Wir sind Zeugen eines beispiellosen Ereignisses in der Geschichte der Wissenschaft, nämlich eines ernsthaften, anhaltenden Gedankenaustausches zwischen Vertretern der Geistes- und Naturwissenschaften und Kontemplativen. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen ergab sich einiges Ernüchternde aus dieser Begegnung. Zum Beispiel hatte mein eigener Wissenschaftszweig, die Psychologie, stets angenommen, dass die Wurzeln ihrer Disziplin im Europa und Amerika des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts zu finden seien. Doch wie sich herausstellte, ist diese Sicht der Dinge nicht nur kulturell beschränkt, sondern historisch gesehen auch kurzsichtig, denn in den meisten großen Weltreligionen, die alle ihre Wurzeln in Asien haben, wurden bereits Theorien über den Geist und seine Mechanismen – das heißt, psychologische Systeme – entwickelt.
In den 1970er Jahren reiste ich als Student in Indien umher und studierte den Abhidharma, eines der eleganteren Beispiele für ein solches, dem Buddhismus entstammendes, uraltes psychologisches System. Ich war völlig perplex, als ich entdeckte, dass hier schon seit Jahrtausenden – und nicht bloß seit einem Jahrhundert – die fundamentalen Fragen einer Geisteswissenschaft erforscht wurden. Die klinische Psychologie, zu jener Zeit mein Betätigungsfeld, strebte nach Linderungsmöglichkeiten für die vielfältigen Formen von emotionalem Schmerz. Nun stellte ich aber zu meiner Überraschung fest, dass dieses Jahrtausende alte System eine Reihe von Methoden herausgebildet hatte, die nicht nur angetan waren, mentales Leiden zu heilen, sondern auch so positive menschliche Fähigkeiten wie Mitgefühl und Einfühlungsvermögen zu verstärken und zu erweitern. Von dieser Psychologie hatte ich im Verlauf meiner Studien im Westen nie etwas vernommen.
Aus dem intensiven Dialog zwischen Praktizierenden dieser uralten Wissenschaft des Geistes und Vertretern der modernen Wissenschaft ist eine aktive Zusammenarbeit erwachsen. Maßgeblich beteiligt an dieser funktionierenden Partnerschaft waren der Dalai Lama und das »Mind and Life«-Institut, das über Jahre hinweg Buddhisten, Gelehrte und moderne Wissenschaftler zu Diskussionsrunden zusammenbrachte. Und was zunächst mit sondierenden Gesprächen seinen Anfang nahm, hat sich nun zu einem gemeinsam betriebenen Forschungsunternehmen entwickelt. Als eine Folge davon haben Experten der buddhistischen Wissenschaft des Geistes im Verein mit Neurowissenschaftlern ein Forschungsvorhaben erarbeitet, das die neuralen Auswirkungen dieser vielfältigen Methoden geistiger Schulung dokumentiert. Yongey Mingyur Rinpoche war einer der an dieser Allianz äußerst aktiv beteiligten praktizierenden Experten, die mit Richard Davidson, dem Leiter des »Waisman Laboratory for Brain Imaging and Behavior« an der Universität von Wisconsin, zusammengearbeitet haben. Dieses Forschungsunternehmen erbrachte sensationelle Ergebnisse, die, sollten sie wiederholbar sein, bestimmte fundamentale Grundannahmen der Wissenschaft auf immer verändern werden. Danach wäre zum Beispiel erwiesen, dass ein systematisches Meditationstraining, das über Jahre hinweg stetig aufrechterhalten wird, die Befähigung des Menschen zu positiven Veränderungen im Bereich der Gehirnaktivität in einem Ausmaß zu fördern vermag, wie es sich die moderne kognitive Neurowissenschaft nie erträumt hätte.
Das bis dato vielleicht unglaublichste Resultat ergab sich im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie, an der eine Handvoll Meditationsmeister teilnahm, darunter auch Yongey Mingyur Rinpoche, wie er in diesem Buch beschreibt. Während einer Meditation über Mitgefühl steigerte sich die neurale Aktivität in einem innerhalb des Gehirnsystems für das Glücksempfinden zuständigen Schlüsselzentrum um 700 bis 800 Prozent! Bei den normalen Teilnehmern an dieser Studie, freiwillige Versuchspersonen, die mit dem Meditieren eben erst begonnen hatten, nahm die Aktivität im gleichen Bereich lediglich um 10 bis 15 Prozent zu. Diese Meditationsmeister brachten ein Training mit, wie es für olympiareife Hochleistungssportler typisch ist – zwischen 10 000 und 15 000 im Laufe ihres Lebens absolvierte Übungsstunden – und hatten ihre meditativen Fähigkeiten in Jahren des Retreats fein geschliffen und geeicht.
Yongey Mingyur ist hier so etwas wie ein Genie. Schon als kleiner Junge erhielt er tief gehende Meditationsunterweisungen von seinem Vater Tulku Urgyen Rinpoche, einem der angesehensten Meister, die Tibet kurz vor dem Einmarsch der Kommunisten verlassen haben. Mit erst 13 Jahren fühlte er sich inspiriert, sich in ein Dreijahresretreat zu begeben. Und als er es beendet hatte, wurde er zum Meditationsmeister des sich anschließenden Dreijahresretreats in diesem Kloster bestimmt.
Ebenso ungewöhnlich ist Yongey Mingyurs starkes Interesse an der modernen Wissenschaft. Er nahm als glühend interessierter Zuschauer an einigen Konferenzen des »Mind and Life«-Instituts teil und ergriff jede Gelegenheit zu persönlichen Treffen mit Wissenschaftlern, die ihm mehr über ihr Spezialgebiet erklären konnten. Bei vielen dieser Unterhaltungen schälten sich bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen Schlüsseleinsichten des Buddhismus und des modernen Wissenschaftsverständnisses heraus – nicht nur im Bereich der Psychologie, sondern auch auf dem Gebiet kosmologischer Prinzipien, die sich aus den neuesten Fortschritten in der Quantentheorie ergeben. Die Essenz dieser Unterhaltungen wird in diesem Buch übermittelt.
Doch sind diese eher esoterischen Punkte in eine umfassendere, mehr deskriptiv und pragmatisch orientierte Einführung in die grundlegenden Meditationspraktiken eingewoben, die Mingyur Rinpoche so eingängig lehrt. Es handelt sich hier schließlich um einen praktischen Leitfaden, um ein Handbuch, mit dessen Hilfe sich das Leben zum Besseren wenden lässt. Und diese Reise beginnt mit unserem ersten Schritt, den wir von da aus tun, wo wir uns eben gerade befinden.
Daniel Goleman