihn der Lehrer: »Du weißt doch, wie man schwimmt, oder?«

»Natürlich«, erwiderte der Mann. »Besser als jeder andere.«

»Ist dir das Schwimmen möglich, weil du die Muskeln vollkommen angespannt hältst oder weil du sie vollkommen locker lässt?«, fragte der Lehrer.

»Keines von beidem«, war die Antwort. »Man muss zu einem Gleichgewicht zwischen Anspannung und Entspannung finden.«

»Gut«, erwiderte sein Lehrer. »Dann lass mich dich jetzt fragen, ob du die Muskelanspannung verursachst, wenn deine Muskeln beim Schwimmen zu angespannt sind, oder ob dich jemand anders dazu zwingt?«

Der Mann dachte ein Weilchen nach, bevor er zur Antwort gab: »Niemand außer mir zwingt mich dazu, meine Muskeln anzuspannen.«

Der Lehrer wartete einen Moment, bis der alte Schwimmer seine eigene Antwort verdaut hatte. Dann erklärte er ihm: »Wenn du feststellst, dass dein Geist in der Meditation allzu angespannt ist, erzeugst du selbst diese Anspannung. Wenn du aber alle Anspannung loslässt, wird dein Geist zu locker und du wirst schläfrig. Als Schwimmer hast du gelernt, wie du zur richtigen muskulären Balance zwischen Anspannung und Lockerheit findest.

In der Meditation musst du in deinem Geist zum selben Gleichgewicht finden. Findest du es nicht, wirst du nie zur Erkenntnis und Verwirklichung der vollkommenen Ausgeglichenheit innerhalb deiner eigenen Natur gelangen können. Hast du es aber einmal entdeckt, wirst du so, wie du durchs Wasser gleitest, durch jeden Aspekt deines Lebens gleiten können.«

Ganz einfach ausgedrückt, ist die effektivste Herangehensweise an die Meditation die, sein Bestes zu versuchen, ohne sich allzu sehr auf die Ergebnisse zu konzentrieren.

 

 

 

WEISHEIT UND METHODE

 

Wenn du den Geist nicht künstlich
beeinflusst, ist er klar.
Wenn du Wasser nicht aufwühlst, ist es
durchsichtig.

 

Karmapa Wangtschug Dordsche:
Mahamudra – Ozean des wahren Sinnes

 

 

Die speziellen Anleitungen, die der Lehrer dem alten Schwimmer gab, sind eigentlich Teil einer umfassenderen Belehrung darüber, wie man zu einem Gleichgewicht zwischen Weisheit oder philosophischem Verständnis und Methode, der praktischen Anwendung oder Umsetzung von Philosophie, gelangt. Weisheit ohne praktikable Mittel zu ihrer Anwendung ist nutzlos. Und hier kommt die Methode ins Spiel: Wir benutzen den Geist, um den Geist zu erkennen. Das ist übrigens eine gut funktionierende Definition von Meditation. Bei ihr geht es nicht um ein »In-der-Glückseligkeit-Versunkensein«, »Abheben« oder »Zur-Klarheit-Kommen« – um nur einiges davon zu nennen, was ich bei meinen Reisen rund um die Welt von Leuten zu hören bekam. Im Grunde ist die Meditation eine sehr einfache Übung, bei der Sie im natürlichen Zustand Ihres Bewusstseins im Hier und Jetzt ruhen und sich erlauben, für alle Gedanken, Empfindungen oder Emotionen, die auftreten mögen, einfach und klar präsent zu sein.

Vielen Menschen widerstrebt der Gedanke der Meditation, weil ihnen als Erstes die Vorstellung in den Sinn kommt, dass sie dabei Stunden um Stunden stocksteif im Lotossitz und mit absolut leerem Geist dasitzen müssen. Nichts davon ist nötig.

Erstens bedarf das Sitzen im halben oder ganzen Lotossitz mit gerade aufgerichtetem Rückgrat einiger Gewöhnung – und das vor allem im Westen, wo man üblicherweise krumm und schief vor dem Computer oder Fernseher hockt. Zweitens ist es unmöglich, den Geist vom Erzeugen von Gedanken, Gefühlen und Empfindungen abzuhalten. Das Denken ist die natürliche Funktion des Geistes, so wie das Produzieren von Licht und Wärme die natürliche Funktion der Sonne und das Hervorbringen von Blitz und Donner die natürliche Funktion eines Unwetters ist. Als ich zum ersten Mal etwas über das Meditieren lernte, wurde ich darüber belehrt, dass der Versuch, die natürliche Funktion des Geistes zu unterdrücken, bestenfalls nur eine zeitweilige Lösung bietet. Schlimmstenfalls würde ich, sollte ich den bewussten Versuch zu einer Veränderung meines Geistes unternehmen, im Grunde nur meine Tendenz verstärken, mich auf Gedanken und Gefühle als inhärent wirkliche Phänomene zu fixieren.

Der Geist ist immer aktiv, erzeugt immer Gedanken, so wie der Ozean fortwährend Wellen erzeugt. Wir können unsere Gedanken ebenso wenig stoppen, wie wir den Wellen des Ozeans Einhalt gebieten können. Wenn wir den Geist in seinem natürlichen Zustand ruhen lassen, unterscheidet sich das sehr vom Bemühen, unseren Gedankenfluss ganz und gar zum Stillstand zu bringen. Die buddhistische Meditation beinhaltet in keiner Weise den Versuch, den Geist zur totalen Mattscheibe werden zu lassen. Eine gedankenleere Meditation lässt sich unmöglich erreichen. Selbst wenn es Ihnen gelänge, Ihre Gedanken vollkommen zum Stillstand zu bringen, würden Sie doch nicht meditieren; Sie würden einfach nur in einen zombieähnlichen Zustand abdriften.

Andererseits könnten Sie feststellen, dass sich ein Gedanke, eine Emotion oder eine Empfindung verflüchtigen, sobald Sie Ihr Augenmerk darauf richten, so wie Fische, die plötzlich in tiefere Gewässer abtauchen. Auch das ist okay. Tatsächlich ist es großartig. Solange Sie diese bloße Aufmerksamkeit oder dieses nackte Gewahrsein aufrechterhalten, erfahren Sie, auch wenn sich die Gedanken, Gefühle und so weiter Ihrer Kontrolle entziehen, die natürliche Klarheit und Leerheit der wahren Natur Ihres Geistes. Der Punkt, um den es bei der Meditation geht, ist der, dass Sie im bloßen Gewahrsein ruhen, gleich ob sich irgendetwas ereignet oder nicht. Bleiben Sie einfach offen und präsent für alles, was auch immer in Ihnen auftaucht, und lassen Sie es ziehen. Und wenn nichts passiert oder wenn Gedanken und so weiter schon verschwinden, bevor Sie sie zur Kenntnis nehmen können, ruhen Sie einfach in dieser natürlichen Klarheit.

Wie viel einfacher könnte der Meditationsprozess noch sein?

Ein weiterer Punkt, den es zu bedenken gilt, ist der, dass es keine guten oder schlechten Gedanken gibt, auch wenn wir uns an die Vorstellung klammern, dass manche Erfahrungen besser, angemessener oder produktiver sind als andere. Es sind nur Gedanken. Sobald ein Haufen geschwätziger Neuronen mit dem Erzeugen von Signalen anfängt, die wir in Gedanken oder Gefühle übersetzen, beginnt eine andere Gruppe von Neuronen ihren Kommentar abzugeben: »Oh, das war ein rachsüchtiger Gedanke. Was für ein schlechter Mensch du bist« oder »Du hast ja solche Angst, du bist wohl wirklich unfähig.« Meditation ist im Grunde ein Prozess des urteilsfreien Gewahrseins. Wenn wir meditieren, nehmen wir gegenüber unseren eigenen subjektiven Erfahrungen und Wahrnehmungen die objektive Betrachtungsweise eines Wissenschaftlers ein. Das mag zunächst nicht einfach sein. Die meisten von uns sind darauf geeicht, zu glauben, dass etwas gut ist, wenn wir es für gut halten, und dass es schlecht ist, wenn wir es für schlecht halten. Doch wenn wir uns darin üben, einfach nur zuzusehen, wie unsere Gedanken kommen und gehen, werden solche starren Unterscheidungen allmählich in sich zusammenbrechen. Der gesunde Menschenverstand wird uns sagen, dass die vielen mentalen Ereignisse, die im Zeitraum von einer Minute erscheinen und wieder verschwinden, unmöglich allesamt wahr sein können.

Wenn wir einfach weiterhin der Aktivität unseres Geistes gewahr bleiben, werden wir nach und nach die transparente Natur unserer Gedanken, Emotionen, Empfindungen und Wahrnehmungen erkennen, die wir einst für so massiv und real hielten. Es ist, als würden von einer Spiegelfläche langsam Schichten von Staub und Schmutz weggewischt. Und wenn wir uns immer mehr daran gewöhnen, auf die klare Oberfläche unseres Geistes zu blicken, können wir all das Geschwätz darüber, wer und was wir unserer Meinung nach sind, durchschauen und die strahlende Essenz unserer wahren Natur erkennen.

 

 

 

KÖRPERHALTUNG

 

Dem Körper wohnt große Weis-
heit inne.

 

Hevajra-Tantra

 

 

Der Buddha lehrte, dass der Körper die physische Stütze für den Geist ist. Zwischen beiden besteht eine Beziehung wie zwischen einem Glas und dem Wasser, das es enthält. Wenn Sie dieses Glas auf einer unebenen oder wackeligen Fläche abstellen, wird das Wasser herumschwappen oder vielleicht auch überschwappen. Steht das Glas aber auf einem ebenen, stabilen Untergrund, wird das Wasser vollkommen ruhig bleiben.

Ganz ähnlich lassen Sie den Geist am besten zur Ruhe kommen, indem Sie eine stabile Körperhaltung einnehmen. Der Buddha hat in seiner Weisheit Anweisungen für eine ausgewogene Haltung des Körpers gegeben, die dem Geist erlaubt, zugleich entspannt und wach zu bleiben. Im Lauf der Zeit wurde sie als die Sieben-Punkte-Haltung des Vairochana bekannt, ein Aspekt des Buddha, der den Zustand der Erleuchtung und Weisheit bezeichnet.

Beim ersten Punkt dieser Haltung geht es um das Schaffen einer stabilen Grundlage für den Körper, was bedeutet, dass Sie sich niedersetzen und, wenn möglich, die Beine so kreuzen, dass Ihre Füße jeweils auf dem gegenüberliegenden Oberschenkel ruhen. Wenn Ihnen das nicht möglich ist, können Sie den einen Fuß auf dem gegenüberliegenden Oberschenkel ruhen lassen, während der andere unter dem gegenüberliegenden Oberschenkel zu liegen kommt. Wenn auch das unbequem ist, sitzen Sie einfach im Schneidersitz. Sie können schließlich auch bequem auf einem Stuhl Platz nehmen, wobei dann beide Füße flach auf dem Boden ruhen. Generelles Hauptanliegen ist, dass Sie dem Körper eine sowohl bequeme als auch stabile Basis für seine Haltung verschaffen. Wenn Sie große Schmerzen in den Beinen haben, können Sie Ihren Geist nicht friedlich ruhen lassen, weil Sie viel zu sehr mit Ihren Schmerzen beschäftigt sind. Deshalb gibt es, was diesen ersten Punkt angeht, so viele Alternativen.

Der zweite Punkt betrifft die Hände. Lassen Sie die Hände knapp unter Nabelhöhe im Schoß ruhen; der Handrücken der einen Hand liegt in der Handfläche der anderen Hand. Es spielt keine Rolle, welche Hand oben liegt, und Sie können hier auch während der Übung jederzeit wechseln – wenn zum Beispiel die bedeckte Hand nach längerer Zeit heiß wird. Wenn Sie die Hände, mit den Handflächen nach unten, einfach auf den Knien ruhen lassen, ist das auch gut.

Der dritte Punkt enthält die Anweisung, zwischen Oberarmen und Rumpf ein wenig Raum zu lassen. In den klassischen buddhistischen Texten ist hier von einer »Armhaltung einem Geier gleich« die Rede, was leicht zum Missverständnis führt, dass man die Schulterblätter spreizen soll, als wäre man so eine Art Raubvogel.

Als ich einmal in Paris war, um Belehrungen zu geben, und zufällig einen Park durchquerte, fiel mir ein Mann auf, der im Schneidersitz auf dem Boden hockte und seine Schultern immer wieder vor und zurück bewegte. Als ich an ihm vorüberging, sah er, dass ich ein Mönch war (die rote Mönchsrobe ist ziemlich verräterisch), und er fragte mich: »Meditieren Sie?«

»Ja«, erwiderte ich.

»Haben Sie irgendwelche Probleme damit?«, wollte er wissen.

»Nein«, sagte ich.

Wir standen einen Moment da und lächelten einander an – schließlich war es ein schöner, sonniger Tag in Paris – und dann sagte er: »Ich mag die Meditation sehr, aber es gibt da eine Anweisung, die mich noch in den Wahnsinn treibt.«

Natürlich fragte ich ihn, welche das sei.

»Es ist die Armhaltung«, erwiderte er ein bisschen verlegen.

»Tatsächlich? Wo haben Sie denn etwas über Meditation gelernt?«

»In einem Buch.«

Ich fragte, was in dem Buch über die Armhaltung gestanden habe.

»Da stand, man solle die Arme wie Geierflügel halten«, sagte er und begann seine Schultern vor und zurück zu bewegen, so wie ich es ihn schon beim Näherkommen hatte tun sehen. Nachdem ich mir sein Geflatter ein paar Sekunden lang angesehen hatte, bat ich ihn, damit aufzuhören.

»Lassen Sie mich Ihnen etwas sagen. Diese Anweisung meint in Wirklichkeit, dass Sie zwischen Armen und Rumpf ein wenig Raum lassen sollen, gerade so viel, um sicherzustellen, dass der Brustraum unbehindert und entspannt ist und Sie frei und gut atmen können. Geier lassen in Ruhestellung immer ein bisschen Raum zwischen Flügeln und Körper. Und genau das ist mit dieser Anweisung gemeint. Sie müssen nicht mit den Armen rudern. Schließlich versuchen Sie ja nur zu meditieren, nicht zu fliegen.«

Kernpunkt ist hier, dass sich die Schultern im Gleichgewicht befinden, dass nicht eine tiefer hängt, dass der Brustraum frei ist und Sie ungehindert atmen können. Manche Menschen haben sehr dicke oder muskulöse Arme oder einen sehr voluminösen Rumpf – vor allem, wenn sie sehr viel Zeit im Fitnessstudio verbracht haben. Wenn Sie zu dieser Kategorie gehören, dann versuchen Sie nicht angestrengt, künstlich etwas Raum zwischen Armen und Brustkörper zu lassen. Lassen Sie die Arme einfach ganz natürlich so ruhen, dass Sie den Brustkörper nicht beengen.

Der vierte Punkt besagt, dass Sie Ihr Rückgrat so gerade aufgerichtet halten wie möglich – »wie ein Pfeil«, heißt es in den klassischen Texten. Aber auch hier ist wieder wichtig, dass Sie zu einem Gleichgewicht finden. Wenn Sie versuchen, zu gerade zu sitzen, werden Sie sich am Ende nach hinten lehnen, und Ihr ganzer Körper wird vor Anspannung zittern. Ich habe das viele Male bei Schülern beobachtet, die allzu sehr bemüht waren, mit absolut geradem Rücken zu sitzen. Wenn Sie sich aber andererseits einfach hängen lassen, werden Sie am Ende unvermeidlich Ihre Lungen einschnüren, wodurch das Atmen erschwert wird und auch verschiedene innere Organe zusammengepresst werden, was dann zu körperlichem Unbehagen führen kann.

Der fünfte Punkt beinhaltet, dass Sie das Gewicht Ihres Kopfes gleichmäßig auf dem Hals ruhen lassen. Achten Sie darauf, dass die Luftröhre nicht behindert wird oder Sie den Kopf so weit zurücklehnen, dass die obersten sieben Halswirbel zusammengedrückt werden. Diese spielen bei der Übermittlung neuronaler Signale aus dem unteren Körperbereich an das Hirn eine entscheidende Rolle. Wenn Sie die für Sie richtige Körperhaltung gefunden haben, werden Sie wahrscheinlich feststellen, dass Ihr Kinn ein wenig mehr als sonst üblich nach unten geneigt und ein bisschen in Richtung Kehle zurückgenommen ist. Wenn Sie je stundenlang mit leicht nach hinten geneigtem Kopf vor dem Computer gesessen haben, werden Sie sofort verstehen, um wie viel besser Sie sich fühlen, wenn Sie diese kleine Korrektur vornehmen.

Beim sechsten Punkt geht es um den Mund. Er nimmt eine natürliche Haltung ein, zwischen den oberen und unteren Zähnen bleibt ein schmaler Spalt, die Lippen sind ganz leicht geöffnet. Wenn es möglich ist, ruht die Zungenspitze ganz locker oben am Gaumen direkt hinter den Vorderzähnen. Aber erzwingen Sie es nicht. Lassen Sie sie ganz einfach sanft dort ruhen. Sollte Ihre Zunge dafür zu kurz sein, machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Am wichtigsten ist, dass die Zunge eine ganz natürliche Ruhestellung einnimmt.

Der letzte Punkt betrifft die Augen. Die meisten Neulinge fühlen sich wohler, wenn sie beim Meditieren die Augen geschlossen halten. So fällt es ihnen leichter, den Geist ruhen zu lassen und zu einem Gefühl von innerem Frieden und Gelassenheit zu kommen. Für den Anfang ist das in Ordnung. Doch zu den Dingen, die ich schon früh lernte, gehört die Feststellung, dass geschlossene Augen leichter zum Anhaften an einem künstlichen Gefühl von Ruhe und Gelassenheit verführen. Daher ist es besser, wenn Sie nach ein paar Tagen des Übens die Augen beim Meditieren offen halten, damit Sie wach, klar und achtsam bleiben können. Das bedeutet nun nicht, dass Sie, ohne zu blinzeln, unentwegt geradeaus starren sollen, sondern dass Sie die Augen ganz normal offen lassen, so wie Sie es tagsüber auch tun.

Die Sieben-Punkte-Haltung des Vairochana ist im Grunde genommen nur eine Richtschnur. Meditation ist eine sehr persönliche Praxis, und jeder Mensch ist anders. Das Wichtigste ist, dass Sie für sich selbst zum richtigen Gleichgewicht zwischen Anspannung und Entspannung finden.

Es gibt auch eine kurze Zwei-Punkte-Meditationshaltung, die man dann einnehmen kann, wenn das Einnehmen der kompletten Sieben-Punkte-Haltung unmöglich oder unpassend ist. Die Anweisung ist ganz einfach: Halten Sie das Rückgrat gerade und den restlichen Körper so locker und entspannt wie möglich. Diese Haltung ist sehr nützlich, wenn Sie tagsüber Ihren Alltagsbeschäftigungen nachgehen, zum Beispiel beim Autofahren oder Gehen oder Einkaufen oder bei der Essensvorbereitung. Sie erzeugt, für sich genommen, fast automatisch ein Gefühl von entspanntem Gewahrsein – und das Beste daran ist, dass niemand überhaupt merkt, dass Sie meditieren!

 

 

 

GEISTIGE HALTUNG

 

Dieser Geist, von Geschäftigkeit ge-
fesselt, ist befreit, sobald du ent-
spannst – kein Zweifel.

 

Saraha, in Karmapa:
Mahamudra – Ozean des wahren Sinnes

 

 

Die gleichen Prinzipien, die dazu führen sollen, dass wir zu einer entspannten und wachen Körperhaltung finden, gelten auch, um zu einem entsprechenden Gleichgewicht im Geist zu kommen. Wenn der Geist ganz natürlich in einem Zustand zwischen Entspannung und Wachsamkeit schwebt, treten seine inhärenten Eigenschaften spontan hervor. Dies gehört zu den Dingen, die ich in den drei Tagen lernte, die ich, fest entschlossen meinen Geist zu beobachten, allein in meinem Retreatkämmerchen verbrachte. Als ich dort saß, erinnerte ich mich immer wieder an das, was meine Lehrer gesagt hatten. Wenn das Wasser ruhig und still wird, sondern sich Schlick, Schlamm und andere Sedimente allmählich ab und sinken auf den Grund, was dir ermöglicht, das Wasser und alles, was darin ist, sehr klar zu sehen. Auf die gleiche Weise setzt sich, wenn du im Zustand geistiger Entspannung verweilst, das »mentale Sediment« der Gedanken, Emotionen, Empfindungen und Wahrnehmungen ganz natürlich, und die dem Geist innewohnende Klarheit offenbart sich.

Wie schon bei der körperlichen Haltung geht es auch bei der geistigen Haltung im Kern darum, dass man zu einem entspannten Gleichgewicht findet. Ist der Geist zu angespannt oder zu stark fokussiert, quält Sie am Ende der Gedanke, ob Sie nun im Meditieren gut sind oder nicht. Ist der Geist zu locker, werden Sie entweder von Ablenkungen mitgerissen oder verfallen in eine Art Dumpfheit. Sie suchen nach einem Mittelweg zwischen vom Perfektionswahn getriebener Anspannung und einer Art missmutiger Trübseligkeit, die besagt: »O je, ich muss mich hinsetzen und meditieren.« Die ideale Herangehensweise besteht darin, dass Sie sich in aller Freiheit darauf besinnen, dass es nicht wirklich eine Rolle spielt, ob Ihr Üben gut ausfällt oder nicht. Wichtig ist die Absicht zu meditieren. Das allein ist genug.