Alle fühlenden Wesen neigen dazu,
auf nicht nutzbringende Weise zu
handeln.
Jamgön Kongtrul: Das Licht der Gewissheit
In den fast zehn Jahren, die ich mittlerweile in über 20 Ländern gelehrt habe, sah ich viele merkwürdige und wunderbare Dinge und hörte viele seltsame und wunderbare Geschichten von Menschen, die sich bei öffentlichen Belehrungen zu Wort meldeten oder mich privat um Rat baten. Am meisten aber überraschte es mich zu sehen, dass das Leiden von Leuten, die an Orten leben, wo materielle Bequemlichkeiten in großem Ausmaß verfügbar sind, eine ebensolche Tiefe annimmt, wie ich sie bei jenen erlebte, die in materiell weniger entwickelten Regionen zu Hause sind. Die Ausdrucksform des Leidens, dessen Zeuge ich wurde, unterschied sich zwar in mancher Hinsicht von dem, was ich in Indien und Nepal zu beobachten gewohnt war, aber seine Intensität war offenkundig.
Ich begann dieses Ausmaß an Leiden im Verlauf meiner ersten paar Besuche im Westen zu erahnen, während derer meine Gastgeber mich zu den großen Sehenswürdigkeiten ihrer Städte führten. Als ich zum ersten Mal vor dem Empire State Building oder dem Eiffelturm stand, konnte ich nicht umhin, vom Genie der Konstrukteure und vom Maß an Kooperation und Entschlossenheit beeindruckt zu sein, das die Erbauer dieser Gebilde aufgebracht haben mussten. Aber wenn wir dann oben auf der Aussichtsplattform angelangt waren, musste ich feststellen, dass die Sicht von einer Stacheldrahtumzäunung verstellt war und überall Wachen patrouillierten. Als ich meine Gastgeber darauf ansprach, erklärten sie, diese Vorsichtsmaßnahmen seien notwendig, um die Leute daran zu hindern, sich in die Tiefe zu stürzen.
Es kam mir unsäglich traurig vor, dass Gesellschaften, die zum Erbauen solcher Wunderwerke imstande waren, strenge Maßnahmen ergreifen mussten, um die Leute davon abzuhalten, diese wunderschönen Monumente als Plattform für den Selbstmord zu benutzen.
Die Sicherheitsmaßnahmen lenkten mich in keiner Weise von der Würdigung der Schönheit dieser Sehenswürdigkeiten oder des zu ihrer Erbauung nötigen technologischen Könnens ab. Aber nachdem ich ein paar solcher Orte besichtigt hatte, begann ich zu begreifen, dass diese Maßnahmen ins Bild von etwas anderem passten, das mir mit der Zeit aufgefallen war. Obwohl die in materiell gut ausgestatteten Gesellschaften lebenden Menschen durchaus zu einem raschen Lächeln neigten, verrieten ihre Augen fast immer ein Gefühl von Unzufriedenheit und sogar Verzweiflung. Und die Fragen, die sie sowohl bei öffentlichen Vorträgen wie bei privaten Gesprächen stellten, schienen sich fast immer darum zu drehen, wie sie besser oder stärker werden konnten, als sie waren, oder wie sie ihren »Selbsthass« überwinden konnten.
Je ausgedehnter ich herumreiste, desto klarer wurde mir, dass die Angehörigen einer sich durch technologische und materielle Leistungen auszeichnenden Gesellschaft mit der gleichen Wahrscheinlichkeit Schmerz, Angst, Einsamkeit, Isolation und Verzweiflung empfinden wie die Menschen, die in vergleichsweise weniger entwickelten Gebieten leben. Nachdem ich ein paar Jahre lang bei öffentlichen Belehrungen und persönlichen Beratungen sehr unverblümte Fragen gestellt hatte, begriff ich allmählich, dass die Menschen, wenn der äußere oder materielle Fortschritt in seinem Tempo die Entwicklung von innerem Wissen übersteigt, unter tiefen emotionalen Konflikten zu leiden scheinen, ohne durch irgendwelche inneren Methoden dafür gerüstet zu sein. Ein Übermaß an materiellen Dingen und Möglichkeiten liefert eine solche Vielfalt an äußerlichen Ablenkungen, dass die Menschen den Kontakt mit ihrem Innenleben verlieren.
Denken Sie zum Beispiel nur einmal an die Unzahl von Leuten, die stets auf der Suche nach etwas Spannendem, Aufregendem sind, indem sie ein neues Restaurant ausprobieren, eine neue Beziehung anfangen oder die Arbeitsstelle wechseln. Für eine Weile scheint der Reiz des Neuen anzuhalten. Aber dann legt sich die Erregung und Begeisterung; die neuen Gefühle und Empfindungen, die neuen Freunde oder die neuen Verantwortlichkeiten werden zu etwas Alltäglichem. Das Glücksgefühl, das sie zu Anfang empfunden haben mögen, verflüchtigt sich.
Also probieren sie es mit einer neuen Strategie, widmen sich zum Beispiel dem Strandleben. Und eine Weile lang scheint auch das befriedigend zu sein. Die Sonne wärmt, das Wasser fühlt sich großartig an und man kann dort eine Menge neuer Leute treffen und vielleicht auch neue und aufregende Aktivitäten ausprobieren, zum Beispiel Jetski fahren oder Parasailing. Aber dann wird auch das Strandleben langweilig. Die Gespräche wiederholen sich, der Sand klebt an der Haut, die Sonne ist zu heiß oder versteckt sich hinter den Wolken, und das Wasser des Ozeans wird kalt. Also wird es Zeit, weiterzuziehen, es mit einem anderen Strand zu versuchen, vielleicht in einem anderen Land. Der Geist produziert sein eigenes Mantra: »Ich will nach Tahiti … Tahiti … Tahiti …«
Das Problem mit allen diesen Lösungen ist, dass sie flüchtiger Natur sind. Alle Phänomene sind das Ergebnis des Zusammenkommens von Ursachen und Bedingungen und unterliegen daher unausweichlich irgendeiner Art von Veränderung. Wenn sich die zugrunde liegenden Ursachen ändern, die eine Erfahrung von Glück erzeugten und aufrechterhielten, geben die meisten Leute den äußeren Bedingungen (anderen Menschen, einem Ort, dem Wetter und so weiter) oder sich selbst die Schuld (»Ich hätte etwas Netteres oder Klügeres sagen sollen«, »Ich hätte woanders hingehen sollen«). Aber eine solche Schuldzuweisung macht die Suche nach dem Glück nur noch schwieriger, weil sie von einem Verlust an Selbstvertrauen oder Glauben an die Dinge zeugt, die uns, wie man uns beibrachte, zum Glück verhelfen sollten.
Das noch größere Problem ist allerdings, dass die meisten Menschen keine sehr klare Vorstellung davon haben, was Glück eigentlich ist. Folglich schaffen sie sich immer wieder Umstände, die sie zu der Unzufriedenheit zurückführen, die sie so verzweifelt gerne ausmerzen würden. Und weil das so ist, wäre es eine gute Idee, sich das Glücklichsein, das Unglücklichsein und die diesen Zuständen zugrunde liegenden Ursachen ein bisschen genauer anzusehen.
DER EMOTIONALKÖRPER
Es gibt kein bestimmtes Zentrum für
die Emotion, so wie es auch keines für
Tennisspielen oder andere kompli-
zierte Dinge gibt.
Richard Davidson, Dialog mit dem Dalai Lama.
Wie wir destruktive Emotionen überwinden können
Unser Körper spielt beim Erzeugen von Emotionen eine sehr viel größere Rolle, als den meisten von uns bekannt ist. Der Prozess beginnt mit der Wahrnehmung, die, wie wir bereits wissen, das Übermitteln von Informationen von den Sinnesorganen an das Gehirn beinhaltet, wo eine begrifflich fassbare Darstellung eines Objekts erzeugt wird. Die meisten von uns würden natürlich annehmen, dass – wenn das Objekt erst einmal wahrgenommen und erkannt ist – eine emotionale Reaktion hervorgerufen wird, die wiederum irgendeine Art von körperlicher Reaktion in Gang setzt.
Tatsächlich aber geschieht das Gegenteil. Wenn der Thalamus seine Botschaften zu den für die Analyse zuständigen Gehirnregionen im Neokortex schickt, sendet er gleichzeitig eine »Alarmbotschaft« an den Mandelkern, jenes etwa walnussgroße neuronale Gebilde im limbischen System, das, wie schon beschrieben, für emotionale Reaktionen von großer Wichtigkeit ist, speziell für Angst, Ärger und Wut. Weil der Thalamus und der Mandelkern nahe beieinander liegen, kommt das Alarmsignal schneller an als die an den Neokortex geschickten Botschaften. Sobald der Mandelkern das Alarmsignal erhalten hat, setzt er eine Reihe von körperlichen Reaktionen in Gang, die das Herz, die Lungen, bestimmte Muskelgruppen in den Armen, im Brustkorb, im Unterleib und in den Beinen sowie die Organe aktivieren, die Hormone wie zum Beispiel das Adrenalin ausschütten. Erst nachdem der Körper reagiert hat, deutet der für die Analyse zuständige Teil im Gehirn die körperlichen Reaktionen im Sinne einer spezifischen Emotion.
Mit anderen Worten, wir sehen nicht etwas Schreckenerregendes, empfinden Angst und fangen dann an zu rennen, sondern wir sehen etwas Schreckenerregendes, fangen an zu rennen (während des Herz klopft und das Adrenalin durch den Körper braust) und deuten dann die Körperreaktion als Angst. Doch in den meisten Fällen können wir, sobald der Rest des Gehirns mit dem Körper gleichgezogen hat, was nur ein paar Millisekunden dauert, unsere Reaktionen einschätzen, darüber entscheiden, ob sie angemessen sind, und unser Verhalten gegebenenfalls der spezifischen Situation anpassen.
Die Ergebnisse dieser Einschätzung lassen sich tatsächlich mit Hilfe einer Technologie messen, die den Wissenschaftlern erst seit Kurzem zur Verfügung steht. Emotionen wie Angst, Empörung und Abscheu treten teilweise als erhöhte Aktivierung der Neuronen im rechten Stirnlappen in Erscheinung, der Region des Neokortex, die ganz vorne in der rechten Gehirnhälfte angesiedelt ist. Emotionen wie Freude, Liebe, Mitgefühl, Vertrauen und Zuversicht lassen sich hingegen an einer etwas größeren neuronalen Aktivität im linken Stirnlappen ablesen.
Man sagte mir, dass unsere Einschätzungsfähigkeit zuweilen behindert wird und wir dann auf eine Situation reagieren, ohne zu überlegen. In solchen Fällen reagiert der Mandelkern so stark, dass es dadurch zu einem Kurzschluss in den Strukturen der höheren Gehirnregionen kommt. Ein so machtvoller »Notfall-Reaktionsmechanismus« hat zweifellos seine Vorteile, wenn es ums Überleben geht; er befähigt uns, Essbares, das uns einmal krank gemacht hat, sofort zu erkennen, oder aggressiven Tieren aus dem Weg zu gehen. Aber weil die im Mandelkern gespeicherten neuronalen Muster so leicht von Ereignissen aktiviert werden können, wenn sie auch nur eine minimale Ähnlichkeit mit einem früheren Vorfall aufweisen, können sie auch unsere Wahrnehmung der im gegenwärtigen Augenblick stattfindenden Ereignisse verzerren.
ZUSTÄNDE UND WESENSZÜGE
Alles ist durch Umstände bedingt.
Patrul Rinpoche:
Die Worte meines vollendeten Lehrers
Aus wissenschaftlicher Sicht unterscheidet man bei den Emotionen zwischen kurzfristigen Vorfällen und länger anhaltenden Verfassungen. Zu den kurzfristig auftretenden Emotionen kann man den plötzlichen Wutausbruch zählen, der uns vielleicht befällt, wenn wir uns bei Reparaturen im Haus mit dem Hammer auf den Daumen hauen; oder den Anflug von Stolz, der uns überkommt, wenn uns jemand ein ehrlich gemeintes Kompliment macht. Wissenschaftlich gesprochen bezeichnet man diese relativ kurzfristigen Ereignisse oft als Zustände.
Emotionen, die über längere Zeiträume hinweg und in einer Vielfalt von Situationen anhalten, wie zum Beispiel die Liebe, die jemand für ein Kind empfindet, oder der nachhaltige Groll über ein Geschehen in der Vergangenheit, werden als Eigenschaften oder Wesenszüge bezeichnet, die die meisten von uns als Hinweise auf den Charakter eines Menschen betrachten. Wenn zum Beispiel eine Person meist lächelt, voller Energie ist und anderen Menschen immer etwas Nettes sagt, dann sprechen wir von einer »Frohnatur«; dagegen halten wir jemanden, der häufig die Stirn runzelt, immer in Eile ist, tief über seinen Schreibtisch gebeugt dasitzt und wegen Geringfügigkeiten die Beherrschung verliert, für einen »Miesepeter«.
Der Unterschied zwischen Zuständen einerseits und Eigenschaften oder Wesenszügen andererseits ist auch für Leute ohne Doktortitel ziemlich klar ersichtlich. Wenn Sie sich mit dem Hammer auf den Daumen hauen, wird sich Ihr Zorn vermutlich relativ bald wieder legen und der Vorfall nicht dazu führen, dass Sie sich den Rest Ihres Lebens vor Hämmern ängstigen. Emotionale Wesenszüge hingegen sind subtiler. In den meisten Fällen sind wir imstande festzustellen, ob wir Tag um Tag voller Angst und Sorge oder aber freudig erregt aufwachen, während solche Hinweise auf unser Naturell auch für andere, mit denen wir in engem Kontakt stehen, allmählich sichtbar werden.
Emotionale Zustände sind relativ rasche Ausbrüche neuronalen Geschwätzes. Wesenszüge hingegen sind eher das neuronale Äquivalent für eine feste Beziehung. Die Ursprünge dieser lang anhaltenden Verbindungen können variieren. Manche mögen eine genetische Grundlage haben, andere rühren vielleicht von einem schweren Trauma her, und wiederum andere haben sich möglicherweise als Folge von lang anhaltenden oder wiederholten Erfahrungen herausgebildet – der Schulung fürs Leben, derer wir als Kinder und Jugendliche teilhaftig werden.
Diese emotionalen Eigenschaften, wo immer sie auch herstammen mögen, wirken sich konditionierend auf die Art und Weise aus, in der wir unsere Alltagserlebnisse charakterisieren und auf sie reagieren. Wer zum Beispiel zu Angst oder Depression neigt, wird sich einer Situation eher ängstlich oder beklommen nähern; wer hingegen zur Zuversicht neigt, wird an die gleiche Situation sehr viel gefasster und selbstsicherer herangehen.
KONDITIONIERENDE FAKTOREN
Das Leiden folgt einem negativen Ge-
danken wie die Räder eines Karren
dem Ochsen folgen, der ihn zieht.
Dhammapada
Biologie und Neurowissenschaft machen sichtbar, was in unserem Gehirn vor sich geht, wenn wir angenehme oder unangenehme Emotionen erleben. Der Buddhismus hilft uns nicht nur, dass wir solche Erfahrungen uns selbst expliziter beschreiben können, sondern gibt uns auch die Mittel an die Hand, mit denen wir uns an die Veränderung unserer Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen machen und so auf einer elementaren, zellularen Ebene glücklichere, friedfertigere und liebevollere Menschen werden können.
Ob wir uns das, was wir Geist oder Bewusstsein nennen, nun subjektiv mittels der von Buddha gelehrten achtsamen Beobachtung anschauen oder objektiv mittels der in den modernen Laboratorien verfügbaren Technologien, es tritt als sich ständig verändernder Zusammenprall von zwei fundamentalen Ereignissen in Erscheinung: der bloßen Erkenntnis (dem einfachen Gewahrsein, dass etwas geschieht) und den konditionierenden Faktoren (den Prozessen, die nicht nur das beschreiben, was wir wahrnehmen, sondern auch unsere Reaktionen bestimmen). Mit anderen Worten, alle mentale Aktivität entwickelt sich aus der zusammenwirkenden Aktivität von bloßer Wahrnehmung und langfristigen neuronalen Assoziationen.
Eine der von meinem Lehrer Saljay Rinpoche häufig wiederholten Lektionen war die, dass ich, wenn ich glücklich sein wollte, lernen musste, die konditionierenden Faktoren – die dazu tendieren, zwanghafte oder wesenszuggebundene Reaktionen zu erzeugen – zu erkennen und mit ihnen zu arbeiten. Und die Essenz seiner Belehrung war, dass jeder Faktor in dem Maße als zwanghaft verstanden werden kann, wie er unsere Fähigkeit vernebelt oder verdunkelt, ohne Beurteilung und Bewertung die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Wenn uns zum Beispiel jemand anschreit, nehmen wir uns kaum die Zeit, zwischen der bloßen Erkenntnis, »Oh, diese Person erhebt ihre Stimme und sagt diese und jene Worte«, und der emotionalen Reaktion, »Der Typ ist ein Blödmann«, zu unterscheiden. Stattdessen neigen wir dazu, die bloße Wahrnehmung und unsere emotionale Reaktion zu einem Paket zu vereinen: »Dieser Mensch schreit mich an, weil er ein Blödmann ist.«
Aber wenn wir einen Schritt zurücktreten und uns die Situation objektiver anschauen könnten, würden wir vielleicht erkennen, dass Menschen, die uns anschreien, möglicherweise wegen irgendetwas aufgebracht oder verstört sind, das gar nichts mit uns zu tun hat. Vielleicht sind sie gerade von einem Vorgesetzten kritisiert worden und haben Angst, entlassen zu werden. Vielleicht ist ihnen gerade zu Ohren gekommen, dass eine ihnen nahe stehende Person schwer krank ist. Oder sie hatten vielleicht eine Auseinandersetzung mit einer Freundin oder einem Partner und haben in der Nacht schlecht geschlafen. Leider übt die Konditionierung einen so starken Einfluss auf uns aus, dass wir uns selten daran erinnern, dass wir einen Schritt zurücktreten können. Und weil unser Verständnis begrenzt ist, halten wir irrtümlicherweise den kleinen Ausschnitt, den wir sehen, für die ganze Wahrheit.
Wie können wir angemessen reagieren, wenn unsere Sicht so beschränkt ist und wir nicht alle Fakten kennen? Wenn wir hinsichtlich unserer Erfahrungen und Wahrnehmungen im Alltag den bei Gericht geltenden Standard, »die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen«, anwenden wollen, müssen wir zur Erkenntnis kommen, dass die »ganze Wahrheit« die ist, dass jedermann einfach glücklich sein möchte. Und das wirklich Traurige ist, dass die meisten Leute das Glück auf eine Art und Weise suchen, die ihr Bemühen in Wirklichkeit sabotiert. Wenn wir in irgendeiner gegebenen Situation die ganze Wahrheit sehen würden, wäre unsere einzige Reaktion eine des Mitgefühls.
GEISTIGE HEMMNISSE
Die Folterinstrumente in den Höllen
der Wesen – wer hat sie zu welchem
Zweck geschaffen?
Shantideva: Anleitungen
auf dem Weg zur Glückseligkeit
Im Buddhismus werden die konditionierenden Faktoren als »geistige Hemmnisse«, als »Geistesplagen« oder oft auch als »Geistesgifte« (kleshas) bezeichnet. Obwohl in den Texten der buddhistischen Psychologie ein breites Spektrum an konditionierenden Faktoren untersucht wird, stimmen sie alle darin überein, dass es drei geistige Grundhemmnisse gibt. Diese bilden die Grundlage für alle anderen Faktoren, die uns in unserer Fähigkeit behindern, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind. Diese drei sind: Unwissenheit, Anhaftung und Ablehnung.
Unwissenheit
Unwissenheit ist die grundsätzliche Unfähigkeit, das grenzenlose Potenzial, die Klarheit und die Kraft unseres eigenen Geistes zu erkennen. Es ist so, als würden wir die Welt durch gefärbte Brillengläser betrachten. Was immer wir sehen, wird durch die Farbe der Gläser verschleiert oder verzerrt. Auf der grundlegendsten Ebene verzerrt die Unwissenheit die an sich offene Erfahrung von Gewahrsein zu dualistischen Unterscheidungen zwischen den Kategorien von einem eigenständig existierenden »Ich« und einem eigenständig existierenden »anderen«.
Somit stellt die Unwissenheit ein zweifaches Problem dar. Wenn wir uns erst einmal die neuronale Gewohnheit zu eigen gemacht haben, uns selbst als ein eigenständiges, unabhängig existierendes »Ich« wahrzunehmen, fangen wir unvermeidlich an, alles was nicht »Ich« ist, als »anderes« zu betrachten. Das »andere« kann alles sein: ein Tisch, eine Banane, eine andere Person oder auch irgendetwas, das dieses »Ich« denkt oder fühlt. Alles, was wir wahrnehmen und erfahren, wird in gewissem Sinn zum Fremden. Und während wir uns angewöhnen, zwischen dem »Ich« und dem »anderen« zu unterscheiden, sperren wir uns in eine dualistische Wahrnehmungsweise ein, ziehen konzeptuelle Grenzen zwischen unserem »Ich« und dem Rest der Welt »da draußen«, einer Welt, die so ungeheuer groß und weit zu sein scheint, dass wir fast nicht anders können, als uns selbst für sehr klein, beschränkt und verletzlich zu halten. Wir fangen an, andere Menschen, materielle Gegenstände und so weiter als potenzielle Quellen unseres Glücks und Unglücks zu betrachten, und das Leben wird zum Kampf darum, zu erlangen, was wir zum Glücklichsein brauchen, bevor es sich jemand anders holt.
Dieser Kampf ist im Sanskrit als Samsara bekannt, was wortwörtlich »Rad« oder »Kreislauf« bedeutet. Samsara bezieht sich insbesondere auf das Rad oder den Kreislauf des Elends und der Unzufriedenheit, die Gewohnheit, im Kreis herumzurennen, immer wieder den gleichen Erfahrungen nachzujagen und dabei jedes Mal auf ein anderes Resultat zu hoffen. Wenn Sie je einem Hund zugeschaut haben, der seinem eigenen Schwanz nachjagt, dann haben Sie die Essenz von Samsara gesehen. Zu sehen, wie ein Tier seinem Schwanz nachjagt, mag ja lustig sein, weniger lustig aber ist es, wenn unser Geist das Gleiche macht.
Das Gegenteil von Samsara ist Nirvana, ein Begriff, der fast ebenso oft falsch verstanden wird wie der Begriff der Leerheit. Das Sanskritwort Nirvana lässt sich grob mit »auslöschen« oder »ausblasen« (wie: eine Kerzenflamme ausblasen) übersetzen, und so wird Nirvana oft als ein Zustand absoluter Glückseligkeit interpretiert, der aus dem Auslöschen oder »Ausblasen« des Egos oder der Vorstellung von einem »Ich« oder »Selbst« entsteht. Diese Interpretation ist bis zu einem gewissen Grad korrekt, außer dass sie der Tatsache keine Rechnung trägt, dass die meisten von uns verkörperte Wesen sind, die ihr Dasein in der relativ realen Welt moralischer, ethischer, rechtlicher und physischer Unterscheidungen leben.
Ein Versuch, in dieser Welt zu leben, ohne sich an diese relativen Unterscheidungen zu halten, wäre so dumm und schwierig wie der Versuch, den Konsequenzen der Tatsache, dass man als Rechtshänder oder Linkshänder geboren ist, zu entgehen. Wozu sollte das gut sein? Eine genauere Interpretation von Nirvana wäre das Einnehmen einer umfassenden Sicht, die alle Erfahrungen, seien sie nun erfreulich oder schmerzlich, als Aspekte des Gewahrseins zulässt. Natürlich würden die meisten Menschen es vorziehen, nur die »hohen Töne« des Glücklichseins zu erleben. Aber wie einer meiner Schüler kürzlich darlegte, würde die Eliminierung der »tiefen Töne« aus einer Symphonie Beethovens – oder irgendeinem modernen Song, was das angeht – ein ziemlich dürftiges und seichtes Erlebnis zur Folge haben.
Samsara und Nirvana lassen sich vielleicht am besten als Standpunkte oder Anschauungsweisen verstehen. Samsara ist eine Sichtweise, die sich primär darauf gründet, Erfahrungen als schmerzlich oder unangenehm zu definieren und sich mit ihnen als solchen zu identifizieren. Nirvana ist ein grundlegend objektiver Geisteszustand: ein nicht bewertendes Annehmen von Erfahrungen, das uns das Potenzial zur Einsicht in Lösungen erschließt, die vielleicht nicht direkt mit unserem Überleben als Individuen, aber mit dem Überleben aller fühlenden Wesen verbunden sind.
Was uns zum zweiten der drei geistigen Grundhemmnisse bringt.
Anhaftung
Wie bereits besprochen, ist die Wahrnehmung eines von »anderen« getrennt existierenden »Ichs« ein im Wesentlichen biologischer Mechanismus – ein eingeführtes Muster neuronalen Geschwätzes, das anderen Teilen des Nervensystems beständig signalisiert, dass jeder von uns ein eigenständiges, unabhängig existierendes Geschöpf ist, das zur Aufrechterhaltung seiner Existenz bestimmte Dinge braucht. Weil wir in einem physischen Körper leben, sind manche dieser benötigten Dinge wie zum Beispiel Sauerstoff, Nahrung und Wasser wirklich unentbehrlich. Wie man mir sagte, haben Studien an Kleinkindern gezeigt, dass darüber hinaus ein gewisses Maß an körperlicher Zuwendung für das Überleben notwendig ist.1 Wir brauchen die Berührung; wir brauchen es, dass man mit uns spricht; wir brauchen es, dass die einfache Tatsache unserer Existenz bestätigt und anerkannt wird.
Die Probleme nehmen jedoch ihren Anfang, wenn wir biologisch unverzichtbare Dinge in einer Verallgemeinerung auf Bereiche übertragen, die mit dem elementaren Überleben nichts zu tun haben. Diese Verallgemeinerung kennt man im Buddhismus als »Anhaften« oder »Verlangen« – was, so könnte man es sehen, wie die Unwissenheit eine rein neurologische Basis hat.
Wenn wir zum Beispiel so etwas wie Schokolade als angenehm und erfreulich erleben, richten wir eine neuronale Verknüpfung ein, die Schokolade mit dem Körperempfinden von Genuss gleichsetzt. Das bedeutet nicht, dass die Schokolade für sich genommen etwas Gutes oder Schlechtes ist. In der Schokolade befinden sich eine Menge chemischer Substanzen, die das Körperempfinden von Freude und Vergnügen auslösen. Unsere neuronale Anhaftung an Schokolade ist es, die Probleme schafft.
Anhaftung lässt sich in vielerlei Hinsicht mit Sucht vergleichen, einer zwanghaften Abhängigkeit von äußeren Objekten oder von Erfahrungen, die in uns eine Illusion von Ganzheit produzieren. Leider nimmt die Anhaftung, wie andere Süchte auch, mit der Zeit an Intensität zu. Was immer an Befriedigung wir erleben, wenn wir das Objekt unseres Begehrens bekommen, ist nicht von Dauer. Was oder wer immer uns heute, in diesem Monat oder in diesem Jahr glücklich macht, wird und muss sich ändern. Der Wandel ist die einzige Konstante in der relativen Wirklichkeit.
Der Buddha verglich das Anhaften mit dem Trinken von Salzwasser aus dem Ozean. Je mehr wir trinken, desto durstiger werden wir. Ebenso werden wir, wenn unser Geist von der Anhaftung konditioniert ist, nie wirklich Zufriedenheit erleben, ganz gleich, wie viel wir besitzen oder erleben. Wir verlieren die Fähigkeit, zwischen der bloßen Erfahrung von Glück und den Objekten, die uns vorübergehend glücklich machen, zu unterscheiden. Als Folge davon werden wir nicht nur vom Objekt abhängig, sondern verstärken auch das neuronale Muster, das uns dazu konditioniert, uns für unser Glück auf eine äußere Quelle zu verlassen.
Sie können eine Unzahl von Objekten an die Stelle der Schokolade setzen. Manche Leute halten Beziehungen für den Schlüssel zu ihrem Glück. Wenn sie jemanden sehen, den oder die sie attraktiv finden, versuchen sie mit allen möglichen Mitteln, sich ihm oder ihr zu nähern. Aber wenn sie es schließlich schaffen, eine Beziehung mit dieser Person einzugehen, stellt sie sich als nicht so befriedigend heraus, wie sie es sich erhofft hatten. Warum? Weil das Objekt ihrer Anhaftung nicht wirklich etwas Äußeres ist. Es ist eine von den Neuronen im Gehirn gesponnene Geschichte; und die Geschichte entfaltet sich auf vielen verschiedenen Ebenen, angefangen bei dem, was sie ihrer Meinung nach durch das Erlangen des Objekts ihrer Begierde gewinnen könnten, bis hin zu ihren Ängsten vor was auch immer, wenn sie es nicht erlangen sollten.
Andere Menschen glauben, dass sie wirklich glücklich wären, wenn sie eine große Glückssträhne hätten und zum Beispiel den Jackpot im Lotto gewännen. Aber eine interessante, von Philip Brinkman2 durchgeführte Untersuchung, von der mir einer meiner Schüler berichtete, hat gezeigt, dass Leute, die kürzlich eine große Summe im Lotto gewonnen hatten, nicht sehr viel glücklicher waren als die Mitglieder einer Kontrollgruppe, die keine Erfahrung von plötzlichem Reichtum gemacht hatten. Im Gegensatz zu diesen Leuten, die keine große Veränderung in ihrem Leben zu verzeichnen hatten, berichteten die Lottogewinner, dass sie, nachdem die anfängliche Erregung abgeflaut war, weniger Freude an alltäglichen Vergnügen hatten, wie zum Beispiel mit Freunden zu schwatzen, Komplimente zu erhalten oder einfach eine Zeitschrift zu lesen.
Diese Untersuchung erinnerte mich an eine Geschichte, die ich vor nicht allzu langer Zeit gehört habe. Ein alter Mann hatte ein Lotterielos gekauft, wobei das Gewinnlos über 100 Millionen Dollar wert war. Nicht lange danach bekam er Herzprobleme und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Der behandelnde Arzt verordnete strikte Bettruhe und verbot alle ungebührliche Aufregung. Während der alte Mann im Krankenhaus lag, stellte sich heraus, das sein Los tatsächlich gewonnen hatte. Er selbst erfuhr zunächst noch nichts von seinem Glück, da er ja im Krankenhaus lag. Doch nachdem seine Frau und seine Kinder die Nachricht bekommen hatten, machten sie sich auf, sie ihm zu überbringen.
Auf dem Weg zu seinem Zimmer trafen sie auf seinen Arzt und erzählten ihm vom großen Glück des alten Mannes. Der Arzt beschwor sie, im Moment noch nichts zu sagen. »Es könnte ihn so sehr aufregen, dass sein Herz versagt und er stirbt«, erklärte er. Die Frau und die Kinder hielten dem entgegen, dass ihrer Meinung nach diese gute Nachricht zur Verbesserung seines Zustands beitragen würde. Doch schließlich willigten sie ein, den Arzt die Nachricht so sanft und schonend wie möglich überbringen zu lassen, damit sich der Mann nicht allzu sehr aufregte.
Während die Frau und die Kinder im Flur warteten, begab sich der Arzt zu seinem Patienten. Er fing an, ihm alle möglichen Fragen über seine Symptome zu stellen, wie er sich fühlte und so weiter; und nach einer Weile fragte er ganz beiläufig: »Haben Sie je mal ein Lotterielos gekauft?«
Der alte Mann erwiderte, dass er tatsächlich kurz vor seiner Einlieferung ins Krankenhaus ein Los gekauft habe.
»Was würden Sie empfinden, wenn Ihr Los gewinnen würde?«, fragte der Arzt.
»Naja, wenn es gewinnt, wäre das ganz schön. Wenn nicht, wäre das auch in Ordnung. Ich bin ein alter Mann und werde nicht mehr lange leben. Es spielt im Grunde keine Rolle, ob mein Los gewinnt oder nicht.«
»Das kann doch nicht wahr sein«, sagte der Arzt, so als ob er rein theoretisch spräche. »Wenn Ihr Los gewinnen würde, wären Sie doch wirklich richtig aufgeregt, oder?«
»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte der alte Mann. »Tatsächlich würde ich Ihnen gerne die Hälfte davon abgeben, wenn Sie es schaffen könnten, dass es mir wieder etwas besser geht.«
Der Arzt lachte. »Warum schreiben Sie nicht eine Erklärung, dass Sie mir die Hälfte davon geben?«, fragte er im Spaß.
»Klar doch, warum nicht«, willigte der alte Mann ein und fischte aus dem Nachtkästchen einen Schreibblock heraus. Langsam schrieb er mit zittriger Hand eine Erklärung, dass er dem Arzt die Hälfte von jedwedem Lotteriegewinn abgeben würde, unterschrieb sie und reichte sie dem Arzt. Als der Doktor auf die Erklärung und die Unterschrift blickte, regte er sich beim Gedanken, so viel Geld zu bekommen, so sehr auf, dass er auf der Stelle tot umfiel.
Als er den Arzt zu Boden stürzen sah, fing der alte Mann laut zu rufen und zu schreien an. Seine Frau und die Kinder hörten den Lärm und fürchteten, dass der Arzt Recht gehabt hatte, dass die Nachricht wirklich zu viel Aufregung für ihn gewesen war und dass sein Herz versagt hatte. Sie stürmten ins Zimmer, nur um dort den alten Mann in seinem Bett sitzen und den Arzt zusammengekrümmt auf dem Boden liegen zu sehen.
Während die Krankenschwestern und andere Angehörige des Klinikpersonals herbeieilten und den Arzt wiederzubeleben versuchten, erzählte seine Familie dem alten Mann ganz ruhig von seinem Lotteriegewinn. Zu ihrer großen Überraschung schien ihn die Nachricht, dass er gerade Millionen von Dollar gewonnen hatte, nicht besonders aufzuregen, und sie schadete ihm auch überhaupt nicht. Tatsächlich verbesserte sich sein Zustand nach ein paar Wochen, und er konnte aus dem Krankenhaus entlassen werden. Sicher war er froh, seinen neuen Reichtum genießen zu können, aber er hing nicht besonders daran. Der Arzt hingegen haftete so sehr am Gedanken, so viel Geld zu haben, und seine Aufregung war so groß, dass sein Herz dem Stress nicht gewachsen war und er starb.
Ablehnung
Jede starke Anhaftung erzeugt eine gleichermaßen starke Angst, dass wir entweder nicht bekommen, was wir haben wollen, oder verlieren, was wir schon gewonnen haben. Diese Angst wird in der Sprache des Buddhismus als Ablehnung bezeichnet: Ein Widerstand gegenüber den unausweichlichen Veränderungen, die sich als Folge der Vergänglichkeit alles relativ Wirklichen ereignen.
Die Vorstellung von einem dauerhaften, unabhängig existierenden Ich drängt uns dazu, uns mit enormer Anstrengung der Unvermeidlichkeit der Veränderung und des Wandels zu widersetzen und sicherzustellen, dass dieses »Ich« in Sicherheit und ungefährdet bleibt. Haben wir einen Zustand erreicht, der uns einigermaßen das Gefühl gibt, heil und ganz zu sein, wollen wir, dass alles genau so bleibt, wie es ist. Und je tiefer und stärker diese Anhaftung an das ist, was uns dieses Gefühl von Ganzheit vermittelt, desto größer ist unsere Angst, es zu verlieren, und desto brutaler ist unser Schmerz, wenn wir es verlieren.
Ablehnung ist in vielerlei Hinsicht eine sich selbst erfüllende Prophezeiung; sie zwingt uns zu einer Art des Handelns, die unsere Bemühungen, das zu erreichen, was uns unserer Meinung nach dauerhaften Frieden, Stabilität und Zufriedenheit verschafft, so gut wie zum Scheitern verurteilt. Denken Sie doch nur mal einen Augenblick daran, wie Sie sich im Beisein eines Menschen verhalten, von dem Sie sich stark angezogen fühlen, aber dessen Ablehnung Sie fürchten. Benehmen Sie sich wie die weltmännische, kultivierte, selbstsichere Person, als die Sie von diesem Menschen angesehen werden möchten, oder werden Sie plötzlich zum Einfaltspinsel, dem es die Sprache verschlagen hat? Fühlen Sie sich gekränkt oder sind Sie eifersüchtig, wenn sich der oder die Betreffende mit jemand anders unterhält und lacht, und verraten Sie Ihren Schmerz und Ihre Eifersucht mehr oder weniger deutlich? Haften Sie so extrem an dieser anderen Person, dass sie Ihre Verzweiflung spürt und Sie zu meiden beginnt?
Ablehnung verstärkt neuronale Muster, die ein mentales Konstrukt erzeugen, das uns die Vorstellung übermittelt, beschränkt, schwach und unvollständig zu sein. Weil alles, was die Unabhängigkeit dieses mentalen »Ich«-Konstrukts untergraben könnte, als Bedrohung wahrgenommen wird, verwenden wir unbewusst ein enormes Maß an Energie auf das Ausschauhalten nach potenziellen Gefahren. Das Adrenalin fegt durch den Körper, der Herzschlag rast, die Muskeln sind angespannt und die Lungen pumpen wie verrückt. Alle diese Empfindungen sind Stresssymptome, die, wie ich von vielen Wissenschaftlern hörte, eine enorme Vielfalt an Problemen verursachen können, darunter Depression, Schlafstörungen, Verdauungsprobleme, Ausschläge, Funktionsstörungen der Schilddrüse und Nieren, hohen Blutdruck und einen hohen Cholesterinspiegel.
Auf der rein emotionalen Ebene manifestiert sich Ablehnung häufig als Wut, Zorn und auch Hass. Statt zu erkennen, dass alles, was man an Elend und Unzufriedenheit empfindet, auf einer mental aufgebauten Vorstellung beruht, findet man es nur »natürlich«, anderen Menschen, äußeren Objekten oder Situationen die Schuld am eigenen Schmerz anzulasten. Wenn andere ein Verhalten an den Tag legen, das uns scheinbar daran hindert, das zu bekommen, wonach es uns verlangt, dann fangen wir an, sie für unzuverlässig oder gemein zu halten und alles Erdenkliche zu tun, um ihnen aus dem Weg zu gehen oder es ihnen heimzuzahlen. Wer sich im Klammergriff der Wut und des Zorns befindet, betrachtet alles und jedes als Feind. Als Folge werden die inneren und äußeren Welten kleiner und kleiner. Man verliert den Glauben an sich selbst und verstärkt spezifische neuronale Muster, die das Gefühl von Angst und Verletzlichkeit erzeugen.
HEMMNIS ODER GELEGENHEIT?
Führe dir die Vorteile dieser kostba-
ren menschlichen Existenz vor Augen.
Jamgön Kongtrul: Das Licht der Gewissheit
Man könnte die geistigen Hemmnisse leicht für Charakterfehler halten. Aber das würde eine Herabwürdigung unserer selbst bedeuten. Unsere Fähigkeit, Gefühle und Emotionen zu haben, zwischen Schmerz und Lust zu unterscheiden und »instinktiv zu reagieren«, spielt nach wie vor eine entscheidende Rolle für unser Überleben. Dadurch können wir uns sehr schnell an subtile Veränderungen in unserer Umwelt anpassen und diese Anpassungen bewusst artikulieren, sodass wir sie uns willentlich wieder in Erinnerung rufen und an nachfolgende Generationen weitergeben können.
Diese außerordentliche Sensibilität unterstreicht eine der grundlegendsten Unterweisungen Buddhas, nämlich dass wir darüber nachdenken und uns vergegenwärtigen sollen, wie kostbar dieses menschliche Leben mit all seinen Freiheiten und Möglichkeiten ist; wie schwierig es ist, ein solches Leben zu erlangen; und wie leicht es ist, es zu verlieren.
Es spielt keine Rolle, ob Sie glauben, dass das menschliche Leben ein kosmischer Zufall, eine karmische Lektion oder das Werk eines göttlichen Schöpfers ist. Wenn Sie einfach nur einmal innehalten und sich die riesige Vielfalt und Anzahl der Geschöpfe vor Augen führen, die den Planeten mit uns teilen, und sie dann mit dem relativ kleinen Prozentsatz an Menschenwesen vergleichen, müssen Sie daraus schließen, dass die Chancen, als Mensch zur Welt zu kommen, extrem gering sind. Und indem uns die moderne Wissenschaft die außerordentliche Komplexität und Sensibilität des menschlichen Gehirns vorführt, erinnert sie uns auch an das Glück, das wir haben, als Mensch geboren zu sein und über diese sehr menschliche Fähigkeit zu verfügen, die Gefühle derer, die um uns sind, zu fühlen und mitzuempfinden.
Aus buddhistischer Sicht stellt der Automatismus unserer emotionalen Neigungen eine interessante Herausforderung dar. Für die Beobachtung psychischer Gewohnheiten bedarf es keines Mikroskops; die meisten Menschen brauchen nur einen Blick auf ihre letzte Beziehung zu werfen. Erst denken sie: Dieses Mal wird alles anders werden. Nach ein paar Wochen, Monaten oder Jahren schlagen sie sich an den Kopf und denken: O nein, das ist genau die gleiche Art von Beziehung, wie ich sie vorher hatte.
Oder schauen Sie sich Ihr Berufsleben an. Sie treten eine neue Arbeitsstelle an und denken: Dieses Mal werde ich nicht Stunden um Stunden bis in den Abend hinein arbeiten, nur um mir dann vorhalten zu lassen, dass ich nicht genug tue. Doch nach drei oder vier Monaten stellen Sie fest, dass Sie Verabredungen absagen oder Freunde anrufen und sagen: »Ich kann heute nicht zum Abendessen kommen. Ich muss noch arbeiten.«
Trotz all Ihrer guten Vorsätze wiederholen Sie immer wieder dieselben Muster, erwarten aber ein anderes Ergebnis. Viele Menschen, mit denen ich im Verlauf der Jahre gearbeitet habe, sprachen darüber, wie sie sich Tagträumen über die Freuden des Wochenendes hingeben, um durch die Woche zu kommen. Und ist das Wochenende dann vorbei, sitzen sie wieder eine weitere Woche an ihrem Schreibtisch und tagträumen vom nächsten Wochenende. Oder sie erzählten mir, was für ein enormes Maß an Mühe und Zeit sie in die Vollendung eines Projekts gesteckt haben; dass sie sich aber nie das Gefühl gestatten, etwas geleistet und erreicht zu haben, weil sie schon mit der nächsten Aufgabe auf ihrer Liste beschäftigt sind. Und selbst wenn sie sich entspannen, kreisen ihre Gedanken um irgendetwas, das in der letzten Woche, im letzten Monat oder auch im letzten Jahr passiert ist. Sie spielen die Szenen im Geiste immer wieder durch und versuchen herauszufinden, was sie hätten tun können, um ein befriedigenderes Resultat zu erreichen.
Zum Glück kommen wir einer Lösung für das jeweilige Problem umso näher, je vertrauter uns die Erforschung unseres Geistes und das Überprüfen unseres Bewusstseins wird; und wir erkennen auch umso leichter, dass, was immer wir erfahren und wahrnehmen – Anhaftung, Ablehnung, Stress, Sorge, Angst oder Sehnsucht –, schlicht eine Erfindung und ein Produkt unseres eigenen Geistes ist.
Menschen, die echte Mühe auf das Erforschen ihres inneren Reichtums verwandt haben, haben eine natürliche Tendenz, unabhängig von ihren äußeren Umständen mit einer bestimmten Art von Ansehen, Respekt und Glaubwürdigkeit aufzutreten. Ihr Verhalten in allen möglichen Situationen ruft bei anderen ein tiefes Gefühl von Achtung, Bewunderung und Vertrauen hervor. Ihr Erfolg in der Welt hat nichts mit persönlichem Ehrgeiz oder einem Verlangen nach Aufmerksamkeit zu tun. Er rührt auch nicht vom Besitz eines flotten Autos oder eines schönen Heims oder von einem beeindruckenden Titel her. Vielmehr entstammt er einem Zustand des lockeren und entspannten Wohlbefindens, der ihnen erlaubt, Menschen und Situationen mit mehr Klarheit zu sehen, sich aber auch unabhängig von den persönlichen Umständen ein Grundgefühl von Glücklichsein zu bewahren.
Tatsächlich hören wir ja oft von reichen, berühmten oder anderweitig einflussreichen Menschen, die eines Tages zugeben müssen, dass ihnen das, was sie erreicht haben, nicht das erwartete Glück erbracht hat. Trotz ihres Reichtums und ihrer Macht schwimmen sie in einem Ozean von Schmerz, der manchmal so tief ist, dass ihnen Selbstmord der einzige Ausweg zu sein scheint. Ein so intensiver Schmerz ist die Folge des Glaubens, dass Objekte oder Situationen dauerhaftes Glück schaffen können.
Wenn Sie wirklich zu einem dauerhaften Gefühl von innerem Frieden und Zufriedenheit finden wollen, müssen Sie lernen, Ihren Geist zur Ruhe kommen zu lassen. Seine natürlichen Qualitäten können sich nur offenbaren, wenn er zur Ruhe gelangt ist. Wenn Sie von aufgewühltem Schlamm und anderen Ablagerungen trübe gewordenes Wasser wieder klar werden lassen wollen, dann lassen Sie es am einfachsten zur Ruhe und Stille kommen. Ebenso werden sich, wenn Sie den Geist zur Ruhe und Stille kommen lassen, Unwissenheit, Anhaftung, Ablehnung und all die anderen geistigen Hemmnisse nach und nach auflösen, und Mitgefühl, Klarheit und die grenzenlose Weite der wahren Natur Ihres Geistes werden sich enthüllen.