Bedenke die Vorteile dieser kostbaren
menschlichen Existenz.
Jamgön Kongtrul: Das Licht der Gewissheit
Von allen bisher von modernen Wissenschaftlern untersuchten Lebewesen kann anscheinend nur vom Menschen mit absoluter Gewissheit gesagt werden, dass er über die Fähigkeit verfügt, bewusste Entscheidungen für seinen Lebensweg zu fällen und festzustellen, ob ihn seine Wahl durch das Tal vorübergehenden Glücks oder in den Bereich dauerhaften inneren Friedens und Wohlergehens führt. Obschon wir genetisch auf das vorübergehende Glück programmiert sein mögen, sind wir auch mit der Fähigkeit begabt, ein tiefer gehendes und dauerhafteres Gefühl von Zuversicht, innerem Frieden und Wohlbefinden in uns wahrzunehmen. Von den fühlenden Wesen vermag anscheinend einzig der Mensch die Notwendigkeit zu erkennen, ein Band zwischen Vernunft, Emotion und Überlebensinstinkt zu schmieden und dabei – nicht nur für sich selbst und die nachfolgenden menschlichen Generationen, sondern für alle Geschöpfe, die Schmerz, Angst und Leiden fühlen – ein Universum zu erschaffen, in dem alle friedlich und zufrieden existieren können.
Dieses Universum existiert bereits, auch wenn uns das gegenwärtig nicht wirklich bewusst ist. Das Ziel buddhistischer Lehren ist die Entwicklung und Entfaltung der Fähigkeit zu erkennen, dass dieses Universum – das in Wirklichkeit nicht mehr und nicht weniger als die unserem eigenen Wesen inhärente grenzenlose Möglichkeit ist – bereits im Hier und Jetzt existiert. Um das erkennen zu können, muss man jedoch unbedingt lernen, wie man den Geist zur Ruhe bringt. Nur wenn der Geist in seinem natürlichen Gewahrsein ruht, können wir allmählich einsehen, dass wir nicht unsere Gedanken, nicht unsere Gefühle und nicht unsere Wahrnehmungen sind. Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen sind Funktionen des Körpers. Und alles, was ich von meinen buddhistischen Lehrern und von den modernen Wissenschaften gelernt habe, sagt mir, dass der Mensch mehr ist als nur sein Körper.
Die in diesem Buch vermittelten Übungen stellen lediglich die erste Stufe auf dem Pfad zur Verwirklichung unseres vollen Potenzials, unserer Buddhanatur, dar. Schon allein diese Methoden, die Ihnen helfen, Ihren Geist zu befrieden und zu beruhigen, mit ihm vertraut zu werden sowie Güte und Mitgefühl zu entwickeln, können ungeahnte Veränderungen in Ihrem Leben bewirken. Wer möchte sich nicht im Angesicht von Schwierigkeiten zuversichtlich, ruhig und gelassen fühlen? Wer möchte nicht das Gefühl von Einsamkeit oder Isoliertheit mindern oder aufheben? Oder wer möchte nicht, und sei es auch nur indirekt, zum Glück und Wohlergehen anderer beitragen und helfen, ein Umfeld herzustellen, in dem wir selbst, die, die wir lieben und an denen uns gelegen ist, und auch die noch ungeborenen Generationen gedeihen können? Für das Wirklichmachen dieser Wunder sind nur ein bisschen Geduld, ein bisschen Fleiß und ein bisschen Bereitschaft vonnöten, anerzogene Vorstellungen über uns und die Welt um uns herum aufzugeben. Es braucht nur ein bisschen Praxis, damit wir inmitten der Traumlandschaft unseres Daseins erwachen und erkennen, dass es zwischen den Erfahrungen im Traum und dem Geist des Träumenden keinen Unterschied gibt.
So wie die Traumlandschaft in ihren Möglichkeiten unbegrenzt ist, ist auch unsere Buddhanatur ohne Grenzen. In den Geschichten über die buddhistischen Meister der Vergangenheit wimmelt es von wunderbaren Berichten über Männer und Frauen, die über Wasser wandelten, unbeschädigt durchs Feuer gingen und mit ihren Schülern und Anhängern über große Distanzen hinweg telepathisch kommunizierten. Mein eigener Vater konnte eine Operation, bei der ein Chirurg durch die empfindsamen Haut- und Muskelschichten rings um sein Auge schnitt, ohne jeden Schmerz ertragen.
Ich kann Ihnen auch ein paar interessante Geschichten über einen Mann erzählen, der im 20. Jahrhundert lebte und zur Verwirklichung seines vollen Potenzials als fühlendes Wesen gelangte. Dieser Mann war der Sechzehnte Karmapa, das vormalige Oberhaupt der Kagyü-Linie des tibetischen Buddhismus. Infolge der großen Probleme und Schwierigkeiten, die Tibet in den 1950er Jahren erschütterten, verließen er und eine große Anhängerschar das Land und siedelten sich in Sikkim an. Dort gründete er ein großes Kloster, verschiedene Schulen und eine Vielfalt an Institutionen, um die Gemeinde der Exiltibeter in ihrem Gedeihen zu unterstützen. Als die Gemeinschaft in Sikkim sicher etabliert war, begann der Karmapa in der Welt herumzureisen und eine wachsende Anzahl von Menschen zu unterrichten, die sich zu jener Zeit der Lehren des tibetischen Buddhismus eben erst bewusst zu werden begann. Im Verlauf seiner Reisen durch Europa und Nordamerika vollbrachte er Dinge, die man als Wunder bezeichnen kann, hinterließ seine Fußabdrücke in massivem Felsgestein und brachte Regen in die von Dürre heimgesuchten Gebiete des amerikanischen Südwestens. Einmal brachte er in einer von den Hopi-Indianern bewohnten Wüstenregion spontan eine Quelle zum Fließen.
Doch es war der Tod des Sechzehnten Karmapa, der für die, die Zeugen waren, die Qualitäten des natürlichen Geistes auf höchst beeindruckende Weise demonstrierte. 1981 wurde er in einem Krankenhaus außerhalb von Chicago wegen seiner Krebserkrankung behandelt. Der Krankheitsverlauf verwirrte das ihn behandelnde Ärzteteam, denn die Symptome schienen ohne ersichtlichen Grund zu kommen und zu gehen, zuweilen verschwanden sie ganz, um dann später in davor nicht betroffenen Körperbereichen wieder aufzutauchen. Es war laut einem Bericht so, »als ob sich sein Körper über die Apparate lustig machte«.1 Der Karmapa klagte während des ganzen Martyriums nie über Schmerzen. Er war sehr viel mehr am Wohlergehen des Krankenhauspersonals interessiert, und viele schauten regelmäßig bei ihm vorbei, nur um das immense Gefühl von Ruhe, Gelassenheit und Mitgefühl zu erleben, das er trotz der in ihm wütenden Krankheit ausstrahlte.
Als er starb, baten die Lamas und andere Tibeter, die während seiner Behandlung bei ihm geblieben waren, darum, dass man seinen Körper drei Tage lang unangetastet ließ, so wie es beim Hinscheiden eines großen Meisters tibetischer Brauch ist. Weil der Karmapa beim Krankenhauspersonal einen so tiefen Eindruck hinterlassen hatte, kam die Verwaltung dieser Bitte nach. Statt sofort in die Leichenhalle des Krankenhauses überführt zu werden, durfte sein Körper – in der Meditationshaltung sitzend, in der er gestorben war – in seinem Zimmer verbleiben.
Wie die Ärzte, die ihn im Verlauf dieser drei Tage untersuchten, dokumentiert haben, setzte beim Körper des Karmapa keine Totenstarre ein und blieb der Herzbereich fast so warm wie bei einem Lebenden. Nach nunmehr über 20 Jahren lässt sich der Zustand seines Körpers nach dem Tod noch immer nicht medizinisch erklären, und nach wie vor bleibt bei denen, die Zeuge dieser Vorgänge waren, ein tiefer Eindruck zurück.
Ich vermute, dass die Entscheidung des Sechzehnten Karmapa, sich in einem westlichen Krankenhaus in Behandlung zu begeben und dort seinen Körper zu verlassen, sein vielleicht größtes Geschenk an die Menschheit war. Damit demonstrierte er der westlichen Wissenschaft, dass wir in der Tat über Fähigkeiten verfügen, die sich auf die übliche Art nicht erklären lassen.
EINEN LEHRER FINDEN
Du musst von einem authentischen
spirituellen Mentor angeleitet und
geführt werden.
Karmapa Wangtschug Dordsche:
Mahamudra – Ozean des wahren Sinnes
Der interessante Aspekt bei den Meistern der Vergangenheit und der Gegenwart ist der, dass sie alle einen ähnlichen Schulungsprozess durchliefen. Sie begannen damit, dass sie viele der in diesem Buch vorgestellten Übungen zur Befriedung und Beruhigung des Geistes und zur Entwicklung von Mitgefühl machten, und gelangten dann zu ihrem vollen Potenzial, indem sie der Führung eines Lehrers folgten, der weiser und erfahrener war als sie. Wenn Sie den Weg weiterverfolgen möchten, wenn Sie Ihr volles Potenzial erforschen und erfahren wollen, dann brauchen Sie jemanden, der Sie führt. Sie brauchen einen Lehrer oder eine Lehrerin.
Über welche Qualitäten verfügen gute Lehrer? Erstens müssen sie gemäß einer Linie geschult worden sein – sonst erfinden sie vielleicht aus persönlichem Stolz ihre eigenen Praxisregeln oder Richtlinien oder geben ein Missverständnis der Inhalte weiter, die sie in Büchern gelesen haben. Es liegt auch eine große, wenngleich subtile Kraft darin, Führung von einem Lehrer oder einer Lehrerin zu erhalten, die in einer etablierten Traditionslinie geschult worden sind: die Kraft der Interdependenz, von der in Teil I die Rede war. Wenn Sie mit einem Lehrer oder einer Lehrerin arbeiten, die in einer Traditionslinie ausgebildet wurden, werden Sie Teil der »Familie« dieser Linie. Und so wie Sie unausgesprochene, aber unschätzbare Lektionen von der Familie bekamen, in die Sie hineingeboren wurden oder in der Sie aufwuchsen, werden Sie auch einfach durch das Beobachten und Interagieren mit einem Lehrer oder einer Lehrerin, die echte Linienträger sind, unschätzbare Lektionen erhalten.
Abgesehen davon, dass sie in den Disziplinen einer bestimmten Linie ausgebildet und geschult worden sind, müssen qualifizierte Lehrer und Lehrerinnen Mitgefühl demonstrieren und ihre eigenen Verwirklichungen über ihr Handeln auf subtile Weise klar erkennen lassen, ohne diese jemals zu erwähnen. Meiden Sie Lehrer, die über ihre persönlichen Errungenschaften sprechen – weil ein solches Gerede oder Sichbrüsten ein sicheres Zeichen dafür ist, dass sie nicht die geringste Verwirklichung erlangt haben. Lehrer, die einige Erfahrungen gemacht haben, reden nie über ihre Erlangungen, sondern sprechen stattdessen eher über die Qualitäten ihrer eigenen Lehrer. Und doch können Sie ihre persönlichen Qualitäten durch die Aura von Autorität erspüren, die sie gleichsam umhüllt wie Licht, das von einem Goldnugget reflektiert wird. Sie sehen nicht das Gold selbst, sondern nur das strahlende Leuchten von goldenem Licht.
DAS GLÜCK WÄHLEN
Rechte Entschlossenheit ist das Kar-
ma des Geistes.
Gunaprabha: Der Schatz des Abhidharma
Sehen Sie nur einmal einem Kind bei der Beschäftigung mit einem Videospiel zu, wie es besessen Knöpfe drückt, um Feinde zu töten und Punkte zu sammeln, und Sie werden erleben, wie süchtig solche Spiele machen können. Treten Sie dann einen Schritt zurück und schauen Sie, wie die »Spiele« finanzieller, emotionaler oder anderer Art, die Sie als Erwachsener spielen, nicht weniger süchtig machen. Der Hauptunterschied zwischen einem Kind und einem Erwachsenen ist der, dass Sie als Erwachsener über die Erfahrung und das Wissen verfügen, um von diesen Spielen Abstand nehmen zu können. Erwachsene können sich dazu entscheiden, sich ihr Bewusstsein objektiver anzusehen und dabei Mitgefühl für andere zu entwickeln, die nicht in der Lage sind, eine solche Wahl zu treffen.
Wie immer wieder auf den vorangegangenen Seiten beschrieben wurde, werden Sie, wenn Sie erst einmal anfangen, das Gewahrsein Ihrer Buddhanatur zu entwickeln, nach und nach Veränderungen in Ihren alltäglichen Erfahrungen wahrnehmen. Dinge, die Sie zu ärgern oder beunruhigen pflegten, verlieren allmählich ihre Macht über Sie. Sie werden auf der intuitiven Ebene klüger, Sie werden entspannter, aufgeschlossener und warmherziger. Sie fangen an, Hindernisse als Chancen zur Weiterentwicklung zu begreifen. Und während das illusorische Gefühl von Begrenztheit und Verletzlichkeit nach und nach schwindet, entdecken Sie tief in sich selbst die wahre Größe dessen, wer und was Sie sind.
Und das Beste von allem: Wenn Sie allmählich Ihr eigenes Potenzial erkennen, erkennen Sie es auch in Ihren Mitmenschen. Die Buddhanatur ist keine spezielle Eigenschaft, zu der nur wenige Privilegierte Zugang haben. Das wahre Merkmal der Erkenntnis Ihrer Buddhanatur zeigt sich darin, dass Ihnen klar wird, wie normal sie im Grunde ist. Können Sie jetzt sehen, dass jedes Lebewesen an ihr teilhat, wenn auch nicht ein jedes sie in sich selbst erkennt. Sie werden also feststellen, dass Sie offener werden, statt Ihr Herz vor Menschen zu verschließen, die Sie anschreien oder sich irgendwie verletzend oder schädigend verhalten. Sie erkennen, dass diese nicht einfach Idioten sind, sondern Menschen, die wie Sie auch glücklich und friedlich sein wollen; sie benehmen sich nur wie Dummköpfe, weil sie ihre wahre Natur nicht erkannt haben oder von Verletzlichkeits- und Angstgefühlen überwältigt sind.
Ihre Praxis kann mit dem einfachen Vorsatz beginnen, es besser zu machen, an alle Aktivitäten mit größerer Achtsamkeit heranzugehen und Ihr Herz tiefer für andere zu öffnen. Im Einzelnen gesehen, ist die Motivation der wichtigste Faktor bei der Entscheidung darüber, ob unsere Erfahrung von Leiden oder innerem Frieden bedingt wird. In der Tat entwickeln sich Achtsamkeit und Mitgefühl im gleichen Tempo. Je achtsamer Sie werden, desto leichter wird es Ihnen fallen, mitfühlend zu sein. Und je mehr Sie Ihr Herz für andere öffnen, desto achtsamer werden Sie bei all Ihren Aktivitäten werden.
Sie können sich in jedem Moment dazu entscheiden, der Kette von Gedanken, Emotionen und Empfindungen zu folgen, die Sie in der Wahrnehmung bestärkt, verletzlich und eingeschränkt zu sein; oder Sie können sich darauf besinnen, dass Ihre wahre Natur rein und nicht bedingt ist und dass sie nicht beschädigt werden kann. Sie können im Schlaf der Unwissenheit verbleiben oder sich daran erinnern, dass Sie wach sind und es immer waren. In jedem Fall bringen Sie nach wie vor die unbegrenzte Natur Ihres wahren Seins zum Ausdruck. Unwissenheit, Verletzlichkeit, Angst, Wut und Begehren sind Ausdrucksformen des grenzenlosen Potenzials Ihrer Buddhanatur. Wenn Sie solche Entscheidungen treffen, ist daran nichts inhärent falsch oder richtig. Die Frucht buddhistischer Praxis ist ganz einfach die Erkenntnis, dass diese und andere geistige Hemmnisse nicht mehr und nicht weniger sind als Optionen, die uns zur Verfügung stehen, weil unsere wahre Natur in ihren Möglichkeiten unbegrenzt ist.
Wir entscheiden uns für die Unwissenheit, weil wir es können. Wir entscheiden uns für das Gewahrsein und die Bewusstheit, weil wir es können. Samsara und Nirvana sind einfach verschiedene Gesichtspunkte, basierend auf unserer Entscheidung, wie wir unsere Erfahrungen untersuchen und verstehen wollen. Am Nirvana ist nichts Magisches, und am Samsara ist nichts Schlechtes oder Falsches. Wenn Sie entschlossen sind, sich für beschränkt, ängstlich, verletzlich oder von Erfahrungen in der Vergangenheit gebrandmarkt zu halten, dann sollten Sie nur wissen, dass es Ihre Wahl ist und dass Ihnen immer die Möglichkeit offensteht, sich auf andere Weise wahrzunehmen und zu erfahren.
Der buddhistische Weg bietet Ihnen im Wesentlichen eine Wahl zwischen dem Vertrauen und dem durch Übung Erlernbaren. Mit dem Beibehalten vertrauter Denk- und Verhaltensmuster verbinden sich fraglos ein gewisser Trost und eine gewisse Stabilität.
Ein Verlassen dieser Zone der Bequemlichkeit und Vertrautheit impliziert notwendigerweise, dass man sich in einen Bereich unvertrauter Erfahrungen begibt, der möglicherweise wahrhaft furchterregend erscheint – ein unbequemer Zwischenbereich, so wie ich ihn im Retreat erlebte. Man weiß nicht, ob man zum einst Vertrauten, aber Erschreckenden zurückkehren oder wagemutig auf etwas zugehen soll, das vielleicht einfach nur deshalb beängstigend erscheint, weil es unvertraut ist.
In gewisser Weise ähnelt Ungewissheit, da diese mit der Entscheidung für die Erkenntnis des eigenen Potenzials einhergeht, dem, was mir einige Schüler über das Beenden einer missbräuchlichen Beziehung erzählten: Das Aufgeben dieser Beziehung ist von einem gewissen Widerstreben oder vom Gefühl des Scheiterns begleitet. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Beenden einer auf Missbrauch gegründeten Beziehung und dem Eintreten in den Pfad buddhistischer Praxis ist der, dass Sie auf dem Pfad der buddhistischen Praxis zwar auch einer auf Missbrauch gegründeten Beziehung ein Ende setzen, aber diesmal ist es Ihre Beziehung zu sich selbst.
Wenn Sie sich für die Erkenntnis Ihres wahren Potenzials entscheiden, dann werden Sie allmählich feststellen, dass Sie sich immer seltener selbst runtermachen, dass Ihre Selbsteinschätzung positiver und gesünder wird und dass Ihre Zuversicht und Ihre reine Freude darüber, am Leben zu sein, zunehmen. Gleichzeitig wächst in Ihnen die Erkenntnis, dass alle Ihre Mitmenschen über das gleiche Potenzial verfügen, egal ob sie es wissen oder nicht. Und statt sie als Gegner zu behandeln oder als Bedrohung anzusehen, können Sie jetzt deren Angst und Unglücklichsein erkennen und mit ihnen fühlen. Und Sie werden spontan auf sie so reagieren, dass sich eher Lösungen abzeichnen, als dass Probleme entstehen.
Das Glücklichsein läuft letztlich auf eine Entscheidung hinaus: auf die Wahl zwischen der Mühe, sich der eigenen geistigen Hemmnisse bewusst zu werden, und der Last, sich von ihnen beherrschen zu lassen. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass es immer angenehm und erfreulich sein wird, wenn Sie einfach im Gewahrsein Ihrer Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen ruhen und sie als Interaktion zwischen Geist und Körper erkennen. Tatsache ist, dass ich Ihnen so ziemlich garantieren kann, dass dieser Blick auf sich selbst zuweilen extrem unerfreulich sein wird. Aber dies gilt immer für die Anfangsphase bei etwas Neuem, sei es nun der Gang ins Fitnessstudio, eine neue Arbeitsstelle oder der Beginn einer Diät.
Die ersten paar Monate sind stets schwierig. Es ist schwer, all die notwendigen Fertigkeiten zu erlernen, um einen Job meistern zu können; es ist schwer, sich zum Trainieren zu motivieren; es ist schwer, jeden Tag gesund zu essen. Aber diese Schwierigkeiten legen sich nach einer Weile, man empfindet allmählich Vergnügen oder hat das Gefühl, etwas geleistet zu haben, und es tritt ein Wandel im ganzen Selbstgefühl ein.
Mit der Meditation verhält es sich ebenso. In den ersten paar Tagen fühlen Sie sich vielleicht sehr gut, aber nach etwa einer Woche wird die Praxis zur Plage. Irgendwie finden Sie keine Zeit, sitzen unbequem, können sich nicht konzentrieren oder werden einfach müde. Sie stoßen gegen eine Mauer, so wie Läufer, wenn sie zu ihrem üblichen Trainingsprogramm noch einen weiteren Kilometer hinzuzufügen versuchen. Der Körper sagt: »Ich kann nicht.« Der Kopf sagt: »Du sollst«. Beide Stimmen sind nicht besonders angenehm; eigentlich sind beide ein bisschen fordernd.
Der Buddhismus wird oft als »mittlerer Weg« bezeichnet, weil er eine dritte Option anbietet. Wenn Sie sich keine Sekunde länger auf einen Ton oder auf eine Kerzenflamme fokussieren können, dann hören Sie unbedingt auf. Sonst wird die Meditation zur lästigen Pflicht. Dann denken Sie schließlich: O je, es ist 7.15 Uhr. Ich muss aufs Sitzkissen und das Glücklichsein kultivieren. Kein Mensch macht auf diese Weise Fortschritte. Wenn Sie andererseits denken, Sie könnten noch ein oder zwei Minuten weitermachen, dann tun Sie es unbedingt. Was Sie dabei in Erfahrung bringen, könnte Sie möglicherweise überraschen. Sie könnten einen bestimmten Gedanken oder ein bestimmtes Gefühl entdecken, das sich hinter Ihrem Widerstand verbirgt und das Sie sich nicht eingestehen wollten. Vielleicht stellen Sie auch einfach fest, dass Sie Ihren Geist länger friedlich ruhen lassen können, als Sie zunächst glaubten.
Schon allein diese Entdeckung kann Ihnen größeres Selbstvertrauen schenken, während sie gleichzeitig Ihren Kortisonlevel senkt, Ihren Dopaminlevel anhebt und die Aktivität in Ihrem linken Stirnlappenbereich steigert. Und diese biologischen Veränderungen können sich auf Ihren Tag gewaltig auswirken und Ihnen einen physischen Ausgangspunkt für heitere Gelassenheit, Stabilität und Zuversicht liefern.
Das Beste von allem aber ist: Ganz gleich, wie lange Sie meditieren oder welche Technik Sie anwenden, jede buddhistische Meditationsmethode erzeugt letztlich Mitgefühl, egal ob Sie sich dessen bewusst sind oder nicht. Wenn Sie auf Ihren Geist blicken, können Sie gar nicht anders als feststellen, wie ähnlich Sie Ihren Mitmenschen sind. Wenn Sie Ihren Wunsch, glücklich zu sein, wahrnehmen, sehen Sie unvermeidlich den gleichen Wunsch in anderen; und wenn Sie ganz klar auf Ihre eigene Angst, Ihre Wut oder Ihre Abneigung blicken, können Sie nicht umhin zu erkennen, dass alle um Sie herum die gleiche Angst, die gleiche Wut, die gleiche Abneigung fühlen. Wenn Sie auf Ihren eigenen Geist blicken, lösen sich alle eingebildeten Unterschiede zwischen Ihnen und anderen automatisch auf, und das uralte Gebet der Vier Unermesslichen wird so natürlich und beständig wie Ihr eigener Herzschlag:
Mögen alle Wesen glücklich sein und die Ursachen von Glück besitzen.
Mögen alle Wesen frei sein von Leid und der Ursache des Leids.
Mögen alle Wesen Freude und die Ursache der Freude besitzen.
Mögen alle Wesen im Gleichmut verweilen, frei von Anhaftung und Ablehnung.