Die uranfängliche Reinheit des Grun
des übersteigt völlig Worte, Begriffe
und Formulierungen.
Jamgön Kongtrul Lödro Thayé: Myriad Worlds
Die Definition von Leerheit als grenzenlose Unendlichkeit der Möglichkeiten stellt eine elementare Beschreibung eines sehr komplizierten Sachverhalts dar. Eine subtilere Bedeutung, die frühen Übersetzern entgangen sein mag, impliziert, dass alles, was aus diesem unendlichen Potenzial hervorgeht – ob es nun ein Gedanke, ein Wort, ein Planet oder ein Tisch ist –, für sich genommen gar nicht als ein »Ding« existiert, sondern vielmehr das Resultat zahlreicher Ursachen und Bedingungen ist. Wird irgendeine dieser Ursachen oder Bedingungen verändert oder entfernt, entsteht ein anderes Phänomen. Wie bei den Prinzipien, die beim zweiten Drehen des Dharma-Rades dargelegt wurden, finden wir auch in der Quantenmechanik die Tendenz, Erfahrung nicht einfach im Sinne einer einzigen möglichen Ereigniskette, die zu einem einzigen Resultat führt, zu beschreiben, sondern vielmehr im Sinne von Wahrscheinlichkeiten und Ereignissen. Dies kommt auf überraschende Weise dem buddhistischen Verständnis von der absoluten Wirklichkeit näher, in der theoretisch eine Vielfalt von Ergebnissen möglich ist.
INTERDEPENDENZ
Was immer von Bedingungen abhän-
gigist, wird als leer seiend erklärt.
Sutra von Madröpa erbeten
Nehmen wir ein einfaches Beispiel. Stellen Sie sich zwei verschiedene Stühle vor: Einer weist vier stabile Stuhlbeine auf, der andere zwei feste und zwei angebrochene Stuhlbeine. Wenn Sie sich auf dem Stuhl mit den vier festen Beinen niederlassen, sitzen Sie bequem. Lassen Sie sich auf dem anderen nieder, werden Sie auf dem Boden landen. Oberflächlich betrachtet kann man beide als »Stühle« betrachten. Aber da die zugrunde liegenden Bedingungen nicht die gleichen sind, wird Ihre Erfahrung mit den beiden Stühlen zweifellos verschieden ausfallen.
Dieses Zusammenspiel verschiedener Ursachen nennt man im Buddhismus Interdependenz. Das Wirken dieser Prinzipien des abhängigen Entstehens, der wechselseitigen Bedingtheit und Verflechtung, können wir fortwährend und überall in unserer Umwelt beobachten. Ein Samenkorn zum Beispiel trägt in sich das Potenzial zum Wachstum, kann es aber nur unter bestimmten Bedingungen verwirklichen – das heißt, ein Baum, ein Busch, ein Weinstock werden. Es muss eingepflanzt und gewässert werden und die richtige Menge Licht bekommen. Und selbst unter den richtigen Bedingungen ist das, was da wächst, von der Art des Samenkorns abhängig. Aus einem Apfelkern wird kein Orangenbäumchen, und aus einem Orangenkern wird kein Baum entstehen, an dem plötzlich Äpfel reifen. Das heißt, das Prinzip der Interdependenz gilt auch für das Samenkorn.
Ähnlich haben die Entscheidungen, die wir in unserem Alltagsleben treffen, eine relative Auswirkung; sie setzen Ursachen und Bedingungen in Gang, die im Bereich der relativen Wirklichkeit unvermeidliche Konsequenzen erzeugen. Entscheidungen auf der relativen Ebene sind wie Steine, die man in einen Teich wirft. Auch wenn der Stein nicht sehr weit fliegen sollte, werden sich doch von der Stelle aus, wo er ins Wasser fällt, kleine Wellen in Form von konzentrischen Kreisen ausbreiten. Es gibt keine Möglichkeit, dass dies nicht geschieht. (Es sei denn natürlich, Sie haben so schlecht gezielt, dass der Stein nicht in den Teich fällt, sondern bei Ihrem Nachbarn ins Fenster fliegt, in welchem Falle sich eine ganz andere Reihe von Konsequenzen ergibt.)
Auf gleiche Weise gründen sich Ihre Gedanken und Vorstellungen über Ihre eigene Person – »Ich bin nicht gut genug«, »Ich bin zu dick« oder »Gestern habe ich einen schrecklichen Fehler gemacht« – auf vorhergehende Ursachen und Bedingungen. Vielleicht haben Sie in der Nacht zuvor schlecht geschlafen. Vielleicht hat kurz zuvor irgendjemand irgendetwas gesagt, das Ihnen missfiel. Oder vielleicht sind Sie auch nur hungrig, und Ihr Körper ruft nach Vitaminen oder Mineralen, die er braucht, um richtig funktionieren zu können. Etwas so Simples wie Wassermangel kann zu Müdigkeit, Kopfschmerzen und Konzentrationsschwäche führen. Irgendeine beliebige Anzahl von Dingen kann über die Art der relativen Erfahrung bestimmen, ohne dass dies irgendetwas an der absoluten Wirklichkeit dessen, wer Sie sind, ändert.
Als Neurowissenschaftler mich im Laboratorium in Wisconsin zu untersuchen begannen, stellte ich eine Menge Fragen, wie denn heutige Wissenschaftler die Wahrnehmung verstehen. Buddhisten haben hier ihre eigenen Theorien, aber ich war neugierig zu hören, was sie aus westlich-wissenschaftlicher Sicht dazu zu sagen hatten. Ich erfuhr, dass unter streng neurowissenschaftlichem Gesichtspunkt für jedweden Akt der Wahrnehmung drei wesentliche Elemente nötig sind: erstens ein Reiz oder Stimulus – etwas Sichtbares, ein Laut, ein Geruch, ein Geschmack oder etwas, das wir berühren oder von dem wir berührt werden –, zweitens ein Sinnesorgan und drittens eine Reihe neuronaler Schaltsysteme im Gehirn, die die vom Sinnesorgan erhaltenen Signale strukturieren und ihnen Sinn verleihen.
Wir nahmen die visuelle Wahrnehmung einer Banane als Beispiel, und die Wissenschaftler erklärten mir, dass die Sehnerven – die erregbaren und leitfähigen Nervenzellen oder Neuronen im Auge – zunächst ein längliches, gelbes, gebogenes Ding entdecken, das vielleicht an beiden Enden einen braunen Fleck aufweist. Von diesem Stimulus erregt, feuern die Neuronen nun Botschaften an den Thalamus ab, ein in der Mitte des Gehirns gelegenes neuronales Gebilde. Er ist so etwas wie eine Schaltzentrale, wie man sie in alten Filmen dargestellt sieht, wo die Sinnesdaten sortiert werden, bevor sie in andere Gehirnareale weitergeleitet werden.
Hat der Thalamus die von den Sehnerven geschickten Botschaften sortiert, werden sie an das limbische System weitergeschickt, in die Gehirnregion, die hauptsächlich für das Verarbeiten emotionaler Reaktionen und der Empfindungen von Schmerz und Lust verantwortlich ist. An diesem Punkt fällt unser Gehirn eine Art sofortiges Urteil darüber, ob der visuelle Stimulus – in diesem Fall das längliche, gelbe, gebogene Ding mit den braunen Flecken an den beiden Enden – etwas Gutes, etwas Schlechtes oder etwas Neutrales ist. Wir nennen solch eine unmittelbare Reaktion, wie wir sie zum Beispiel auch manchmal spontan in der Gegenwart anderer Menschen haben, ein »Bauchgefühl«, obwohl es nicht nur im Bauch entsteht. Die Dinge lassen sich aber sehr viel leichter auf diesen kurzen Nenner bringen, als wenn wir nun auf solche Details eingehen müssten wie »eine Stimulierung der Neuronen im limbischen System«.
Während diese Informationen im limbischen System verarbeitet werden, werden sie gleichzeitig weiter »nach oben« in die Regionen des Neokortex geschickt, die in der Hauptsache für das Analysieren zuständig sind. Hier werden sie zu Mustern – oder spezifischer zu Konzepten – strukturiert, die uns die Wegweiser oder Landkarten liefern, derer wir uns für unser Navigieren in der Alltagswelt bedienen. Der Neokortex bewertet und beurteilt das Muster und kommt zum Schluss, dass der Gegenstand, der die Zellen unseres Sehnervs in Erregung versetzt hat, tatsächlich eine Banane ist. Und hat der Neokortex das Muster oder Konzept »Banane« bereits geschaffen, dann bietet er alle möglichen Arten von damit assoziierten Details an, die sich auf Erfahrungen in der Vergangenheit gründen. Zum Beispiel wie eine Banane schmeckt, ob wir den Geschmack mögen oder nicht und alle möglichen anderen Einzelheiten, die sich auf unser Konzept von einer Banane beziehen und die uns insgesamt befähigen, mit größerer Präzision darüber zu entscheiden, wie wir auf den von uns als Banane erkannten Gegenstand reagieren wollen.
Was ich hier beschrieben habe, stellt nur eine sehr dürftige Skizzierung des Wahrnehmungsprozesses dar. Aber auch schon ein kurzer Eindruck davon liefert uns einen Hinweis darauf, wie ein ganz gewöhnlicher Gegenstand zur Ursache von Glücklichsein oder Unglücklichsein werden kann. Wenn wir erst einmal in dem Stadium angelangt sind, wo wir eine Banane erkennen, sehen wir in Wirklichkeit nicht mehr das originale Objekt. Stattdessen sehen wir ein vom Neokortex konstruiertes Bild davon. Und dieses Bild ist von einer riesigen Vielfalt von Faktoren abhängig, einschließlich unserer Umwelt, Erwartungen, früheren Erfahrungen und auch der Struktur unserer neuronalen Schaltungen.
Was das Gehirn selbst angeht, so kann man sagen, dass die sensorischen Prozesse und all diese Faktoren insofern interdependent sind, als sie sich ständig wechselseitig beeinflussen. Weil der Neokortex letztlich das Muster liefert, das uns befähigt, das wahrgenommene Objekt zu erkennen, zu benennen und sein Verhalten oder die mit ihm assoziierten »Regeln« vorherzusagen, gestaltet er in sehr tief gehendem Sinne für uns die Welt. Mit anderen Worten, wir sehen nicht die absolute Wirklichkeit der Banane, sondern deren relative Erscheinung, ein auf mentaler Ebene konstruiertes Bild.
Zur Veranschaulichung dieses Sachverhalts beschrieb Dr. Livingston auf der ersten Konferenz des Mind and Life-Instituts, die 1987 stattfand, ein einfaches Experiment. Einer Gruppe von Forschungsteilnehmern wurde der Buchstabe T gezeigt, wobei man sorgfältig darauf geachtet hatte, dass beide Segmente, der horizontale und der vertikale Strich, genau gleich lang waren.1 Als nun die Frage gestellt wurde, ob eines der beiden Segmente länger sei als das andere oder ob beide gleich lang seien, wurden drei verschiedene Antworten gegeben, je nach persönlichem Background der Teilnehmer. Zum Beispiel hatten die meisten Personen, die in einer hauptsächlich flachen Umgebung, wie etwa in den Niederlanden, wohnten oder aufgewachsen waren, die Tendenz, das horizontale (oder flache) Segment als länger zu sehen. Im Gegensatz dazu waren die Leute, die in einer gebirgigen Gegend wohnten oder aufgewachsen waren und die Dinge eher in den Begriffen von oben und unten wahrnahmen, mit überwältigender Mehrheit der Überzeugung, dass das vertikale Segment länger war. Nur eine kleine Gruppe von Teilnehmern vermochte zu erkennen, dass beide Segmente gleich lang waren.
Das Gehirn ist also, strikt biologisch gesehen, an der Gestaltung und Konditionierung der Wahrnehmung aktiv beteiligt. Obschon Wissenschaftler nicht bestreiten würden, dass jenseits der Grenzen des Körpers eine »reale Welt« der Objekte existiert, ist man sich doch allgemein darin einig, dass die Sinneswahrnehmungen und -erfahrungen zwar eine sehr direkte und unmittelbare Angelegenheit zu sein scheinen, die an ihnen beteiligten Prozesse aber weitaus subtiler und komplexer sind, als es den Anschein hat. Wie Francisco Varela später auf der Konferenz bemerkte, »ist es, als ob das Gehirn im Prozess der Wahrnehmung die Welt konkret durchkommen lasse«.2
Die aktive Rolle des Gehirns bei den Wahrnehmungsprozessen bestimmt entscheidend über unseren normalen Geisteszustand. Und ebendiese aktive Rolle eröffnet auch denen, die sich in bestimmten mentalen Schulungspraktiken zu üben bereit sind, die Möglichkeit, seit Langem bestehende Wahrnehmungsgewohnheiten, die sich durch Jahre vorangegangener Konditionierung herausgebildet haben, allmählich zu verändern. Durch Umschulung kann das Gehirn neue neuronale Verbindungen entwickeln, die es möglich machen, nicht nur bestehende Wahrnehmungsformen zu transformieren, sondern auch über gewöhnliche mentale Zustände wie Angst, Hilflosigkeit und Schmerz hinauszugelangen und zu einer dauerhafteren Erfahrung von Glück und Frieden zu kommen.
Das sind gute Nachrichten für alle, die das Gefühl haben, in ihren Vorstellungen über das Leben und wie es nun mal ist, festzusitzen. Nichts an Ihren Erfahrungen – Ihren Gedanken, Gefühlen oder Empfindungen – ist so festgelegt und unveränderlich, wie es den Anschein hat. Ihre Wahrnehmungen sind nur sehr grobe Annäherungen an die wahre Natur der Dinge. Tatsächlich bildet das Universum, in dem wir leben, mit dem Universum in unserem Geist ein integriertes Ganzes. Wie mir Neurowissenschaftler, Physiker und Psychologen erklärten, hat die moderne Wissenschaft im kühnen Versuch, die Wirklichkeit in objektiven, rationalen Begriffen zu beschreiben, nunmehr begonnen, in uns wieder ein Gefühl für die Magie und Erhabenheit der Existenz herzustellen.
SUBJEKTE UND OBJEKTE: EINE NEURO-WISSENSCHAFTLICHE SICHTWEISE
Das dualistische Denken ist die dyna-
mische Energie des Geistes.
Jamgön Kongtrul: Creation and Completion
Da wir nun mit ein bisschen mehr Information über die Physik und Biologie ausgerüstet sind, können wir ein paar tiefer gehende Fragen über die absolute Wirklichkeit der Leerheit und die relative Wirklichkeit des Alltagserlebens stellen. Wie kommt es zum Beispiel, dass wir ein Objekt wie etwa einen vor uns befindlichen Tisch als stabil und dauerhaft erleben, wenn das, was wir wahrnehmen, nur das Bild eines Objektes und das Objekt selbst aus der Sicht der Physiker eine wirbelnde Masse von winzigen Teilchen ist? Wie können wir ein Glas Wasser auf dem Tisch sehen und fühlen? Wenn wir das Wasser trinken, scheint es durchaus real und materiell spürbar zu sein. Wie kann das sein? Wenn wir es nicht trinken, werden wir durstig? Warum?
Fangen wir damit an, dass sich der Geist in vielerlei Hinsicht auf einen Prozess einlässt, der im Tibetischen als dzinpa bekannt ist, ein Wort, das »Greifen« oder »Festhalten« bedeutet. Dzinpa meint die Neigung des Geistes, sich auf Objekte als inhärent wirklich zu fixieren. Die buddhistische Schulung bietet eine andere Herangehensweise an unsere Erfahrung vom Leben an. Diese beinhaltet, dass wir eine im Wesentlichen auf Angst gegründete, auf das Überleben ausgerichtete Sichtweise aufgeben zugunsten einer Erfahrung vom Leben als einer Folge von seltsamen und wundervollen Ereignissen.
Der Unterschied lässt sich durch ein ganz einfaches Beispiel veranschaulichen. Stellen Sie sich vor, dass ich meine Mala (eine Kette mit Gebetsperlen ähnlich einem Rosenkranz) so in der Hand halte, dass die Handfläche nach unten weist. Die Mala steht in diesem Beispiel für all die Besitztümer, die die Menschen gemeinhin zu benötigen glauben: ein schönes Auto, schicke Kleider, gutes Essen, ein gut bezahlter Job, ein komfortables Heim und so weiter. Wenn ich meine Mala mit festem Griff halte, scheint ein Teil von ihr sich immer meinem Griff zu entziehen und aus meiner Hand herauszuhängen. Wenn ich versuche, den losen Teil zu ergreifen, fällt mir ein längeres Stück von der Mala durch die Finger; und wenn ich versuche, das zu ergreifen, entgleitet mir ein noch längeres Stück. Wenn ich so weitermache, fällt mir die Mala schließlich ganz und gar aus der Hand. Wenn ich jedoch die Handfläche nach oben wende und die Mala einfach so in der offenen Hand ruhen lasse, fällt nichts davon durch. Die Perlen ruhen lose in meiner Hand.
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Raum voller Leute und blicken auf einen Tisch vorne im Raum. Sie werden dazu neigen, sich auf diesen Tisch als eigenständiges Ding zu beziehen, als ganzheitliches, in sich abgeschlossenes Objekt, das unabhängig von einer subjektiven Beobachtung existiert. Aber der Tisch hat eine Platte, Tischbeine, Seiten, eine Rückseite und eine Vorderseite. Lässt er sich, wenn Sie sich darauf besinnen, dass er sich aus diesen verschiedenen Teilen zusammensetzt, wirklich als ein singuläres, ganzheitliches Objekt definieren?
Die Neurowissenschaftler entdeckten bei ihrer Erforschung des »dirigentenlosen« Gehirns, dass sich die Gehirne fühlender Wesen spezifisch dahingehend entwickelt haben, dass sie Muster erkennen und auf sie reagieren können. Unter den Milliarden Nervenzellen des menschlichen Gehirns befinden sich einige, die speziell auf das Aufspüren von Formen ausgerichtet sind, während sich andere dem Entdecken von Farben, Gerüchen, Lauten, Bewegungen und so weiter widmen. Gleichzeitig sind unsere Gehirne mit Mechanismen ausgestattet, die uns zum Herausfiltern von »globalen« Beziehungen oder »Mustern« befähigen, wie es die Neurowissenschaftler nennen.
Denken Sie an das vertraute Beispiel von einer kleinen Gruppierung visueller Symbole, Emoticon genannt, das oft bei EMails Anwendung findet: : – ) . Diese Anordnung wird problemlos als »lächelndes Gesicht« erkannt mit zwei Augen »:«, einer Nase » –« und einem Mund »)«. Würden diese drei Objekte hingegen folgendermaßen angeordnet: ) – :, würden sie vom Gehirn nicht als Muster erkannt und nur als willkürliche Punkte, Linien und Kurven gedeutet werden.
Die Neurowissenschaftler, mit denen ich gesprochen habe, erklärten mir, dass aufgrund der neuronalen Synchronie diese Mechanismen der Mustererkennung mit der neuronalen Erkennung von Formen, Farben und so weiter fast simultan ablaufen. Die neuronale Synchronie könnte man vereinfacht als Prozess beschreiben, bei dem in weit voneinander entfernten Hirnarealen angesiedelte Neuronen spontan und augenblicklich miteinander kommunizieren. Wenn zum Beispiel die Formen : – ) in dieser expliziten Formation wahrgenommen werden, senden die entsprechenden Neuronen einander auf eine spontane, doch präzise koordinierte Art Signale, die für das Erkennen eines spezifischen Musters steht. Wird kein Muster erkannt, senden die entsprechenden Neuronen einander willkürliche Signale.
Diese Tendenz zur Identifizierung von Mustern oder Objekten ist biologisch gesehen die deutlichste Veranschaulichung von dzinpa, der ich bislang begegnet bin. Ich vermute, sie entwickelte sich als eine Art Überlebensfunktion, da die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen schädigenden, wohltuenden und neutralen Objekten oder Ereignissen ausgesprochen nützlich ist! Wie ich später erklären werde, weisen klinische Forschungsstudien darauf hin, dass die Meditationspraxis die Mechanismen der neuronalen Synchronie bis zu einem Punkt ausdehnt, an dem die wahrnehmende Person allmählich bewusst erkennen kann, dass ihr Geist und die von ihrem Geist wahrgenommenen Erfahrungen oder Objekte ein und dasselbe sind. Mit anderen Worten, die über lange Zeit hinweg ausgeübte Meditationspraxis löst die künstlichen Unterscheidungen zwischen Subjekt und Objekt auf. Und das gibt wiederum der wahrnehmenden Person die Freiheit, über die Qualität ihrer Erfahrung zu bestimmen; die Freiheit zu unterscheiden zwischen dem, was wirklich ist und was nur eine Erscheinung darstellt.
Die Auflösung der Trennung zwischen Subjekt und Objekt bedeutet nun aber nicht, dass die Wahrnehmung zu einem einzigen verschwommenen Brei wird. Wir nehmen dann die Erfahrung weiterhin in den Begriffen von Subjekt und Objekt wahr, erkennen aber gleichzeitig, dass diese Trennung im Kern begrifflicher Natur ist. Mit anderen Worten, die Wahrnehmung eines Objekts ist nicht verschieden vom Geist, der es wahrnimmt.
Weil diese Veränderung im Bewusstseinszustand intellektuell schwer zu begreifen ist, müssen wir, um ein gewisses Verständnis entwickeln zu können, wieder einmal zur Traum-Analogie Zuflucht nehmen. Wenn Sie im Traum erkennen, dass Ihre Erfahrungen nur ein Traumgeschehen sind, dann erkennen Sie auch, dass sich all diese Ereignisse lediglich in Ihrem Geist abspielen. Und diese Erkenntnis befreit Sie wiederum von den Begrenzungen der »Traum-Probleme«, des »Traum-Leidens« oder der »Traum-Beschränkungen«. Der Traum setzt sich weiter fort, aber diese Erkenntnis befreit Sie vom Schmerz oder von den Unannehmlichkeiten, die Ihnen Ihr Traumszenario eventuell bietet. Angst, Schmerz und Leiden werden von einem Gefühl des fast kindhaften Staunens abgelöst: »Wow, schau dir bloß mal an, was mein Geist alles produzieren kann!«
Wenn wir nun im Wachzustand die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt transzendieren, ist dies gleichbedeutend mit der Erkenntnis, dass alles, was wir wahrnehmen und erfahren, nicht vom Geist getrennt ist, der es wahrnimmt und erfährt. Der Wachzustand wird damit nicht beendet, aber unsere Wahrnehmung von ihm verlagert sich von einer Erfahrung der Begrenztheit hin zu einer des Staunens und Wunderns.
DAS GESCHENK DER UNGEWISSHEIT
Ist der Geist frei von Bezugspunkten,
ist dies das Mahamudra.
Tilopa: Mahamudra Upadesa. Essenzielle
Mahamudra-Unterweisungen am Ganges
Wenn wir auf unser Beispiel vom Blick auf den Tisch vorne im Raum zurückkommen, können wir auch auf der ganz normal beobachtbaren Ebene sagen, dass sich ein Tisch im Zustand fortwährender Veränderung befindet. In der Zeit zwischen gestern und heute kann etwas Holz weggebrochen oder etwas Farbe abgeblättert sein. Betrachten wir den Tisch aus der Sicht des Physikers, sehen wir auf der mikroskopischen Ebene, dass sich die Komponenten des Tisches, das Holz, die Farbe, die Nägel und der Leim, aus Molekülen und Atomen zusammensetzen, die wiederum aus sich rasend schnell bewegenden, durch die Weite des subatomaren Raums tanzendenTeilchen bestehen.
Auf dieser subatomaren Ebene stoßen die Physiker auf ein interessantes Problem: Wenn sie die genaue Position eines Teilchens im subatomaren Raum durch Messung bestimmen wollen, können sie dessen Geschwindigkeit nicht mit hundertprozentiger Genauigkeit messen; versuchen sie die Geschwindigkeit eines Teilchens zu messen, können sie dessen genaue Position nicht ausmachen. Dieses Problem einer gleichzeitigen Messung von genauer Position und Geschwindigkeit eines Teilchens drückt sich im Prinzip der so genannten Heisenberg’schen Unschärferelation aus, benannt nach Werner Heisenberg, einem der Begründer der Quantenmechanik.
Wie man mir erklärte, besteht ein Teil des Problems darin, dass die Physiker, um die Position eines subatomaren Teilchens »sehen« zu können, einen kurzen Lichtimpuls auf das Teilchen abgeben müssen; dieser versieht das Teilchen mit einem zusätzlichen Energie-»Kick«, wodurch sich seine Bewegungsgeschwindigkeit verändert. Wollen die Physiker andererseits die Geschwindigkeit eines Teilchens messen, dann geschieht das dadurch, das sie die Veränderungen in der Frequenz der Lichtwellen messen, die sie auf das Teilchen abstrahlen – so ähnlich wie sich die Verkehrspolizei der Frequenz von Radarwellen bedient, um die Geschwindigkeit eines fahrenden Autos zu messen. Somit erhalten die Wissenschaftler je nach Experiment Informationen nur über die eine oder die andere Eigenschaft des Teilchens. Einfach ausgedrückt bedeutet das, dass die Ergebnisse eines Experiments durch die Art des Experiments bedingt sind – also durch die Fragen, die die Wissenschaftler, die das Experiment durchführen und beobachten, gestellt haben.
Wenn wir dieses Paradoxon als eine Art Beschreibung menschlicher Erfahrung betrachten, können wir sehen, dass in ähnlicher Weise, wie die einem Teilchen zugeschriebenen Eigenschaften durch das spezifische Experiment bedingt werden, das die Wissenschafter mit ihm durchführen, auch alle unsere Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen durch die mentalen Gewohnheiten bedingt sind, die wir dabei einbringen.
Die moderne Physik hat erkennen lassen, dass unser Verständnis materieller Phänomene bis zu einem gewissen Grad durch die Fragen, die wir diesbezüglich stellen, eingeschränkt wird. Gleichzeitig aber weist die Unbestimmtheit der genauen Vorhersage, wie und wo ein Teilchen im subatomaren Universum in Erscheinung treten wird, auf eine gewisse Freiheit in der Bestimmung der Natur unserer Erfahrung hin.
KONTEXT: EINE KOGNITIVE PERSPEKTIVE
Unser Leben wird von unserem
Geist geformt.
Dhammapada
Die buddhistische Praxis führt uns ganz allmählich dahin, dass wir gewohnheitsmäßige Grundannahmen aufgeben und mit anderen Fragen und anderen Standpunkten oder Anschauungen experimentieren. Ein solcher Sichtwechsel ist gar nicht so schwierig, wie es vielleicht den Anschein hat. Von einem meiner Schüler, der im Bereich der kognitiven Psychologie arbeitet, erfuhr ich, dass die Fähigkeit zur Veränderung unserer Sichtweise eine grundlegende Funktion des menschlichen Geistes ist. In Begriffen der kognitiven Psychologie gesprochen, wird die Bedeutung jedweder Information, die wir erhalten, weitgehend durch den Kontext bestimmt, in dem wir sie betrachten. Die verschiedenen Kontextebenen scheinen eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den verschiedenen Methoden der Realitätsbeobachtung in der Quantenmechanik aufzuweisen.
Wenn wir uns zum Beispiel diese beiden Worte ansehen
MINGYUR RINPOCHE
können wir deren Bedeutung auf vielfältigste Art und Weise interpretieren, einschließlich folgender:
Wahrscheinlich gibt es noch mehr Interpretationsebenen, aber für unser Beispiel können wir uns hier auf diese fünf beschränken.
Interessanterweise entkräftet keine der möglichen Interpretationen irgendeine der anderen Deutungen. Sie stehen einfach nur für verschiedene Bedeutungsebenen je nach Kontext, der sich wiederum weitgehend auf Erfahrung gründet.
Wenn Sie mich zum Beispiel zufällig persönlich kennen, können Sie einen Blick auf die Worte »Mingyur Rinpoche« werfen und bei sich denken, Oh ja, das ist dieser kleine Tibeter mit Brille, der in roter Robe herumreist und allen erzählt, dass Tische nicht wirklich existieren.
Wenn Sie mich nicht kennen oder nichts über mich wissen und diese Worte lediglich in einer Zeitschrift oder in einem Zeitungsartikel über tibetisch-buddhistische Lehrer sehen würden, dann wäre »Mingyur Rinpoche« immer noch der Name eines dieser kleinen Tibeter mit Brille, die in roten Roben herumreisen und allen Leuten erzählen, dass Tische nicht wirklich existieren. Wenn Sie mit dem lateinischen Alphabet überhaupt nicht vertraut wären, würden Sie »Mingyur Rinpoche« vielleicht als eine Gruppierung von Buchstaben erkennen, wüssten aber nicht, was sie bedeuten und ob sie sich auf einen Namen oder einen Ort beziehen. Und wenn Sie überhaupt nicht mit Alphabeten vertraut wären, wären die Worte nur eine seltsame, möglicherweise interessante Ansammlung von Linien und Kreisen, die eine Bedeutung haben können oder auch nicht.
Wenn ich also davon spreche, dass man seine übliche Alltagslogik aufgibt und aus einer anderen Perspektive auf die eigenen Erfahrungen blickt, möchte ich damit andeuten, dass Sie, wenn Sie sich die Dinge nun sehr viel genauer ansehen, nach und nach merken werden, wie überaus schwierig es ist, die absolute Wirklichkeit der Dinge genau auszumachen. Es wird Ihnen allmählich einsichtig, dass Sie als Ergebnis des Kontextes, in dem Sie die Dinge betrachtet haben, diese mit Dauerhaftigkeit oder einem inhärenten Eigenwesen ausgestattet haben. Und wenn Sie sich darin üben, sich selbst und Ihre Umwelt aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, wird sich Ihre Wahrnehmung von Ihrer eigenen Person und Ihrer Umwelt entsprechend verändern.
Natürlich erfordert es nicht nur Mühe, sondern auch Zeit, wenn wir unsere Wahrnehmungen und Erwartungen von der materiellen Welt verändern wollen. Und um dieses Hindernis überwinden und anfangen zu können, die Freiheit der Leerheit wirklich zu erfahren, müssen wir lernen, die Zeit selbst in einem anderen Licht zu betrachten.
DIE TYRANNEI DER ZEIT
Die Vergangenheit ist nicht wahr-
nehmbar, die Zukunft ist nicht wahr
nehmbar, und die Gegenwart ist nicht
wahrnehmbar.
Sutras of the Mother
Wenn Sie sich Ihre Erfahrungen unter dem Gesichtspunkt der Zeit ansehen, können Sie sagen, dass Tische, Wassergläser und so weiter tatsächlich zeitlich existieren – aber nur aus einer relativen Sicht. Die meisten Menschen neigen dazu, die Zeit in Form von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu betrachten. »Ich ging zu einer langweiligen Konferenz.« »Ich sitze in einer langweiligen Konferenz.« »Ich werde zu einer langweiligen Konferenz gehen müssen.« »Ich habe meinen Kindern heute das Frühstück gegeben.« »Ich stelle meinen Kindern gerade das Mittagessen auf den Tisch.« »O je, ich muss meinen Kindern noch das Abendessen kochen, und es ist nichts im Kühlschrank. Ich werde einkaufen müssen, sobald ich aus dieser langweiligen Konferenz verschwinden kann!«
Im Grunde genommen ist es aber so, dass wir, wenn wir an die Vergangenheit denken, uns nur eine Erfahrung ins Gedächtnis rufen, die sich schon ereignet hat. Sie haben die Konferenz verlassen. Sie haben Ihre Kinder mit Mahlzeiten versorgt. Sie haben Ihre Einkäufe erledigt. Die Vergangenheit ist wie ein Samenkorn, das im Feuer verbrannt wurde. Ist es erst einmal zu Asche verbrannt, gibt es kein Samenkorn mehr. Da ist nur noch eine Erinnerung, ein Gedanke, der Ihnen durch den Kopf geht. Mit anderen Worten, die Vergangenheit ist nichts anderes als eine Vorstellung.
Ebenso ist das, was die Leute üblicherweise »die Zukunft« nennen, ein Aspekt der Zeit, der sich noch nicht ereignet hat. Sie würden über einen Baum, der noch gar nicht gepflanzt worden ist, nicht wie über einen massiven, lebendigen Gegenstand reden, weil Ihnen der Kontext fehlt, in dem Sie über ihn reden könnten; Sie würden auch nicht über Kinder, die noch nicht einmal gezeugt worden sind, so reden wie über Leute, mit denen Sie im Hier und Jetzt Umgang pflegen. Somit ist auch die Zukunft nur eine Vorstellung, ein Gedanke, der Ihnen durch den Kopf geht.
Was bleibt Ihnen also als tatsächliche Erfahrung?
Die Gegenwart.
Aber wie ist es denn überhaupt möglich, die Gegenwart zu definieren? Ein Jahr besteht aus zwölf Monaten. Jeder Tag eines jeden Monats besteht aus 24 Stunden. Jede Stunde besteht aus 60 Minuten; jede Minute besteht aus 60 Sekunden; und jede Sekunde besteht aus Mikrosekunden und Nanosekunden. Sie können die Gegenwart in immer noch kleinere Einheiten aufspalten, aber in dem Moment, in dem Sie den gegenwärtigen Moment der Erfahrung als »jetzt« ausmachen, ist dieser gegenwärtige Moment schon vergangen. Er ist nicht mehr jetzt, er ist schon vorhin.
Der Buddha wusste intuitiv um die Begrenztheit der normalen menschlichen Vorstellung von Zeit. In einer seiner Lehrreden erklärte er, dass – aus relativer Sicht betrachtet – die Unterteilung der Zeit in einzelne Zeitabschnitte wie eine Stunde, ein Tag, eine Woche und so weiter bis zu einem gewissen Grad relevant sein mag, dass aber aus absoluter Sicht kein wirklicher Unterschied zwischen einem einzelnen Augenblick und einem ganzen Weltalter besteht. Innerhalb eines Weltalters kann es einen Augenblick und innerhalb eines Augenblicks kann es ein Weltalter geben. Die Beziehung zwischen den beiden Zeitspannen würde den Augenblick um nichts verlängern und das Weltalter um nichts verkürzen.
Er veranschaulichte diesen Punkt mit der Geschichte von einem jungen Mann, der auf der Suche nach einer tiefgründigen Belehrung zu einem großen Meister kam. Der Meister willigte ein, schlug aber vor, dass der junge Mann erst einmal eine Tasse Tee zu sich nähme. »Danach«, so sagte er, »werde ich dir die tiefgründige Belehrung geben, um derentwillen du gekommen bist.«
Der Meister schenkte ihm also eine Tasse Tee ein, und als der Schüler sie zum Mund führte, verwandelte sich die Tasse Tee in einen großen See, der von Bergen umgeben war. Während er so dastand und die Schönheit der Landschaft bewunderte, kam ein Mädchen von hinten herbei und trat ebenfalls an das Seeufer, um einen Eimer mit Wasser zu füllen. Für den jungen Mann war es Liebe auf den ersten Blick, und auch das Mädchen verliebte sich in ihn, als sie ihn so am See stehen sah. Der junge Mann folgte dem Mädchen nach Hause, wo es mit seinen alten Eltern zusammenlebte. Nach und nach gewannen die Eltern den jungen Mann lieb und er sie auch, und bald beschlossen die beiden jungen Leute zu heiraten.
Nach drei Jahren kam das erste Kind des Paares zur Welt, ein Sohn. Und ein paar Jahre später wurde ihnen eine Tochter geboren. Die Kinder gediehen und wuchsen glücklich auf, bis eines Tages der Sohn im Alter von 14 Jahren krank wurde. Keine Arznei vermochte ihn zu heilen. Und binnen eines Jahres war er tot.
Nicht lange danach ging die junge Tochter in den Wald, um Holz zu sammeln. Und während sie mit ihrer Arbeit beschäftigt war, wurde sie von einem Tiger angefallen und getötet. Die Mutter kam nicht über den Verlust ihrer beiden Kinder hinweg und ging eines Tages in ihrem tiefen Kummer zum nahe gelegenen See, wo sie sich ertränkte. Über den Verlust ihrer Tochter und Enkelkinder verzweifelt, nahmen die Eltern der Frau keine Nahrung mehr zu sich und hungerten sich schließlich zu Tode. Nachdem er so seine Frau, seine Kinder und seine Schwiegereltern verloren hatte, dachte der junge Mann, dass er sich nun auch das Leben nehmen könnte. Er ging zum Ufer des Sees, entschlossen, sich zu ertränken.
Gerade als er ins Wasser springen wollte, fand er sich jedoch plötzlich wieder im Haus des Meisters und hielt eine Teetasse an den Mund. Obwohl er ein ganzes Leben gelebt hatte, war doch kaum ein Augenblick vergangen; die Tasse war noch immer warm in seinen Händen, der Tee war noch immer heiß.
Er sah über den Tisch hinweg zum Lehrer hin, der nickte und sagte: »Jetzt siehst du. Alle Phänomene gehen aus dem Geist hervor, der Leerheit ist. Sie existieren nicht wirklich außer im Geist, aber sie sind auch nicht nichts. Da hast du deine tiefgründige Belehrung.«
Aus buddhistischer Sicht ist die Essenz der Zeit, wie auch die Essenz des Raumes und der Objekte, die sich im Raum bewegen, Leerheit. Ab einem bestimmten Punkt bricht schließlich jeder Versuch, Zeit oder Raum in immer noch kleineren Abschnitten untersuchen zu wollen, in sich zusammen. Sie können in der Meditation mit Ihrer Wahrnehmung von Zeit experimentieren und versuchen, sie in immer noch winzigeren Abschnitten zu betrachten. Sie können auf diese Weise die Zeit untersuchen, bis Sie an einen Punkt gelangen, wo Sie nichts mehr benennen oder definieren können. Wenn Sie an diesen Punkt gelangen, tauchen Sie in eine Erfahrung jenseits der Worte, jenseits der Vorstellungen, jenseits der Konzepte ein.
»Jenseits der Vorstellungen und Konzepte« bedeutet nicht, dass Ihr Geist so leer wie eine Eierschale oder so stumpfsinnig wie ein Stein wird. Tatsächlich passiert genau das Gegenteil. Ihr Geist wird weiter und offener. Sie können noch Subjekte und Objekte wahrnehmen, aber Sie erkennen sie als imaginär, als Konzepte, Sie sehen sie nicht als inhärent oder objektiv wirkliche Entitäten.
Ich habe mit vielen Wissenschaftlern darüber gesprochen, ob sich unter den Theorien und Entdeckungen der modernen Wissenschaft Parallelen zur buddhistischen Sicht von Zeit und Raum finden lassen. Es wurden mir zwar viele Gedanken und Vorstellungen vorgeschlagen, aber nichts davon schien präzise zu passen, bis man mich in die Theorie der Quantengravitation einführte, eine Untersuchung der grundlegenden Natur von Zeit und Raum, die so fundamentalen Fragen nachgeht wie: »Woraus bestehen Zeit und Raum? Existieren sie absolut oder gehen sie aus etwas Grundlegenderem hervor? Wie sehen Raum und Zeit auf winzigster Maßstabebene aus? Gibt es eine kleinstmögliche Zeiteinheit?«
Wie man mir erklärte, behandelt man in den meisten Teilgebieten der Physik Zeit und Raum so, als wären sie etwas Unendliches, Gleichförmiges und vollkommen Ebenmäßiges: ein statischer Hintergrund, durch den sich Objekte bewegen und in dem sich Ereignisse ereignen. Das ist eine sehr brauchbare Annahme, um das Wesen und die Eigenschaften sowohl großer materieller Körper als auch subatomarer Teilchen zu untersuchen. Aber wenn es darum geht, Raum und Zeit für sich genommen zu erforschen, haben wir eine ganz andere Situation.
Auf der Ebene normaler menschlicher Wahrnehmung nimmt sich die Welt klar, scharf umrissen und ziemlich kompakt aus. Eine von vier Holzbeinen gestützte Holzplatte tritt auf der Ebene normaler menschlicher Wahrnehmung ganz offensichtlich als Tisch in Erscheinung. Ein durchsichtiges, zylindrisch geformtes Objekt, das unten einen flachen Boden aufweist und oben offen ist, scheint ganz offensichtlich ein Glas zu sein. Wenn es nicht durchsichtig ist und einen Griff hat, dann nennen wir es vielleicht eine Tasse.
Nun stellen Sie sich vor, dass Sie einen materiellen Gegenstand durch ein Mikroskop betrachten. Sie könnten vernünftigerweise erwarten, dass Sie bei zunehmender Vergrößerung auch ein immer schärferes und klareres Bild von der zugrunde liegenden Struktur des Gegenstandes zu sehen bekommen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Wenn wir bei einer Vergrößerung angelangt sind, auf der wir einzelne Atome erkennen können, sieht die Welt allmählich immer »unschärfer, verschwommener« aus, und wir lassen die meisten Gesetze der klassischen Physik hinter uns. Dies ist das Reich der Quantenmechanik, in dem, wie bereits beschrieben, die subatomaren Teilchen auf alle mögliche Art und Weise herumirrlichtern und mit zunehmender Häufigkeit ins Dasein hineinspringen und wieder aus ihm herausspringen.
Wenn wir immer weiter vergrößern, so dass wir immer noch winzigere Objekte erkennen können, entdecken wir schließlich, dass Raum und Zeit selber anfangen zu flimmern, zu zittern, zu fluktuieren – der Raum selbst erzeugt winzige Wölbungen und Dellen, die unvorstellbar schnell aufscheinen und wieder verschwinden. Dies geschieht auf der Ebene extrem winziger Dimensionen – im Vergleich zu einem Atom so winzig, wie es ein Atom im Vergleich zum Sonnensystem ist. Diesen Zustand haben die Physiker »Raumzeitschaum« oder »Quantenschaum« genannt. Stellen Sie sich Rasierschaum vor, der sich, aus einiger Entfernung gesehen, ganz glatt ausnimmt, sich aber bei genauer Betrachtung aus der Nähe aus Millionen winziger Bläschen zusammensetzt.
An diesem Punkt fängt die Physik selber an zu flimmern und zu zittern, weil die Untersuchung von Materie, Energie und Bewegung und die Art und Weise, wie sie sich aufeinander beziehen, ohne einen zugrunde liegenden Zeitbezug noch nicht einmal formuliert werden kann. Die Physiker geben zu, dass sie an diesem Punkt keine Ahnung haben, wie sie das, was übrig bleibt, beschreiben sollen. Es ist ein Zustand, der buchstäblich alle Möglichkeiten jenseits von Zeit und Raum beinhaltet.
Aus buddhistischer Sicht bietet die von der Quantenmechanik gelieferte Beschreibung der Realität ein Maß an Freiheit, das die meisten Menschen nicht gewöhnt sind und das ihnen zunächst seltsam und auch ein bisschen Angst einflößend vorkommen mag. So sehr gerade die Menschen des Westens die Freiheit als Wert schätzen und hochhalten, wird ihnen vielleicht die Vorstellung, dass der Akt der Beobachtung eines Ereignisses das Resultat auf willkürliche, unvorhersagbare Weise beeinflussen kann, als eine zu große Last der Verantwortung erscheinen. Es ist sehr viel leichter, die Rolle des Opfers einzunehmen und die Verantwortung oder Schuld für unsere Erfahrungen einer Person oder Macht außerhalb unserer selbst zuzuweisen. Wenn wir aber die Entdeckungen der modernen Wissenschaft ernst nehmen, dann haben wir die Verantwortung für unsere sich Augenblick um Augenblick ereignende Erfahrung selbst zu übernehmen.
Wenn wir das tun, mag uns das Möglichkeiten eröffnen, wie wir sie uns bisher vielleicht nie vorgestellt haben; dennoch ist es nach wie vor schwer, die vertraute Gewohnheit des Opferseins aufzugeben. Andererseits würde unser Leben, wenn wir die Verantwortung für unsere Erfahrung zu übernehmen begännen, eine Art Spielplatz werden, der uns unzählige Möglichkeiten zum Lernen und Erfinden bietet. Unser Gefühl von persönlicher Begrenztheit und Verletzlichkeit würde allmählich vom Gefühl der Offenheit und Freiheit abgelöst. Wir würden unsere Mitmenschen in einem völlig neuen Licht sehen – nicht als Bedrohung für unsere persönliche Sicherheit oder unser persönliches Glück, sondern als Leute, die einfach von den unbegrenzten Möglichkeiten ihrer eigenen Natur nichts wissen. Und weil unsere eigene Natur von willkürlichen Unterscheidungen, »so« oder »so« zu sein oder nur über bestimmte Fähigkeiten zu verfügen und anderer zu ermangeln, unbeeinträchtigt bliebe, würden wir den Anforderungen jeglicher Situation begegnen können, in der wir uns befinden mögen.
VERGÄNGLICHKEIT
Nichts ist je von Dauer
Patrul Rinpoche:
Die Worte meines vollendeten Lehrers
Die meisten Menschen wurden durch die Gesellschaft, in der sie leben, dazu konditioniert, den ständig wechselnden Strom mentaler und materieller Phänomene mit Begriffsetiketten zu versehen. Wenn wir uns zum Beispiel einen Tisch genau ansehen, werden wir ihn trotzdem instinktiv weiterhin als Tisch bezeichnen, obwohl wir erkennen, dass er kein eigenständiges Einzelding ist, sondern sich aus verschiedenen Teilen zusammensetzt: einer Tischplatte, Beinen, einer Rückseite und einer Vorderseite. Keiner dieser Teile könnte für sich genommen als »der Tisch« bezeichnet werden. Tatsächlich ist »Tisch« einfach eine Benennung, die wir auf rasch entstehende und sich wieder auflösende Phänomene anwenden, die nur eine Illusion von etwas definitiv oder absolut Wirklichem erzeugen.
Auf gleiche Weise sind die meisten von uns darauf trainiert, einem Strom von Erfahrungen die Benennung »ich« oder »mein« anzuhaften, die unser ganz persönliches Gefühl von einem Ich oder Selbst oder von dem, was man gemeinhin »Ego« nennt, bestätigt. Wir haben das Gefühl, dass wir dieses Einzelwesen sind, das über die Zeit hinweg unverändert bleibt. Im Allgemeinen haben wir das Empfinden, heute die gleiche Person zu sein, die wir gestern waren. Wir erinnern uns, Teenager gewesen und zur Schule gegangen zu sein, und haben meist das Gefühl, dass das »Ich«, das wir jetzt sind, das gleiche »Ich« ist, das zur Schule ging, allmählich erwachsen wurde, von zu Hause auszog, eine Arbeitsstelle fand und so weiter.
Ein Blick in den Spiegel belehrt uns jedoch darüber, dass sich dieses »Ich« mit der Zeit verändert hat. Vielleicht entdecken wir jetzt Falten im Gesicht, die vor einem Jahr noch nicht da waren. Vielleicht tragen wir jetzt eine Brille. Vielleicht haben wir nun eine andere Haarfarbe – oder gar keine Haare mehr. Auf der elementaren Molekularebene verändern sich unsere Körperzellen dauernd, alte Zellen sterben ab und neue werden geboren. Wir können dieses Gefühl von einem »Ich« genauso untersuchen, wie wir den Tisch betrachten, und erkennen, dass sich dieses Ding namens »Ich« in Wirklichkeit aus einer Anzahl verschiedener Dinge zusammensetzt. Es hat Beine, Arme, einen Kopf, Hände, Füße und innere Organe. Können wir irgendeines dieser Einzelteile definitiv als unser »Ich« bezeichnen?
Wir können sagen: »Na gut, meine Hand ist nicht mein Ich, aber es ist meine Hand.« Aber die Hand besteht aus fünf Fingern, einer Vorder- und einer Rückseite. Diese Bestandteile lassen sich weiterhin aufteilen in Fingernägel, Haut, Knochen und so weiter. Von welcher dieser Komponenten können wir sagen, dass sie als Einzige unsere »Hand« ist? Wir können dieses Untersuchungsverfahren bis zur atomaren und subatomaren Ebene fortführen und werden uns nach wie vor mit dem gleichen Problem konfrontiert sehen: Dass wir nämlich nichts finden, das wir definitiv als unser »Ich« bezeichnen können.
Wir kommen also schließlich, gleich ob wir nun materielle Gegenstände, die Zeit, unser »Ich« oder unseren Geist analysieren, an einen Punkt, wo wir erkennen, dass unsere Analyse zusammenbricht. Hier fällt unsere Suche nach etwas nicht weiter Reduzierbarem schlussendlich in sich zusammen. In dem Augenblick, in dem wir unsere Suche nach etwas Absolutem aufgeben, erhalten wir eine erste Kostprobe von der Leere, von der grenzenlosen, undefinierbaren Essenz der Wirklichkeit, so wie sie ist.
Wenn wir uns die enorme Vielfalt von Faktoren vor Augen führen, die zusammenkommen müssen, um ein spezifisches »Ich«-Gefühl zu erzeugen, lockert sich allmählich unsere Anhaftung an dieses »Ich«, für das wir uns halten. Wir sind eher bereit, das Verlangen aufzugeben, unsere Gedanken, Emotionen, Empfindungen und so weiter zu kontrollieren oder abzublocken. Wir fangen an, sie ohne Schmerz oder Schuldgefühle wahrzunehmen und zu erleben und nehmen ihr Aufkommen und Vergehen einfach als Manifestationen eines Universums unendlicher Möglichkeiten in uns auf.
Diese Vorgehensweise lässt uns die unschuldige Sichtweise wiedergewinnen, die wir zumeist als Kinder hatten. Unser Herz öffnet sich für andere Menschen wie für sich entfaltende Blüten. Wir werden zu besseren Zuhörern, sind aller Dinge, die um uns herum vorgehen, umfassender gewahr, und können spontaner und angemessener auf Situationen reagieren, die uns vordem Schwierigkeiten bereitet oder in Verwirrung gestürzt haben. Nach und nach werden wir feststellen, dass wir, vielleicht auf so subtiler Ebene, dass wir es zunächst nicht einmal bemerken, zu einem freien, klaren, liebevollen Geisteszustand erwachen, der unsere heißesten Träume übersteigt.
Aber solche Möglichkeiten klar sehen zu lernen erfordert große Geduld.
Genau genommen ist es das klare Sehen selbst, das große Geduld erfordert.